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Katatonia Sleep

Darkfiction
von

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Ende

Im Licht verbirgt sich nur ein Funke jener Wahrheit, die ich vergeblich suchte.
 

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„Meg, du bist ein Arschloch!“ Ilones Stimme war schrill, wie die einer Furie kurz bevor sie ihrem Opfer das noch schlagende Herz aus der Brust reißen würde.

Irgendwie berührte das Meg trotz alledem nicht sonderlich. Sie nannte ihn seit sie sich kannten vermutlich jeden dritten Abend so. In letzter Zeit war es häufiger vorgekommen. Der Begriff hatte sich mittlerweile dermaßen abgenutzt, dass es ihn lange nicht mehr verletzen konnte.

Außerdem hatte sie ja irgendwie Recht. Meg wusste, dass er ein Mistkerl war. Das war ein großer Teil von seinem Image und Frauen liebten genau das an ihm so lange, bis sie mit ihm zusammen waren. Dann kam üblicherweise die Trennung.

„Es ist aus!“

Das stach jetzt schon. Immerhin war Meg immer derjenige gewesen, der seine Frauen letztendlich zum Teufel jagte und, verdammt, er hätte es auch dieses Mal sein sollen. Er schluckte.

„Okay.“, sagte er nur, statt das Offensichtliche aus zu sprechen und der bittere Klang in seiner Stimme hörte sich sogar für ihn unheimlich erbärmlich an.

Ach, was! Sollte sie doch ruhig denken, dass es ihm etwas ausmachte. Er würde der Welt noch früh genug beweisen, dass dem nicht so war. Alleine zu sein war auch vor Ilone okay gewesen. Erst recht, wenn man nach jedem Konzert die freie Wahl zwischen sechs Frauen und mehr haben konnte, so wie das bei Meg der Fall war. Eine kleine Stimme in Meg sagte ihm, dass das vielleicht nur dumme Ausflüchte waren, damit er vor sich selbst kaschieren konnte, wie armselig er sich selber gerade vorkam. Er wischte den Gedanken beiseite.

Ilones Stimme wurde jetzt sehr sanft, als sie sagte: „Weißt du, ich hab echt geglaubt, du wärst der Eine.“ Sie drückte sich gern um das Wort "Liebe" und Romantik im Allgemeinen. Meg hatte sie alleine deswegen geliebt, denn lange hatte er geglaubt, dass eine derart unromantische und praktische Person an seiner Seite genau das war, was er brauchte.

Er brauchte jemanden, der ihn aus seinen eigenen Tagträumen und gelegentlichen Depressionen in die Realität zurück befördern konnte. Meistens tat Ilone das nicht gerade auf angenehme Weise. Auch das hatte Meg vielleicht eine Weile gebraucht.

Er brauchte das vermutlich auch jetzt noch. Er wich ihrem Blick aus.

Verdammt! Wieso konnte er ihr jetzt nur keinen Vorwurf machen?

Sie war weniger kompliziert, als seine bisherigen Freundinnen und Meg zwang sich einfach auch diesen Punkt an ihr zu hassen. Das machte es einfacher.

"Gott! Du hast es wirklich verbockt!", Ilone fuhr sich mit einer Hand durch die wirren, dunklen Haare. Sie war schön, sogar, wenn sie sich nicht gestylt hatte und selbst, wenn sie wütend war. Irgendwie fand Meg sie in diesem Moment sogar besonders anziehend. Gesagt hätte er ihr das sicherlich nicht. Das verbot ihm sein Stolz. Zu gegebener Zeit würde er diesen Gedanken sicherlich für einen Song aufgreifen.

"Ich habe dir vor einem Jahr schon gesagt, du sollst aufhören!"

Mit "aufhören" meinte Ilone Drogen und Alkohol. Sie hatten dieses Gespräch schon so oft geführt, dass Meg müde davon wurde. Sie hatte auch schon oft gesagt, sie würde ihn verlassen und, dass sie nicht mit einem Junky zusammen sein könne.

Aber Meg war kein Junky. Er genehmigte sich dann und wann einen Joint und vielleicht setzte er sich auch auf der einen oder anderen Party eine Spritze. Er sagte sich, dass das in Ordnung sei, weil er ein Musiker war. Es gehörte zum Image.

Auch, dass er in den letzten fünf Jahren insgesamt sechs Freundinnen verheizt hatte, war zu verschmerzen. Es warteten genug und mit der Nächsten würde er sicherlich nicht dermaßen lange zusammen sein.

Waren er und Ilone nun wirklich schon ein ganzes Jahr zusammen gewesen?

Da hätte sie sich wirklich früher überlegen können, ernst zu machen und ihn zu verlassen … bevor er sich an ihre Nähe gewöhnt hatte und glaubte es würde ewig so weitergehen.

Die Drogen waren immerhin schon vor ihrer Zeit dagewesen. Er hatte es niemals vor ihr versteckt.

"Sag doch endlich was!", forderte Ilone und sah ihn an, als wäre er schon wieder total zu. Vielleicht war er das ja auch. Meg sah da eigentlich keinen Unterschied mehr. Er hatte schon seit einer Woche nichts wirklich Hartes mehr genommen, aber trotz Allem – oder vielleicht gerade deswegen – fühlte er sich absolut leer und kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen.

Nach außen hin, zuckte er einfach die Schultern und strich sich ein paar wirre, blonde Strähnen aus dem Gesicht, ohne etwas zu sagen.

"Wenn ich jetzt den Mund aufmache, muss ich bestimmt heulen.", schoss es ihm durch den Kopf und er zwang sich an ihr vorbei auf die große, schwarze Schrankwand zu sehen, um ihren fragenden Augen nicht länger begegnen zu müssen.

Nach einer langen Pause sagte er schließlich: "Ich sollte gehen."

Dann stand er auf und ging zur Tür, ohne sich umzudrehen.

Erwartete er vielleicht, dass sie ihn zurück hielt? Eigentlich nicht wirklich. Er hoffte es vielleicht. Was sollte er sonst tun?

Hatte sie erwartet, dass er bettelte, oder ihr Versprechungen machen würde, die er sowieso nicht einzuhalten gedachte? Das war unter seiner Würde!

Noch während er die Stufen eines ziemlich dreckigen Apartmenthauses herunter stieg, schloss Meg mit seiner Beziehung ab. Zumindest redete er sich das ein.

Es war vorbei. Wieso also sollte er noch einen einzigen, unnützen Gedanken daran verschwenden.

An der Wand neben ihm befanden sich Graffiti in rot und grün, die bescheuerte Nazisprüche in die Welt hinausposaunten und in naiver Zeichenweise obszöne Körperteile und Gesten darstellen sollten. Über der Tür zur Straße stand in verschnörkelten Buchstaben der Satz „Es gibt immer ein erstes Mal…“. Früher hatte Meg diesen Spruch unheimlich inspirierend gefunden. Jetzt war er ein Hohn seiner verkorksten Situation. Er schien alles einzufangen, alles anzuprangern und in die Welt hinaus zu posaunen was für ein Loser er war, wie die nächste Kolumne des städtischen Klatschblattes es vermutlich auch tun würde.

„Meg Saunderson wurde von seiner Jetzt-Ex-Freundin aus der eigenen Wohnung vergrault!“ Kein besonders rühmlicher Gedanke.

Er stemmte sich gegen die gesprungene Glastür des Haupteinganges, in der sich ein feines Gitter aus Draht befand. Meg vermutete, dass unter den ganzen Dellen und Kratzern in der Tür, nur noch dieses Gitter für die nötige Stabilität sorgte, um die Tür zusammenzuhalten.

Natürlich war dies seine Wohnung und nicht ihre.

Ilone würde nie freiwillig in diesem Loch wohnen. Sie hatte ein schickes Apartment in der Stadt, dass vermutlich von ihren reichen Eltern finanziert wurde und sie hatte einen ebenso geregelten Job in irgendeinem Krankenhaus mit bester Aussicht darauf Ärztin zu werden, wie jedes verdammte Mitglied ihrer gesamten, versnobten Familie, in die er ohnehin niemals gepasst hatte. Er gehörte einfach nicht in ihre Welt.

Sie hatte ihn oft gebeten, bei ihr einzuziehen, oder wenigstens ein weniger heruntergekommenes Viertel als Wohnort in Betracht zu ziehen. Natürlich hatte sie Angst ihn spät abends nach der Arbeit zu besuchen.

Seid Meg’s Band "Amorphic Sinner" halbwegs erfolgreich war, hätte er das Geld dazu sogar gehabt, aber er fand, dass dies hier seinem eigenen Charakter besser entsprach.

Hier war er mitten im Geschehen - mitten in der Stadt – mitten in dem Ort, an dem eigentlich sonst niemand freiwillig wohnen wollte. Hier war er an genau dem Platz, den seine kreative Ader zur Heimat gewählt hatte.

Nur hier konnte man vom Fenster aus die Penner und die versoffenen Idioten beobachten, die den Abschaum dieser Stadt bildeten. Direkt unter seinem Zimmer befand sich eine üble Hip-Hop-Kneipe, in die Meg eigentlich nie einen Fuß gesetzt hätte. Manchmal konnte man die Besucher des Schuppens bei Prügeleien auf der Straße sehen. Einmal hatte es direkt unter Megs Fenster sogar eine Schießerei gegeben.

Jetzt, wo die Erinnerungen an sein letztes Album und dessen Erfolg langsam zu verblassen begann, brauchte Meg diese Art von Inspiration. Es würde viel Mühe und Arbeit erfordern, um das letzte Album zu übertreffen. Ilone hätte dabei ohnehin nur im Weg gestanden. Vielleicht war die Trennung letztendlich genau das, was er brauchte.

Es war besser allein zu sein.

Meg war schon ziemlich weit durch die Straßen gegangen, als er bemerkte, dass er weinte. Was brachte es schon sich mit Gedanken an seine Arbeit ab zu lenken?

Es war aus. Dieses Mal wirklich.

Sie hatten sich zwischenzeitlich schon einmal für einen Monat getrennt und wieder zusammengefunden, aber das würde es nun nicht mehr geben. Ilone war viel zu stolz und vielleicht hatte sie in dem einen oder anderen Punkt wirklich Recht.

Sie arbeitete in einem Krankenhaus. War es da verwunderlich, dass sie sich doppelt Sorgen um seine Gesundheit machte?

Trotzdem musste sie ihn ja nicht immer wieder mit demselben Mist nerven!

Es war bereits dunkel und richtig kalt. Zu allem Übel regnete es auch noch und Meg hatte nicht einmal eine Jacke mitgenommen.

Warum auch? Er war ja ein harter Junge. Zumindest sagte ihm das sein Verstand mit seltsam sarkastischem Unterton.

In diesem Moment nahm Meg sich vor niemals öffentlich wegen Ilone zu weinen. Wenn ihn nun jemand fragen würde, würde er sagen, dass das Nasse auf seinem Gesicht nur der Nebel und der Regen war. Er würde sich selbst einreden, dass es keinen Grund gab traurig zu sein. Er würde ein paar Tage lang feiern und sich mit seiner Musik ablenken. Vielleicht das eine oder andere aggressive Lied schreiben, damit auch jeder sah, dass er nicht traurig, sondern wütend war. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Niemals!

Meg blieb unversehens stehen, als er ein grelles Licht aus den Augenwinkeln bemerkte, das schnell näher kam. Er drehte den Kopf. Ein Scheinwerfer. Er umfing ihn, schloss ihn ein. Lärm. Stille, dann schwarzes Nichts.

Bildrauschen

Meg tauchte ein in weiße Dunkelheit.

Wenngleich weder "Tauchen" noch "Dunkelheit" treffende Begriffe sein konnten, denn hier existierte nichts. Nichts zumindest, das man auf den ersten Blick fassen konnte.

Meg bewegte sich nicht bewusst, denn er spürte seinen Körper nicht mehr. Mehr aber als das, verstörte ihn die Tatsache, dass weder Farbe, noch Licht, noch Dunkelheit auf den Zustand vor seinen Augen zutreffen konnte. Es war einfach „nichts“. Es erschien Meg, als sei er erblindet.

Mehr noch: Es war, als habe er niemals Augen besessen, um sich zu erinnern, wie es sich anfühlte zu Sehen. Als sei er schon ewig in einem zu langen Schlaf gefangen.

Ansonsten war Meg jedoch vollständig wach. Er wusste instinktiv, dass er nun keinen Augenblick der Ruhe mehr brauchen würde. Hier war Müdigkeit nicht mehr als eine Illusion und Meg wusste mit Bestimmtheit, dass er es nicht spüren würde, wenn er verhungerte.

Zeit existierte hier wohl ebenfalls nicht wirklich, also konnte Meg auch nicht sagen, wie lange er schon in diesem Zustand gefangen war. Es hätten Sekunden, Stunden, oder schon ein ganzes Leben sein können.

Er war entfernt von allen Schmerzen. Er war Jenseits einer Grenze, die er Zeit seiner Tage nicht registriert hatte und er wusste nicht ob das gut so war.

Alle Sinne schienen gedämpft, als sei ein Schleier über sein Gesicht gezogen worden. Trotzdem meinte Meg in der Ferne ein Sirren zu hören, das zeitweise von einem monotonen Piepsen abgelöst wurde, das in ihm ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit weckte. Es roch nach Destillat und gleichzeitig hatte Meg das scharfe Gefühl in der Stirnhöhle, als habe er einen starken Schlag auf den Kopf bekommen. Hatte er das vielleicht? Meg konnte sich kaum erinnern. Er wusste nicht, wie er hier her gekommen war. Oder wieso er hier war. Fühlte es sich so an, wenn man starb? Vielleicht hatte er aber auch nie existiert, um sich zu erinnern, wie es gewesen war, zu leben. Vielleicht war er selbst nur der Traum einer anderen Person - und was würde geschehen, wenn diese Person erwachte?

Außerhalb dieser nichtigen Welt in seinem Kopf existierte nichts mehr. Vielleicht war er ohnmächtig?

„Scheinwerfer.“, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte grelles Licht gesehen, bevor er hier her gekommen war! War er auf einer Bühne gewesen?

Erinnerungen streiften seinen Geist. Er dachte kurz an seine ersten Auftritte mit sechzehn Jahren. Damals war es noch magisch gewesen. Er war weniger erfahren und hatte jeden Moment genossen. Alles war neu. Alles war eine große Party und noch nicht der harte Knochenjob, der ihn nun Tag und Nacht wach hielt und den er trotzdem nicht weniger liebte. Er hatte mit Daniel seine ersten Auftritte gefeiert, als man noch nicht einmal zu erhoffen wagte, dass überhaupt jemand jemals eine CD von ihnen kaufen würde. Die anderen Mitglieder der Band hatten zwischenzeitlich gewechselt, aber sein bester Freund war immer an seiner Seite geblieben. So war Daniel eigentlich Megs Familie geworden und Meg fand es richtig, dass er sich in diesem Moment, den er für seinen letzten hielt, an seinen besten Freund erinnerte und an das, was sie als Jugendliche gemeinsam vollbracht hatten.

Es waren die alten Zeiten die zählten. Die neueren Auftritte waren unwichtig geworden. Meg erinnerte er sich an den größten Teil von ihnen nur schemenhaft, wenngleich die Menge vor der Bühne mit den Jahren erheblich größer geworden war. Er verdiente mehr Geld. Er hatte mehr Auftritte. Vielleicht war es einfach diese Masse, die das Ganze so unwichtig werden ließ. Es war einfach zu viel von Allem. Es war die Essenz all seiner Jugendträume und genau deswegen vielleicht so schwer zu fassen. Vielleicht war es auch einfach langweilig, weil ein Traum, den man sich zu perfekt ausgemalt hat, leider keine Überraschungen mehr parat halten konnte.

Meg hatte fast ein Jahr lang, seit dem Verkauf des einen erfolgreichen Albums, das den Durchbruch verschaffte, all diese Dinge nicht mehr wahr genommen, so wie man eben Dinge ausblendet, die man jeden Tag tut und sieht.

So wie er offensichtlich auch die leere Stille, die nun um ihn herum existierte, ausblenden konnte, wenn er es wollte.

Wieso sonst fielen ihm nun solch banale Dinge ein? Wieso konnte er sich so schwer auf das Hier und Jetzt konzentrieren, von dem er nicht einmal mehr sicher war, ob es überhaupt noch existierte?

Meg wusste nicht, wie er hier her gekommen war. War dies eine verrückte Horrorhalluzination, hervorgerufen durch eine unglückliche Mixtur von Alkohol und Hasch?

Das musste es sein! Einfach irgendein seltsamer Alptraum, der durch seine Venen rauschte. Morgen würde er aufwachen und sich über die kindische Angst totlachen, die ihn gerade befiel.

Totlachen? TOT! Warum hallte dieses Wort nur so unangenehm in seinem Kopf nach. Was ist, wenn ich tot bin?

Ja, genau... genau... genau... genau...

War dieses Echo in Megs Kopf wirklich sein eigenes Werk?

Es musste wohl so sein, denn hier war vermutlich niemand, als er selbst. Allein das Meg diesen Gedanken fassen konnte, lies ihn glauben, dass er nicht gestorben war.

Meg war nie religiös gewesen. Er glaubte nicht, dass nach dem Tod etwas blieb. Er hatte keine Vorstellung von einer Hölle, oder einem Himmel, obwohl er getauft war. Für ihn gab es nach dem Tod nichts und das hatte er immer als tröstlich empfunden.

Auf der anderen Seite: Wer konnte ihm sagen, wie es war, wenn man nicht mehr lebte. Vielleicht war es genau dies. Vielleicht war es genau hier. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht und eventuell gab es doch so etwas wie eine Himmelspforte, an der Meg sich in diesem Moment befand. – Oder eine Hölle.

Meg schüttelte den Gedanken ab, wie einen kratzigen Mantel. Allein die Vorstellung, dass es so sein könnte schreckte ihn dermaßen ab, dass er den Gedankengang gar nicht zu Ende fassen wollte. Er zwang sich seine Konzentration etwas Anderem zu zu wenden, was in einem „Nichts“ gar nicht so einfach war, wie er bemerkte.

Erst jetzt fielen ihm die vielen Stimmen auf, die in seinem Kopf umherschwirrten, wie verlorene Seelen. Er konnte kaum verstehen, was gesagt wurde, aber seit er sich darauf konzentrierte, waren sie scheinbar lauter geworden.

Es waren Fetzen von Gesprächen, die er einmal geführt hatte, oder Gespräche, die hätten geführt werden sollen. Nichts Greifbares war dabei, aber Meg war sich sicher, dass er diese Gedanken kannte. Sie waren definitiv ein Teil von ihm und vielleicht verbargen sie den Weg nach Draußen.

Wieso fühlte er sich so grauenvoll, während er den unverständlichen Stimmen lauschte?

Er hatte das Gefühl schon seit Stunden einfach still zu liegen und die Bewegungslosigkeit war unerträglich. Zeit mochte hier keine Rolle spielen. Vielleicht lag er erst eine einzige Sekunde hier. Oder schon ein Leben lang. Vielleicht... seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Wie konnte er wissen, was dies war - und wäre es nicht besser gar nicht erst über Dinge nach zu denken, die man nicht fassen kann?

Gerade diese Unwissenheit war, es die Meg am meisten quälte. Er musste aufwachen.

Als Kind hatte Meg immer versucht seine Augen mit aller Gewalt auf zu reißen, wenn er einen Alptraum hatte. Meistens funktionierte das immer noch. Meg riss die Augen auf und fragte sich nebenbei, wie dämlich er dabei aussehen musste. Immerhin war dies ein Traum. Niemand konnte ihn dabei sehen.

„Gut ist, was auch funktioniert, egal, wie bescheuert es auch sein mag.“

Diesen Spruch hatte Meg von Daniel gehört, als sie beide noch Kinder waren.

Eine quälende Sekunde lang passierte rein gar nichts. Dann öffnete Meg seine Augen so schlagartig, als sei er geradewegs in eine andere Welt geschleudert worden. Er war wach.

Er lag in seinem Bett. Natürlich! Es war ein Alptraum gewesen. Gottseidank!

Meg sah sich um. Seine einstmals tiefschwarze Bettdecke war bedeckt von grobem, grauem Staub und raschelte unter seiner langsamen Bewegung.

Was war geschehen?

Vermutlich wieder eine Baustelle. Meg erinnerte sich daran, wie irgendwelche Idioten von der Stadt vor zwei Jahren die Strasse vor dem Haus aufgerissen hatten. Der feine Dreck der von der Baustelle durch sein geöffnetes Fenster gewirbelt wurde, war unerträglich gewesen und er hatte sich einfach überall fest gesetzt, sogar auf seiner Gitarre.

Dieses Mal war das Fenster geschlossen und es war noch weitaus schlimmer, als damals. Abgesehen davon, dass der Geruch von Moder in der Luft hing, als sei dies hier ein alter Dachboden, oder ein Keller, … oder ein Grab.

Vielleicht würde er sich dieses Mal beschweren.

Meg richtete sich auf, schüttelte ein paar hellgraue Flocken aus seinen blonden Haaren und betrachtete den Boden, auf dem Staubmäuse tanzten, wie frisch gefallener Schnee. Er war einfach überall. Das feine Pulver hatte sich sogar an den Wänden abgesetzt und so vermittelte das Zimmer den fahlen Eindruck eines alten Schwarz-Weiß-Films.

Meg setzte seine Füße auf den Boden. Vorsichtig, um nicht mehr Staub als nötig auf zu wirbeln. Irgendetwas hier fühlte sich verdammt falsch an.

Es war Meg, als sei er nicht alleine, als er aufstand und den Raum durchschritt.

Langsam ging er am Wandschrank mit dem großen Spiegel vorbei und als er die Hand ausstreckte, um die Zimmertür zu öffnen, traf sein Blick unvermittelt auf die eisblauen Augen im Spiegel, die ihn vorwurfsvoll anblitzten, als sei ihm der eigene Anblick vollkommen fremd.

Noch nie war Meg sein eigenes Spiegelbild so trügerisch vorgekommen. Als sei es lebendig. Meg sagte sich, dass das sicherlich am Staub lag. Er machte in seinem grün-schwarz geringelten Pullover einen seltsam bunten Eindruck in der tristen Wirklichkeit des Zimmers.

Er gehörte nicht hier rein, wie es schien.

Dennoch hatte Meg keine Nerven sich selbst noch länger zu betrachten und sich seinem eigenen Blick ausgesetzt zu fühlen. Er wandte sich ab und betrat durch eine schwarze Holztür das Wohnzimmer.

Auch hier war alles ruhig, bis auf das monotone Rauschen eines Fernsehers.

Meg fiel auf, dass nicht einmal der leiseste Luftzug vorhanden war.

Die Tür im Wohnzimmer war ein bisschen undicht, sodass die Luft meistens zumindest ein bisschen in Bewegung war. Jetzt schien alles still zu stehen.

Was geschieht mit einem Film, sobald jemand die Pause-Taste bedient? Was geschieht mit einer Geschichte, wenn man aufhört sie zu lesen? Meg fuhr ein kalter Schauer den Rücken herunter, als er daran dachte, dass es vielleicht genau dies hier war.

Die Welt um ihn herum hatte aufgehört sich zu bewegen.

Meg ging vorbei an den schwarzen Schränken, in denen er alle möglichen CDs stehen hatte. Die seiner eigenen Band befanden sich nicht darunter, denn Meg war es immer falsch vorgekommen seine eigenen Werke zwischen die seiner Idole zu stellen. Seine eigenen Alben befanden sich gut verstaut in einem alten Schuhkarton irgendwo unter dem Bett und waren zumeist nicht einmal geöffnet worden.

Wieso hätte er sie auch abspielen sollen? Er hatte die Lieder geschrieben und sie waren als Dateien auch auf seinem eigenen Rechner gespeichert. Wenn er sie wirklich hören wollte, würde er sie dort abspielen.

Meg strich über die Tür eines schwarzen Schrankes und die Spur, die er in den Staubflocken hinterließ, glich einem großen schwarzen Loch.

Ihm wurde kalt bei diesem Anblick und vielleicht machte erst das Meg wirklich wieder bewusst, dass er tatsächlich fühlen konnte.

Er war dem Nichts also tatsächlich entkommen.

Als er den Blick zur Couch drehte, sah er plötzlich Ilone. Sie drehte ihm den Rücken zu und starrte auf den großen Fernseher. Auf dem Bildschirm allerdings war nicht mehr zu sehen, als gleichbleibendes, monotones Flimmern. Meg betrachtete eine Weile ihre seidigen, schwarzen Haare. Sie hatte sie wie üblich zu einem Zopf zusammen gebunden, sodass sie hinter ihrem Rücken über der Sofalehne hingen. Wenn er sich konzentrierte, meinte er sogar ihren Duft wahr zu nehmen: Amber und gelbe Rose. Irgendein sündhaft teures Parfum, das Meg Zeit seines Lebens nur noch mit ihr in Verbindung bringen würde.

„Ilone.“, begann Meg. Sie gab keine Antwort. Wieso sollte sie auch?

Als sie sich das letzte Mal derartig gestritten hatten, hatte sie danach volle drei Tage kein Wort an ihn verschwendet und nun waren sie sogar getrennt.

„Du bist ja immer noch hier.“ Meg versuchte vollständig gleichgültig zu klingen und er fand, dass ihm das unter den gegebenen Umständen extrem gut gelang. Es störte ihn tatsächlich, dass Ilone noch immer in seiner Wohnung herumsaß und auf einen Fernseher glotzte, der nichts weiter als monotones Rauschen zeigte. Warum sollte er ihr das nicht zeigen?

Er machte einen Schritt auf sie zu und begann sich bereits darüber zu ärgern, dass sie ihn nicht einmal eines Blickes würdigte. Noch immer war ihr Körper starr geradeaus gerichtet.

Ja, natürlich! Ignorieren konnte sie ihn schon immer gut. Das war nichts Neues.

„Kannst du nicht mehr sprechen?“, warf ihr Meg gereizt an den Kopf.

Keine Reaktion. Das war schon ziemlich ungewöhnlich.

Meg umrundete das Sofa und immer noch bewegte sich Ilone keinen Millimeter.

Nun erkannte Meg auch, wieso.

Auf dem Sofa saß nicht Ilone, sondern eine lebensechte Puppe, die aussah, wie seine Ex-Freundin. Sie war perfekt getroffen. Die Augen. Die Haare. Das Einzige, das einfach nicht stimmen wollte, war die tiefschwarze Haut, die von kleinen, hellen Äderchen durchzogen war, wie edler Marmor.

– Und doch wirkte diese Haut lebendig und nicht, wie kalter Stein. Megs Hand fuhr nach vorne, aber im letzten Augenblick entschloss er sich, nicht nach zu prüfen, ob sie tatsächlich warm und lebendig war.

Er schluckte und zog die Hand mechanisch zurück. Er wagte nicht näher zu kommen. Im Blick dieser starrenden Augen lag ebenfalls etwas Lebendiges.

„Nein“, schoss es Meg durch den Kopf. „Es wirkt nicht tot, sondern gestorben. – Ganz so, als seien diese Augen einmal voller Leben gewesen, aber nun sind sie es nicht mehr.“

Meg konnte sich gut erinnern, dass er auch als Kind schon Angst vor Stofftieren und Puppen gehabt hatte, deren Blick zu lebendig war und deren Augen einen durch den ganzen Raum zu verfolgen schienen. Es war noch in der weiterführenden Schule so schlimm gewesen, dass seine Tante alle Stofftiere aus seinem Zimmer und dem Wohnzimmer entfernen musste, weil er ihre leeren Blicke einfach nicht mehr hatte ertragen können.

Genau so war es mit diesen Augen, nur mit dem Unterschied, dass Meg in diesem Fall nicht wusste, was geschehen konnte, wenn er seine Hand nach Ilones Zwilling ausstrecken würde.

Es war Eines sich einzureden, dass ein Stofftier nicht beißen würde. Natürlich wusste Meg, dass diese Angst albern war, aber dies hier war bedrohlich. Die Kopie war zu genau, als das Meg die schreiende Unruhe in sich nieder kämpfen konnte.

Hatte er Ilone jemals von seiner Phobie erzählt? War dies ein dummer Streich auf seine Kosten? Meg wagte nicht, es heraus zu finden.

War dies eine Leiche? Sie schien nicht verwest zu sein. Woher also sollte diese schwarze Färbung der Haut kommen.

Ohne, dass er es selbst wirklich registriert hatte, war Meg einen Schritt zurück gegangen und sein nass geschwitzter Rücken drückte sich an den großen Flachbildschirm. Er atmete schwer ein und musste immer wieder die Augen schließen, um nicht in Panik zu verfallen.

Langsam bewegte Meg sich an den Schneeflocken auf dem Bildschirm vorbei und auf die Wohnungstür zu. Er fühlte sich wie eine Maus, die vergeblich versucht aus dem Blickfeld einer Katze zu schleichen. Er ließ die Figur nicht aus den Augen und bekam den Eindruck, dass es die regungslose Frau vor ihm nicht anders hielt, während er sich langsam rückwärts auf den Ausgang zu bewegte.

Mit einer Hand griff er nach der Türklinke und mit einem viel zu lauten Klicken gab die Tür nach und schwang nach Außen hin auf. Meg drehte sich um.

In diesem Moment wusste er, dass die Kreatur den Kopf gedreht hatte.

Dann schlug die Tür hart hinter ihm zu. Er war wieder zurück im Nichts.

Zeitreise

Ilone wusste nicht, wie lange sie auf der Couch gesessen und den leeren Fernsehbildschirm angestarrt hatte. Sie konnte es kaum fassen. Wie konnte es nur so schnell vorbei sein? Das war nicht richtig so.

Beinahe hörte sie schon die Stimmen ihrer Eltern sagen, dass sie das alles hatten kommen sehen. Wie könne sich ein kleines naives Ding auch einreden, man können eine wirklich lange Beziehung mit diesem... diesem Rockstar führen? Sie sah schon, wie ihr Vater das Wort beinahe ausspuckte. Weiter würde er behauten, Meg hielte sie ohnehin nur für ein billiges Flittchen. Ersetzbar durch jeden x-beliebigen Groupie. - Und überhaupt: Sie war doch viel zu gut für einen verkommenen Junky. Es wäre ja eine Schande für die Familie.

Ilone zuckte mit den Schultern, wie sie es auch im wirklichen Gespräch mit ihren Eltern tun würde. Am meisten an diesem Bild störte sie, dass sie ihren Eltern in beinahe sämtlichen Belangen würde Recht geben müssen, soweit es ihren Verstand betraf.

Ihr Herz hingegen sprach eine andere Sprache. Gott! Sie liebte diesen Idioten. Er hatte das nicht verdient, aber zuweilen spielt einem das eigene Hormonchaos derart böse Streiche. Sie hatte von vornherein gewusst, dass sie sich auf ein gewagtes Spiel einließ und dass sich Meg in vielen Situationen eher für die Drogen, als für sie entscheiden würde.

Irgendetwas in ihm war schon kaputt gewesen, bevor er Ilone kennen lernte und lange hatte die junge Frau sich gewünscht, dass sie es sein könnte, die ihn heilte. Zweifelsohne war das eine überromantisierte Vorstellung gewesen, die sie niemals öffentlich ausgesprochen hätte, doch sie war eben auch eine Frau. – Mehr noch: Es war ihre Aufgabe Menschen gesund zu pflegen. Das wollte sie beruflich tun und auch in ihrem Privatleben schien es eine größere Rolle gespielt zu haben, als sie sich eingestanden hatte.

Sie war stärker als Meg. Das hatte sie instinktiv gespürt und sie wollte den Mann an ihrer Seite beschützen. Das würden ihre Eltern niemals verstehen.

Was würden eigentlich Megs Eltern dazu sagen. Ilone war ihnen niemals vorgestellt worden und sie konnte sich kaum vorstellen in welchem Umfeld jemand wie Meg wohl aufgewachsen sein mochte. Sie hatte in irgendeinem Klatschblatt gelesen, dass Megs Vater wohl im Gefängnis gestorben war. Das war einige Monate her und Ilone hatte Meg nicht danach gefragt. Es schien als habe er es gar nicht richtig registriert. Vielleicht war er es einfach nicht wert sich darüber Gedanken zu machen. Megs Eltern schienen in seinem Leben keine große Rolle zu spielen und Ilone hatte sich immer gewünscht, dass vielleicht stattdessen sie diese Lücke ein wenig füllen könnte. – Auch das war eine pathetische Ansicht. In Megs Leben spielten nur wenige Menschen überhaupt eine Rolle.

- Und vielleicht hatte sie niemals dazu gehört.

Nie hatte sie Kinderfotos von ihm gesehen. Meg war das Gegenteil von Peter Pan. - Er war der Junge ohne Kindheit. Ilone hatte sich daran gewöhnt. Etwas anderes blieb ihr immerhin nicht übrig.

Hatte sie selbst nicht alles mit Meg geteilt? Sie hatte ihn mit zu ihren Eltern gebracht, auch wenn diese ihn nicht ausstehen konnten. Das gemeinsame Essen war ein Desaster voller Spitzen gewesen, in denen Meg mehr durch seine große Klappe bestochen hatte, als durch alles Andere. Ihre Eltern waren auf der anderen Seite auch keine Heiligen gewesen, also gab es, soweit es Ilone betraf niemanden, der unschuldig war. Wieso sollte man also überhaupt jemandem Vorwürfe dafür machen, dass es nicht funktioniert hatte.

Ihre Eltern hatten nach dem Essen wirre Behauptungen aufgestellt. Es stimmte schon, dass sie Meg selten essen sah, aber auf Grund eines einzigen Abendessens, bei dem Meg die ganze Zeit mit der Gabel in einem zähen Stück Braten herum gestochert hatte, ohne etwas an zu rühren, hatten sie sofort Fantasien über Essstörungen und Schönheitswahn von Superstars aufgestellt.

- Natürlich hatten sie diese Meinung später auch vor einem neugierigen Reporter vertreten, sodass Meg auch davon erfahren hatte und seither nie wieder mit zu ihren Eltern gekommen war. Es war ein absoluter Reinfall gewesen, ihn ihren Eltern vor zu stellen.

Dennoch: Sie hatte es versucht. Sie hatte versucht ihn in ihr Leben zu integrieren. Fast ein Jahr lang war sie nun daran zerbrochen.

Während sie selbst immer nur daneben gestanden hatte, hatte Meg sein eigenes Leben ohne sie weiter gelebt und lediglich die Stunden nach getaner Arbeit mit ihr verbracht. Das waren Dinge, die sie ihm nicht vorwerfen wollte, aber sie tat es.

Es fiel ihr erst nun auf, da die Beziehung beendet war, also war es offensichtlich vormals nicht so schlimm für sie gewesen. Vielleicht war sie einfach nur blind in diese Sache hinein geraten.

Schämte Meg sich für sie? Wollte er sie deshalb nicht bei seinen Eltern haben? Zumindest Megs Mutter hätte sie ja innerhalb eines Jahres mal kennen lernen können, oder seine Tante. Ilone erinnerte sich, dass Daniel einmal erzählt hatte, Meg hätte den Großteil seiner Kindheit bei ihr und ihren beiden Zwillingen verbracht. Daniel kannte alle drei und er mochte sie nicht, aber immerhin war er es wert gewesen, sie kennen zu lernen. Oder hatte Meg den Kontakt schon lange vor ihrer Zeit mit ihnen abgebrochen? – Vielleicht hatten sie sich gestritten. – Oder es war ihm vielleicht peinlich wenn er von seinen Eltern und Verwandten beim fixen erwischt würde? Vielleicht ging er deswegen nicht mehr zu ihnen. – Vielleicht war das auch geschehen und seine Familie hatte ihn darauf hin rausgeschmissen.

Egal, was es war, es hatte vermutlich weniger mit Ilone selbst zu tun, als diese sich nun einreden wollte und das musste sie sich selbst auch eingestehen.

Sie zuckte die Schultern. Langsam begann ihre Fantasie in dieser Richtung Überhand zu gewinnen und sie schüttelte die Vorstellungen ab. – Es war Vergangenheit und es war egal. Es war nun Zeit dieses Kapitel ihres Lebens ab zu schließen und ein Neues ganz ohne Meg zu beginnen. Zwar wusste sie, dass Meg sicherlich nichts gegen einen weiteren Versuch haben würde, aber sie hatten sich schon früher für eine ganze Weile getrennt und sie wollte das nicht noch einmal wiederholen. Das würde zu nichts führen.

Wieso hatte sie eigentlich für Meg mit ihrem langjährigen Freund Jerry Schluss gemacht? – Sie war fast drei Jahre mit ihm zusammen gewesen. Er war treu gewesen, strebsam – und langweilig. Das genaue Gegenteil von Meg. Kein Wunder, dass sie sich nach einer langen Beziehung ohne nennenswerten Streit und Probleme in jemanden verkuckt hatte, der deutlich mehr Spannung versprach.

Wenn sie so darüber nach dachte, war es beinahe traurig. – Mit Jerry hätte sie eine Zukunft gehabt. Vielleicht sogar Kinder. Ilone schüttelte den Kopf. – Irgendwie war es dumm mit 21 Jahren schon Torschlusspanik zu bekommen. Jerry war der Richtige für ihren Verstand, aber nicht für das Gefühl. Mit Meg verhielt es sich genau umgekehrt.

Noch während Ilone dies dachte, war sie aufgestanden und hatte eine dreckige Sporttasche aus Megs Kleiderschrank genommen. Sie wusste, er würde sie kaum zwischen dem Rest seiner Designerkleidung vermissen - und wenn doch, war es auch irgendwie egal.

Sie war blau mit weißen Streifen. - Ein Imitat einer großen Sportmarke. Sie hatte Meg noch nie mit diesem Monstrum gesehen. Er machte ja nicht einmal Sport, wenn man das Getanze und Gespringe auf der Bühne nicht mitzählen konnte.

Hatte er vielleicht irgendwann einmal geschwommen? – Die Tasche zumindest roch leicht nach Chlor und Shampoo.

Ilone stopfte fast traumwandlerisch ein paar ihrer Dinge in den Beutel und arbeitete sich langsam von Zimmer zu Zimmer vor. - Hier ein T-Shirt, dort ein Schlafshirt und weiter - etwas Unterwäsche, ein Parfum und mehrere vollkommen unnütze Kleinigkeiten. Wann nur hatte sie diese Taschenlampe hier gelassen?

Es war wie eine Zeitreise in die Vergangenheit, als die Ruinen ihrer Beziehung noch unbeschadet waren. An diesem Appartement hingen so viele Erinnerungen. Das wurde Ilone erst jetzt wirklich bewusst. Früher hatte sie Meg immer vorgeworfen, dass es ein ekelhaftes, dreckiges Zimmer sei und sie hatte sich gewünscht irgendwo anders mit ihm zusammen zu ziehen. Nun bemerkte sie, dass dieser Ort ganz unverhofft auch ein Teil ihrer eigenen Vergangenheit geworden war. Jetzt verstand sie, wieso Meg nicht fort wollte. - Sie fand einen Schal.

Meg hatte ihn getragen, als er mit Fieber und Lungenentzündung im Bett lag. Ilone erinnerte sich, dass er drei Konzerte hatte absagen müssen und, dass er deswegen so verstört war, als würde deswegen ein ganzes Weltreich untergehen. Eine Weile hatte er sich wirklich so albern aufgeführt, als glaube er wirklich, dass die Fans einen Massenaufstand nur seinetwegen machen würden.

Er hatte so gut ausgesehen mit den wirren, hellen Haaren, die ihm überall im bleichen Gesicht klebten. Wie konnte ein Mensch nur so gut aussehen, wenn er krank war? Es war das erste Mal gewesen, dass Ilone bemerkt hatte, dass Meg deutlich verletzlicher war, als er zugeben wollte. Er hatte sich dafür geschämt, dass er einfach nicht mehr konnte. Dabei war es ausnahmsweise wirklich nicht seine Schuld, dass ihm etwas zugestoßen war.

Ilone hatte selten Mitleid mit ihm. – Nicht, wenn er sich bei irgendeiner waghalsigen Motorradtour die Hand verstauchte und auch nicht, wenn er nach seinen vielen Eskapaden mit Kopfschmerzen im Bett lag, weil er zu viel gesoffen hatte und sich das nun einmal nicht gut mit Tabletten verträgt.

Nicht so war es bei jener Lungenentzündung. Er hatte sie gebraucht und sie hatte sich um ihn gekümmert. Tagelang. – Und seine spezielle Art der Belohnung war durchaus die Erinnerung wert.

Es war eine der wenigen Wochen ihrer Beziehung gewesen, an denen sie füreinander wirklich uneingeschränkt Zeit gehabt hatten.

Der Schal roch noch nach ihm. - Auch jetzt war es der beste Geruch, den Ilone sich vorstellen konnte, auch wenn sie nie fähig sein würde zu beschreiben, wieso eigentlich. Sie legte die Tasche wieder auf dem Sofa ab, vor dem ihr letzter Streit statt gefunden hatte. - Die Reise war vorbei.

Sie setzte sich hin, den Schal locker in beiden Händen haltend.

Ihr wurde gerade bewusst, dass sie ihn niemals wirklich verlassen konnte, als das Handy in ihrer Hosentasche vibrierte. Sie nahm es heraus. Für eine Weile hatte sie gehofft, dass es Meg sei. – Und sie hasste sich dafür.

Auf dem Display stand der blinkende Schriftzug "Daniel" und das bedeutete, dass es Megs Bassist war. Vermutlich hatte er alles über den Streit bereits gehört. In solchen Dingen waren die beiden Männer Tratschtanten, wie man es eigentlich Frauen vorhalten würde. Ilone nahm den Hörer ab.

"Ilone?" Daniels Stimme klang unnatürlich aufgeklärt.

"Ja.", hörte sie sich selbst sagen und ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Daniel war nie ein Mensch der ernsthaften Worte gewesen. – Ilone wusste instinktiv, dass etwas Schlimmes passiert sein musst.

"Ilone, es geht um Meg..."

Einsamkeit

Etwas in Meg schrie, da er selbst eine lange Zeit nicht mehr fähig gewesen war auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte sich nicht bewegen. Gefühlte Stunden war er einsam im weißen Nebel herum gekrochen und verlor darüber beinahe den Verstand. Das Schlimme war, dass er genau fühlen konnte, dass dies die Bestrafung für seinen Fluchtversuch war. Irgendetwas wollte ihn genau hier behalten und Meg wusste, dass er sich dem nicht würde entziehen können.

„Hier ist doch rein gar nichts!“, versuchte Meg in den Nebel zu schreien, aber es gelang ihm nicht. „Dieser Ort ist nicht einmal real!“

Der Terror in ihm wuchs mit jeder gefühlten Sekunde, die genau so gut eine Ewigkeit hätte sein können. Er konnte jetzt nicht aufgeben! Er musste einfach hier raus! Egal, was dieses "hier" auch sein mochte und egal, wo dieses „raus“ hinführen mochte.

Er durfte nicht mehr Träumen. Er musste zurück, um… Wieso eigentlich?

„Was genau ist eigentlich an der Welt da draußen so viel besser, als hier?“, fragte ihn sein Verstand mit bohrender Eindringlichkeit und Meg verharrte kurz, als er nicht sofort antworten konnte.

Ilone war fort. Wieso sollte er für sie in die Wirklichkeit zurück kehren? Sie war ohne ihn ohnehin viel besser dran. – Und sie wollte auch ohne ihn sein, dass hatte sie mehr als deutlich gemacht.

Sollte er für die Fans zurück kehren? - Natürlich war das ein schöner Gedanke und er würde sich auf dem Titelblatt einer jeden Illustrierten hervorragend machen. – Die Realität war aber, dass es Meg tief in seinem Herzen ziemlich egal war. Wenn er sterben würde, würden sie ihn vermutlich in Erinnerung behalten, aber das würde sie nicht davon abhalten sich einem neuen Idol zu zu wenden, dessen Konzerte man besuchen konnte und dessen T-Shirts es im Sonderangebot auf jedem Festival zu kaufen gab.

Meg war durchaus ersetzbar für sie. Wieso sollte es anders herum nicht genau so sein? Wieso sollte er seinen Fans mehr Hingabe schenken, als sie ihm?

Vielleicht sollte er für seine Freunde erwachen. Die waren irgendwo ja besser ohne ihn dran. Meg war sich durchaus bewusst, dass er ein lausiger Freund war. Er mochte „seine Leute“, keine Frage, aber irgendwo in sich hatte er das Gefühl, dass er ihnen mehr Scherereien brachte, als Nutzen.

Sollte er für die Band zurück kehren? – Das vermutlich am Ehesten, aber auf der anderen Seite würden seine Jungs auch ohne ihn klar kommen. - Er wusste, dass sie ihn hinter seinem Rücken als perfektionistischen Besserwisser bezeichneten. – Daniel hatte wenigstens den Mut es dann und wann vor Meg selbst aus zu sprechen.

Natürlich hatten sie damit Recht und Meg war sogar stolz darauf. Wieso sollte er sich mit Mittelmäßigkeit zu Frieden geben? Egal, wie hart er seine Leute angetrieben hatte und egal, wie sehr sie ihn auch während ihrer Arbeit verfluchten. – Das Ergebnis sprach für sich und hatte sie bisher immer wieder überzeugt, dass es gut und richtig gewesen war auf Meg zu hören. – Deswegen war er ja auch der Anführer. Meg war bewusst, dass diese Art zu denken arrogant klingen musste, aber ohne ihn würde es keine Band geben. Dementsprechend gab es eigentlich keinen Grund ins Diesseits zurück zu kehren, um der Band zu dienen. – Er war die Band. Sie würde mit ihm stehen und fallen. – Und vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen um unter zu gehen, niemals zu altern, zu sterben und damit zur Legende zu werden.

Die Jungs konnten sich auch eine andere Band suchen. Sie alle hatten das Zeug dazu und waren vielleicht in einer Anderen deutlich besser aufgehoben, wo sie ihre eigenen Ideen besser verwirklichen konnten.

Meg kam zu dem Entschluss, dass er es vielleicht verdient hatte in die Irrealität ab zu driften.

Das einzig Wirkliche, auf das er sich nun konzentrieren konnte war seine Wut und die Schmerzen, die schon vor einer Weile eingesetzt hatten. Das und die Tatsache, dass er Angst vor dem Sterben hatte, gaben ihm noch etwas Kraft sich zu wehren.

Wäre er wach, hätte er sich zu diesem Zeitpunkt einen Schuss gesetzt und alles wäre gut, oder zumindest erträglich.

Gott! Was machte er nur, wenn er mittlerweile wirklich abhängig war.

Wie nur sollte dann erst in ein paar Stunden werden?

"Genau! Du hast kein Problem mit Drogen! - Nur ohne!", bohrte die sarkastische Stimme in Megs Kopf wieder. Zumindest glaubte Meg eine Weile, dass es seine eigenen Gedanken waren.

Bisher hatte er versucht das leise Flüstern in seinen Gedanken zu ignorieren, doch dies klang, als wäre es direkt neben seinem Ohr.

„Mach dir keine Gedanken, du spürst hier nur das, was du brauchst, das Sterben und der Hunger im weitesten Sinne werden da vermutlich nicht zugehören.“

Endlich sah Meg etwas im wabernden Nebel.

Vor ihm stand im leeren Nichts ein Wesen, dass ihm selbst sehr ähnlich war. Die genauen Konturen blieben verschwommen, wie in einem Traum, an den man sich beim Erwachen kaum noch erinnert. Was Meg wusste war, dass sein Zwilling vollständig schwarz war, als wäre es von innen heraus verbrannt.

„Leidenschaft!“ Meg kam dieses seltsame Wort in den Sinn, als er sein Gegenüber ansah, der ihn mit verschränkten Armen und höhnischem Grinsen aus der Leere heraus beobachtete, wie er selbst es vielleicht getan hätte.

"Wo bin ich?", fragte Meg und für eine Weile glaubte er, der Schatten würde nicht einmal antworten, so wie auch Ilones Zwilling geschwiegen hatte.

Umso erschrockener war Meg, als eine Stimme, die klang wie brechendes Eis, antwortete: "Was denkst du?"

"Bin ich gestorben?", fragte Meg. Der Schatten lachte höhnisch und Meg fiel auf, dass die Augen vollkommen gelblich und katzenhaft waren, was es schwer machte die feinen Gefühlsregungen zu deuten.

"Mach es dir nicht so einfach.", forderte der Schatten. "Wenn du gestorben wärst, wäre ich nicht mehr hier."

"Dann lebe ich noch.", kombinierte Meg und war nicht wirklich erleichtert. "Bin ich ohnmächtig? Träume ich?", waren seine nächsten Fragen.

Der Schatten schien zu überlegen, denn er legte den Kopf fast unmerklich schief und hob eine dunkle Augenbraue. – Scheinbar kritisch musterte er Meg eine Weile.

"Belassen wir es dabei.", sagte er einfach, nachdem er viel zu lange geschwiegen hatte, doch Meg ließ nicht locker.

"Wer bist du?", bohrte er weiter und kam sich beinahe vor, wie ein überneugieriges Kind. Der Schatten blickte ihn mit einem Ausdruck an, der klar machte, dass er in diesem Moment vielleicht Ähnliches dachte, dann grinste er und obwohl die schneeweißen Fangzähne unter den hochgezogenen Lippen, Meg eher an ein Knurren, als an eine freundliche Geste erinnerten, hatte er aus irgendeinem unbestimmten Grund den Eindruck genau die richtige Frage gestellt zu haben.

"Ich", sagte der Schatten und sah an Meg vorbei in die weiße Ferne "Ich bin vermutlich der Grund aus dem du sterben wirst."

Leidenschaft. Dieses Wesen wusste, wie es war, wenn man von innen heraus verbrannte.

"Ich muss hier raus.", forderte Meg und streckte das Kinn vor.

Das Wesen lächelte ihn an und Meg bekam das Gefühl, dass er nicht ganz ernst genommen wurde.

"Nein.", sagte der Dämon einfach. "Ich werde dich zu gegebener Zeit von diesem Ort befreien. Aber jetzt ist es zu früh.“

Irgendwie tat das weh. Meg war sich ziemlich sicher, dass dieses Wesen ein Produkt seiner eigenen Fantasie sein musste. – Ein Traum quasi. Als solcher hätte er ihm eigentlich doch gehorchen müssen, so, wie man Träume allgemein kontrollieren kann, sobald man weiß, dass man nicht mehr wach ist.

„Lass mich derweilen deine führende Kraft sein.", sagte das schwarze Wesen statt auf die Forderung ein zu gehen und streckte eine schlanke, krallenartige Hand nach vorne.

Meg schrak zurück. – Nicht nur vor der Hand, sondern generell auch vor der Vorstellung die schwarze, leicht nach Formaldehyd und Verwesung riechende Haut könne ihn berühren. „Und was ist, wenn ich gar keinen Anführer haben will?“, fragte Meg noch bevor er Gelegenheit hatte seine Worte zu überdenken. Die Kreatur hatte offensichtlich nicht mit dieser Art von Widerstand gerechnet.

„Dann werden wir Feinde sein.“, erklärte er schlicht und es lag nichts Bedrohliches in seiner Stimme. Es war eine reine Tatsache und gerade das machte es für Meg so eindringlich.

Er wandte sich von der Kreatur ab.

"Denk nach Meg! Du liegst in einem Krankenhausbett.“, flüsterte er zu sich selbst „- Und dieses schattenhafte Wesen kann einfach nicht real sein."

Meg war zumindest erleichtert, dass er sich mittlerweile wieder eingeschränkt bewegen konnte. Es war vielleicht Teil seines Traumes, dass er sich bereits vor dem Schattenwesen einen eigenen Körper erdacht hatte, um seinen abstrakten Gedanken eine einfache Form geben zu können. Meg überlegte kurz, ob er einfach vor dem Ding weglaufen sollte, doch aus irgendeinem Grund hielt er es für vollkommen unmöglich, dass er diesem Abbild seiner Selbst entkommen würde. Er musste es einfach ignorieren. Das funktionierte meist ganz gut mit Halluzinationen, Alpträumen und Problemen.

„Es ist nicht real!“, flüsterte Meg und es war ihm egal, dass der Schattendämon ihn vermutlich hörte.

"Ich bin genau so real, wie du es brauchst.", kam postwendend die Antwort und das Wesen klappte eine klauenbewehrte Hand auf und schloss sie wieder. – Erst jetzt fielen Meg die tödlichen Krallen wirklich auf, an denen bei genauem Hinsehen noch getrocknetes Blut kleben musste. – Blut aus welcher Quelle? Dies war alles Einbildung!

„Es ist nicht real!“

Meg drückte seine Hände gegen die Schläfen und genoss eine Weile den heilenden Schmerz seiner bohrenden Finger.

"...wie ich es brauche...", wiederholte er geistesabwesend die Ausführungen des Dämons und schloss die Augen. „Ich brauche dich nicht!“

Dieses Mal kam keine Antwort mehr. Meg öffnete die Augen. Das Wesen war verschwunden und stattdessen hatte der Nebel nur ein Stück weit an dichte zugenommen. Meg hatte also Recht. Er konnte diese Umgebung beeinflussen und das bedeutete, dass er noch immer träumte.

Mittlerweile hatte er eine recht klare Vorstellung von dem, was geschehen sein musste. – Er lag im Krankenhaus. Wie genau er hier her gekommen war, konnte er nicht sagen, aber dies war logisch.

Vielleicht hatte er eine Überdosis gehabt? – Oder einen Autounfall? – Diese grellen Lichter wären damit ja erklärt. Beinahe belustigt sann er eine Weile über Ufo-Entführungen nach und verwarf den Gedanken gleich wieder. – Mit dieser Möglichkeit wären zwar auch seltsame Lichter und unfassbare Ereignisse erklärt, aber so sehr hatte er seinen Verstand bisher nicht verloren.

Langsam erhob sich Meg. Er war für den Moment sicher. Jetzt musste er den Weg aus diesem Alptraum suchen und das gelang offensichtlich nur mit klarem Verstand.

Er hörte wieder Geräusche dort, wo er seinen Hinterkopf vermutete, aber dieses Mal schien es nicht von ihm selbst oder seinem schwarzen Zwilling zu kommen. Meg ging langsam darauf zu. Es war nur ein leises Flüstern und es kam ihm bedrohlich vor. Allerdings war es die einzige Richtung in die er sich momentan überhaupt wenden konnte.
 

* * * * * *
 

Als die Nachricht Ilone erreichte, fiel ihr zunächst einfach das Handy aus der Hand. Erst das Krachen auf dem Parkettboden, gab ihr die Kraft und das Gefühl in den Beinen zurück, um praktische Maßnahmen zu ergreifen.

Sie stellte die Tasche ab und legte den schwarzen Schal um ihren Hals.

Sie musste gehen. Jetzt! Dies hier war vielleicht teilweise auch ihre Schuld.

Zwar wusste sie nichts Genaues, aber die Tatsache, dass Meg etwas zugestoßen war, deutete vielleicht darauf hin, dass er sich selbst etwas angetan hatte. Sie musste zu ihm und sich Gewissheit verschaffen, wie schlimm es wirklich war.

Hektisch zog sie sich ihre unbequemen Schuhe über und verfluchte sich für ihre Dummheit. Wieso hatte sie heute überhaupt hochhackige Schuhe angezogen? Sie hatte sie nie gern getragen, aber sie wusste, dass es Meg gefiel.

„Ich bin echt dämlich.“, schimpfte sie in den viel zu stillen Raum hinein. „Warum ziehe ich mich für ein Trennungsgespräch seinen Vorlieben entsprechend an?“

Eigentlich wusste Ilone die Antwort auf diese Frage ganz genau. – Auch wenn sie es vielleicht vor Anderen nicht offen zugegeben hätte.

Hatte sie wirklich gedacht, dass sie mit diesem Outfit ein letztes Mal bei Meg hätte Eindruck schinden können? Was hatte sie sich davon erwartet, als sie sie heute Morgen angezogen hatte? Sie hatte schon beim Erwachen gewusst, dass es so enden würde, wie es letztendlich gekommen war.

Zwar hatte sie immer noch gehofft, dass spontan ein Wunder geschah und alle Probleme plötzlich im Nichts verschwinden würden, allerdings war schon vor den drei unheilvollen Worten „Wir müssen reden.“ sicher gewesen, dass dies zumindest mit einer vorläufigen Trennung enden musste.

Ilone wusste sehr genau, dass man jemanden wie Meg nicht einfach so davon überzeugen konnte sich Hilfe zu holen. – Das galt für die kleinen Probleme des Alltags genau so, wie für seine Drogensucht und seine Alpträume, die nicht nur ihm, sondern auch Ilone in der ganzen Zeit der Beziehung den Schlaf geraubt hatten.

Sie wusste sie würden sich trennen. – Aber wie hatte sie auf die Idee kommen können, dass er sich nur wegen ein paar hochhackiger Schuhe zu einem „Abschiedsfick“ hergeben würde? – War sie wirklich so billig?- Und wenn nicht: Wieso hatte sie das dann eigentlich für sich selbst gewollt?

Hektisch schüttelte Ilone die Gedanken bei Seite, sowie auch ein paar ihrer störrischen Haare, die sich aus dem Zopf in ihrem Nacken gelöst hatten. – Sie musste zum Krankenhaus und zwar umgehend und ohne sich in seltsamen Gedanken zu vertiefen.

Genervt schleuderte sie die Schuhe bei Seite und nahm sich ein paar Springerstiefel von Meg, die sie sich schon öfter geliehen hatte, weil sie dieselbe Größe hatte wie er und weil sie auch gut zu Jeansröcken passten. – Ilone glaubte, dass das Meg unangenehm war und er hatte die Schuhe danach eigentlich kaum noch getragen.

Beinahe hätte sie das Handy auf dem Boden liegen gelassen, als ihr einfiel, dass sie sich ein Taxi würde rufen müssen.

Sie hastete zur Tür.

Todesschlaf

"Sie können versuchen, ob er sie hört! - Niemand kann sagen, ob Mister Saunderson es überhaupt wahrnehmen kann, aber wir wissen, dass Worte und Berührungen helfen können."

Daniel nickte stumm. – Mr. Saunderson. Er hörte den Nachnamen seines Freundes so selten, dass er ihn beinahe nicht mehr kannte. – Ein Kuriosum, das Megs Berühmtheit mit sich brachte, war die Tatsache, dass wildfremde Leute eigentlich immer sofort perdu mit ihm waren und ihn beim Vornamen nannten.

Den Oberarzt schien das nicht zu interessieren. Er strich sich eine platinblonde Strähne aus dem merklich zurück gegangenen Haar und heftete seine Augen auf ein paar Unterlagen auf einem Klemmbrett. Mit einer Hand blätterte er scheinbar desinteressiert in den einzelnen Seiten herum. – Daniel fragte sich kurz, ob er dort wirklich etwas suchte, oder ob er einfach nur wichtig aussehen wollte, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. – Das gehörte nicht hier her.

"Wann wird er aufwachen?", fragte er stattdessen und spielte dabei nervös mit einer Hand am gegenüberliegenden Ärmel seiner Jacke. – Eine Geste, die man sonst nur vor Auftritten an ihm kannte.

"Sehen sie: OB und wann ein Komapatient wieder aufwacht, kann auch kein Arzt mit Gewissheit sagen. - Alles in Allem haben wir auch die Ursache noch nicht gefunden. Es könnte eine Krankheit, oder eine Verletzung des Gehirnes sein, was schlimm wäre. Wir haben ältere Narben im Kopfbereich gefunden, aber abgesehen von ein paar geringfügigen blauen Flecken, Schnittwunden und Einstichen am Arm keine neuen Verletzungen. - Was für Medikamente nimmt ihr Freund?“

Daniel bemerkte, wie er selbst rot wurde. Er hatte sich im Auto Stunden lang überlegt, wie er dem Arzt beibringen sollte, dass sein bester Freund gelegentlich Drogen nahm.

Dass sich die Geschichte nun auf derart unkomplizierte Weise löste, hatte er nicht erwartet. Er bemerkte, dass seine eigene Stimme seltsam fahl klang, als er sagte: „Ich weiß es nicht, aber ich weiß, wo er es aufbewahrt.“

Der tadelnde Blick des Arztes war Antwort genug. Daniel merkte, dass sein Gegenüber sich einen Kommentar verkniff, warum Daniel nie etwas dagegen getan hatte und hätte ihn dafür am liebsten ins Gesicht geschlagen. Zumindest wegnehmen hätte man ihm das Zeug sollen, dass stimmte sicherlich, aber… Daniel verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse und hielt sich zurück. Der Mann konnte ja nichts dafür, dass Daniel mit den Nerven am Ende war.

Irgendwie hatte Daniel auch das Gefühl er müsse auch noch mal klarstellen, dass er selbst zumindest keine Drogen nahm, aber er verkniff es sich und fuhr sich mit der rechten Hand nur betreten lächelnd durch die struppigen, teilweise grün gefärbten Haare.

„Die Polizei will Bremsspuren eines Autos gefunden haben. Vielleicht hatte er einen Unfall.“, führte der Arzt aus und schlug ein paar Zettel auf einem Klemmbrett zurück, als würde er das Thema für beendet befinden. – Es gab offensichtlich für ihn nichts mehr zu sagen.

Mit einem müden Lächeln bedankte sich Daniel und der Arzt und machte eine leichte Verbeugung, als würde er sich verabschieden. Vermutlich tat er das auch. Er hatte sicherlich noch andere Patienten und nicht viel Zeit.

„Ich denke, ob er erwacht, liegt jetzt nur noch an ihm allein.“, schloss der ältere Mann und streckte die Hand vor. Daniel zögerte sie zu ergreifen. Die Worte klangen weniger ermutigend, als sie sicherlich gemeint waren. Aber natürlich würde Meg zurück finden! Er war immer der Stärkere gewesen. Er war „Mister Meg Ich-Komm-Schon-Klar Saunderson“. Er hatte sich noch nie selbst hängen lassen. Er war einfach zu stolz, um einfach so zu sterben.

Während Daniel diesen Gedanken nachging, fragte er monoton und wie beiläufig:

„Warum wissen Sie nicht, ob ein Autounfall statt gefunden hat?“ Eigentlich interessierte es ihn nicht wirklich.

Der Oberarzt zuckte mit den dürren Schultern und sein Blick schien zu sagen: „Ich bin Arzt, kein Hellseher!“ Laut aber bemerkte er: „Ich will Sie nicht mit Details langweilen. Bremsspuren waren meines Wissens auf der Straße zu sehen. - Offensichtlich ist der Unfallfahrer – so es denn einen gegeben hat – vom Ort des Geschehens verschwunden. – Es gibt keine Zeugen, was zu dieser Urzeit ja nicht unüblich ist. – Außerdem haben wir keine unfallspezifischen Verletzungen gefunden.“

Daniel nickte.

Der Arzt ließ die Hände und das Klemmbrett sinken und blickte Daniel offen in die Augen. Seine Körperhaltung schien ungeduldig zu sagen: „Noch irgendwelche Fragen?“ Daniel musste dies mit einem leichten Kopfschütteln verneinen. Zwar hatte er eine Menge Fragen, aber er wusste, dass der Arzt diese nicht beantworten konnte. Er brauchte keine Einzelheiten. Es war auch nicht wichtig, was zu Megs Zustand geführt haben mochte.

– Wichtig war nur, dass Meg seinen Weg ins Bewusstsein zurück fand. – Wichtig war Daniel einzig und allein, dass sein bester Freund ihn nicht im Stich lassen würde.

Wie konnte man jemanden, der nicht mehr aufwachen kann dazu bringen, wieder ins Leben zurück zu kehren?

Eine Krankenschwester hatte Daniel sehr bildhaft erklärt, Meg habe sich vielleicht in sich selbst verlaufen. Unter anderen Umständen hätte Daniel das für eine ziemlich dämliche Floskel gehalten. Nun war er dankbar für jeden Hoffnungsfunken.

Wenn Meg sich nur verlaufen hatte, dann musste er nur seinen Weg zurück finden und alles würde so werden, wie es einmal war. Bis dahin würde Daniel für ihn die Stellung halten.

Meg hatte bisher immer die Kontrolle zurück erlangt, egal, wie schwierig es wurde. Wenn es aussichtslos schien, hatte er die gesamte Gruppe immer noch durch gebracht. Körperlich mochte er nicht so viel hermachen, aber seine mentale Kraft war ganz enorm, wie sie nur bei einer Person sein kann, die durch Feuer und Vergangenheit getauft wurde.

Dadurch, dass Meg so viel durchgemacht und immer weitermachte, war er ein Anführer gewesen. Er zeigte sich niemals schwach. – Er würde niemals aufgeben.

Das lag einfach nicht in seiner Natur. – Und seine Freundin war mindestens genau so stolz.

Daniel sah hektisch auf die Uhr.

Ilone war noch nicht hier und es würde sicherlich noch eine ganze Weile dauern, bis sie ankam. - Er hatte erst vor zehn Minuten angerufen. Es konnte ewig dauern, bis man hier um die Mittagszeit ein Taxi bekam und die Fahrt dauerte mehr als 30 Minuten, sofern man sie nicht in einem Krankenwagen zurück legte. – Solange der Verkehr mitspielte und nicht alle Ampeln der Innenstadt auf rot geschaltet waren, würde sie es in einer halben Stunde schaffen..

Nun erst bemerkte Daniel, dass er den Oberarzt eine Weile völlig ignoriert hatte. Dieser rückte gerade seine soeben frisch geputzte Brille zurecht.

"Ich weiß, dass es schwer ist.", begann er. "Aber wir haben eine Patentenverfügung erhalten, die Sie in diesem Fall zum Vormund erklärt, was die lebenserhaltenden Maßnahmen betrifft."

Daniel nickte und sagte tonlos: "Ja, ich weiß. Meg hätte diese Entscheidung niemals seiner Familie überlassen. Ich habe nur nie geglaubt, dass ich jemals WIRKLICH über sein Leben und Sterben entscheiden müsste."

Der Arzt sah Daniel mit der kalten Art von Verständnis an, die Menschen haben, wenn sie zu oft dasselbe Dilemma gesehen haben. Es waren die Reste des wahren Mitleids und der Leidenschaft, die einst da gewesen war, aber mittlerweile einem professionellen Denken gewichen war. – Das war vermutlich keine schlechte Einstellung, befand Daniel.

„Ich… ich muss erstmal mit seiner Lebensgefährtin sprechen…“, sagte er nervös, obwohl er eigentlich wusste, dass von ihm sicherlich noch nicht sofort eine Entscheidung erwartet wurde.

Der Oberarzt nickte erneut ohne jede Spur von echtem Mitleid. Daniel überlegte, dass es vielleicht das war, was man gemeinhin als „Routine“ bezeichnete und es jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter.

„Ich muss zu Meg.“, beschloss Daniel und nickte dem Arzt kurz zu, um ihm zu signalisieren, dass das Gespräch nun wirklich beendet war. Er hatte es plötzlich sehr eilig weg zu kommen. Die Last der Entscheidung war zu frisch, um sich schon jetzt mit einem Arzt darüber aus zu tauschen. Daniel wusste nicht, was er tun sollte, wenn er jemals zu dem Punkt kam, an dem er diese Entscheidung für seinen Freund treffen musste.

„Mir ist klar, dass sie nicht sofort eine Antwort geben können, aber denken sie frühzeitig drüber nach.“, sagte der Arzt noch und streckte die Hand vor. – Es war eine zarte, raue Hand mit schlanken Fingern, wie man sie von einem Arzt erwartet.

Daniel ergriff sie mit seiner großen Pranke und schüttelte sie vielleicht etwas zu kräftig, bevor er in die Richtung ging, in der Megs Krankenzimmer lag. Er redete sich dabei ein, dass er niemals über solche Dinge wie Lebenserhaltung würde entscheiden müssen.

Noch war ja nichts verloren.
 

* * * * * *
 

"Es ist alles verloren und vorbei!"

"Ich kann einfach nicht glauben, dass sie nicht für das bezahlen mussten, was sie dir angetan haben!"

"Wieso hast du die Gelegenheit nicht genutzt, als du sie hattest?"

Meg war den Stimmen gefolgt. – Sei es auch nur, weil er nicht genau wusste, wohin er sich sonst wenden sollte. Zunächst war er einfach nur darauf zu gegangen, ohne in der farblosen Eintönigkeit eine Veränderung wahr zu nehmen. Dann waren sie Gesprächsfetzen zunehmend lauter geworden. Meg hatte das lediglich für eine neuerliche Einbildung gehalten, aber mittlerweile kreischten sie ihm um die Ohren, wie Sturmwind und es war schwer in dem Gewirr von Stimmen überhaupt einen zusammenhängenden Satz zu finden.

Meg musste auch nicht wissen, was die Stimmen sagten. Er konnte es fühlen und er spürte den Schmerz, der in jedem Satz lag. Er kannte diese Gedanken, denn er hatte sie selbst viel zu oft gedacht und wieder nieder gekämpft.

– Diese Stimmen, die ein Teil seiner selbst waren konnte er nun nicht mehr ignorieren.

Was er bisher nicht gewusst hatte war, wie viele Stimmen es waren, die verzweifelt nach so langer Zeit der Gefangenschaft und des Vergessens in ihm schrien.

„Wieso hast du nie etwas getan, du verdammter Verlierer! Du hättest dich wehren können! Dann wäre jetzt alles gut!“

Meg wusste genau, wieso er diese Stimmen sein ganzes Leben lang weggeschlossen hatte. Er wollte sie auch jetzt nicht hören. Warum auch? Es würde sich nichts ändern. Viele dieser Worte waren viel zu alt, als dass man ihnen noch Genugtuung verschaffen konnte.

„Sie ist weg und das ist deine eigene Schuld!“, kreischte etwas in Megs Ohren. Dann hörte er eine sanfte, schnarrende Stimme: „Diese hier könnte neu sein.“

Meg zuckte merklich zusammen und blickte sich um.

Es war der Schattendämon, der bereits eine Weile unbemerkt in Megs Augenwinkel verharrt hatte und offensichtlich jeden seiner Gesichtsausdrücke genau studierte. Mit leicht träumendem Blick in die weiße Ferne fuhr der Schatten fort: „Dies ist die Halle der Stimmen. Man sieht es diesem Ort nicht an, aber er ist etwas ganz Besonderes. – Weißt du, was es bedeutet, dass du hier bist?“

Meg gab sich kühl, obwohl er innerlich zitterte. Diese letzte Stimme hatte ihn aus dem Konzept gebracht und aufgewühlt. Ja! Es war vielleicht teilweise seine Schuld gewesen, aber nicht er hatte Ilone verlassen. War Ilone nicht deswegen genau so Schuld, wie er?

War dies hier Teil einer perfiden Bestrafung für sein dekadentes Leben? Wenn es einen Gott gab, dann hatte er einen wirklich kranken Sinn für Humor!

„Ich vermute, hier muss ich nun für all meine Sünden büßen?“, antworte Meg dem Dämon. Der sarkastische Ton in seiner Stimme war kaum zu überhören und der schwarze Schattendämon zog die Augenbrauen leicht zusammen, ohne sich auf diese Ebene ein zu lassen.

„Bitte! Bitte! Hör auf! Hör doch auf, Vater!“, unterbrach ein lauter Schrei sie, der so hoffnungslos klang, dass es Meg die Tränen in die Augen trieb. Er wischte sie energisch fort und war sich dabei darüber im Klaren, dass er diese Bewegung wohl nur in seinen Gedanken ausführte.

- Diesen Dämon gingen seine Gefühle rein gar nichts an und Sätze und Gedanken, wie dieser letzte waren nicht für die Ohren dieses Fremden bestimmt.

„Sei nicht albern.“, tadelte der Dämon Meg, als die Stimme des Kindes im Gewirr der Echos versunken war. „Du büßt hier allerhöchstens für die Sünden, die Andere an dir begangen haben.“

Der Schatten wirkte ehrlich verärgert. Gut so! Meg war es ganz recht, wenn er die stoische Ruhe dieses Wesens etwas aushebeln konnte. Wofür hielt es sich eigentlich? Er war doch nicht sein Vater, dass er hier stehen und ihm Vorschriften über sein Handeln machen konnte.

Schlimmer noch war die Tatsache, dass nicht einmal sein Vater sich so etwas mittlerweile erlauben dürfte.

„Dies sind Echos all jener Stimmen, die du zu lange ignoriert und verdrängt hast.“, fuhr der Dämon fort, nachdem er einige Male tief durchgeatmet und sichtlich seine Ruhe wieder gefunden hatte. Er wies in die Leere, als könne er die Stimmen sehen. Meg zweifelte keine Sekunde daran, dass er das vielleicht sogar konnte.

„Wie Geister prallen sie nun an der Fassade ab, die du um deinen Schmerz herum gebildet hast – und sie können nicht wirklich schweigen.“, erklärte der Schatten mit tiefer Stimme.

Meg zuckte mit den Schultern, als würde ihn all dies hier nichts mehr angehen. Er wollte sich abwenden. Er wollte weg hier. – Vielleicht war es ganz gut, wenn diese Echos genau dort blieben, wo sie waren. Er hatte sie bisher erfolgreich ignoriert und das würde er auch in Zukunft schaffen.

"Du bist dein Leben lang vor dem weggelaufen, was sich in dir befindet und hast ein Königreich aus Schmerzen erschaffen. - Du verschließt die Augen nur deshalb davor, weil es kein schöner Anblick ist.", rief der Schatten ihm nach.

Meg schüttelte seine Worte ab, wie frisch gefallenen Winterschnee. Er hatte es nicht nötig sich dies an zu hören.

Er hatte all dies nicht nötig.

Hilfeschreie

War das eine Träne?

Als Daniel den Raum betrat, waren ihm zunächst nur die vielen Schläuche und das monoton piepsende EKG aufgefallen. Der Anblick war äußerst beklemmend und erinnerte zeitgleich irgendwie an alte Science-Fiction-Filme, für die Meg schon immer eine seltsame Faszination hatte. – Daniel selbst konnte nicht viel damit anfangen, aber wenn sein Freund einmal wach wäre, würde er mit ihm gemeinsam darüber lachen. – Zumindest hoffte er das.

Er setzte sich auf den einzigen Stuhl des Raumes, der direkt neben dem Bett stand und fühlte sich seltsam deplaziert. Nicht nur, weil der billige, weiße Plastikklappstuhl fühlbar unter seinem Gewicht nach gab, sondern auch, weil Meg niemals zugelassen hätte, dass Daniel ihn in so einer Situation angaffte. Schon aus diesem Grund hatte Daniel bisher davon abgesehen Megs Familie zu informieren. Das konnte er auch später noch machen, wenn die Medien das nicht vorher erledigten.

Das Gesicht des jungen Musikers wirkte bleich, beinahe wächsern, als sei er bereits gestorben. Die Hände lagen gerade und kraftlos neben seinem Körper. Aus der Rechten ragte eine lange Nadel, die mit einem Schlauch verbunden irgendeine Funktion erfüllte, die Daniel nicht deuten konnte.

Wann hatte Daniel Meg das letzte Mal krank oder blass gesehen?

Vermutlich war das auf der letzten Party, als er nach viel zu viel Alkohol umgekippt war und Daniel den Türsteher, der alles nur zufällig mit angesehen hatte, nur mit Mühe davon überzeugen konnte keinen Krankenwagen zu rufen.

- Vielleicht war er ansatzweise so blass gewesen, als sie ihren ersten richtigen Auftritt vor mehr als 200 Leuten hatten, aber das war Jahre her.

Meg war nie krank gewesen und schien niemals müde. Er war in die Rolle des Gottes geschlüpft, den er für seine Fans verkörperte und da gehörte Schwäche nun einmal nur dann zu, wenn es medienwirksam war. Das war alles nur Fassade und verbargen den wirklichen Meg, so wie die Schläuche und die Nadeln in Megs Arm, eigentlich auch nur kaschieren konnten, dass die Ärzte letztendlich auch machtlos waren und nicht wussten, was sie tun sollten. – Zumindest war das Daniels Gefühl.

Nun, da Daniel Zeit hatte zwischen den Gerätschaften seinen besten Freund zu betrachten, fiel ihm ein leichter Schimmer unter den Augen auf. Aber rein logisch betrachtet konnte das keine Träne sein. Vielleicht war es überschüssige Tränenflüssigkeit, die aus dem Auge tropfte. Daniel hatte Meg noch nie zuvor weinen sehen.

Er konnte sich nicht einmal vorstellen, dass Meg überhaupt so etwas, wie Trauer zeigen konnte. Seines Wissens nach ging Meg immer, wenn es ihm schlecht ging duschen. Stundenlang, wenn nötig. – Nicht mehr.

Das was Daniel nun in diese Träne interpretieren wollte, war eine Illusion. - Irre geleitete Hoffnung.

Meg lag im Koma und niemand wusste genau wieso.

Man hatte Bremsspuren eines Autos gefunden, aber keinen Wagen. - Man hatte Meg am Straßenrand liegen gesehen, aber keine gebrochenen Knochen, keine frischen Wunden.

Man hatte den Verdacht, dass er vielleicht eine Überdosis genommen hatte und das wurde momentan noch überprüft.

Man glaubte, dass Meg eventuell einen Hirnschlag erlitten hatte, aber auch das war nicht bewiesen.

Es gab so viele Möglichkeiten. Das Ergebnis blieb dasselbe und Daniels größte Angst war, dass Meg zwar erwachte, aber vielleicht nicht mehr der sein würde, der er vormals gewesen war. Man konnte von Schädigungen am Gehirn so viele Behinderungen mit sich nehmen, dass Daniel am liebsten gar nicht anfangen wollte über die möglichen Folgen nach zu denken. Meg hätte dies sicherlich noch weniger gewollt, als den Tod.

Zumindest glaubte Daniel dies, aber er wusste es nicht genau. Vielleicht hatte Meg einmal etwas in dieser Richtung gesagt. Daniel wollte nichts einfallen. Wer war er überhaupt, dass er sich anmaßen durfte seine eigenen Schlussfolgerungen über Megs Meinungen an zu stellen?

Kurz fiel ihm ein, dass er Megs bester Freund war und dass immerhin irgendwer, nun, da Meg sich in diesem Zustand befand, für ihn würde sprechen müssen. Wenn nicht er das war, wer dann?

"Hey, Meg.", murmelte Daniel als könne er eine Antwort erwarten. Es fühlte sich falsch an. Als würde er mit einem Schlafenden reden. Er sah sich um, als habe er Angst bei einem beschämenden Geständnis belauscht zu werden. Er betrachtete eine Weile das Fenster, glaube er jemand könnte ihn dadurch beobachten. Eine ziemlich dämliche Vorstellung, wenn er bedachte, dass er sich alleine in einem Zimmer im 6ten Stock des riesigen Gebäudekomplexes befand. Selbst wenn irgendein Paparazzi Wind von der Sache bekommen hatte, war es so gut wie unmöglich hier ohne großen Aufwand zu spionieren.

Daniel schüttelte sich, um sich wieder ganz Meg zu zu wenden und startete einen zweiten Versuch.

"Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber..." Er stockte mitten im Satz. "du musst zurück kommen, okay?"

Seine Stimme hatte jetzt etwas an Festigkeit gewonnen. Er zwang sich zu einem Grinsen und streckte die Hand nach den goldblonden Haaren seines Freundes aus, um vorsichtig eine wirre Strähne aus dem kalkweißen Gesicht zu streichen.

Daniel war noch nie ein guter Redner gewesen, also beließ er es fürs Erste dabei und nahm Megs Hand. – Der etwas jüngere Mann war ein gutes Stück kleiner, als Daniel - schon, als sie noch Kinder waren. Jetzt fiel es Daniel erst richtig auf und ein starkes Gefühl Meg beschützen zu müssen, überkam ihn, obwohl es nicht wirklich verwunderlich war, dass Meg einfach nicht so groß war, wie er.

Mit knapp zwei Metern purer Muskelmasse war Daniel bisher immer der Größte und Stärkste gewesen. – Zumindest, was alles Körperliche anging. Er war in der Schule der Sportlichste und auch später wurde er als „der Hüne“ von den Medien tituliert, wenn man den überhaupt einmal den Blick von Meg abwandte und sich auch auf den Rest der Band konzentrierte, was nicht so oft geschah, wie man meinen sollte.

Erst jetzt, als er die Hand seines Freundes nahm, fiel Daniel auf, wie zart und klein Megs Hände im Vergleich zu seinen waren. Daniel lachte bitter auf.

"Und du nennst dich "Gitarrist?", spottete er: "Mit diesen Frauenhänden solltest du lieber Klavier spielen."

Er bereute den Spruch sofort, als er bemerkte, wie hohl er im Krankenzimmer verklang. Es tat weh nicht das gewohnte Konterfei zu bekommen - oder zumindest ein entrüstetes Schnauben. - IRGENDWAS! Irgendeine Reaktion wäre immer von Meg gekommen. Auch wenn er häufig wütend aufgestanden und den Raum verlassen hatte, wenn Witze auf seine Kosten gerissen wurden. Wieso konnte Meg nicht einfach einen seiner wütenden Anfälle bekommen?

Jetzt war er absolut wehrlos und obwohl Daniel Meg schon seit seiner Kindheit in Schutz genommen hatte, bemerkte er nun, dass er auch diesen Zustand der absoluten Wehrlosigkeit bei dem jungen Sänger nie gesehen hatte.

Er hatte bisher immer zurück schlagen können und sei es nur durch harte Worte.
 

* * * * * *
 

Der Schmerz war real. Meg konnte nicht sagen, woher er kam, aber er war da. - Das Gefühl in sich konnte er nur als "Terror" bezeichnen. Er hatte den Echos den Rücken zugewandt und versuchte es nun stattdessen in der genauen Gegenrichtung. Vielleicht war es besser einfach von den Geräuschen fort zu kommen, als auf sie zu zu gehen.

Sie taten ihm nicht gut, also konnten sie wohl kaum den richtigen Weg zeigen.

"Ich brauche euch nicht! Ich brauche niemanden!“, gellte erneut ein bohrendes Echo in seinem Kopf, dass ihn schon seit seiner Flucht vor dem Schatten zu verfolgen schien und sich nur durch das leise Geräusch von Flügelschlagen im Nebel bemerkbar machte.

Meg versuchte es zu ignorieren, so gut er konnte, aber er war sich bewusst, dass es genau das war, was er nun fühlte.

"Ich brauche euch nicht!"

Meg begann zu schreien. Er wusste nicht genau, wieso, aber er wusste, dass es gut tat. Er presste seine Arme verschränkt über den Bauch und sank zusammen, während seine Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit noch zunahm und der Nebel sich erschreckend über ihm verdichtete.

Vielleicht musste er auf Ewig hier eingesperrt bleiben. War es nicht besser, dann sofort zu sterben und sich diesen Gefühlen, die er nun hatte so endgültig zu entziehen?

Er hatte sich zu lange in sich selbst versteckt und all seine negativen Gedanken in sich verschlossen, damit ja niemand sehen konnte, wie einsam und gebrechlich das einstige Kind war. Er hatte bewiesen, dass er stark war und alleine zu Recht kommen würde. Er war erwachsen und hatte nichts mehr mit dem schwachen Versager zu tun, der er einst vielleicht gewesen war. Nichts desto trotz war diese Schatulle, die er so lange in sich gehütet hatte, nun aufgebrochen und alles lag in Scherben vor ihm. Wie sollte er dies alles nur jemals wieder in Ordnung bringen?

Er hatte seine Wut zu lange unterdrückt - seinen Schmerz. Es war doch nur logisch, dass sich all dies irgendwann einmal gegen ihn selbst wenden musste.

Dies war real. Das war kein Traum.

"Ich kann einfach nicht glauben, dass du sie nie für das hast bezahlen lassen, was sie dir angetan haben!", sagte dieses Mal eine weniger schreiende Stimme und als Meg den Blick hob, sah er erneut den Schatten seines Selbst. Vielleicht wollte er damit ein Echo intonieren. – Vielleicht war er auch selber Eines. Was Meg mit beinahe felsenfester Sicherheit wusste, war, dass dieses verdammte Biest sich über ihn lustig machen wollte.

"Lass mich in Ruhe!", fauchte er und bemerkte selbst, wie er langsam die Beherrschung verlor. Er wusste, er konnte nichts gegen den Schattendämon ausrichten, also hatte er versucht ihm aus dem Weg zu gehen. Immer, wenn er gerade glaubte, er habe sich dem Schatten entzogen, war er wieder da. Es gelang Meg einfach nicht, sich in Sicherheit zu bringen. Der Dämon ließ ihn nicht mehr gehen.

"Du kannst nicht weg.", bemerkte der Schatten das Offensichtliche ganz so, als habe er Megs Gedanken gelesen. "Dafür ist selbst dein Verstand nicht tief und verwoben genug."

Meg war sich sicher, dass man einfach nur seine Miene studieren musste, um zu erkennen, dass er nicht mehr konnte. Er war am Ende.

„Willst du mich etwa verfolgen?“, kreischte er und ballte seine Hände zu Fäusten.

Der Schattendämon antwortete ihm nicht, sondern sah Meg nur eine Weile mit jenem leeren, katzenhaften Blick an, den Meg nicht deuten konnte und wollte.

"Lass mich raus! Lass mich gehen!", dieses Mal versuchte Meg nicht mehr fort zu laufen. Wenn der Schatten einen Kampf wollte, dann würde er ihn auch erhalten. Meg sprang und griff in Richtung des schwarzen, zarten Halses, um dem Dämon die Luft ab zu drücken.

Statt des erwarteten Gefühls, fand er sich bald auf dem Boden wieder.

Er glitt durch das Fleisch und die wabernde schwarze Haut hindurch und landete auf den Knien, wie ein Diener vor einem König.

Angewidert strich Meg sich hektisch über die Arme, als seien dort noch Reste des flüssigen Dämons, die es abzuschütteln galt.

In der Mimik seines Gegenübers konnte er indes weder Zorn noch Überraschung lesen.

"Wo sind meine Freunde?", schluchzte Meg und versuchte seine verwirrten Gedanken zu sortieren - sich zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck mehr fort zu laufen, also musste er sich wohl oder übel auf das Spiel dieses Teufels einlassen. Meg schloss die Augen und atmete tief durch.

Dann spürte er plötzlich die Krallen des Schattens auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen und erwartete, dass die Krallen des Dämons ins Fleisch schneiden würden, bevor er die tröstende Geste erkannte. Er versteifte sich weiter, als sich die Pranken langsam zurück zogen. Eine Weile war es einfach nur still.

Dann ergriff der Schatten erneut das Wort: "Hier unten bist du schon immer alleine gewesen. Du hast hier keine Freunde."

Meg wusste, dass sein Gegenüber dieses eine Mal Recht hatte. Er war alleine. Er hatte sich immer allein gefühlt. Wieso brauchte er erst diese Halluzination, bevor ihm das bewusst werden konnte?

"Wäre es nicht besser zu sterben?", fragte Meg und sah dem Schatten tief in die gelben Augen. Er gab keine Antwort und keine Regung von sich, wie eine Statue aus Obsidian.

Rückblick

Mittlerweile war auch Ilone am Krankenhaus angekommen.

Zusammen mit ein paar Einsatzwagen verschiedener Magazine und Fernsehsender, war sie gerade noch rechtzeitig, um einen wundervollen, orangeroten Sonnenuntergang über dem schneeweißen Betonbau zu sehen, der den größten Teil des Hospitals ausmachte.

Ilone glaubte kaum, dass man bei Gegenlichtverhältnissen eine gute Reportage machen würde und sie fragte sich, wann sie angefangen hatte, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. – Trotz Allem war es unglaublich, wie schnell die Presse Wind von dem Unfall bekommen hatte, denn die großen Bullies, die vor dem Haupteingang des Krankenhauses versammelt waren, gaben erste exklusive Live-Berichte über Megs Zustand.

Ilone schürzte die Lippen und hoffte, dass niemand Kenntnis von dem kleinen gelben Taxi nehmen würde, der sich langsam über den Parkplatz auf das Krankenhaus zuschob.

Sofern die Medien auch nur halb so informiert waren, wie die Freundin des "Amorphic Sinner"-Sängers, dann berichteten sie vermutlich in sehr ausschmückender Form darüber, dass es eigentlich nichts zu berichten gab.

Wenn dieser Unfall nicht geschehen wäre, dann wäre es nur wahrscheinlich, dass genau diese Wagen der Klatschpresse nun vor ihrem Haus standen und versuchen würden sie über die Gründe der Trennung auszuquetschen. Meg hatte es an sich, dass er immer wieder aus den seltsamsten Gründen in der Presse stand.

Allein die Trennung wäre für einige Zeitschriften Grund genug, eine fünfseitige Reportage über die Beziehungsunfähigkeit des Sängers zu heraus zu bringen, gewesen.

Ilone erinnerte sich, dass sie noch vor einem Jahr zufällig in einer Illustrierten einen langen Bericht über das Ende von Megs letzter Beziehung gelesen hatte. – Ilone hatte darüber gelacht und sich gefreut, dass die ehemalige Konkurrentin, sowie auch die meisten von Megs ehemaligen Freundinnen, blond war. Sie bildete sich ein, dass es einen Unterschied machen würde, dass sie selbst dunkle Haare hatte. Schon ein halbes Jahr vor ihrer jetzigen Trennung, musste sie sich eingestehen, dass das sehr oberflächlich gedacht war.

War die Trennung zwischen ihr und Meg wirklich real? Momentan fühlte es sich nicht mehr so an. Es war einfach zu falsch. Es gab zu viele unausgesprochene Worte zwischen ihr und Meg, um ihn zu vergessen. Natürlich hatte sie ihn verlassen, aber wie konnte sie sich auch so fühlen, nun da sich Meg in einer solchen Situation befand? Sie wollte ihm noch immer zur Seite stehen. Wieso musste dieser Streit in so einer Situation zwischen den Beiden stehen? Vermutlich wusste noch nicht einmal Daniel bescheit. Hatte sie überhaupt ein Recht hier zu sein und sich wie seine Freundin auf zu führen?

Ilone musste glauben, dass er es eigentlich wollte, zumindest zeitweise. Später, wenn es Meg wieder gut ging, konnte er sie noch immer zum Teufel jagen und behaupten, dass sie als seine Ex rein gar nichts im Krankenhaus verloren hätte.

Natürlich. Wenn er sich nur das Bein gebrochen hätte und noch bei vollem Bewusstsein wäre, würde ihr seine kühle Natur entgegen schlagen, sobald sie sein Zimmer betrat. Natürlich würde Meg so tun, als ob ihn das alles nicht berührte und nichts anging. Hatte er das nicht immer schon getan? Das wäre seine ganz private Rache dafür, dass sie es gewesen war, die ihn verlassen hatte.

Meg wäre viel zu eitel für Tränen, viel zu stolz für Romantik – und trotz seiner Erfolge war er viel zu verschlossen, um mit jemandem wirklich auf einer Ebene zu kommunizieren. Er würde ihr niemals sagen, ob er sie liebte, oder ob sie seit Anfang der Beziehung nur ein Spielzeug gewesen war.

Er hätte niemals seine Schwäche eingestanden und als Ilone ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe des Taxis legte wurde ihr bewusst, wieso das so war.

- Meg vertraute einfach niemandem, denn die Wahrheit war, dass JEDER ihn verletzen konnte und Kleinigkeiten bei ihm besonders tief gingen.

Ilone hatte diese Art an ihm, mit versteckten Karten zu spielen lieben gelernt. Meg umgaben Geheimnisse, die man ihm nur mühselig entlocken konnte. Jeder kleine Erfolg in dieser Hinsicht gab ihr selbst das Gefühl eine gute Freundin zu sein. Es war zu Anfang der Beziehung ein schönes Spiel gewesen trotz seiner Versuche die Distanz zu wahren, näher an ihn heran zu kommen und Ilone hatte sich eingeredet, dass sie irgendwann einmal vollends hinter diese Fassade gelangen konnte.

– Mittlerweile war es trotz Allem anstrengend und deprimierend zu erkennen, dass das für einen normalen Menschen einfach nicht möglich war. Wie hatte Daniel es nur geschafft?

Ilone hob den Blick wieder und tippte dem Fahrer auf die Schulter.

"Fahren Sie um das Gebäude herum zum Hintereingang", wies Ilone ihn an und wedelte mit einem Schein, um auf das großzügige Extratrinkgeld aufmerksam zu machen, dass er bekommen würde, wenn er ihr half die Reporter zu umgehen.

Der Fahrer nickte. „Das wollte ich ohnehin vorschlagen.“, antwortete er mit einem unverkennbaren, aber sehr schönen Akzent, den Ilone nicht wirklich einordnen konnte. „Es muss schrecklich sein, wenn man auf Schritt und Tritt beobachtet wird.“

Ilone riss die Augen weit auf.

„Was?“, fragte sie und hätte sich selbst für den ängstlichen Klang in ihrer Stimme ohrfeigen können..

„Na! Ihr Freund… Dieser Sänger… Ich wünsche Ihnen alles Gute!“ Der Fahrer blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Ilone wich dem Blick aus und stieg vielleicht etwas zu hektisch aus dem Wagen, bevor sie ihm das Geld beinahe entgegen warf.

Bisher hatte sie nicht geglaubt, dass irgendjemand sie unbedingt erkennen würde, denn Meg hatte akribisch darauf geachtet sie aus dem Rampenlicht heraus zu halten.

Ilone war immer dankbar dafür gewesen. – Sie hatte ihr eigenes Leben und es war schon schlimm genug, dass dann und wann ein Reporter an der Bushaltestelle auf sie wartete. – Irgendwo war es auch peinlich.

Ilone war nicht das „Bandhäschen“ für das sie viele Leute sahen. Dieses Klischee hatte sie niemals ausfüllen wollen, doch leider war es die Reaktion der meisten Frauen, wenn sie von ihrer Beziehung erfuhren.

Als sei es verboten einen Musiker lediglich auf Grund seines Charakters zu lieben.

Diese Art von Aufmerksamkeit hatte sie nie gewollt.

Sie hatte ihn geliebt und so oft verflucht. Dass er starb war nicht nicht richtig.
 

* * * * * *

Meg war nicht tot. Er hatte dies für sich beschlossen.

Für einen kurzen Augenblick hatte er in Erwägung gezogen seinem Leben einfach irgendwie ein Ende zu setzen. – Wenn man im Traum starb, dann starb man der Sage nach ja auch in Wirklichkeit. Vielleicht war dies sein einziger Weg hier raus.

Der Schatten selbst hatte nach sehr langem, singenden Schweigen scheinbar enttäuscht nur einen Mundwinkel hochgezogen und meinte schließlich fast tonlos: "Wenn du es wirklich WILLST, werde ich dich von deinen Schmerzen befreien."

Es war ein ehrliches Angebot und Meg war ehrlich interessiert. Er wusste nicht, wie lange er schon im Krankenhaus lag, aber war es nicht besser tot, als wehrlos zu sein?

Lange Zeit hatte er noch am Boden verharrt und nichts mehr gesagt. Er musste darüber nachdenken, aber sein Kopf war wie leergefegt. Dieses Schweigen war für ein paar Minuten sogar sehr angenehm, denn auch die Echos waren verstummt, als erwarteten sie mit angehaltenem Atem die Antwort auf den Vorschlag des Schattens.

„Wenn ich nun sterbe, dann bedeutet das, dass ich aufgegeben habe.“, begann Meg nun wieder einen neuen Gedankengang aufgreifend.

Der Schatten nickte. In seiner Stimme lag kaum noch Geringschätzung. Meg ging durch den Kopf, dass er vielleicht auch Angst hatte, denn wenn er starb, dann würde auch diese Erscheinung ein Ende finden. Konnte es sein, dass diese Halluzination, die er selbst geschaffen hatte, sich vor dem Tod fürchten konnte?

Meg wusste nicht, ob ein Traum Angst davor haben konnte, dass sein Träumer erwacht, aber in gewisser Hinsicht wäre Megs Ende auch das Ende des Schattens und dieser Welt im Nichts.

„Ja.“, sagte der Schatten und unterbrach damit Megs Gedanken. „Wenn man es so betrachtet wie du, hättest du den Kampf verloren. Allerdings ist es keine Schande zu erkennen, wann es an der Zeit ist auf zu geben.“

Meg stand auf. Er bemerkte, wie wacklig er sich nun auf den Beinen fühlte. So lange war er schon seit Ewigkeiten nicht mehr ohne einen Rausch gewesen und das war gut so. Er brauchte nun einen möglichst klaren Verstand. Er musste wieder aufstehen und durfte einfach nicht aufgeben.

Ilone hatte sich immer darüber aufgeregt, dass Meg einfach alles als eine Art Wettkampf betrachten konnte, dennoch war das die simpelste Möglichkeit sich selbst immer wieder an zu spornen und immer weiter zu machen.

- Und Meg wollte nicht verlieren.

„Was muss ich tun, um von diesem Ort zu entkommen?“, fragte er den Schatten und wusste sofort, dass er mit dieser Antwort seine Entscheidung zum Leben getroffen hatte.

Das Nichts veränderte sich so plötzlich, dass es Meg beinahe nicht mehr auffiel. In einer Sekunde sah er noch die aufgerissenen Augen des Schattens. Dann verschwanden sie und lösten sich gleichsam in der neuen Realität auf, die Meg nun umgab.

Er wusste, wo er war. – Es war der alte Proberaum, in dem Meg und Daniel ihre ersten kleineren CDs aufgenommen hatten. Viele Erinnerungen hingen an diesem Ort und vielleicht war genau das der Grund, wieso er davon träumte.

Auch hier war alles von Staub bedeckt. Nichts schien wirklich, als seien auch die Farben der lackierten Gegenstände vor ihm verblasst.

Vor Meg lagen die alten Instrumente. – Das staubige rote Drumset, das schon total kaputt war, als ihr erster Drummer Michi es vom Flohmarkt gekauft hatte und auch der 10-Euro Bass aus dem Supermarkt, den Daniel noch lange aus reiner Sentimentalität heraus benutzt hatte, auch, als sie eigentlich schon deutlich teurere Instrumente bekommen hatten.

Vorsichtig strich Meg über die Saiten und der Bass gab einen dunklen, summenden Ton von sich. Wieso hatte Daniel dieses alte Erinnerungsstück eigentlich letztendlich weggeschmissen? Vermutlich doch nur deswegen, weil Meg sich andauernd über seine Gefühlsduselei lustig gemacht hatte. Jetzt wurde er traurig bei dem Gedanken daran, dass es nur noch in seinen Erinnerungen existierte.

Er sah sich, um. Das einzige Instument, dass er hier nicht mehr finden konnte, war die alte, schwarze Gitarre, die er in seiner Jugend mit so vielen Aufklebern versehen hatte, dass man den Corpus darunter kaum noch hatte erkennen können.

Zwischen all diesen Instrumenten und Percussion-Werkzeugen hätte es eigentlich da sein müssen.

Er schritt den schmucklosen Raum mit der kleinen Bühne ab. Aus irgendeinem Grund kam es ihm unheimlich wichtig vor diese alte Erinnerung wieder zu finden, auch, wenn er selbst es gewesen war, der die Gitarre letztendlich für einen guten Zweck an irgendeinen treu ergebenen Fan versteigert hatte.

Weiter hinten, beinahe schon hinter der Bühne, sah Meg plötzlich etwas Auffälliges liegen. Er Schritt langsam auf etwas zu, dass in der Ecke lag wie ein totes Tier und das Erste, was ihm auffiel war rotes Blut, dass in einem kleinen Rinnsal den leicht abschüssigen Boden in seine Richtung lief.

Mit dem Fuß kickte Meg etwas zur Seite, das nach einem großen Holzstück aussah und zwischen zerrissenen Saiten und schwarzen Lacksplittern erkannte er schließlich die kläglichen Überreste eines hellen Griffbrettes. – Dies hier war die Gitarre.

Im zertrümmerten Corpus stand noch immer tief eingeritzt „Fuck“. Meg erinnerte sich, dass er die Schnitzerei mit einem Skalpel gemacht hatte, das er normalerweise benutzt hatte, um sich selbst zu ritzen. Er betrachtete seinen Oberarm, auf dem sich auch heute noch ein paar größere Narben abzeichneten.

All dieses Blut… Er war es doch gewohnt. – Er hatte den Anblick seines eigenen Blutes sogar schon immer irgendwie genossen. Wieso rief es in ihm urplötzlich so unangenehme Empfindungen hervor?

Grenzwege

Ilone kochte vor Wut.

Sie war keine direkte Verwandte von Meg und weil schon ein paar aufdringliche Reporter die Dame an der Rezeption gestört hatten, ließ sich die leicht dickliche Frau auch nicht erweichen zu sagen, wo genau man Meg Saunderson finden konnte. Ilone machte gedanklich ein paar abwertende Bemerkungen über die viel zu kurzen knallroten Haare der Frau und warf sich in einen Korbsessel, den irgendwer im Eingangsbereich aufgestellt hatte. - Vermutlich bestand die einzige Daseinsbereichtigung dieser Sitzgruppe in einem verzweifelten Versuch, die sterile Krankenhausathmösphäre auf zu lockern.

Er war weniger bequem, als er aussah, aber Ilone hatte auch noch nicht lange gesessen, als sie Daniel sah. Eigentlich hatte er wohl nur vor das Krankenhaus zu verlassen, um eine zu rauchen. - Zumindest schloss Ilone das aus dem gezückten Zigarettenetui und dem Feuerzeug in seiner linken Hand. - Das war vielleicht das erste Mal, dass Ilone froh über Daniels Sucht war.

"Da würde ich nicht rausgehen!", begrüßte sie ihn, bevor er sie überhaupt bemerkt hatte. "Da draußen tummeln sich schon die ersten Aasgeier." Innerlich schrak sie bei diesen Worten zusammen. Meg war noch nicht tot! Das Wortspiel mit Geiern war also nicht angebracht.

Daniel lächelte so ehrlich, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war und steckte die Zigaretten zurück in eine Tasche des grünen Armeeparkers, der für ihn schon zu einer Art Markenzeichen geworden war. Er war sogar für ihn etwas zu groß und trug an der Brusttasche drei Buttons. – Ein Smiley, ein „Dreamcatcher“-Button und einen etwas Größeren, der die Aufschrift „Change may happen these days“.

"Ilone...", grüßte er und nahm das neben ihm zerbrechlich wirkende Mädchen behutsam in den Arm, als habe er Angst sie zwischen seinen großen Armen zu zerbrechen.

Auf dem Weg in eine der oberen Etagen des Krankenhauses schilderte Daniel Ilone, was er bereits wusste:

"Ein Passant hat ihn bewusstlos auf der Straße gefunden, also nahm man an, er sei in einen Unfall verwickelt gewesen."

Ilone sah Daniel an und wäre beinahe vor einen im Weg stehenden Rollstuhl gelaufen.

"War es etwas kein Unfall?", fragte sie.

Daniel zuckte die Schultern. "Man hat ja ein paar Spuren gefunden, die darauf hindeuten und Nachbarn wollen Reifenquietschen gehört haben. - Aber man hat ja keine direkten Verletzungen gefunden."

Ilone vermutete, dass Daniel ziemlich wortgetreu wiedergab, was der Arzt gesagt hatte. Diese hochgestochene Art zu sprechen passte einfach nicht zu ihm. Erst das machte ihr bewusst, wie unsicher und verloren Daniel eigentlich wirkte.

Trotzdem warf sie gereizt ein: "Die wollen uns doch nicht weiß machen, dass jemand einfach so ins Koma fällt!"

Mittlerweile hatten sie Megs Zimmer erreicht. Es war die Nummer 128 mit einer weißen Tür in der sich ein vergittertes Bullauge befand. – Dieselbe Tür, die es auch an jedem anderen Raum dieses Ganges gab.

Daniel öffnete und machte eine einladende Handbewegung, um Ilone den Vortritt zu lassen. In jeder anderen Situation hätte die Posse beinahe humoristisch gewirkt.

"Sie haben eventuell einen epileptischen Herd in seinem Kopf gefunden.", machte Daniel weiter, als wäre ihm dieses Zitat erst eben eingefallen und er betrat hinter Ilone den weißen, viel zu steril wirkenden Raum.

"Wo auch sonst", murmelte Ilone und hoffte gleich darauf, dass Daniel den Sarkasmus überhört hatte.

Sie hörte nur noch mit halbem Ohr zu und betrachtete Meg. Er sah schlimmer aus, als sie es erwartet hätte. - Irgendwie abgemagert, obwohl er doch erst wenige Stunden hier war.

Sie ging zu ihm und umarmte ihn. Irgendwie war es ein seltsames Gefühl seine Haut an ihrer zu spüren. Sie hatte nach dem Streit nicht mehr geglaubt ihn, unter welchen Umständen auch immer, je wieder zu umarmen. Er war viel wärmer, als sie es gewohnt war. Vielleicht hatte er Fieber.

"Glaubst du, er weiß, was geschehen ist?", flüsterte sie und ließ Meg langsam los.

Daniel zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung", antwortete er und machte sich an den geschlossenen Vorhängen zu schaffen, um etwas Licht herein zu lassen. Ilone schloss geblendet die Augen und wandte sich vom Fenster ab und wieder in die Richtung, in der Megs Bett stand. Er war beinahe vollkommen von Drähten und Monitoren eingeschlossen.

"Er sieht so friedlich aus. Weiß denn wirklich niemand, was geschehen ist?" Ilone merkte kaum, wie sie selbst redete, geschweige denn, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, als sie auf die totenbleiche Hand starrte, in der eine Kanüle mit weißem Verband befestigt war.

"Nein. Irgendwie scheint niemand wirklich zu wissen, was los ist.", sagte Daniel einfach und setzte sich auf einen Stuhl. "Entweder er wacht wieder auf, oder das Geheimnis wird über kurz oder lang mit ihm sterben."

Ilone nickte und das Wort „sterben“ erregte Übelkeit in ihr.

"Glaubst du, dass er sterben wird?", fragte sie Daniel direkt und dieses Mal sah sie ihn direkt an. Daniel schüttelte den Kopf und dieses Mal sah Ilone keinen Zweifel in seinem Gesichtsausdruck. "Ich glaube nicht, dass er uns auf diese Art verlässt", sagte er und eine Weile blieb es vollkommen still, abgesehen von den monton surrenden Gerätschaften. „Er ist viel zu melodramatisch, um sich heimlich davon zu schleichen und im Schlaf zu sterben.“

Daniels Stimme klang bei diesen Worten nicht wirklich überzeugt. Er drehte sich beinahe unbewusst um und betrachtete den beinahe konzentrierten Gesichtsausdruck seines Freundes, während er nur mutmaßen konnte, was hinter dessen Stirn vorging.
 

* * * * * *
 

"Du musst mir vertrauen", sagte der Schatten. "Dann wirst du es vielleicht schaffen."

Meg sah verblüfft aus und lachte hohl. "Hast du nicht gesagt, dass du mich töten willst?"

"Ich habe gesagt, dass du meinetwegen sterben wirst. - Nicht, dass ich das auch möchte", bemerkte der Schatten schnippisch und machte eine energische Handbewegung bei der Meg zusammen zuckte, um diesen Teil des Gespräches für beendet zu erklären.

"Weißt du eigentlich, wie du hierher gekommen bist?", fragte der Schatten scheinbar nur, um das Thema zu wechseln. Irgendwie hatte Meg dennoch das Gefühl, dass er diese Frage nicht grundlos stellte und er zuckte mit den Schultern.

"Ich erinnere mich an gleißendes Licht, aber dann verschwimmt alles", gab er zu. "Ich muss wohl einen Autounfall gehabt haben.“

„Wirklich?“, sagte der Schatten und es klang eher nach einer sarkastischen Feststellung, als nach einer Frage.

Meg atmete tief ein und versuchte es zu überhören. Er musste seinen Stolz abschütteln, wenn er hier heraus wollte und in Erfahrung bringen, was auch immer dieses Wesen wusste.

„Wenn du mir helfen kannst“, murmelte Meg und war sich bewusst, dass man seiner Stimme den inneren Konflikt anmerken musste „dann werde ich alles tun, nur um hier wieder heraus zu kommen.“

Die Mundwinkel des Schattens verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. Meg wusste nicht genau, ob er dies als gutes oder schlechtes Omen deuten sollte.

„Sehr gut! Um diesen Ort zu verlassen, musst du zunächst noch deutlich tiefer in ihn hinein.“, gab der Schatten an und ein Schauer lief Meg bei der kratzigen, einschmeichelnden Stimme den Rücken herunter. Er begann sich wie eine Fliege zu fühlene, - eine außerordentlich dämliche Fliege, - die gerade im Begriff ist freiwillig in das Netz einer Spinne zu geraten. Trotzdem zwang er sich zu einem verzweifelten Lächeln und nickte.

„Höre auf dein Innerstes. – Schließe die Augen!“, forderte der Schatten und Meg musste unversehens an den Yogakurs denken, den er irgendwann einmal mit Ilone besucht hatte. Er hatte ihn gehasst und nicht wirklich verstanden, wobei es bei so was eigentlich ging.

Ilone hatte das auf die Tatsache geschoben, dass es ihm generell schwer fiel sich einfach mal zu entspannen. – Meg musste einsehen, dass sie damit Recht hatte, aber auf der anderen Seite hielt er es auch einfach nur für Schwachsinn, was die Sache nicht unbedingt einfacher machte.

Dennoch schloss Meg folgsam die Augen.

Es passierte nicht viel. Ganz, wie Meg es erwartet hatte. Die Dunkelheit vor seinen Augen nahm weder nennenswert zu, noch ab.

„Versuche dich zu erinnern!“, hörte man nun wieder den Schatten. Meg wusste, dass es keinen Zweck haben würde zu fragen, woran genau er sich erinnern sollte. Wenn der Schatten wirklich ein Produkt seines eigenen Verstandes war, dann wusste er es vermutlich selber nicht. Vielleicht war dies hier einfach nur Zeitverschwendung.

„Ich sehe rein gar nichts.“, murrte Meg und hörte nur das schnauben des Dämons als Antwort.

Mit geschlossenen Augen nahm er aber nun etwas Anderes wahr, dass nichts mit seinen Erinnerungen zu tun haben konnte. Es war ein leises Flüstern in der Ferne. – Es waren Stimmen, die ihn an die Menschen erinnerten, die ihm etwas bedeuteten. Daniel und Ilone. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Megs Herz machte einen Satz.

„Ich höre Stimmen!“, rief er. „Das sind keine Echos!“

Zuerst wusste Meg nicht, wieso er sich derart sicher war, dann aber fiel ihm auf, dass die Schatten bisher immer nur in seiner eigenen Tonlage gesprochen hatten und niemals die seiner Freunde angenommen hatten.

„Die Stimmen sind nicht von Bedeutung, lass dich nicht ablenken.“, forderte der Schatten. Meg öffnete die Augen. Vielleicht war gerade dies der Weg nach draußen. Es war Ilones Stimme. Das konnte einfach kein schlechtes Zeichen sein, denn sie war ruhig und freundlich. Sie war da. Sie war bei ihm.

Der seltsam neblige Raum schien sich für eine Weile zu lichten. Wenn es hier einen Ort gab, an dem die Echos besonders stark waren, dann musste auch Ilones Stimme irgendwo hier gebündelt sein. Er musste sie erreichen, um zu wissen, was sie sagte.

Meg rannte los in den Nebel. Genau in die Richtung, aus die er das Flüstern vermutete. Doch die Stimme entzog sich ihm immer weiter.

„Warte!“, hörte er noch den Schatten hinter sich, aber Meg beachtete ihn nicht mehr. Er rannte. Der Nebel schien erneut dichter zu werden, als habe er sich nur für einen Moment gelichtet, um harmlos aus zu sehen. Die Falle schnappte zu und die Stimmen waren vollends verschwunden. Hier gab es nichts mehr als Stille und Kälte. Meg hatte keine Ahnung wo er war. Was er aber deutlich spüren konnte war, dass er fiel. Er konnte nicht genau beschreiben, wieso er das dachte, denn hier hatte es ja faktisch gesehen die ganze Zeit über keinen wirklichen Boden gegeben.

Er bemühte sich weiter vorwärts zu kommen und er glaubte, dass es ihm gelang.

Vielleicht lief er im Kreis, wenn laufen hier möglich war, denn auch diese Handlung schien hier seine Bedeutung verloren zu haben. Meg bemerkte, dass er sich erneut dem Zustand des völligen Nichts näherte. Die wenigen Illusionen, die er um sich herum aufgebaut hatte verschwammen langsam. Er hatte keinen Körper mehr, wie er nun wusste. Er war lediglich der Gedankenstrom, der sich verzweifelt an die letzten Erinnerungen der Körperlichkeit klammerten.

Wie war es gewesen zu laufen? Wie war es zu fallen? Wie war es, wenn man „man selbst“ ist? Meg wusste es nicht mehr und langsam begann auch der Verstand in grauem Nebel zu verschwimmen.

Vielleicht war Ilone auch nicht wirklich da gewesen. Vielleicht war es fehlgeleitete Hoffnung gewesen. Wie hatte Meg nur je denken können, dass es so einfach werden würde?

Die Stimmen, die ihn gelockt hatten, hatte er längst vergessen.

Meg bäumte sich innerlich noch ein letztes Mal auf und sagte sich, dass er einfach weiter musste. Es musste irgendwo einen Platz hinter den Nebeln geben.

Aus irgendeinem Grund war das Atmen plötzlich sehr schwer geworden. Etwas brannte in Megs Lunge, als würde er seit Stunden durch einen Schneesturm laufen. Er konnte sich kaum aufrecht halten. Es war kalt. Ihm war kalt. – Und das war die letzte Empfindung, die ihn nun eigentlich traf. Sie traf ihn so direkt, dass er wusste, dass dies kein Traum mehr war. Er spürte seinen Körper kaum, doch er wusste, dieses Gefühl war real. Der Herzschlag in seinen Ohren nahm zu und wurde zu einem vibrierenden Sturm. – Trotzdem schienen die Schläge langsamer zu werden. – Vielleicht war es auch nur das Zeitempfinden, dass langsamer wurde und ihm einredete, dass sein Herz bald aufhören würde zu schlagen.

Das Rauschen in seinen Venen nahm zu.

Vielleicht war dieses „hinter den Nebeln“ der Tod. Meg war sich sicher, dass er starb. Vielleicht war es gar nicht mal so schlecht. Vielleicht würde Meg nun endlich für alles büßen, was er getan hatte und er war bereit seine Strafe entgegen zu nehmen.

- Es gab hier kein Licht am Ende eines vielbeschworenen Tunnels. Nur unbarmherziger, wabernder Nebel breitete sich aus und schloss sich langsam und bedrohlich um ihn. Jedes Gefühl driftete in unendliche Ferne ab. Es verschlang ihn.

Als Meg die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte und bereit war das Schicksal zu akzeptieren, spürte er urplötzlich schwarze Krallen. – Sie bohrten sich in seine Schulter und rissen ihn grob und unbarmherzig zurück. Die Muskeln an seinen Schultern zuckten bei der unverhofften Bewegung urplötzlich zusammen und machten Meg erst wieder bewusst, dass er überhaupt existierte.

Er schlug nach seinem Angreifer, wollte ihn abschütteln und zurück ins Nichts fallen. Er bemerkte selbst, wie schwach und bewegungslos er geworden war.

„Mach das NIE WIEDER!“, zischte gleichzeitig der Schatten und eine Reihe schneeweißer, nadelspitzer Zähne wurde sichtbar.

Meg strauchelte zurück und wurde rücklings zu Boden geworfen. Er wagte nicht mehr zu sprechen. – Der Nebel saß zu tief in seinen Gliedern. Ein Wort würde nun mehr Kraft kosten, als er geben konnte. - Ein Wort und er würde sterben.

„Nur ich kenne die sicheren Wege hier!“, schrie der Schatten.

Meg blieb eine Weile einfach liegen und betrachtete den wütenden Dämon, der über ihm auf und ab lief wie ein gefangener Panther.

„Ich habe Ilones Stimme gehört. Daniel war auch da..“, erklärte Meg und es klang selbst in seinen Ohren hohl, wie das Wimmern eines unnachgiebigen Kindes. Er richtete sich mühsam auf, um sich dem Schatten entgegen zu stellen. Er wusste derweil, dass es nichts bringen würde.

„Das könnte genau so gut eine Halluzination gewesen sein!“, kreischte der schwarze Schatten immer noch wild und schlug Meg hart ins Gesicht.

– Für eine Weile meinte Meg das Innere eines Kellers zu sehen, als ihn der Schmerz an der Schläfe wie ein Blitz traf. – Graue Wände ohne Tapeten – Eine Holztreppe – Der Geruch von Moder – Das Gefühl des kalten Steinbodens an Händen und Knien – Wie lange hatte er schon hier gelegen? - Wie lang würde er noch hier unten eingesperrt sein? – Ein blutroter Fleck an einer harten Betonfläche.

- Dann war alles vorbei. Megs Gesicht brannte, wie Feuer und er war auf einem Ohr beinahe taub vom Zusammenprall mit der Dämonenhand.

„Das heißt also, dass ich sterben werde, wenn ich dir nicht gehorche.“, fasste Meg flüsternd zusammen, nachdem er seine Gedanken wieder sortiert hatte. „Das sind ja tolle Aussichten.“

Sein Gegenüber lachte trocken und ohne jedes wirkliche Zeichen von Emotion. „Für dich bedeutet jede Art von Vertrauen gleich, dass du deine Kontrolle verlieren könntest.“

Die schwarze Kreatur stand auf und klopfte sich etwas Nebel aus der dunklen Kleidung. Als Megs Blick noch fragender und bohrender wurde, seufzte der Schatten hörbar.

„Du rennst hier durch die Gegend und hast von wirklich nichts eine Ahnung. Du versuchst immer noch den harten Kerl zu markieren, aber ich sage dir jetzt einmal etwas: Du steckst in Schwierigkeiten, es ist deine eigene Schuld und du solltest anfangen daran zu arbeiten, weil du ansonsten ewig hier fest sitzen wirst!“

Meg fühlte sich von diesen Worten beinahe noch mehr getroffen, als von dem Schlag. Er stand auf und bemerkte, dass der Schatten sich zwar mittlerweile etwas abreagiert hatte, aber noch immer wütend war. Seine rechte Schläfe tat lange nicht mehr wirklich weh, aber Meg hatte keine Lust sich noch eine Schelle ein zu fangen. – Wobei ein anderer Teil in ihm, der größtenteils aus Stolz bestand am liebsten zurück geprügelt hätte. Um zu wissen, dass dies keine gute Idee war, brauchte Meg nicht viel Bedenkzeit. Der Dämon hatte eingehend demonstriert wie viel stärker er gegenüber Meg war. – Und dieses Mal gab es keinen Daniel, keinen besten Freund, um ihn aus seinem Schlamassel zu befreien.

Immerhin hatte ihm dieser Schlag die Kälte zum Großteil ausgetrieben. Meg wusste nur nicht, ob er sich deswegen besser oder schlechter fühlen sollte.

Er strich sich über die Oberarme und fühlte sich, als habe er jedes seiner Glieder Ewigkeiten nicht mehr bewegt. – Warum konnten erträumte Körperteile nur so viele Arten von Schmerz empfinden?

„Ich bin also hier, weil ich dir nicht vertraue?“, fragte Meg nach einer Weile.

„Du bist hier, weil du NIEMANDEM vertraust.“, hielt der Schatten ihm entgegen, schloss die Augen und schien sich sichtlich ein wenig zu beruhigen.

„Das stimmt nicht.“, bemerkte Meg schnippisch. „Ilone…“

Er wurde grob unterbrochen. „Ilone hat sich seit sie dich kennen gelernt hat immer nur Sorgen um dich gemacht – und du hast nie auf sie gehört.“

„Und Daniel?“, bohrte Meg weiter.

Der Schatten hob skeptisch eine Augenbraue. „Hilfe an zu nehmen, weil sie einem aufgedrängt wird ist nun wirklich kein Zeichen von Vertrauen. – Du hast Glück, dass Daniel das noch nicht bemerkt hat.“

Der Schatten kreuzte die Arme vor der Brust, als erwarte er noch weitere Erwiderungen. Meg bemerkte, dass ihm die Argumente ausgegangen waren, war aber zu stolz ein zu lenken.

Eine Weile war es wieder still, dann sagte der Schatten erneut: „Gut. Du willst mir nicht vertrauen, also gehorche mir zumindest einstweilen!“

Sein Blick auf Meg war nun weder hasserfüllt noch herausfordernd. Meg war sich nicht sicher, was er darauf antworten sollte. Trotzdem nickte er, wie automatisch.

„Und die Stimmen?“, fragte er wieder.

Der Schatten warf seine Hände in einer resignierenden Geste in die Luft und räumte ein: „Es mag wohl Ilone gewesen sein, aber der Weg zu ihr ist versperrt, wie du ja gesehen hast. Konzentriere dich fürs Erste nur auf dich selbst. – Das konntest du doch auch früher schon am Besten.“

Meg sog die Luft scharf ein, sagte aber nichts weiter.

„Also…“, begann der Schatten wieder: „Wenn du es erneut auf meinem Weg versuchen willst, dann beruhige dich endlich ein wenig.“

Rabenherz

„Nightrise! Ich werde dich kriegen!“, schrie die elektronische Stimme eines grobschlächtigen Roboter-Humanoiden und dieser feuerte eine Plasmakugel in die Luft. Das Unmögliche geschah: Nightrise konnte nicht mehr ausweichen und wurde getroffen, während er noch mit seinem Raketenrucksack in der Luft schwebte. Tausend Lichtblitze umtobten ihn, als er taumelnd in die Tiefe stürzte und sein blaues Haar flatterte im Wind.

Nun konnte man Doktor Deametron von seinem Vorsprung aus lachen hören. Es war ein Lachen, das den Berg beinahe zum Einsturz zu bringen schien. Hatte er wirklich letztendlich gesiegt?

Der Held schlug hart auf dem Boden auf und bewegte sich nicht mehr.

War er tot? Nein. Sein Auge zuckte kaum merklich. Er würde aufstehen und…

„Meg! Du solltest doch längst im Bett sein!“

Aus der Küche kam eine blonde Frau mit ein paar Sorgenfalten um die Mundwinkel herum und auf der Stirn. Es war Megs Mutter. Sie war trotz der Anzeichen ihres Alters eine wahre Schönheit, aber momentan galt das nicht. Sie war der Drache. Hätte Doktor Deametron eine Frau, dann wäre sie es. Mit 11 Jahren sollte man wirklich nicht mehr gesagt bekommen wann man zu Essen hatte, wann man ins Bett musste und vor Allem, welche Fernsehserie man sich an zu schauen hatte.

„Ach, Mum, nur noch ein paar Minuten!“

Meg versuchte die Fernbedienung unter seinem rechten Bein verschwinden zu lassen, wusste aber bereits, dass das hohe Gericht ohne ihn getagt hatte. Die blonde Furie ging bedrohlich auf den Fernseher zu.

„Nur noch die Serie!“

Es war hoffnungslos. Seine Mutter drückte den Knopf. Der Bildschirm wurde schwarz. Jetzt war nichts mehr zu machen.

Irgendwie hatte Meg das Gefühl, dass sein Held Megatron Nightrise soeben gestorben war. Er kannte diese Folge zwar und wusste, dass der blaue Sciborg aufstehen würde, um seinen Widersacher in einem letzten epischen Endkampf zu besiegen, aber irgendwie war das heutige Ende recht unbefriedigend. Es war, als habe Deametron soeben gewonnen. – Mit der Hilfe der eisernen Lady.

„Aber Mum!“, protestierte der Junge.

Seine Mutter seufzte. „Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du den ganzen Tag diese hirnlosen Serien schaust. Deine Augen gehen davon kaputt.“

Der übliche Spruch ihrerseits und die übliche Antwort seinerseits: „Das ist nicht nur ne Serie! Das ist cool!“

Seine Mutter schwieg. Das machte sie immer, wenn sie sich nicht auf eine Diskussion einlassen wollte oder konnte. Eigentlich hätte sie nun sagen müssen, dass er lieber Disney-Filme schauen sollte und dann würde Meg sagen, dass das Cartoon sei und nicht dasselbe wie Anime sei - und außerdem, dass 11-jährige Jungen zu alt für Kinderfilme seien.

Aber… Sie sagte jetzt nichts. Also wagte Meg einen mutigen Vorstoß: „Außerdem kommt gleich ein Konzert im Fernsehen!“

„Jaja!“, sagte seine Mutter nur. „Und die Jungs sind aus der Gegend und die sind cool - und du musst die unbedingt sehen, weil alle deine Freunde das auch tun - und weil du auch mal ein großer Gitarrist werden wirst.“

Meg hasste es, wenn seine Mutter ihm die Worte vorweg nahm. Es klang mit ihrer Stimme so lächerlich. Was war so fasch daran, wenn man sich auf Musik konzentrierte. – Normalerweise verstand seine Mutter so etwas. Zumindest verstand sie es eher als Megs Vater, der ihn deswegen als „Träumer“, oder noch schlimmer, als „Schwuchtel“ bezeichnete.

„Mum, bitte! Vater hätte es mir erlaubt!“ Meg verlegte sich aufs Flehen, wissend, dass seine Mutter unerweichlich war. Es war der Anfang vom Verlieren.

„Meg. Geh ins Bett!“ Der Ausdruck der Stimme seiner Mutter wurde schärfer. Meg wusste, dass er mit diesem Satz deutlich zu weit gegangen war und er entschied sich zum Rückzug auf sein Zimmer.

Er warf sich aufs Bett und betrachtete eine Weile seine Wand. Dann die Nightrise-Puppe in seinem Regal. Sie grinste ihn mit erhobenem Arm in Siegerpose an. Die Serie war jetzt sicher schon zu Ende. Für Millionen von Kindern hatte Nightrise, der heldenhafte Roboter, der sich gegen seine eigenen bösen Erbauer gewandt hatte, gewonnen. - Aber nicht für Meg.

Für Meg lag Nightrise noch immer ohnmächtig am Fuß des Berges und starb vielleicht.

Mies gelaunt stand er auf und ergriff de Puppe, um den erhobenen Arm an den beweglichen Kugelgelenken zurück zu biegen. Er legte sie auf das Regal. Das lachende Gesicht starrte ihn an. Irgendwie gruselig, wenn man zu lange hinsah. Meg drehte den Plastikkopf zur Wand. So war es besser. Tote lachen nicht! – Und Tote haben einen auch nicht mehr an zu starren.

Meg stieg ins Bett zurück. Sein Held war wohl für heute gestorben, aber dadurch ging die Welt ja nicht unter. Es war eh eine Wiederholung und er hatte die Folge schon oft gesehen.

Schlimmer war, dass er selbst noch nie gewonnen hatte. – Nicht gegen seine Mutter, nicht gegen seinen Vater. – Und schon gar nicht in der Schule.
 

Meg seufzte und schlug die Augen wieder auf. Ihm war etwas schwindelig, als sei diese Erinnerung für einen kurzen Augenblick Realität geworden. Er musste sich erst wieder in seiner eigenen, jetzigen Wirklichkeit zu Recht finden.

„Was soll das? Dieses Bild hat nichts mit meiner Verfassung zu tun.“, zischte er. „Das ist nur eine belanglose Erinnerung an ferne Tage.“

Der Schatten schaute einfach nur zurück, als wäre er zu einer Statue gefroren. Vielleicht war er das ja auch.

„Was soll das?! Wieso bringst du mich dahin? Soll ich mich beschweren, dass meine Mutter grausam zu mir gewesen wäre? Das war sie nicht! Soll ich mich etwa beschweren, dass mein Vater nicht wiedergekommen ist? Das bestimmt nicht.“

Der Schatten schaute unverwandt und Meg hätte ihn am liebsten umgebracht, wenn dadurch nur diese Andeutung eines Grinsens aus dem Gesicht verschwunden wäre. Irgendwie war dieses Starren unheimlich.

Meg wich dem Blick aus. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt, aber er wollte sich die Blöße nicht geben und vor seinem eigenen schwarzen Ich zu weinen anfangen.

„Ich sagte mir immer, dass er bald nach Hause kommen würde, selbst, als er schon 5 Jahre fort war!“, Meg wusste nicht, wieso er das sagte. Die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus, bevor er selbst begriff, was er eigentlich gerade aussagte. Er hatte es sich niemals eingestanden und es beschmutzte alles, wofür Meg in den vergangenen 10 Jahren gelebt und gekämpft habe.

„Ich glaube, ich musste mir das einreden, weil ich ihn trotz Allem geliebt habe.“, rechtfertigte Meg sich., obwohl er zeitgleich wusste, dass es die Situation nicht wirklich besserte.

Es war zu spät nun weinte er wirklich und versuchte vergeblich sein Gesicht mit den schlanken Fingern zu schützen, während er auf die Knie sank, als wäre dies der einzige Ort, um dem bohrenden Blick seines eigenen inneren Anklägers zu entkommen.

„In den vielen einsamen Stunden, die ich allein in meinem Zimmer verbrachte habe ich oft darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn einem von einer Kugel das Hirn durch geschossen wird. Peng und aus! Das ist besser, als die Nummer mit den Pulsadern, weil man da keine Zeit mehr hat den endgültigen Streich zu bereuen. – Ein schneller Tot macht es so viel einfacher. Ich habe Angst zu sterben. Deswegen habe ich es noch nicht getan, aber wenn ich nur die Sicherheit hätte, dass ich es nicht in der letzten Sekunde bereue, dann…“

Meg stockte, als ihm bewusst wurde, worüber er eigentlich gerade sprach.

„Ich habe so viele Stunden in dem verdammten Keller verbracht, um mich vor der Welt zu verstecken.“, griff er einen weiteren Gedanken auf, ohne darauf zu achten, dass der Schattendämon sich nieder gekniet hatte und ihm mit sanften Bewegungen über den Rücken strich. „Die muffige Luft hat mir beinahe den Atem geraubt und noch heute rieche ich den kalten Moder und spüre den Staub in meiner Lunge.“

Ein Zittern durchfuhr ihn. Ihm war schwindelig und er wusste, dass das einzig auf seine psychische Verfassung gründete. „Ich versteckte meine Wunden so gut es ging, weil ich wusste, dass er meiner Mutter ohnehin sagen würde, ich sei Schuld an Allem. – Ich sei ein kleiner einfältiger Verlierer! Ich habe nie etwas anderes behauptet, weil es meine Aufgabe gewesen wäre ihn selber zu besiegen. – Und übertroffen habe ich meinen Vater eigentlich niemals wirklich. – Nicht einmal, als ich auf eigenen Beinen stehen konnte.

Egal, was ich sagte, oder tat: In seinen Augen war es immer falsch! Egal, wie sehr ich es auch versucht habe. - Ich habe immer noch das Gefühl mich vor ihm rechtfertigen zu müssen. Wieso ist das so?“

Der Schatten gab keine Antwort und Meg hatte indes auch nicht wirklich eine erwartet. Er atmete schwer und hatte das Gefühl ohnmächtig zu werden.

„Ich erwartete ihn nicht zurück.“, flüsterte er. „Der größte Teil… der BEWUSSTE TEIL von mir wollte auch gar nicht, dass er wiederkam. – Schon in der Stimme, mit der meine Tante seinen Namen aussprach zeigte mir, dass meine Sehnsucht nach ihm fehlgeleitet sein musste. Ich wollte kein Psychopath sein, also habe ich mich selbst belogen. Ich habe so gehofft, dass dieses Gefühl eines Tages einfach verschwinden würde und das ist es auch, solange ich nicht daran denke.“

Meg begann sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augen zu reiben und erlaubte sich einen Blick in das Gesicht des Schattens. Dieser erwiderte den Blick mit gewohnter Gefühlskälte. Meg sog die Luft ein und zwang sich unpassenderweise ein Lächeln ab, bevor er fort fuhr: „Mein Vater meinte immer, Hoffnung ist der Anfang vom Versagen. Hoffnung haben nur all jene, die unsicher sind – und jene, die auf gut Glück ihr Leben leben. Wer wirklich was auf dem Kasten hat, weiß dass er gewinnen wird, weil er hart genug gearbeitet hat, um seine Ziele zu erreichen. Ich habe mich geschämt, weil er nie sehen würde, dass ich stark und stolz und erfolgreich werden könnte.

- Und so habe ich auch gelebt, ohne jemals zu fragen, was er wohl von mir halten mochte. – Jetzt ist es endgültig zu spät.

Niemand aus meiner Familie hat ihn jemals erwähnt. Das Thema war zwischen uns tabu. – Ich habe erst in den Nachrichten gelesen, dass er gestorben ist, aber es fühlt sich nicht so an. – Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Vielleicht lebt er noch und wartet nur auf einen günstigen Moment, um zu zu packen. Vielleicht will er sich noch an mir rächen, weil ich nie der Sohn sein konnte, den er aus mir machen wollte. Ich habe versagt.“

Der Schatten umfasste Megs Schulter bei diesen Worten etwas fester, als würde ihm dies halt geben. Meg selbst bemerkte es kaum, als er etwas gefasster weiter sprach:

„Ich weiß, dass meine Mutter nicht sehen wollte, dass ich ein Verlierer bin! Sie hat mich trotzdem gern gehabt und ich verstehe bis heute nicht, wieso. Sie hat alles Schlechte – auch die Schläge – einfach verdrängt. Vielleicht, weil sie sich nicht zwischen ihrer Liebe zu ihm und mir entscheiden konnte.

– Vielleicht habe ich ihn auch geliebt. – Trotz der grauen Leere, die er hinterließ."
 

* * * * * *
 

„Ich weiß, du konntest mich nie wirklich leiden.“, begann Ilone, als die Stille im Raum erdrückend wurde. Sie konnte nicht sagen, wieso sie es so empfand, aber Meg schien noch weiter fort zu sein und die Maschinen zeigten einen regelmäßigen Herzschlag an. Das war eigentlich gut so. Vor ein paar Minuten waren alle Lebensfunktionen merklich abgesunken und ein Arzt hatte kommen müssen. - Er hatte ihm ein Mittel gespritzt und war wieder gegangen, ohne das Geschehene zu kommentieren.

Der Arzt nannte es „Sopor“. – Der Zustand vor dem richtigen Koma. Ilone hatte gehört, wie eine Schwester es den „Todesschlaf“ genannt hatte – und diese hatte sich auf die Zunge gebissen, als sie erkannte, dass jemand zuhörte.

Mittlerweile war Ilone aber schon selber zu Bewusstsein gekommen, dass es unwahrscheinlich war, dass sie noch einmal mit Meg würde sprechen können. – Dabei gab es noch so viel zu sagen.

„Ich habe dich nicht gehasst.“, sagte Daniel viel zu spät, als habe er lange nach der richtigen Antwort gesucht und keine gefunden.

„Du musst mich auch nicht hassen, um mich einfach nur „nicht leiden“ zu können.“, versetzte Ilone.

Daniel zuckte mit den Schultern und gab vor Megs EKG zu beobachten, dass sich seit Stunden nicht mehr verändert hatte.

„Ich dachte eben, du seiest einfach eins von diesen Fanmädchen und als ich erkannt habe, dass du es nicht warst…“ Daniel hörte abrupt mitten im Satz auf.

„Ich wusste nicht einmal, dass er Musiker ist, als ich ihn kennen lernte.“, unterbrach Ilone einfach, als sie bemerkte, dass sie von Daniel keine klare Antwort bekommen würde.

Daniel zuckte erneut mit den Schultern. – Es war wohl seine übliche Art aus zu weichen. Sie hatte beobachtet, wie er es immer dann bei Meg tat, wenn dieser wieder einmal einen seiner perfektionistischen Anfälle hatte und es wirkte offensichtlich Wunder bei ihm.

Ilone hingegen ließ nicht locker und hielt den Augenkontakt. Bei ihr zog die Masche nicht. Sie würde ihre Antworten schon bekommen.

„Ich weiß…“, Daniel seufzte und wurde etwas rot. „Als ich dich näher kennen lernte, glaubte ich oft, dass du eigentlich viel zu gut für Meg bist.“ Er lachte hohl auf. „Ein toller Freund bin ich, was? – Als wäre ich ein besserer Freund für dich…“ Er kratzte sich am Hinterkopf und wich dem Blick nun vollends aus.

Ilone schüttelte den Kopf. Sie wusste selbst nicht genau, wieso. „Ich habe mich mit ihm gestritten, bevor das hier passiert ist.“ Ihre Stimme fühlte sich seltsam leer an. „Ich habe ihn verlassen. - Eine tolle Freundin bin ich!“ Wider willen musste sie lachen und Daniel erwiderte es. Dann betrachtete sie Megs Gesicht eindringlich, als wolle sie eine Regung erkennen. Irgendetwas.

Eigentlich wünschte sie sich von Daniel nun ein Wort des Trostes. Vielleicht gab er ihr ja sogar ein wenig Recht. Daniel ergriff jedoch keine Partei und Ilone nickte leicht, bevor sie schloss:

„Ich weiß nicht einmal, ob er mich überhaupt hier haben will!“

Daniel zuckte mit den Schultern und lächelte noch immer. "Ich glaube ihr Beiden seit euch letztendlich sehr ähnlich und verdammt blind."

Ilone wandte sich abrupt um. "Wieso sagst du so etwas?", fragte sie.

"Weil ich es früher nicht getan habe und jetzt stirbt Meg vielleicht ohne, dass ich ihm all das sagen kann, was mir auf dem Herzen lag. - Den Fehler mache ich bei dir kein zweites Mal.", versetzte Daniel und Ilone war zu überrascht über die fordernde Art die sie an Daniel bisher nicht kannte, um etwas zu sagen.

"Du hast dich immer so aufgeführt, als sei Meg dir gegenüber unfair, nur weil er dich nicht bei den Proben und Auftritten dabei haben wollte. - Ich wette, du hast ihn andauernd nach seiner Kindheit gefragt, oder sonstwelchem Blödsinn, obwohl du genau gewusst hast, wie sehr es ihn nervt.

Was du nie bemerkt hast ist, dass Meg dich vermutlich nur schützen wollte, denn für ihn warst du das Einzige, das in Ordnung war. - Es war nicht so, dass er dich aus seinem Leben verbannt hat. In Wahrheit war es vielleicht anders herum, - oder vielmehr wohl so, dass er nur in deiner Gegenwart wirklich lebendig sein konnte, eben weil du niemals Teil seiner Probleme warst."

Totenwache

Ilone war gegangen, um etwas zu essen. Daniel hatte sie darum gebeten. – vorgeblich, weil er sich Sorgen machte. - Sie sei blass, hätte seit Stunden nichts gegessen. Das war es zumindest, was er gesagt hatte.

Indes glaubte er, dass die junge Frau durchaus wusste, dass er eigentlich einfach nur eine Weile mit Meg alleine sein wollte und einen Vorwand suchte, um sie los zu werden. Er hoffte, dass sie ihm das nicht Übel nahm.

In vielerlei Hinsicht war sie genau so schwierig wie Meg. Für Daniel, der ihre Nähe nicht gewohnt war, war sie vielleicht sogar noch komplizierter. – Sie und Meg hatten einander wohl wirklich verdient.

- „Ich möchte etwas alleine trauern.“, kam ihm in den Sinn, als er seinen totenbleichen Freund zwischen all den Kabeln und Schläuchen betrachtete. Irgendwann einmal hatte Meg gesagt, dass es sein müsste, als wäre man gestorben, wenn man im Koma lag. Man habe sicherlich keine Gefühle mehr und keine Schmerzen. Man sei jenseits von Allem und vielleicht sei das garnicht schlecht. Er hatte es mit einem Gesichtsausdruck gesagt, den Daniel beunruhigend fand. Das war das erste Mal, das Daniel eigentlich bewusst wurde, wie intensiv sein Freund über Selbstmord nachdachte und wie lange er schon mit sich selbst rang es nicht zu tun.

Damals war Meg natürlich unwissend und betrunken gewesen. Es war eines dieser pseudophilosophischen Gespräche, das man nur dann führt, wenn man auf einer Party die entsprechende Menge Alkohol getrunken hat. Es war eines der Gespräche, die man vergisst, bis der passende Zeitpunkt gekommen ist einmal wirklich darüber nach zu denken.

- Nun wusste Meg es in jedem Fall ganz genau. Vielleicht würde er zurück kommen und davon erzählen, was er erlebt hatte. Es war unwahrscheinlich, aber Daniel hoffte es.

„Tja, Meg.“, flüsterte er. „Hätte nie gedacht, dass du einmal solchen Blödsinn machst.

Er stand von dem kleinen Klappstuhl auf und setzte sich auf die Bettkante, die unter seinem Gewicht vernehmlich ächzte.

„Dieses Mal kann ich dich nicht raus hauen.“, fuhr Daniel fort und machte Meg nun innerlich keine Vorwürfe mehr, dass er nicht antworten konnte. Er redete einfach weiter, weil es ihm selbst gut tat.

„Weißt du noch? Du hast dich früher andauernd mit irgendwem angelegt. – Meist ging es dabei um Mädchen. Schon in der Schule.“

Megs konzentriertes Gesicht war Antwort genug. Daniel spürte, dass sein Freund ihn irgendwie sicher hören konnte. – Zumindest redete er sich das erfolgreich ein.

„Oft hast du aber auch andere in Schutz genommen, die von Größeren schikaniert wurden. – Immer war ich es, der dich aus solchen Dingen wieder raus holen musste. Hah!“ Daniel lachte hohl und schloss die Augen, während eine Hand sich wieder auf Megs nackten Arm legte. „Und ich Idiot habe das auch jedes Mal gemacht. Weißt du, wieso?“

Er sah erneut in Megs Gesicht und es blieb gewohnt regungslos. Manchmal vergaß Daniel das nur. Er wollte sich vorstellen, dass Meg ihm nun zuhörte. In Wirklichkeit wusste er, dass Meg das nicht tun würde, wenn er noch wach wäre.

Meg war nur in seinen Liedern romantisch und wortreich. Was seine Beziehung zu anderen Personen anging, machte er selten viele Worte, als seien die Lieder das Ergebnis der hervorsprudelnden Emotionen, die Meg sonst selbstsüchtig in sich hortete, ohne sie je jemandem zu zeigen.

Daniel schwieg eine Weile und überlegte sich, ob er weiterreden sollte. Er beschloss, dass er es niemals sagen würde, wenn nicht nun.

„Ich habe wirklich keine Ahnung, was dein Vater mit dir angestellt hat, aber du hattest seit ich dich kenne Alpträume. Egal also, was es war, es muss entsetzlich für dich gewesen sein. – Du hast nie etwas gesagt, außer, wenn du geträumt hast und das ist auch okay so.“

Daniel zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf, als würde er einen innerlichen Kampf aufgeben.

Hatte er jemals ein so Gespräch mit Meg geführt? – Natürlich nicht! Sein Freund wäre ausgewichen und Daniel hätte nicht weiter gefragt. Das hatte ihre Freundschaft seit Jahren am Leben gehalten.

„Ich habe mir immer gewünscht, dass du mir genau so vertraust, wie ich dir. Dass du das nicht konntest, habe ich akzeptiert und ich habe dich beschützt, weil du mein Freund warst und weil du sonst niemanden hattest. – Ich war an deiner Seite, als du durchgedreht bist. Ich habe bemerkt, wie du Drogen genommen hast, aber ich habe nie etwas gesagt, weil ich dich nicht verlieren wollte. - Ich war selbstsüchtig in diesem Fall denke ich. - Das wird anders werden, wenn du wach bist. Dann werde ich nämlich mehr an dich denken und an das, was du wirklich gebraucht hättest. - Ein Freund gewesen, der dich gegen die Dämonen in dir selbst beschützt. – Jemand der dich aufsammelt und zu einer Therapie überredet. Du hast dich jetzt lange genug in dir selbst versteckt!“
 

* * * * * *
 

„Du hast dich lange genug in dir selbst versteckt!“, hörte Meg den Dämon flüstern und bemerkte, wie er selbst den Kopf zu einem Nicken senkte. Meg wusste nicht, wieso er es tat, aber langsam begann er dem Schatten zu zu stimmen. Vielleicht ging ihm einfach die Kraft aus, sich entsprechend zu wehren.

„Du hast in der Zeit deines Lebens viele Grenzen überschritten, sogar die des eigenen Verstandes.“, sprach der Schatten weiter.

Seine Stimme war ätherisch und schien von weit her zu kommen. Trotzdem hatte Meg das Gefühl, dass die Worte nun viel realer waren und, dass er ihnen vertrauen konnte. Er kannte die Stimme.

„Es gibt noch mehr Grenzen.“, sagte Meg und lächelte bei dem Gedanken daran. Vielleicht waren es genau diese Grenzen, für die es sich noch zu leben lohnte.

„Warum hast du dann das Gefühl, dass dein Leben schon vorbei ist.“, konterte der Schatten und Meg erkannte die veränderte Stimme. Sie kam eigentlich von weit her, hinter dem Nebel, den Meg nicht durchschreiten konnte. – Sie war weit stärker, als Ilones Stimme und sie war real.

„Es gibt so viel zu tun, so viele Fragen zu beantworten. Es gibt noch so viele Gründe zu fühlen. – Also wieso schließt du deine eigenen Empfindungen so weit weg?“, bohrte der Schatten weiter.

Meg sah auf. – Diese Sätze könnten wirklich von Daniel stammen. Redete er vielleicht in der Welt hinter dieser Welt mit ihm? Es musste wohl so sein.

„Ich kenne meinen Weg jetzt, Dämon.“, forderte Meg. „Ich bin bereit für deine Prüfungen.“

„Ich denke, wenn du scharf nachdenkst, dann erkennst du, dass du eigentlich frei bist.“, meinte der Dämon unbeeindruckt und unverkennbar mit der Stimme von Megs bestem Freund. – Natürlich wusste Meg, dass er Daniel nicht wirklich geantwortet hatte, also war es wohl nicht verwunderlich, wenn die Worte des Dämons nicht zu dem passten, was Meg gesagt hatte.

„Was zur Hölle soll das bedeuten?“, fuhr er dennoch auf. „Ich bin nicht frei. Dieser verdammte Nebel hält mich zurück!“

Der Schattendämon zuckte mit den Schultern, wie es sein Freund vielleicht getan hätte, um ein ungemütliches Thema ab zu wehren. Meg machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte dabei resignierend den Kopf. Was sollte er schon von diesem Schatten erfahren, was er nicht schon längst selber wusste? – Außerdem redete er nicht wirklich mit Daniel. Er hörte ihm nur zu, - wenn überhaupt.

„Du bist wohl noch nicht bereit deine Augen auf zu machen.“, sagte der Schattendämon und machte erneut eine kurze Pause, bevor er schloss: „Aber du sollst wissen, dass deine Freunde auf dich warten. – Obwohl du so selbstsüchtig bist.“

Stimmte das wirklich? Meg erkannte, dass es ihm schwer fiel sich vor zu stellen, dass hinter dieser Nebelwand tatsächlich irgendjemand auf ihn warten könnte.

Ilone jedenfalls ganz sicher nicht.

Daniel war vielleicht auch gar nicht da. Warum sollte er auch? Jetzt, zu diesem Zeitpunkt war Meg nicht viel mehr, als eine Last für jeden, der ihn umgab.

Diese Stimmen waren vielleicht nicht real. Es konnten genau so gut neue Halluzinationen sein. Die Vorstellung, dass da draußen tatsächlich jemand Angst um ihn hatte, war zu gut. Vielleicht hatte Daniel ihn allein gelassen, weil er eigentlich froh war von seiner Last befreit zu sein. Das wäre ja nicht das erste Mal, dass jemand so etwas mit Meg tun konnte, ohne dass er selbst etwas daran hätte ändern können.

- Andererseits war Daniel etwas Besonderes. Einen Moment lang erlaubte Meg es sich diesen Gedanken zu zu lassen und einfach daran zu glauben. Urplötzlich musste er lächeln. Daniel hatte ihn bisher noch nie fallen lassen. – Nicht einmal, als er seinen ersten wirklichen Absturz mit Heroin nach einem Konzert gehabt hatte. Ganz im Gegenteil: Daniel war es gewesen, der ihm geholfen hatte es zu verschleiern, sodass es nicht an die Öffentlichkeit gekommen war. Wenn überhaupt irgendjemand die Stärke hatte an Megs Seite zu bleiben, dann war es Daniel.

„Dann muss ich eben kämpfen und sei es nur, um heraus zu finden, ob er wirklich jetzt noch bei mir ist.“, erklärte Meg dem Schatten, als habe dieser seine Gedanken gelesen.

Der Schatten nickte und ein raubtierhaftes Grinsen wurde sichtbar.

„Wenn du bereit bist zu leben, dann wird es nun Zeit für uns in den Nebel zu gehen.“

Meg nickte. Hier hielt ihn nichts mehr.

Wenn es wirklich noch eine Hoffnung für ihn gab, dann musste er sie hinter dem suchen, was er nun nicht sehen konnte.

„Hab keine Angst.“, wies der Schatten Meg an, als sie in die wabernde weiße Fläche eintauchten. „Du könntest beim Durchschreiten sterben – oder leben. Beides kann schmerzhaft sein. Aber egal was passiert: Es wird deine Entscheidung sein! Du wirst es begrüßen!“
 

* * * * * *
 

In diesem Moment flog die Tür zum Patientenzimmer krachend auf.

„Achso, du hast also entschieden, dass es besser wäre, wenn ich von all dem hier nichts erfahre?“, hörte Daniel, bevor er Zeit hatte, die streng wirkende Frau mit den rotbraunen Haaren genauer ein zu ordnen, die in der Tür stand und eine ausladende Bewegung mit den Armen vollführte.

Ganz so, wie sie sich selbst den Umstand erklären wollte, hätte es Daniel nicht ausgedrückt, aber wenn er nun so genau darüber nachsann, dann hatte sie eigentlich Recht.

Diese Frau war die nächste Verwandte von Meg. Daniel sah sie zum ersten Mal, doch die Beschreibung seines besten Freundes traf, oberflächlich gesehen, durchaus zu. Sie wirkte entschlossen und dominant, wie es nur eine Frau tun kann, die drei Kinder großgezogen hat und für keines von ihnen freundschaftliche Gefühle erübrigen konnte. Es hätte Daniel klar sein müssen, dass sie es ihm übel nehmen würde, wenn er sie wie eine Fremde außen vor ließ, ohne sie zu informieren. Mittlerweile war das allerdings offensichtlich nicht mehr nötig, denn sie hatte bereits durch die Presse von Allem erfahren, das es zu wissen gab und sie war genauso wütend, stolz und unnachgiebig, wie Meg sie Daniel beschrieben hatte. Vielleicht war die Tatsache, dass Meg niemals gut von dieser Frau geredet hatte, bei der er immerhin jahrelang gewohnt hatte, auch der ausschlaggebende Grund, wieso Daniel nur kurz erwogen hatte, sie zu informieren, aber es dann schlicht vergessen hatte.

„Es tut mir Leid.“, flüsterte er, während sie begann einige Kissen im Nacken des jungen Mannes zu ordnen. Jetzt, wo Daniel sie zum ersten Mal sah, kam er nicht umhin Mitleid für sie zu empfinden. Sicherlich hatte sie im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten alles für Meg getan, was sie aufzubringen vermochte. Seitdem sie ins Zimmer getreten war, bemerkte Daniel, wie besorgt sie eigentlich sein musste und wie anmaßend es von ihm selbst gewesen war sie zu beurteilen, ohne sie zu kennen.

Meg redete immer schlecht von Menschen, die ihm auf aggressive Art und Weise helfen wollten. Er war ein indirekter Mensch und solche Personen kommen nur sehr selten mit direkter Kritik zurecht.

„Nundenn, es gibt Wichtigeres.“, sagte die zornige Frau und fuhr sich in einer Art durch die Haare, die Daniel auch schon ein paar Mal von Meg gesehen hatte, wenn sich dieser nach einem Wutanfall zu beruhigen begann.

Daniel musste kurz grinsen, verkniff es sich aber, als ihn der Todesblick der Alten traf.

Sie blickte auf Meg und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Daniel sah in ihrem Gesicht zwar keine Liebe, wohl aber Anzeichen von Sorge. Es war klar, dass diese Frau keinerlei Muttergefühle empfand. Dies allerdings schien sie durch extremes Pflichtgefühl aus zu gleichen. – Daniel glaubte nicht, dass dieses Fehlen von Liebe einem Kind ausreichen konnte, oder das Ehrgefühle all die fehlenden Kleinigkeiten ersetzen konnten, die ein Heranwachsender zum Leben brauchte und er begann Meg besser zu verstehen. - Er verstand nun seinen Stolz, sein Ehrgefühl, sein verzweifeltes Streben nach Anerkennung und wusste, von wem er es gelernt hatte.

„Ich habe immer vermutet, dass irgendwann einmal etwas Schreckliches mit ihm passiert.“, murmelte die Dame als sei dies alles ihre Schuld. „Er hat die Naivität von Evilyn geerbt und die aufbrausende Art seines Vaters. – Sowas konnte gar nicht gut enden.“

Daniel sah sie fragend von der Seite her an, doch sie sagte nicht mehr dazu.

Nebelkind

Grauer, kalter Nebel umschloss Meg, wie eine Wand aus Hoffnungslosigkeit. Der Dämon war wortlos voraus gegangen und erhob erst wieder die Stimme, als Meg ihn im weißlichen Dunst schon beinahe nicht mehr erkennen konnte.

„Folge mir! Bald sind wir durch!“, hörte Meg die Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm herüber schallen und ein seltsamer Schauer lief seinen Rücken hinunter.

Er zögerte. Konnte es wirklich so einfach sein?

Er spürte die Kälte und Müdigkeit, wie beim ersten Mal, aber es war nun lange nicht so schlimm und zehrend. Wenn Meg den Schatten richtig verstanden hatte, dann lag das einzig daran, dass sein Wille nun stark genug war, um die Kälte zu überstehen. Sogar in Megs Ohren klang das seltsam pathetisch. Vor allem deswegen war Meg stets auf der Hut. Er begann langsam die Spielregeln hier zu verstehen: Immer dann, wenn er sich am sichersten fühlte, wurde es am Schlimmsten.

Fast erwartete er, dass ihm der Schatten in den Rücken fiel, doch wenn er die Augen zusammen presste, konnte er im Nebel noch die Konturen des schwarzen Dämons sehen, der durch die dunstigen Nebelschwaden einem zweiköpfigen Monster glich.

Vielleicht stimmte es ja auch. Meg überlegte.

Wenn er bisher die verunstalteten Erscheinungsformen verschiedener Freunde und Gefährten – nicht zuletzt seine eigene entstellte Gestalt – gesehen hatte, dann war es vielleicht sogar möglich, dass dort in den Nebeln eine Kreatur umherwandern mochte, die den beiden Zwillingen glich – seinen beiden Cousinen. Er hatte sie Zeit seines Lebens gehasst und konnte gut eine Begegnung mit ihnen in dieser Welt verzichten.

Als er noch bei ihnen gewohnt hatte, war es unerträglich gewesen. Sie waren immer in der Überzahl gewesen, immer zusammen - und es gab bei ihnen keinen vielberedeten "guten Zwilling". Er hatte sie nicht einmal auseinaderhalten können und auch daraus hatten sie sich einen Spaß gemacht. Sie hatten hinter seinem Rücken getuschelt und gelacht. So getan, als ob es nichts mit ihm zu tun hätte. – Wenn sie sich gestritten hatten, behaupteten sie immer, dass er nur ein Gast im Haus seiner Tante sei und deswegen ohnehin nicht viel zu sagen hätte. Egal, was die Beiden angestellt hatten: Es wurde immer Meg in die Schuhe geschoben.

Irgendwie hatte Meg gegen ihre Anfeindungen nie die richtigen Kontersprüche gefunden. Vielleicht, weil die beiden klonartigen Mädchen älter waren und immer zusammen hockten.

Meg stellte sich unter ihren verzerrten Traumgestalten eine ekelerregende

Missgestalt aus zwei zusammengeschweißten Körpern vor und verwarf das Bild mit einem Schaudern wieder.

Als er nun versuchte sich seine Tante als Alptraum vor zu stellen, gelang es ihm weit weniger. Sie war mit ihrem streng frisierten, dünnen Rotschopf ohnehin die Versinnbildlichung der modernen bösen Hexe. – Dazu konnte es einfach keine richtige Steigerung mehr geben. Eine schöne Frau war sie bei Weitem nicht. Viel eher konnte man sie als mittelmäßige Person mittleren Alters beschreiben.

Doch in ihren Augen lag immer etwas unverkennbar Herrisches und deswegen Verabscheuungswürdiges, da sie es war in deren Hand Megs Leben eine große Weile gelegen hatte. Es war ein Ausdruck, der Meg Stärke vermittelt hätte, wenn seine Tante ihn mit etwas mehr Respekt behandelt hätte – oder wenn sie vielleicht ein Mann gewesen wäre. Meg war es egal, ob das schovinistisch klang oder nicht. Eigentlich hätte er für sich selbst einstehen müssen, statt sein Geschick in die Hände dieser Frau legen lassen zu müssen. Er hatte es nicht entschieden und auch seine Mutter oder sein Vater hätten es befürwortet, dass er zu ihr ging. Es war einfach nur die logische Wahl der Behörden – oder wenn man es so ausdrücken wollte: Es war die Entscheidung von Menschen, die er nicht kannte und die ihn auch nicht kannten.

Letztendlich hatte er sich in sein Schicksal gefügt, ohne Aufzubegehren. Dennoch spürte Meg, dass er seiner Tante lediglich im Weg stand. Sie bestrafte ihn, wenn er etwas falsch machte und Trost fand er bei ihr kaum. Sie war eine Erzieherin, keine Verwandte in Megs Augen.

Sie hätte ihn niemals in Schutz genommen und alleine dafür hatte Meg sie auch so verachtet.
 

„Wow! Du kannst ja Gitarre spielen!“, zeriss plötzlich die Stimme eines Mädchens Dunst und Gedanken gleichermaßen, als wäre ein Ton aus der Echokammer entwischt. Der Faden von Megs Überlegungen schien zu zerreißen und er wurde jäh in die graue Wirklichkeit des Nebels zurück gebracht. In gewisser Weise war diese Stimme tatsächlich ein Echo. Meg kannte die Stimme von einem Mädchen aus seiner alten Schule. Sie war ein aufgeweckter Rotschopf gewesen mit einer niedlichen Nase und hunderten von Sommersprossen.

An ihren Namen erinnerte Meg sich kaum noch. Sie hatte keine wirklich wichtige Rolle für ihn eingenommen.

„Was für ein Versager! Komm! Den schnappen wir uns!“, kam direkt danach die raue Stimme eines Jungen und der Nebel lichtete sich urplötzlich. Vier tiefschwarze Hände rissen Meg grob am Kragen aus dem Nebel heraus. Er wurde hart zu Boden geschleudert und schlug auf dem Steinboden auf. Die Handflächen, mit denen er sich hatte abfangen wollen, brannten höllisch, da sie durch den harten Asphalt völlig aufgeschürft waren. Überall um ihn herum wirbelten graue Staubflocken auf.

Meg kam keuchend wieder hoch und sah gerade noch den fallenden Blutstropfen, der auf dem Boden zerschellte. – Hoffentlich war die Nase nicht gebrochen.

Ein Blick nach oben reichte und Meg erkannte, dass er sich auf dem alten Schulhof befand. Auf den tristen grauen Asphaltplatz waren mit weißer Farbe verschiedene Spiele aufgemalt, die Meg niemals verstanden hatte und niemals spielen wollte.

Er selbst lag in einer Art Schachfeld aus Zahlen und Buchstaben und drehte seinen Kopf gerade noch rechtzeitig, um den Stiefel zu sehen, der ungehemmt auf seinen Bauchraum stieß. Meg schrie auf.

Zwei größere Jungen sahen mit blassgrauen Augen und leeren Blicken auf ihn herab. – Den einen kannte Meg. Er war in seiner Klasse gewesen.

Der Andere musste von der Statur her etwa eine oder zwei Klassen über ihm sein. Ihrer Ähnlichkeit untereinander wegen glaubte Meg, dass es sich hier um zwei Brüder handelte. Beide hatten die Marmorhaut des Schattendämons und ein sinisteres Grinsen, in dem kein Mitleid zu erkennen war.

„Was zur Hölle wollt ihr von mir?“ Seine eigene Stimme klang seltsam kindlich.

„Du solltest vielleicht aufhören meine Freundin an zu graben.“, schlug der Kleinere vor und trat erneut zu.

Er verfehlte Meg, ohne, dass dieser einen Versuch unternommen hätte aus zu weichen.

Meg musste sich trotz seiner Lage ein Grinsen verkneifen. – Wie konnte man nur so dumm sein jemanden zu verfehlen, der wehrlos vor einem lag?

Alles in allem war dies doch wirklich ein perfekter erster Schultag! Warum mussten sie auch unbedingt gerade in dieses verdammte Kaff ziehen? – Nur weil die Schwester von Megs Mutter hier wohnte? – Und warum überhaupt redete sie die ganze Zeit davon, dass SIE sich nun einsam fühlte? Was war eigentlich mit Meg selbst? Wieso achtete nie jemand auf seine Gefühle?

Wenn Megs Vater noch da wäre, dann wäre das nicht passiert!

„Ist deine Freundin das Mädchen mit den vielen hässlichen Sommersprossen?“, fragte Meg, während er sich an das rothaarige Mädchen erinnerte, das ihn im Musikraum angesprochen hatte, als er nach dem Unterricht nicht hatte widerstehen können eine der teuren Gitarren auszuprobieren.

Wieder setzte es einen Tritt. Dieses Mal vom Größeren der Beiden und Meg krümmte sich wimmernd vor Schmerzen.

„Hey! Ich hab gar nichts getan. Sie hat mich doch angesprochen!“ Alles, was Meg nun hervorbrachte verschlimmerte die Sache nur. Er war dankbar, dass sie immerhin sein Gesicht nicht trafen. Somit gab es kein blaues Auge und keinen Grund sich im Haus seiner Tante für seine eigene Schwäche zu rechtfertigen.

Er hatte niemandem mehr von der Sache erzählt. – Indes wusste er bereits am nächsten Tag, dass die ganze Klasse davon gehört hatte. Die beiden Brüder hatten alles erzählt. Vermutlich stand er bei ihrer Schilderung noch weitaus schlechter da, als sowieso schon. Ging das überhaupt?

Aber warum sollte er selbst von dieser Niederlage erzählen? – Er musste erst seine Ehre wieder herstellen. Er würde es ihnen schon heimzahlen. – Irgendwie…

Seine Tante jedenfalls würde dies hier nicht erfahren. Als sie ihn nach den blauen Flecken auf seinen Armen fragte, hatte er ihr erzählt, dass das beim Klettern passiert sei. – Natürlich wusste sie nicht, dass man mit 14 Jahren viel zu alt war um auf Bäume zu klettern. Erwachsene wissen so etwas meistens nicht.

Die Flecken an seinen Beinen und an seinem Becken konnte sie ja nicht sehen und wenn Meg in den nächsten Wochen Sport schwänzte, würden es auch die Lehrer nicht erfahren.

- Als sein Vater noch zu Hause war, hatte seine Mutter ihn nie gefragt, woher die Schnitte und die blauen Flecken kamen.
 

* * * * * *
 

„Weißt du noch, wie es war, wie wir uns kennen gelernt haben?“, fragte Daniel in die Stille hinein.

Die Sonne war mittlerweile unter gegangen, Megs Tante hatte sich verabschiedet und nach einem kurzen Besuch hatte auch Ilone beschlossen in ihre Wohnung zu fahren. Das Mädchen hatte ihr Leben, ihre Arbeit - und sie brauchte Schlaf, um bereit dafür zu sein.

Für Daniel war die Band schon lange zum Hauptberuf geworden. Ohne Meg ging jetzt erstmal eh nichts weiter, also übernahm er den größten Teil der Wache und er vertrieb sich die meiste Zeit damit aus dem Fenster zu starren, oder mit Meg zu reden.

Warum genau sie überhaupt Wache hielten, hatte niemand gefragt und sie hatten es nicht untereinander besprochen. – Jetzt, wo Daniel alleine im Zimmer saß, wusste er, dass sie noch hofften, Meg würde erwachen und dann sollte er nicht alleine sein.

- Sobald einer von beiden, Ilone oder Daniel, die Wache einstellte, war die Hoffnung fort. Nicht mehr hier zu sitzen und auf Meg zu warten, würde bedeuten, dass keiner mehr daran glaubte, dass er zurück kommen würde. - Also musste Daniel so lange wie möglich durchhalten.

Natürlich würde er eines Tages die Entscheidung fällen müssen, ob man Meg weiterhin an die Maschinen angeschlossen halten sollte, oder nicht. – Natürlich konnte er sich dem nicht ewig entziehen. Solange aber Hoffnung war, musste er sich nicht mit diesem Gedanken auseinander setzen.

Die Ärzte, das spürte er genau, sahen keine Möglichkeit mehr, Meg zu Bewusstsein zu bringen. Wenn sie Recht hatten, dann würde Daniel wohl oder übel den Entschluss fassen, dass man die Maschinen abstellen sollte. Er würde seinen Freund umbringen, um ihm einen letzten Gefallen zu erweisen. Er würde Megs Stolz bewahren, wenn es das letzte war, was er für ihn tun konnte. – Er wusste mittlerweile mit Bestimmtheit, dass Meg nicht ewig wehrlos und bewegungslos in einem Krankenhausbett liegen wollte.

Wann aber war der richtige Zeitpunkt, um diese Entscheidung zu treffen? Wann durfte er das Leben seines besten Freundes beenden? Wann musste er es? – Und selbst wenn Meg wieder die Augen öffnete: Wer konnte sagen, ob er jemals wieder der Alte sein würde?

Daniel glaubte, dass Meg den Tod einem dauerhaften Hirnschaden durchaus vorziehen würde.

Das war unter der Würde eines so ehrenvolles Mannes. Daniel meinte sich zu erinnern, dass sein Freund das irgendwann vor Jahren einmal in einem Nebensatz erwähnt hatte. Irgendwie war es seltsam, wie sehr Daniel auf jede Kleinigkeit, die Meg jemals gesagt hatte, geachtet hatte und wie viel er nun rekapitulieren musste. – Wie viele Sorgen hatte er sich um seinen Freund gemacht, lange vor dieser Situation. Man hört Menschen besser zu, wenn man weiß, dass es ihnen schlecht geht. Meg war es nicht gut gegangen, seit Daniel ihn kannte. Daniel wusste also eine Menge über Meg.

Wie lange war Meg schon das helle Zentrum seines Lebens gewesen, ohne, dass Daniel sich dessen bewusst war?

Er blickte seinen Freund an und sein Geist driftete in die Vergangenheit ab. Ohne, dass er wusste, worauf er eigentlich hinaus wollte, hatte er zu reden begonnen und seine Stimme klang seltsam eindringlich in der Stille des nächtlichen Krankenhauses.

„Du warst neu in der Klasse und warst so still, dass die meisten dich für einen Versager gehalten haben. – Ich auch.

Wir wussten alle, dass die Größeren dich andauernd verprügelt haben. Auch die Lehrer wussten davon, aber sie haben eigentlich nichts getan.

Erst als einer der Schüler erzählte, dass du nicht einmal einen Vater an deiner Seite hattest, habe ich ein bisschen Mitleid mit dir gehabt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es für dich gewesen sein muss, den eigenen Vater zu verlieren. – Und dann auch noch auf diese Weise, aber das wusste ich natürlich damals noch nicht.

Fast ein viertel Jahr später waren wir auf diesem Schulausflug. Die Lehrer hatten ausgerechnet uns in einer dieser „Forschergruppen“ gesteckt, damit wir mit unserem Biobuch Pflanzen und Tiere bestimmten. Eine ziemlich dämliche Aufgabe!

- Wir zwei, ein einsamer Wald und ein Biobuch!“ Daniel lachte leise und schloss die Augen, als wollte er die Sonnenstrahlen längst vergangener Sommertage noch einmal spüren.

„Wir hatten vorher nie miteinander geredet, aber wir hatten es wohl gemeinsam, dass eigentlich niemand uns in seiner Gruppe haben wollte. Wir waren eben keine von den „coolen Kids“. – Du warst der Prügelknabe und meine Eltern waren zu arm, als dass ich mir tolle Klamotten oder Spielzeuge hätte leisten können.

Du hast dir einen Stock gegriffen und damit die Brennnesseln umgeschlagen.

„Wie ist das so, keinen Vater zu haben?“, fragte ich, viel zu früh und ohne Vorwarnung. Ich weiß auch nicht, was ich mir eigentlich dabei gedacht habe. Ich wollte wohl nur etwas sagen, um die peinliche Stille zu überbrücken. Ich bin ja noch nie gut darin gewesen Anfänge zu machen.

Du hast mich angeschaut, als habe ich dich damit geschlagen. Dann war urplötzlich Wut in deinem Blick.

„Ich HABE einen Vater! Er ist nur momentan nicht zu Hause!“, hast du geantwortet und mich danach ziemlich lange ignoriert. Ich glaube, du hast dir keine wirklichen Illusionen gemacht, dass er jemals wieder zurück kommt, aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass du dir selbst die Schuld an seinem Fortgehen gegeben hast.

„Wir sollten anfangen zu arbeiten!“, war das Erste, was du wieder zu mir gesagt hast.

„Wieso sollten wir diese Aufgabe überhaupt machen? Macht doch eh keiner.“, fragte ich und schlug gleichzeitig das Buch auf. Ich wunderte mich. Du sahst eigentlich nicht wirklich wie ein Streber aus.

Du hast tief eingeatmet und deine Antwort war: „Irgendwie müssen wir ja zeigen, dass wir keine Versager sind. – Und ein Streber ist immerhin noch etwas besser, als ein reines, dummes Opfer.“

„Was soll es uns bringen zu beweisen, dass wir besser sind? Ist es nicht egal?“

Du hast erneut einer Brennnessel den Kopf abgeschlagen.

„Uns bringt es eigentlich nichts, aber die anderen können es halt sehen.“, hast du mehr zu dir selbst geflüstert und ich habe nichts mehr dazu gesagt, weil ich es nicht wirklich verstanden habe und mich nicht streiten wollte.

Lange liefen wir so nebeneinander und ich begann irgendwann im Gehen die Aufgabe zu lesen, sodass ich dir drei Jungs nicht bemerkte, die auf uns zu kamen.

„Hey, Loser!“, rief uns der Anführer zu. – Seinen Namen habe ich mittlerweile sogar vergessen.

Du hast dich keinen Millimeter bewegt, wie ein Hund, der die Prügel schon gewohnt ist und einfach nur abwartet, bis alles vorbei ist.

„Hey, Dany!“, wandte sich der Anführer mir zu. „Entweder du bist für uns, oder gegen uns.“

Ich überlegte eine Weile. Ich war deutlich stärker, als die anderen Jungs, aber sie waren in der Überzahl. – Natürlich kam mir kurz in den Sinn, dass dies meine Chance wäre, mich vor der Klasse zu beweisen und auch dazu zu gehören. Wem wäre dieser Gedanke da nicht gekommen? Trotzdem bin ich stolz darauf, dass ich das Richtige getan hätte, denn ohne das wäre „Amorphic Sinner“ niemals zu Stande gekommen, geschweige denn unsere Freundschaft.

„Ihr solltet verschwinden und ihn in Ruhe lassen.“, sagte ich ganz langsam und bemühte mich, dass meine Stimme fest und sicher klang.

„Gut, dann werden wir ihn in Ruhe lassen und zukünftig mehr auf dich achten.“, herrschte der Anführer mich an und wandte sich zum Gehen. Die anderen Beiden folgten.

- Du hast lange Zeit einfach nur dagestanden und ich hörte deinen aufgeregten Atem. Ich glaubte fest, dass du dich bei mir bedanken würdest, aber es kam anders.

„Warum hast du das getan?“, schriest du mich an, als sie außer Sichtweite waren. „Jetzt wird es beim nächsten Mal nur noch schlimmer!“

„Warum versuchst du nicht einmal mit ihnen, oder den Lehrern zu reden?“, fragte ich dich.

„Das hat keinen Zweck! Ich muss eben stärker werden. – Wer hat dir überhaupt diesen Mist mit dem Reden eingetrichtert?“, kam deine Antwort wie ein Geschoss zurück.

Ich zuckte mit den Schultern. „Mein Vater.“, antwortete ich leise und ich weiß, dass du bei dieser Aussage am liebsten geheult hättest.“

Daniel seufzte und strich Meg durch die Haare. „Ich hätte besser als jeder verstehen sollen, wieso es dir so schlecht ging.“

Vorwelt

Blut. – Überall Blut.

Meg wusste nicht, ob es sein Eigenes war, aber der singende Schmerz in seinem Kopf hatte sich verstärkt.

Für eine kurze Zeit war Meg sich nicht sicher, wo er sich befand, aber eines war ihm klar: Der Dämon musste ihn betrogen haben. Er hatte ihn hier unten alleine gelassen.

Irgendwie war das ja typisch. Eine kurze Zeit verfluchte Meg sich selbst, denn so etwas geschah ihm jedes Mal ohne, dass er es kommen sah, oder sich dagegen wehren konnte.

Er wischte sich erneut ein rotes Rinnsaal aus dem Gesicht, dass wie eine Träne sein Kinn herab lief. Nicht nur die Kopfschmerzen störten jetzt. Meg fühlte sich generell elend. – In jeder Hinsicht.

Alles war zu einem schwarzen Nebel verschwommen und Erinnerungen streiften Megs Geist.

Was war, wenn er schon tot war?

Sein Kopf schmerzte höllisch bei diesem Gedanken, also konnte es wohl nicht so sein. „Tote fühlen keinen Schmerz.“ Immer wieder versuchte Meg sich das ein zu reden, aber es beruhigte ihn nicht wirklich.

Ob es sich wohl so anfühlen mochte, wenn man ungebremst eine lange Treppe hinunter fiel? Wieso dachte er so plötzlich an solch unwichtige Kleinigkeiten?

Meg schloss die Augen und hörte seinen eigenen beschleunigten Atem und das Blut in seinem Kopf rauschen. Er hatte bisher viele Einbildungen gehabt, aber er wollte sich nicht einreden, dass diese Gefühle und Eindrücke ebenfalls Illusion sein konnten. Er lebte. Er musste einfach leben. Er musste seinem Vater beweisen, dass er kein Verlierer war. Das war er sich selber schuldig.

„Könntest du seinen Anblick nach all dem, was geschehen ist überhaupt noch ertragen? Oder den deiner Mutter?“, kam es Meg in den Sinn und er schüttelte sich, um die Echos in seinem Kopf ab zu wehren.

Es war vermutlich gut so, dass ihm das nun wieder deutlich besser gelang. Vielleicht, weil ihr Flüstern in dieser Welt nun wieder verstummt war.

Als Meg die Augen öffnete, befand er sich wieder in jenem Keller. Er hatte viele Stunden seines Lebens hier unten verbracht, sodass er nicht erst eine klare Sicht auf die grauen Wände aus abgesplittertem Beton brauchte, um den Ort wieder zu erkennen. Der Geruch nach uraltem Staub und Chitin reichte vollständig aus.

Wieso der Duft hier dermaßen einzigartig war, wusste Meg nicht. Aber er wusste, dass es aus diesem Raum kein Entrinnen geben würde, solange „er“ es nicht wollte.

Meg würde hier bleiben – eingesperrt, wie ein kleines Kind - und kauerte sich auf den Boden, der nur teilweise gefliest war und größtenteils dick mit Erde und grauen Staubmäusen bedeckt war.

Hier brannte nur eine einzige flackernde Lampe, die den Keller dann und wann in ein elektrisches Zwielicht tauchte, als würde die Bühnenbeleuchtung einer Diskothek in Zeitlupe arbeiten.

Meg konnte nichts anderes tun, als warten. Es war zwecklos die grob gebaute, hölzerne Treppe hinauf zu steigen. Die Tür war abgeschlossen. – Er brauchte sich nicht extra zu vergewissern.

Er fuhr mit den Händen vor sein Gesicht und wippte leicht mit dem Oberkörper vor und zurück.

Hier unten. – Genau hier unten hatte jenen Teil seines Verstandes gelassen, der für diesen Alptraum verantwortlich war.

Blut tropfte Mittlerweile aus seinen Fingernägeln, aus seinen Augen und aus seinem Mundwinkel. Meg spürte es kaum.

Er hob den Blick und sah die Holztreppe hinauf, die seltsam farbig gegen die graue Wirklichkeit des Kellers erschien.

Komischerweise fühlte Meg sich hier unten halbwegs sicher. Hier spürte er den nagenden Terror in seiner eigenen Seele, aber er war sicher vor allen Einflüssen von außerhalb.

Auf eine gewisse Art und Weise machte das diesen Ort friedlich und beinahe heilig. Es war die Kathedrale seines eigenen Schmerzes.

Alles war voller Staub. Hier unten war das allerdings in Ordnung. – Der Staub gehörte einfach hier hin. Hier gab es keine Monster. Oder doch?

Es war im Prinzip egal, da Meg sich sicher war, dass der Schattendämon ihn genau hier hatte hin führen wollen. Hier unten war er sicher.

Er hatte sich den Wünschen seiner Dämonen zumindest einstweilen gefügt. Nun blieb nur noch ab zu warten, was sie weiter mit ihm vorhaben mochten.

Er hatte es in jedem Fall verdient. Hier musste er für seine Sünden bezahlen.

Wie oft hatte sein Vater ihn hier eingesperrt? – Es war eigentlich gleichgültig. – Es war schon in Ordnung. Er hatte ihn genau so oft hier unten deponiert, wie er ihn geschlagen hatte. - Das war schon okay.

Jeder Vater schlug seinen Sohn dann und wann. Nur so konnte man Stärke erlangen.

Die Blutlache, die über den abschüssigen Boden direkt auf die Treppe zulief, hatte mittlerweile eine beträchtliche Größe angenommen und Meg bemerkte, dass er nun nicht mehr weinte.

Die Angst war einem Gefühl der Leere gewichen. Der Schmerz in seinem Kopf einer lähmenden Taubheit. Meg stand auf und sah sich weiter um.

Er betrachtete die Wände, die dann und wann im Licht der Lampe aufflackerten und auf denen noch nach Jahren die Spuren seiner eigenen Fingernägel zu sehen waren.

Es war lange her, dass die Dunkelheit Panikattacken bei ihm ausgelöst hatte. Hier unten war das etwas Anderes. – Hier unten waren die Schatten lebendig.

Meg fuhr mit einer Hand die feinen Kratzer ab, die mittlerweile viel zu klein für seine eigene Hand waren.

War das alles wirklich schon so viele Jahre her? Er konnte sich kaum noch an die Gesichter aus jener Zeit erinnern. Mit einem leichten Schauer fiel Meg auf, dass er nicht einmal mehr in der Lage war sich das Gesicht seines eigenen Vaters in seinen Einzelheiten vor zu stellen.

Er legte die Hand auf den warmen Felsen, der ihm vorkam, wie ein lebendiges Tier.

Dann war plötzlich ein lautes Klicken im oberen Stockwerk zu hören.

Auch heute noch kannte Meg das Geräusch des Kellerschlüssels, der sich im Schloss drehte und der die feine Barriere zurückschob, die ihn hier unten hielt.

Es hatte ihn bis in seine Träume hinein verfolgt und es bedeutete Erlösung.

Meg schloss die Augen und wartete eine Weile, wie er es immer getan hatte. Er wollte seinem Vater nicht ins Gesicht sehen, sobald er den Keller verlassen hatte. – Nicht, nachdem er schon wieder gegen ihn verloren hatte.

Dies war der Schmerz und er war real. Es war der Weg den er selbst gegangen war. Dieser Weg war der Verlust seiner Kindheit.

Meg betrachtete erneut die Blutlache. Er würde sie überwinden müssen, wenn er nach oben wollte.

Er hatte Blut noch nie unangenehm empfunden. – Ganz im Gegenteil. Lange Zeit hatte er eine seltsame Faszination für Blut und Wunden empfunden. Er hatte sicherlich mehr Splatter-Filme in seinem Regal stehen, als jeder Durchschnittmensch. Wenn Andere schon fast nicht mehr hinschauen konnten, lachte er immer noch.

Er hatte sich lange genug selbst geritzt und sich lange genug Spritzen gesetzt, um die scheu vor echtem Blut zu verlieren.

Trotzdem stand er nun hier und zögerte. Er wusste nicht, wieso das so war. Dieses Blut hier hatte eine bestimmte Bedeutung, an die er nicht denken wollte.

Langsam und bedächtig setzte Meg einen Fuß vor den Anderen und das leicht angetrocknete Blut blieb an seiner Schuhsohle kleben, als er den ersten Fuß auf die Treppe setzte.

Er atmete tief durch. – Dann ging er die Stufen der Treppe hinauf ohne sich um zu blicken. Er hinterließ dabei blutige Fußstapfen in Jahrzehnte altem Staub. Da kein Geländer vorhanden war, tastete Meg sich mit einer Hand suchend an der Wand entlang.

Als er die oberste Stufe erreicht hatte, hielt er noch einmal kurz inne und legte seine Hand auf den Türgriff. Ein Kribbeln im Nachen, verriet nichts Gutes. Etwas hier stimmte ganz und gar nicht. Meg wandte sich noch einmal um.

Am Fuße der Treppe war die Blutlache beinahe geronnen und an ein paar Stellen konnte man die Klumpen des getrockneten Blutes im zuckenden Licht erkennen, wie dunkle Felsen in einem schwarzen See. – Aber was viel schlimmer war, war die Tatsache, dass sich dort eine schwarze menschliche Gestalt befand, deren Glieder unnatürlich verrenkt im Blut lagen.

Meg kniff die Augen zusammen.

Die Kreatur ähnelte ihm. Es hätte der Schatten sein können. Vielleicht.

Langsam hob das Wesen einen Arm aus der Lache und legte die knöchrige Hand auf die unterste Treppenstufe. Dann zog es die Andere nach und gab einen seltsamen gutturalen Ton von sich, als habe es große Schmerzen bei diesen Bewegungen.

Meg war wie fest gefroren, als das Wesen den Blick hob und ihm direkt in die Augen sah.

Meg kannte dieses Gesicht. Er kannte diesen Körper, wenn er auch jetzt schwarz und entstellt war. Vor allem aber kannte er die eisblauen Augen, die er selbst jeden Morgen im Spiegel sah.

Seine Mutter hatte einmal behauptet, sie seien das einzig Schöne, dass Meg von seinem Vater geerbt hatte und die Kreatur, die mit seltsam spinnenhaften Bewegungen die Treppe hinauf gekrochen kam, war sein Vater.

„Nein.“, flüsterte Meg und schaffte es kaum seine erstarrte Hand hinunter zu drücken, um die Kellertür zu öffnen, während das schwarze Wesen seine Geschwindigkeit noch erhöhte.

- Einmal aus der Erstarrung befreit, rannte Meg.

Er rannte durch den kleinen Flur des Hauses 128 in der Pine-Street, dem Haus seiner Kindheit, und hörte kurze Zeit später das infernalische Knallen der Kellertür, die von der Kreatur aus den Angeln gerissen worden sein musste.

Meg riss auf seinem Weg Jacken und Schals von dem Kleiderhaken, der kurz vor der Wohnungstür seit jeher angebracht war.

Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Kreatur ihn verfolgte. Er musste nicht stehen bleiben, um zu wissen, dass es sein Tod wäre, wenn es ihn erwischte.

Meg kam sich viel zu langsam vor, während er auf die Glastür des Eingangs zuhielt. Nun hörte er hinter sich bereits das wütende Schnauben des gequälten Wesens.

Die Tür war abgeschlossen. Verdammt! Meg schlug blind vor Wut gegen den Metallrahmen, während seine andere Hand immer und immer wieder die Klinke herunter drückte.

Nichts bewegte sich. Bald würde sein Vater hier sein.

Meg schloss die Augen, holte tief Luft und warf sich mit dem Ellenbogen voraus gegen die Tür. – ein ohrenbetäubender Knall. Dann spürte Meg, wie einzelne Glassplitter durch seinen Arm schnitten. Es schmerzte weniger, als er erwartet hätte. „Zu viel Adrenalin.“, schoss es ihm durch denn Kopf. Dann stolperte er durch die Tür auf die Straße. Zumindest glaubte er, dass er durch die Tür dort hin gelangen musste, doch er war nicht auf der Straße. Hinter ihm war auch nicht mehr das Haus seiner Familie.

Als Meg den Blick zurück warf, sah er hinter sich die schwarze Kreatur durch einen schneeweißen Schulkorridor kriechen. Sie bewegte auf allen Vieren und zog dabei ein Bein in einer verdrehten Art nach, die es beim Vorwärtskommen eher behinderte.

Als die Kreatur Megs Blick spürte, hob auch sie den Blick und hielt kurz inne.

Meg erwartete ein Wort, ein Fauchen, irgendetwas, aber der Blick blieb vollkommen versteinert auf ihn gerichtet.

Wozu sollte das Wesen ihm noch das Unvermeidbare klar machen? Es würde ihn umbringen. Das war auch ohne große Gesten vollkommen klar. Meg schoss durch den Kopf, dass auch ein Raubtier kaum das erbarmungswürdige Beutetier bedrohen würde, das im Begriff war von ihm gefressen zu werden.

Meg war nicht in der Lage sich zu wehren. Er drehte sich um und rannte. Über ihm schossen die hellen Neonlichter seiner alten Schule hinweg, dann verloschen auch sie. Es wurde dunkel.

Meg lief durch eine schwarze Wand und tastete sich an der Wand des Korridors entlang, wie ein Blinder. Irgendwo hörte Meg das Stöhnen und Atmen der Kreatur.

Er konnte nur hoffen, dass sie noch hinter ihm war. Vielleicht hatte sie ihren Weg geändert und schnitt ihm nun von vorne den Weg ab. Meg musste seine letzte Kraft aufbringen, um über diesen Gedanken nicht wahnsinnig zu werden.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er sah die Schatten von Bücherregalen und zugenagelten Fenstern. Hatte seine Schule nicht vor ein paar Jahren den Dienst eingestellt. Dies hier waren nur die Ruinen der Vergangenheit. Hier gab es nichts mehr, als Erinnerungen und Geister.

Vollkommen unvermittelt wurde Meg von hinten gepackt. Scharfe Fingerspitzen bohrten sich in seinen Hals und schnitten ihm die Luft ab.

Dann wurde er zu Boden geschleudert. Im Halbdunkel sah Meg die Augen seines Vaters leuchten. Er spürte einen Schlag im Gesicht und im selben Moment lockerte sich die Hand an seinem Hals, da die Kreatur offensichtlich all seine Aufmerksamkeit in den schlagenden Arm gerichtet hatte. Meg nutzte die unvermutete Gelegenheit, um beide Arme mit aller Kraft vor zu stemmen.

Das Wesen taumelte zurück. Vielleicht hatte es nicht mit Gegenwehr gerechnet. Leise zischend hielt es kurz inne, während Meg keine Sekunde verlor, um weiter zu fliehen. – Er rannte einfach weiter auf das Licht zu, dass sich zunächst sachte und schließlich immer deutlicher im Gang vor ihm abzeichnete. Vorbei an Zimmer 123... 124... 125 und weiter dem hellen Schein entgegen von dem Meg instinktiv wusste, dass es seine Rettung sein würde... 126...

Die Schatten erschienen ihm wie die Dämonen der Schüler aus längst vergangenen Tagen, sein zerschnittener Arm brannte mittlerweile höllisch und Blut sickerte durch den schwarzen Stoff seines Pullovers. ...127...

Das Licht. Es umschloss ihn. – Umstrahlte ihn. Alles wurde gleißend weiß.

Meg wusste nicht, was ihn dahinter erwarten mochte, aber kurz glaubte er das Quietschen von Autoreifen zu hören. Vielleicht war er gestorben. 128.

Ilone. – Es wäre so schön gewesen, sie noch einmal sehen zu können.

Hingabe

Mondlicht umschloss Ilone. Tagelang war nichts mehr passiert. Meg lag einfach nur still in seinem Bett und sein Gesichtsausdruck war konzentriert wie der eines Philosophen. Dann atmete er urplötzlich tief ein, wie jemand, der beinahe ertrunken wäre. Sein Gesichtsaudruck wurde entspannt und friedlich. Die merkliche Bewegung der Bettdecke hatte aufgehört. Sie stand vom Stuhl auf und ging auf ihn zu.

Atmete er noch?

Ilone musste schlucken. Was war, wenn er gerade gestorben war? Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken daran. Ilone war sich nicht sicher, ob sein Brustkorb sich bewegte.

Langsam streckte sie eine Hand aus und legte sie vorsichtig unter Megs Nase. – Sie spürte einen Luftzug. Es war ein ganz leichter Atem, nichts Auffälliges. Sogar der Bildschirm zeigte einen Herzschlag an, wenngleich dieser etwas höher war, als es in den letzten Tagen der Fall gewesen war. – Die Atmung indes war jetzt deutlich ruhiger geworden. Vielleicht war das gut so. Vielleicht träumte Meg endlich.

Eine Weile betrachtete Ilone das Gesicht ihres Exfreundes. Sie war sich nicht sicher, ob sie der Schwester bescheit sagen musste, dass er sich bewegt hatte. Immerhin war nach Ilones Einschätzung nichts wirklich Beunruhigendes geschehen. Ganz im Gegenteil. Er lebte und er hatte sich bewegt. Wenn auch nur kurz und unkoordiniert.

Sie würde das später dem Oberarzt sagen. Heute Nacht bestand keine Veranlassung dazu jemanden zu stören oder zu wecken.

Etwas unsicher setzte sie sich zurück auf den Klappstuhl vor Megs Bett und beugte sich vor, als wolle sie ihm so etwas näher sein. Sie begann wieder zu überlegen. Was genau war hier los? – Nichts schien physisch bei Meg gestört zu sein. Trotzdem war er noch immer nicht wach.

Er war nun schon fast zwei Wochen hier und auf seinem Kinn war der leichte Flaum zu erkennen, den er immer hatte, wenn er sich zu lange nicht rasierte. Sie hatte es immer gemocht.

Ihre Hand fuhr zu seinem Hals. Man konnte den Herzschlag deutlich spüren.

„Was träumst du?“, fragte Ilone. Vielleicht half es ja, wenn sie mit ihm sprach. Vielleicht kämpfte er momentan seinen eigenen Kampf ums Überleben, bei dem ihn niemand unterstützen konnte.

„Erinnere dich!“, forderte sie. „Ich weiß, dass du mich geliebt hast, als du mich gebeten hast deine Frau zu werden. – Ich weiß, dass du dich oft überfordert gefühlt hast. – Es war nur dieser Schatten in dir, der mir schreckliche Angst eingejagt hat.. Das habe ich dir oft genug gesagt. – Das war der Grund, wieso ich dich nicht heiraten wollte, als du gefragt hast. Trotzdem muss es für dich so ausgesehen haben, als ob ich nichts für dich empfinde.“

Sie seufzte und legte ihren Schal um seinen Hals. „Auch wenn es nicht immer einfach war. Ich habe dich immer geliebt.“, flüsterte sie, strich ihm mit den Fingernägeln sanft durch die Haare und küsste ihn auf die Stirn. Ganz vorsichtig legte sie ihre Lippen an sein Ohr.

„Erinnerst du dich, wie es war, als wir uns kennen gelernt haben?“
 

* * * * * *
 

„Ja, ich erinnere mich.“

Es war Freitagabend und Meg hatte schon ordentlich getrunken, als er sie zum ersten Mal sah. Er hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt und auch in diesem Moment tat er es nicht - Natürlich hielt er sie für wunderschön, ja, und in der Art , wie sie ihn anlächelte und seinem Blick stand hielt, lag etwas Vertrautes. Das hätten viele Menschen vielleicht als Liebe interpretiert.

Meg dachte vor allem an Alkohol, an Party und daran, wieso Daniel sich ausgerechnet an dem ersten wirklich freien Wochenende seit Langem verspätete. – Als Band waren sie zwar jedes Wochenende in irgendeiner Kneipe oder auf irgendeiner Feier, aber das war etwas vollkommen Anderes. Jetzt hatten sie die Möglichkeit endlich mal alleine zu entspannen und so zu tun, als seien sie Normalsterbliche mit normalsterblichen Problemen.

Als sich das Mädchen zum zweiten Mal umgedreht und ihm zugezwinkert hatte, überlegte Meg kurz, wie es wäre, sie mit nach Hause zu nehmen, verwarf es aber aus irgendeinem Grund bereits nach dem nächsten Schluck Wodka-Cola wieder.

Er lehnte an der Bar mit dem Rücken zum Barkeeper und behielt den Eingang der Disko im Auge. – Außer Daniel hätte es sich keiner erlauben können, ihn hier warten zu lassen. Sogar bei seinem besten Freund wurde Meg mit jeder Minute ungehaltener.

Er nahm einen weiteren Schluck und leerte das Glas nach kurzem Zögern vollständig. Er war schließlich hier, um zu Feiern, nicht, um sich auf zu regen.

Als er zur Seite blickte, sah er sie urplötzlich neben sich stehen. Sie stand direkt neben ihm und er bildete sich beinahe ein, dass sie seinetwegen rüber gekommen sein könnte. Dann fiel Meg ein, dass er ja immer noch an der Bar war und, dass sie sich vermutlich lediglich was zu Trinken holen wollte.

„Was willst du haben? Ich lade dich ein!“, hörte er sich selber sagen.

Warum tat er das nur? Er wusste nicht wirklich, was ich damit eigentlich bezwecken wollte. Ihm war wohl einfach langweilig.

Kurz kam ihm der Gedanke, dass seine Worte wohl so ziemlich den ältesten Anmachspruch in der langen, traurigen Geschichte blöder Anmachsprüche formten.

Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte sie wohl etwas ganz Ähnliches, also setzte Meg schnell hinzu: „Ganz unverfänglich natürlich. – Ich warte lediglich auf einen Freund.“

Was genau tat er hier eigentlich? Wollte er die Geschichte seiner Familie wiederholen? – Wenn er diese Frau schlecht behandelte, würde er vielleicht vollends wie sein Vater werden. Genau konnte er nicht sagen, ob das gut oder schlecht wäre.

Sie begann zu lächeln und eine Reihe vollkommen gerader weißer Zähne wurde sichtbar. – Wenn sie lächelte, schien sie von innen heraus zu leuchten und Meg kamen komische Gedanken an alte Märchen. – Schneeweiße Haut, rote Lippen, umrahmt von tiefschwarzen Haaren. – Schnell schüttelte ich den Gedanken ab, während sie nach kurzem Überlegen konterte: „Unverfänglich ist es niemals, sich von einem jungen Mann einladen zu lassen. – Aber wieso eigentlich nicht? Mein Name ist Ilone.“

Sie nickte ihm zu.

„Meg.“, antwortete er auf die unausgesprochene Frage und kam sich plötzlich unheimlich blöd vor. Vielleicht begann der Alkohol auch zu wirken. „Bestell mir eine Cola!“, forderte sie. „ – Dummheiten begeht man am Besten nüchtern.“

Ilone. Was für ein wunderschöner Name.
 

* * * * * *
 

Meg war wieder in seinem Zimmer zurück. – Zumindest war es die triste, graue Version seines kranken Verstandes. Dies hier war seine erste und einzige Wohnung bisher und es hingen so viele Erinnerungen an diesem Ort. – Viele davon galten Ilone und seinen Freunden.

- Natürlich hatte Meg hier nie ausziehen wollen.

Er liebte dieses Zimmer, dass für ihn gleich zu setzen mit einer Zuflucht war. Als er hier angekommen war und die kalen grauen Wände gesehen hatte, mehr aber noch den Geruch einer jahrelang ungenutzten Wohnung eingesogen hatte, hatte er sich sofort heimisch gefühlt. Es war, als sei dies sein privater Keller - und mehr noch:

Diese Wohnung, Apartment acht im zwölften Stock eines viel zu alten Hochhauses, war ein Symbol einer besseren Zukunft, ein Sinnbild seines Ausbruches und seiner Freiheit vor seiner Tante, die jahrelang kaum Verständnis für einen Querkopf, wie Meg aufbringen wollte. Natürlich hatte sie mit der strengen Erziehung nur Gutes für ihn tun wollen. Trotzdem hatten sie sich eigentlich jeden Tag nur gestritten.

An seinem ersten Abend in dieser Wohnung hatte Meg das beinahe vermisst.

Er setzte sich auf sein Doppelbett. – Es füllte beinahe den gesamten Raum aus und war wie immer bezogen mit einer Decke aus schwarz-glänzendem Satin.

Direkt vor ihm stand der Kleiderschrank, der den zweiten Teil des Zimmers mit einem großen Spiegel an beiden Türen dominierte. Meg starrte eine Weile in seine eigenen bohrenden Augen, ohne sich im Geringsten zu rühren. Es war, als sei er selbst zu einer Statue erstarrt und Meg dachte darüber nach, dass sein Kampf noch nicht einmal ansatzweise vorbei sein konnte. – Wenn er das Zimmer verließ, würden sich erneut Monster auf ihn stürzen, aber er musste weiter.

Er musste diese Welt verlassen, sonst würde sie ihn zerstören und der Schmerz würde zumindest bis zu seinem Tot kein Ende mehr finden. Er musste diese Welt zulassen, denn jedes Mal, wenn er das getan hatte, war der Schleier zwischen ihm und der Außenwelt dünner geworden.

Eine Weile konzentrierte Meg sich auf die reale Welt außerhalb seines Geistes. Mittlerweile konnte er gelegentlich das monotone Klicken von Gerätschaften hören, die sicherlich nicht mehr seiner eigenen Einbildung entsprangen. – Er war auf dem richtigen Weg.

Mehr noch: Er war sich sicher, dass Ilone bei ihm war. Sie musste es sein. Sie würde ihn niemals alleine lassen, das wusste er nun. Er hatte es nicht verdient, aber genau das war vielleicht der Grundsatz des Gefühle, die er nie erfahren hatte. - Die Vorstellung, dass Liebe und Freundschaft nicht nur eigennützig ist und das man sie jemandem schenkt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob dieser jemand das auch verdient hatte und ob man etwas dafür zurück bekommen würde. In dieser Hinsicht hatte man nun einmal keine Sicherheit - nur das Vertrauen, dass die geschenkten Gefühle eines Tages zurück kehren würden. Das war etwas, worüber Meg sich noch nicht einmal in seiner Kindheit viele Gedanken gemacht hatte. Vormals hätte er auch ganz sicher wenig Verständnis für diese Theorie aufbringen können.

- Er hatte seine Gefühle Ilone gegenüber weggeschlossen, wie einen kostbaren Vogel und sie damit verletzt. Er hatte sie fallen gelassen, sich nicht um ihre Sorgen gekümmert. – Er hatte sie genau so alleine gelassen, wie seine Mutter.

Es wäre besser für alle Beteiligten gewesen, wenn er einfach gestorben wäre.

Derweil spürte Meg tatsächlich, dass irgendetwas in ihm bereits abgestorben war. Alles war ihm hier ein Gefühl von Lebendigkeit vermittelte, waren Echos der Vergangenheit, die ihm zuflüsterten, dass all dies seine eigene Schuld sein musste.

Seine Wege waren nicht zu rechtfertigen. Er hatte genau gewusst, wann er jemanden verletzte. Er hatte es teilweise genossen. Das vor sich selbst einzugestehen fiel ihm nicht schwer. Er war subtil vorgegangen, während er die Menschen um sich herum verletzt hatte und das unterschied ihn von seinem Vater. – Es machte ihn sogar noch schlimmer. War es nicht ehrenvoller einfach zu zu schlagen, statt langsam durch Psychoterror zu zermürben?

Womit hatte er es verdient, dass sie auf ihn wartete? – Oder, dass Daniel ihm so lange die Treue gehalten hatte? Meg fühlte, dass Beide zu ihm sprachen und nach ihm griffen.

Er wünschte sich nur, dass er noch einmal zurück könnte, um ihnen dafür zu danken. Meg hatte das Gefühl, dass er nun die Augen öffnen konnte. – Doch so schnell er versuchte dieses Gefühl zu erfassen, so schnell verschwand es auch wieder.

Mit einem Ruck stand Meg auf und ging zum Fenster.

Nebel behinderte jede Sicht auf die Straße und man konnte nur schemenhaft die Häuser auf der anderen Straßenseite wahrnehmen.

Mehr noch als das aber, war Megs Aufmerksamkeit noch auf diesen Raum gerichtet, dem er unversehens den Rücken gekehrt hatte. Er war urplötzlich vollkommen alarmiert.

„Er hat sich nicht bewegt.“, schoss es ihm durch den Kopf und er erstarrte, während einige staubige Flocken vom Himmel regneten und gegen die Fensterscheibe schlugen.

Aus den Augenwinkeln versuchte Meg den Spiegel zu beobachten, ohne ihn direkt an zu sehen. Er wollte es nicht wissen, doch er wusste es schon.

„Mein Spiegelbild hat sich nicht bewegt.“, dachte er und drehte sich langsam um, nur um fest zu stellen, dass sich tatsächlich lediglich sein Körper, nicht aber das Abbild im Spiegel bewegt hatte. – Dieses starrte weiter geradeaus, wie das Portrait eines Fremden auf einer 3D-Postkarte.

Meg drehte sich noch einmal zum Fenster um und rüttelte verhalten am Fenster. – Nichts rührte sich. Es ein zu schlagen war zwecklos, denn die Festen Metallstreben, die in der Mitte des Fensters ein Kreuz bildeten, ließen ohnehin nicht zu, dass man sich hindurch zwängen konnte.

Es gäbe auch keine Möglichkeit von hier aus irgendwie an der Wand herunter zu klettern. – Nicht einmal ein Regenrohr war in greifbarer Nähe an der Wand montiert.

Meg atmete tief durch.

Da das Spiegelbild nicht schwarz war, ging vermutlich keine Gefahr von ihm aus. Oder?

Meg betrachtete sich eine Weile selbst und seine Miene wurde kritisch.

Zwar hatte er immer noch Angst, das Wesen könne sich ganz plötzlich bewegen und ihn anfallen, aber nun, da er sich selbst wie einen Fremden im Spiegel betrachten konnte, war es für ihn nicht mehr verwunderlich, dass er die Kreatur, die seinen Vater dar stellte zunächst für ein Abbild seiner Selbst gehalten hatte.

Er hatte einmal Fotos seines Vaters gesehen, als dieser etwa in seinem Alter war und abgesehen von einigen Details wie Haarfarbe, Händen und der Tatsache, dass sein Vater ein ungleich breiteres Kreuz hatte, war Meg sein absolutes Ebenbild.

Er war wie sein Vater geworden. Das ließ sich zumindest im Blut nicht leugnen. Unschlüssig machte Meg einige Schritte auf das Bildnis zu, da er keine andere Wahl hatte.

Die Tür befand sich auf der gegenüber liegenden Seite des Zimmers. Er musste auf die ein oder andere Art und Weise an dem Wesen vorbei, wenn er hier raus wollte.

„Bitte! Lass es eine Illusion sein!“, flüsterte Meg und schritt am Spiegel vorbei. Es musste schnell gehen. Als würde man ein Pflaster abziehen. Sonst würde er sich nie trauen.

Er war gerade am Spiegelbild vorbei, als er in den leeren Augen ein aufflackern erkannte. Es war so fein, dass Meg es beinahe als Einbildung abgetan hätte. Dann bemerkte er, dass in den Augen Erkennen lag und die Lider schlossen sich kaum merklich ein Stück weit. Dann griff eine Hand nach vorne und verwandelte sich an der beinahe wässrigen Oberfläche des Spiegels zu einer schwarzen langgliedrigen Kralle.

- Der Schattendämon. - Vielleicht sein Vater.

„Nein. Lass mich in Ruhe!“, flüsterte Meg und hastete weiter einige Schritte auf die Tür zu, während der sehnige Arm durch den Spiegel griff und sich vollkommen schwärzte. Meg wartete gar nicht erst, bis das Wesen sich langsam aus dem Spiegel geschält hatte. Er drückte die Klinke seiner Tür herunter und rannte hinaus in sein Wohnzimmer.

Wo zuvor noch die Manifestation von Ilone gesessen hatte war nun keine Kreatur mehr zu sehen, aber der Fernseher surrte und der Bildschirm rauschte erneut, wobei Kaskaden von grauem Schnee den Bildschirm herunter zu laufen schienen.

Meg nahm es kaum war, er rannte und durch das Adrenalin in seinem Blut nahm er kaum den kreischenden, weiblichen Körper war, der sich aus einer dunklen Zimmerecke heraus auf ihn stürzte.

Mit einer Hand fasste er den Knauf der Wohnungstür und riss sie durch sein eigenes Körpergewicht auf, sodass er beinahe die Treppe herunter gefallen wäre.

Er stolperte in den Lichtkegel des Flurs, der weiß war, wie das Vergessen.

„Das Schicksal ist gekommen, um dich zu warnen. Du hast ihr Schicksal lange genug vergessen.“, flüsterte eine Stimme in Megs Kopf und Meg wusste, dass nicht Ilone gemeint war.

Zeichensprache

Es war beinahe Nachmittag und Ilone hatte die Zeit vergessen. Sie war an Megs Seite eingeschlafen - hatte sich nicht gerührt, bis Daniel ins Zimmer trat.

Nun öffnete sie die Augen und blinzelte den grobschlächtigen Bassisten an. „Hallo, Daniel.“, murmelte sie und setzte sich auf. Sie bemerkte Daniels lächelnden Mund und fühlte sich beinahe ausgelacht.

„Wie geht es dir?“, fragte der Braunhaarige und setzte sich auf den Stuhl neben Ilone. Es klang eher nach einer Floskel, als nach einer ernst gemeinten Frage.

Ilone zuckte die Schultern. „Verdammt! Ich habe den Unterricht verpasst.“, gab sie zu, als ihr schmerzlich ins Bewusstsein kam, wie nah die Abschlussprüfungen waren und wie viel sie für ihre Ausbildung noch würde lernen müssen. Indes störte es sie weniger, als sie vermutet hätte. Wieso waren solche Dinge mittlerweile derart unwichtig geworden? Noch vor ein paar Tagen hätte sie Meg vermutlich erschlagen, wenn er es gewagt hätte sich selbst während der Prüfungszeit in den Vordergrund zu stellen.

„Ich glaube…“, begann Ilone und drehte sich beiläufig zu Meg um. Sie erstarrte bei seinem Anblick. „Siehst du das?“, fragte sie Daniel und dieser beugte sich vor, um Meg eingehend betrachten zu können.

„Eine Träne.“, bemerkte er.

„Glaubst du, er sendet uns ein Zeichen? – Oder ist das nur Zufall?“

Daniel zuckte mit den Schultern und sein Blick war sehr ernst. Es könnte auch reiner Zufall sein. Eine körperliche Reaktion. Flüssigkeit, die sich im Auge gebildet hatte und die nun ihren Weg aus dem Körper heraus suchte, ohne in irgendeiner Form etwas mit Trauer zu tun zu haben. Das war zuvor ja auch schon passiert.

„Glaubst du, dass er unseretwegen traurig ist?“, fragte Daniel dennoch und Ilone zuckte bei dem Gedanken zusammen.

In diesem Moment krallte sich eine Hand von Meg in das weiße Laken und blieb dort zu einer Faust geballt eine Weile liegen, bevor sie sich ganz langsam wieder entspannte, als sei niemals etwas geschehen. – Dieses Zeichen war nun wirklich nicht mehr zu ignorieren.

Was ging nur in Meg vor? Ilone konnte ihren Blick nicht von den kleinen Falten abwenden, die Megs Hand im Laken hinterlassen hatte, als sei dies der einzige Beweis, dass sie die Bewegung nicht erträumt hatte. Dann hellte sich ihre Miene abrupt auf.

„Ist es nicht vollkommen egal, ob er unseretwegen weint? – Hauptsache ist doch, dass er überhaupt etwas fühlt!“

„Hat er uns ein Zeichen gegeben?“, fragte Daniel noch einmal ungläubig. – Es war vollkommen gleichgültig. Hauptsache war, dass sich irgendetwas in Meg den Weg in die Realität gebahnt hatte, um seine Hand zu bewegen.
 

* * * * * *
 

Meg war auf die Straße gelangt und er wusste nicht mehr, wo er war. Zu dicht war der Nebel, in dem noch immer graue Flocken herabregneten, wie Schnee.

„Es war doch noch nie deine Art auf zu geben!“, hörte Meg ein Echo schreien, während er einfach nur rannte, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben.

Es waren einfach zu viele Schatten, die auf Meg einstürmten. Die meisten von ihnen kannte er nicht, doch er spürte, dass sie ihn liebten, ihn vergötterten – und zeitgleich wollten sie ihn zerstören, ihn leiden sehen.

Er spürte, wie sie sich an ihm fest krallten und schleuderte sie von sich weg, sobald er konnte, während er immer weiter die Straße hinab lief. Ihre Bisse hatten bereits eine Vielzahl an blutenden Wunden hinterlassen und das Schlimmste war, dass sie schneller als er waren und, dass es immer mehr wurden.

Dieses Mal waren es keine bestimmten Personen, die durch die dunklen Kreaturen dar gestellt wurden. Es waren gesichtslose Schatten. Nicht mehr und nicht weniger.

Es waren die Gesichter der Menschen vor der Bühne, wenn das Rampenlicht alles zu dunklen Schemen verschwimmen lässt und keinerlei Unterscheidung zwischen den einzelnen Personen mehr zulässt.

Er musste ihnen doch irgendwie zeigen können, dass er stärker war. Wenn er sie irgendwie einschüchtern konnte, würden sie vielleicht von ihm ablassen.

Sie hefteten sich an seine Fersen und brachten ihn zu Fall.

Meg schlug hart auf den Boden auf und spürte gleichzeitig einen kräftigen Schlag an der Schläfe.

„Ich verstehe das nicht!“, schrie Meg in den weißen Nebel. „Was genau wollt ihr von mir?“

Er richtete sich auf und schüttelte dabei einen sehnigen, schwarzen Arm von seiner Schulter.

„Es sieht dir nicht ähnlich, dich einfach deinem Schicksal zu ergeben!“, schrie dieses Mal ein Echo aus anderer Richtung. Meg war eine Weile geneigt zu glauben, dass die Kreaturen selbst dies gesprochen hatten.

„Ich muss ihnen beweisen, dass ich stärker bin als sie!“, dachte Meg wissend, dass er sie in seiner jetzigen Situation niemals besiegen würde. Einzeln mochten sie schwach sein, aber wenn sich ihre Zahl weiterhin dermaßen vervielfachte, würde er nicht mehr lange durchhalten.

Schon jetzt war seine Sicht seltsam verschwommen und seine Beine zitterten, sobald er kurz stehen blieb um einen weiteren Schatten ab zu schütteln, der versuchte sich an seinen Rücken zu werfen.

Keuchend rannte Meg weiter und orientierte sich dabei auf den weißen Leitlinien auf der Mitte der Straße. - Mehr konnte er im dichter werdenden Nebel nicht erkennen.

Hier irgendwo musste doch ein Schutz sein. Irgendetwas, wo er sich verstecken könnte. – Vielleicht ein offenstehendes Auto.

Eines der Biester warf sich an Megs linke Seite. Der junge Mann taumelte ohne vollständig an zu halten und schlug mit dem Ellenbogen aus. Er war überrascht, dass er überhaupt etwas traf. Kreischend krümmte sich ein schwarzes Wesen neben ihm weg, bevor Meg weiter in den Nebel hinein rannte.

„Du warst doch immer so… kreativ…“, fauchte die Kreatur mit vorgestrecktem Hals noch bevor Meg weiter rannte. Also doch. Es waren die Kreaturen, die gebetsmühlenartig immer einen einzigen Satz zu ihm sprachen, als seien sie nur für den Moment geboren ihm diese eine wichtige Eingebung zu bringen.

„Ich entkomme ihnen nicht.“, dachte Meg gerade, als er im Nebel vor sich eine weitere Kreatur auf sich zustürmen sah. Sie war vielleicht größer, als die Wesen hinter ihm. Genau konnte man die Entfernung nicht abschätzen. Meg verlangsamte unbewusst seinen Gang, weswegen er beinahe von einem Gesichtlosen geschnappt wurde, der direkt hinter ihm heran nahte.

Er duckte sich weg und schlug einen Haken nach rechts, auch um der Kreatur vor sich aus zu weichen, doch als der Hüne am Ende der Straße ebenfalls die Laufrichtung änderte, wusste Meg, dass dieser ihn gesehen hatte.

Je näher Meg an das Wesen herankam, umso mehr wurde ihm bewusst, wie groß sein nächster Gegner sein würde.

„Welchen Alptraum habt ihr jetzt für mich?“, zischte Meg verbissen, bevor ihm eigentlich bewusst wurde, dass er aussprach, was er dachte. – Schweiß rann ihm den Rücken herunter und seine Haare klebten an den Schläfen. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten.

Er warf einen Blick zurück und schätzte, dass er bereits von etwa acht Kreaturen verfolgt wurde. Drei von ihnen hatten beachtlich aufgeholt und waren schon sehr nahe gekommen. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bevor sie Meg von sich aus einholten.

Schon jetzt tat Megs rechtes Bein höllisch weh. – Er war sich nicht sicher, ob er einen weiteren Sturz überleben würde.

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob es nicht einfacher war, wenn er sich einfach fangen ließ. Es würde vermutlich recht schnell gehen. – Ein Schlag und er war ohnmächtig. – Zu wenig Zeit zu bereuen. Dann würde er nicht bemerken, wie sie ihn in Stücke rissen.

Vielleicht hätte Meg der Versuchung aufzugeben nachgegeben, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass er ohnmächtig war, bevor die schlimmsten Schmerzen einsetzten. Was war, wenn sie ihn lebendig auseinander rissen?

Meg drehte sich erneut zu den Schatten um, die erneut dicht an ihn heran gekommen waren. Dann lichtete sich der Nebel unvermittelt und vor sich erkannte der junge Mann eine sehnige, verdrehte, menschliche Gestalt, deren linker Arm scheinbar haltlos und mit unzähligen Schürfwunden übersäht in der Luft ruderte. – Das Körpergewicht stützte sich auf den rechten Arm, der nach unten hin verdickt war, wie der Corpus eines Instrumentes.

- Als Meg das halb-menschliche Gesicht der schwarzen Kreatur anstarrte, wusste er, dass ihn der Arm an einen Bass erinnerte.

Daniels Widergänger verzog das breite Maul zu einem stummen Schrei und verlagerte das Gewicht nach hinten auf die viel zu dünnen Beine, um den Arm zu einem Schlag erhoben in die Luft zu heben. Meg duckte sich weg und im selben Moment spürte er die langgliedrigen Finger eines Gesichtslosen auf den Schultern.

Ein unnatürlich gedämpfter Schrei, gefolgt von einem nassen Reißen, machte Meg bewusst, dass der Schlag die Kreatur, die auf ihm hockte, getroffen haben musste. Kurz krallten sich die Klauen tiefer ins Fleisch von Megs Rücken, um schließlich mit einem Beben zu erschlaffen. – Der Gesichtslose kippte zur Seite und Meg spürte Blut auf seinem Rücken, bevor er seine Hände gegen den Boden rammte, um sich mit letzter Kraft wieder auf zu richten.

Sein rechtes Knie, auf das er gefallen war, knickte schmerzhaft zur Seite weg. Er schrie und stemmte sich gleichzeitig weiter gegen den Schmerz. Er musste laufen. Er durfte sich nicht von einem gebrochenen Bein aufhalten lassen! Er musste einfach weiter, sonst würde er bald enden, wie das tote gesichtslose Wesen, dessen Blut auf der Straße und auf Megs Rücken verteilt war.

Meg humpelte die ersten drei Schritte, bevor es ihm halbwegs gelang die Schmerzen aus zu blenden. Dann rannte er seine Gefühle ignorierend weiter und erkannte im dichter werdenden Nebel gerade noch, wie sich die Kreaturen auf den Hünen stürzten.

Eine von ihnen war offensichtlich bereits auf die breiten Schultern gesprungen, um ihm mit seinen breiten Krallen die Kehle auf zu schneiden.

Meg schluckte kurz und fühlte den unbeschreiblichen Drang kehrt zu machen und dem Riesen zu helfen. Dann war urplötzlich alles vorbei.
 

Meg wurde in eine neue Umgebung geworfen, als sei sein Lauf auf der Straße vor seiner Wohnung niemals gewesen.

Stille umfing ihn. Langsam setzte er einen Fuß vor den Anderen.

Noch immer tat sein Knie weh, aber da sich sein gesamter Körper taub anfühlte, fiel das kaum noch ins Gewicht.

Er befand sich in einem Gang aus Marmor, der an den Seiten von vielen Säulen gesäumt wurde, wie der Palast eines Königs. – Gedämpftes Licht fiel durch den leichten Dunst und erweckten die Stimmung eines neuen Morgens.

„Dies sind die Ruinen meines Stolzes.“, dachte Meg und wusste selbst nicht wieso. Eine Weile schritt er vorwärts und betrachtete die naiven Kinderzeichnungen, die in den harten Stein gekratzt waren, wie die Darstellungen in ägyptischen Felsengräbern und Tempeln.

„Ist dies wirklich das, was du erträumt hast?“ Meg drehte den Kopf in die Richtung, aus der die seltsam fremde Stimme kam, die eigentlich seine eigene war. Er hörte Flügelschlage, als sei das Echo eine Taube, die sich in einer Kathedrale verirrt hatte.

„Kannst du mit diesem Verrat leben?“, stürmte es Meg aus einer anderen Richtung entgegen.

„Der Ausgang heiligt doch die Mittel!“, hielt eine andere Stimme dagegen.

Meg drehte sich und beobachtete die Decke, die im Dunst nur ein prächtiges Ornament erahnen ließ, dass entfernt den Darstellungen in der Sixtinischen Kapelle glich. Er konnte die fliegenden Wesen und Echos allerdings nicht ausmachen.

„Es war nur Glück, dass ihr berühmt geworden seid!“, kam erneut das erste Echo.

„Warum haben immer nur die schlechten Menschen Erfolg.“, kam ein Anderes hinzu. Oder war es dasselbe?

Meg ging weiter vorwärts und hielt die Decke über sich im Blick.

„Diese Erinnerungen brennen in dir, wie Feuer! Das ist deine Hölle!“

Wieder entzog sich das Geräusch seinem Blick. Je schneller Meg ging, desto hektischer wurde das Schlagen der Flügel.

„Ich will nicht, dass er mich auch noch alleine lässt! Daniel darf mich einfach nicht alleine lassen!“, schrie es in ihm. In diesem Moment wurde Meg bewusst, dass er sich bereits einmal zusammen mit dem Schattendämon an diesem Ort befunden hatte. Er war erneut in der Halle der Echos.

Er konnte nicht sagen, ob die Säulen sich erst im Nachhinein aus dem Nebel manifestiert hatten, oder ob sie nur vormals durch die dichte, weiße Wand aus Nebel versteckt worden waren.

„Du kannst nicht ewig davor weg laufen. – Du kannst dich nicht verstecken!“, wurden Megs Gedanken erneut unterbrochen.

„Ja.“, flüsterte Meg. „Ich weiß, dass es niemals Daniels Traum war, Bassist zu werden und auf der Bühne zu stehen.“

Laut schrie er den Gestalten entgegen: „Es ist nicht meine Schuld, dass er mir trotzdem gefolgt ist.“

„Es IST deine Schuld“, kam ein hoffnungsloses Echo zurück.

„Sie ist weg! Für immer - und es ist deine Schuld!“

Meg atmete tief ein. Wieso erzählten diese Kreaturen solchen Blödsinn?

„Das stimmt nicht. – Ilone wartet auf mich und wenn ich zurück bin, werde ich vieles wieder gut machen können!“, rief er zurück und lachte dabei wie ein verwirrtes Kind. In diesem Moment begriff er, dass mit dem Satz nicht Ilone gemeint sein konnte.

Er beschleunigte seine Schritte unbewusst, als wolle er erneut fliehen.

Mittlerweile war ein Ende des Ganges sichtbar geworden. Irgendwo in der Ferne brannten Fackeln und Kerzenleuchter, während dunkle Echos Meg weiter trieben und ihre Stimme veränderten, um zu Menschen zu werden, die Meg bekannt vorkamen, die er aber eigentlich nicht einordnen konnte.

„Gib es endlich zu!“, die Stimme eines Mannes.

„Du hast sie umgebracht!“, sein eigenes Echo.

„Sie ist tot! Begreifst du das nicht, du kleiner Lügner!“ Unverkennbar die Stimme einer jungen Frau.

„Es ist deine Schuld!“ Das eigene anklagende Echo.

„Meg hör mir zu! Begreif doch endlich!“ Wieso konnte diese verdammte Frau nicht endlich schweigen. Es konnte nur die Stimme seiner Tante sein.

Als Meg den Lichtkreis bei den Kerzen betrat, bemerkte er, dass er am ganzen Körper zu zittern begonnen hatte.

Ihm war kalt. – Das war eine neue Empfindung, die er seit seiner Zeit in diesem Traum eigentlich nicht mehr gespürt hatte.

Alles in ihm schrie ihn an um zu kehren. Selbst die Echos hatten sich nun zu einer einzigen Stimme zusammen gefunden. „Verschwinde! Hau ab! Du bist ein Feigling, aber wenigstens lebst du! Du Bastard verträgst die Realität doch gar nicht!“

Der Geruch von Weihrauch schlug ihm entgegen.

Hirophant

Die Fackeln warfen zuckende Schatten an die Wände, sodass Meg aus den Augenwinkeln heraus den Eindruck bekam, die Wandmalereien vollführten heidnische Tänze.

In der Mitte des Raumes stand ein geschlossener Sarg. Dahinter befand sich ein hoher, goldener Thron, der mit einigen seidenen Vorhängen beinahe, die gesamte Raumhöhe einnahm. Die schwarze Gestalt, die Megs Vater darstellte, saß dort, scheinbar gewaltsam in eine aufrechte Position gezwungen. Im Feuerschein glänzten die tiefschwarzen Muskelstränge auf und schienen sich fortwährend zu bewegen, als sei jeder Zentimeter dieses Wesens von seiner eigenen unheiligen Kraft angetrieben. In einer Hand hielt er eine schwere glänzende Kette, die ebenfalls aus Gold zu bestehen schien.

Während Meg die zusammen gekrümmte Gestalt seiner Selbst – den Schattendämon – betrachtete, der wie ein Hund an diese Kette gebunden war und zu den Füßen seines Vater lag, zischte der Herrscher dieses Saales: „Sieh dich an!“ Er konnte nicht sagen, ob sein Vater ihn, oder das bemitleidenswerte Abbild mit diesen Worten meinte.

Er hob den Blick, um seinem Vater zu begegnen. Er wusste, dies war der letzte und entscheidende Kampf. Er kam zu früh, aber das war nun nicht mehr von Belang, denn der richtige Zeitpunkt entzog sich Meg und er würde niemals kommen.

Er glaubte indes nicht, dass er durch seine pure Erscheinung Eindruck bei der Erscheinung des Herrschers vor ihm schinden könnte, aber er wagte es nicht, seinen Vater an zu sprechen. Stattdessen erwiderte er den Blick mit einem Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen weg ziehen.

„Du bist schutzlos und alleine!“, flüsterte der Dämon fauchend.

An Meg vorbei drängten sich zwei ätherische Nebelkreaturen, die auf den Thron zuschwebten und sich dort mit dem Nebel verbanden. – Flügelschlagen. – Waren dies vielleicht die Gestalten der Echos? Meg war eine Weile abgelenkt, sodass er erst wieder auf den schwarzen, nackten Leib seines Vaters blickte, als dieser schon wieder zu sprechen begonnen hatte.

„Das ist wohl so, weil du deiner Mutter so ähnlich geworden bist.“ Noch hatte sein Vater keine bestimmte Wertung in der Stimme. Er war genau so, wie Meg ihn in Erinnerung behalten hatte. – Noch versuchte er zu provozieren. Allzeit umgab ihn eine lauernde Kälte, als sei er eine Schlange, die nur darauf wartete zum vernichtenden Biss an zu setzen. – Und die Angriffstrategie war lange festgelegt und unumstößlich.

Meg wusste, dass er nichts sagen konnte. Alles, was Meg nun tun konnte, würde seinen Vater nur näher an sein Ziel bringen, Meg durch pure Worte zu verletzen. Vielleicht war es schlimmer als zu sterben, wenn er jetzt auch noch gegen seinen imaginären Vater verlor.

Sein Blick wanderte zurück zu seinem geschundenen zweiten Ich, das vollkommen gefühlskalt an ihm vorbei starrte, als sei er bereits zu lange hier festgehalten worden, um noch eine eigene Meinung zu haben. In diesem Moment begriff Meg, dass er sich vom Schattendämon keine Hilfe mehr erhoffen konnte. Der Schatten hatte seine Funktion erfüllt und nun war er es, der Schutz und Rettung benötigte. Meg musste seinem Vater alleine die Stirn bieten, weil sein Schicksal sonst auf ewig an dieser goldenen Kette liegen würde.

„Lass meine Mutter aus dem Spiel.“, sagte Meg betont langsam und seine eigene Stimme verklang seltsam tonlos im viel zu großen Raum.

Nun begann sein Vater zu lachen. Mit weit aufgerissenem Mund, brachte seine laute, gluckernde Stimme den Saal zum erbeben und Meg konnte die spitzen, ungepflegten Raubtierzähne im weit aufgerissenen Schlund erkennen.

Das Lachen war noch nicht ganz im Raum verstummt, als sich Megs Vater langsam nach vorne beugte, einen Arm auf das rechte Knie gelegt und das Kinn mit der Hand stützend, die die Kette hielt. Der Kopf des Schattendämons wurde hochgezogen und er fügte sich ohne auf zu begehren. Der Herrscher atmete einmal tief mit geschlossenen Augen ein, als müsse er die eigene Beherrschung wieder finden und sagte:

„Warum soll ich Evelyn nicht erwähnen, wo ihr doch so viel gemeinsam habt.“

Meg fuhr bei der Erwähnung des Namens seiner Mutter zusammen. – Hatte er sie schon vergessen, dass selbst ihr Name Furcht bei ihm auslöste? Meg wusste instinktiv, dass er soeben seinen verletzlichsten Punkt preis gegeben hatte und sein Vater zeigte keine Gnade.

„Ihr beide seid weinerlich, schwach, menschlich…“, fuhr er fort und jeder Muskel in Meg spannte sich. Er wollte den Herrscher zum Schweigen bringen. Er wusste nicht genau, ob er seinen Vater verbal unterbrechen, oder angreifen wollte, doch eine Geste seines Vaters, bei der er gebieterisch die freie Hand hob, brachte abrupt jedes Vorhaben zum Stillstand.

Eine Weile war abgesehen von dem leisen, metallischen Klingen, als sich der Schattendämon unmerklich an der Kette bewegte nichts zu hören. Dann schien sein Vater die Worte wieder gefunden zu haben.

„Ihr seid beide mehr Frau als Mann“, sagte er „und enden werdet ihr auf die gleiche Weise!“

Das reichte. Meg wurde wütend. „Und welche Weise soll das sein?“, hörte er sich selbst mit deutlich festerer Stimme fragen.

Der Vater verzog den Mund zu einem sinisteren Grinsen, das die Augen allerdings nicht erreichen konnte, als habe er nur auf diese Frage gewartet, um die Falle zuschnappen zu lassen.

Urplötzlich drehte der Schattendämon auf dem Boden den Kopf in Megs Richtung – sah ihn direkt an, Hoffnungslosigkeit im Blick - und Meg bemerkte, dass dieser Raum reine Illusion war. – Er fiel taumelnd in die Dunkelheit und hörte nur noch die Stimme seines Vaters, der in weiter Ferne und sehr gedämpft antwortete: „Sechs Meter unter der Erde!“

Sechs Meter unter der Erde…

Während er noch fiel, sah Meg vor seinem geistigen Auge einen kalten Friedhof. Er fror entsetzlich, aber es kümmerte ihn nicht. Für dieses herbstliche Wetter war er nun einmal nicht richtig gekleidet und zu allem übel hatte es auf dem Hinweg noch geregnet, sodass sein etwas zu großer schwarzer Anzug jetzt total durchnässt war. Es war ihm gleichgültig.

Er war 11 Jahre alt und er spürte die Hand seiner Tante auf der Schulter, doch sie spendete ihm keinen Trost.

Er hatte zu lange im Krankenhaus gelegen. Er hatte ihr nicht einmal Lebewohl sagen können. – Der Wind frischte auf. Meg hatte das Gefühl, als würde er von diesem Windhauch fortgetragen werden. Dieser Wind sollte seine Erinnerung fort ziehen, denn die Wahrheit konnte er einfach nicht ertragen. Er verbot sich selbst daran zu denken und jemals aus zu sprechen, was geschehen war.

Sie konnte einfach nicht tot sein. Sie durfte es nicht. Genau diese Tatsache war es, die Meg immer davon abgehalten hatte, um sie zu trauern. Sie konnte einfach nicht tot sein.

- Und doch sagte der Grabstein zu seinen Füßen etwas Anderes. – „Hier liegt Evelyn Saunderson – Tochter, Mutter und Freundin.“

Sie hatten ihn alle belogen. Es konnte nicht anders sein. Es war unfair. Sie hatte ihn zuvor nie beschützt. Niemals. – Sie durfte nicht tot sein, jetzt, da sie bewiesen hatte, wie sehr sie ihn geliebt hatte.

Meg fiel taumelnd in die Dunkelheit.
 

******
 

„Wieso hast du die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen?“, stellte Ilone die Frage in die Stille, die sie schon viel zu lange aus reiner Pietät nicht zu fragen gewagt hatte.

„Was?“, kam es von Daniel, der vorgab sich nur auf Meg zu konzentrieren.

Ilone wandte ihren Blick ebenfalls ab und betrachtete Megs Körper, der sich seit ein paar Stunden merklich bewegte, als sei Meg im Schlaf. – Vielleicht war es das ja auch, doch wecken hatte man ihn bisher nicht können. So viel verlangte aber zu diesem Zeitpunkt auch niemand. Es war schon ein Wunder, dass überhaupt wieder Leben in den jungen Mann gekommen war und dass Meg träumte konnte nur bedeuten, dass er auch wieder Gefühle und Gedanken fassen konnte.

Noch immer war man sich nicht sicher, ob Meg selbst wenn er aufwachte, jemals wieder der Alte werden würde. Das Gehirn war ein zu unerforschtes Terrain, um genaue Angaben machen zu können.

Immerhin gab es Aktivität, in jeder Hinsicht. Er bewegte sich, er stöhnte und gelegentlich schienen seine Lippen Worte zu formen, die er jedoch nie aussprach.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“, meinte Ilone nach einer Weile und wandte sich wieder Daniel zu.

Daniel zuckte mit den Schultern. Wie sehr Ilone diese Geste doch mittlerweile hasste!

Aber mittlerweile wusste auch der hünenhafte Bassist, dass es kein Entrinnen vor Ilone und ihren Fragen gab.

„Wie kommst du darauf, dass ich ein schlechtes Gewissen habe?“, versetzte Daniel und schluckte. Ilone registrierte die Bewegung des Kehlkopfes und fühlte sich bestätigt. Es war Daniels Art immer so lange Gegenfragen zu stellen, bis man selber aufgab.

Ilone hatte nicht vor auf zu geben und führte aus: „Daniel! Du wohnst nur wenige Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Du hast ein eigenes Motorrad. – Du könntest in 10 Minuten hier sein, wenn du wolltest.“

Daniel atmete tief durch. „Worauf willst du eigentlich hinaus?“, schnaubte er.

„Du bist beinahe hier im Krankenhaus eingezogen. – Du könntest genau so gut auch zu Hause übernachten und tagsüber hier sein. Trotzdem bleibst du und schläfst kaum.“

„Na und? Ich mache mir Sorgen. Das ist doch nur natürlich!“, gab Daniel zurück und schien selbst nicht mehr vollständig überzeugt zu sein. Ilone lachte und aus ihrem Mund klang es ironisch und bohrte sich wie ein Nagel in Daniels Ohr.

„In der ersten Woche habe ich mir nichts dabei gedacht. Aber mittlerweile sind es schon fast drei.“

Wieder zuckte Daniel mit den Schultern. Jetzt aber wirkte er traurig und gleichzeitig peinlich berührt.

„Ich denke nur, dass ich selbstsüchtig bin.“, flüsterte er. Eigentlich hatte er das Ilone nicht erzählen wollen. Es ging sie nichts an. „Als man mir erzählte, dass Meg im Krankenhaus liegt, war ich froh, dass wir nicht auftreten würden. Erst dann habe ich mir Sorgen um meinen Freund gemacht.“

„Was?“ Ilone setzte sich auf, als sei sie von Daniels Worten zurück gestoßen worden.

„Ich habe ihn im Stich gelassen.“, sagte Daniel und schluckte erneut, als wolle er damit die Gefühle einfach wieder dorthin zurück befördern, wo sie her gekommen waren.

„Aber wieso warst du froh? Die Band ist doch dein Leben?“ Dieses Mal klang Ilones Stimme nicht mehr anklagend, sondern rein verwundert.

„Ist sie eben nicht.“, erklärte Daniel. „Ich hasse es auf der Bühne zu stehen. Der einzige Grund, wieso ich mich dazu hergebe ist, weil ich in diese Sache nun einmal schneller hinein geschlittert bin, als mir lieb war und ich konnte Meg ja nicht alleine dastehen lassen.“

Ilone schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich nicht!“, sagte sie. „Du verdienst gutes Geld damit und die Mädchen liegen dir zu Füßen. Du bist berühmt! Wieso beklagst du dich?“

Wieder hob Daniel die Schultern und ließ sie fallen. Dieses Mal aus echter Resignation heraus. Er hatte gewusst, dass Ilone es nicht verstehen würde. Sie war viel zu unromantisch, um zu träumen. – Das machte sie vielleicht zur idealen Partnerin für einen Träumer, wie Meg, aber es machte sie nicht unbedingt zur besten Gesprächspartnerin für philosophische Gedanken und Gefühle.

Daniel machte eine abwehrende Handbewegung und erklärte damit das Gespräch für beendet, bevor er noch sagte:

„Meg ist berühmt. – Ich stehe nur als sein treuer Handlanger daneben, während er den Großteil des Ruhmes einstreicht.“ Nach einem kurzen Seufzer schloss Daniel: „Ich weiß, dass mir Eifersucht nicht gut steht, aber ich habe mir etwas Anderes für mein Leben erträumt, als ewig im Schatten einer anderen Person zu stehen.“

Ilone nickte. Daniel glaubte aber nicht, dass sie wirklich verstand, was er meinte und wie er sich fühlte.

„Nebenbei bemerkt“, setzte der deshalb noch einmal hinzu „bin ich arbeitslos, wenn Meg stirbt. Natürlich habe ich auch Angst um mich selbst.“

Kontrollverlust

Regen schlug Meg ins Gesicht und verband sich mit den Tränen auf seinem Gesicht. Er würde nicht weinen. Zumindest nicht öffentlich. Würde jemand ihn fragen, dann wären diese Tränen lediglich Regentropfen. Er würde keine Schwäche zeigen. Niemals! Er hatte kein Mitleid verdient. Nicht einmal Selbstmitleid. Er war schuld. – Er ging einfach weiter die Straße endlang ohne genau zu registrieren, wo er hinlief.

Genau wie damals. Er erinnerte sich, dass seine Mutter nach Hause gekommen war. Nicht wie sonst abends, sondern etwas früher. Meg hörte, wie sich oben der Schlüssel in der Haustür drehte und er blieb ruhig in seiner Ecke im Keller sitzen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wenn seine Mutter ihn hier unten fand, wäre die Bestrafung durch seinen Vater grauenhaft.

Wieso kamen ihm diese Erinnerungen nur genau jetzt, wo er sie am wenigsten gebrauchen konnte. – Soll ich meiner Mutter die Schuld geben? Sie hat mich niemals schlecht behandelt.

- Und auch mein Vater wollte für mich nur das, was er selbst als das Beste ansah. – Stärke.

Meg erinnerte sich, wie seine Mutter den kleinen Flur vor der Kellertür entlang gelaufen war und mit ihrer hellen, klaren Stimme nach ihm rief. Er sagte nichts. Vielleicht würde sie ja von selbst aufhören nach ihm zu suchen. Er musste hier unten bleiben. Vater hatte es gesagt.

Von oben hörte Meg seine Stimme. „ Keine Ahnung, wo der Bursche steckt. Vielleicht ist er ja draußen spielen.“

Die Schritte seiner Mutter wurden leiser. Sie suchte offensichtlich im Garten nach ihm.

Dann hörte Meg, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

„Komm rauf! Schnell!“, hörte er eine hektische Stimme und Meg sprang auf. Unschlüssig blieb er eine Weile an den Stufen stehen. Hatte sein Vater tatsächlich so etwas wie Angst in der Stimme? Vielleicht wartete Meg etwas zu lange. Er bemerkte, wie sein Vater wütend die Augenbrauen zusammen zog, was immer ein Zeichen dafür war, dass er mit seine Geduld am Ende war.

Ilone hatte Recht ihn zu verlassen. Er war das Letzte. Er hatte versucht diesen Gedanken zu ertränken. Irgendwie. Es war ihm immer egal gewesen, ob das durch Alkohol oder stärkere Mittel geschah.

Wenn Drogen seine Venen durchrauschten, wie flüssiges Feuer konnte Meg sich von diesen Gedanken befreien. Er wollte sich nicht mehr erinnern. Er wollte in einen Zustand übergleiten, in dem er gar nichts mehr fühlen musste und das war ihm solange gelungen, bis diese Frau in sein Leben trat.

Wieso musste sie existieren und diese Gefühle in ihm wach rufen? Wieso nur war sie damals auf ihn zugegangen? Wieso war sie zurück gekommen?

„Was hast du ihm angetan?“, hörte Meg plötzlich die Stimme, als er noch an den Stufen der Treppe stand und er erkannte kaum die sonst ruhige Tonlage seiner Mutter. „WAS HAST DU IHM ANGETAN?!“ Ihre Stimme überschlug sich vor lauter innerer Erregung. Meg konnte ihren Arm in der aufgerissenen Kellertür sehen. Dann sah er, wie sein Vater nach diesem Arm griff.

Er taumelte zurück und schlug die Hände vor die Augen, bevor er die harte Steinwand am Rücken spürte. Laute Gräusche waren zu hören. Ein Ächzen, ein Schrei, dann lautes Poltern, das scheinbar näher kam. Meg spürte einen Luftzug und zog die Finger vom Gesicht zurück.

Seine Mutter starrte ihm direkt in die Augen. Ihr Gesicht war regungslos und in ihren Augen sah Meg keine Gefühle mehr.

Sie lag vor der Kellertreppe, die Beine verdreht noch immer auf den ersten drei Stufen liegend. Langsam breitete sich eine Blutlache von einer Wunde aus, die man dort, wo Meg saß nicht ausmachen konnte.

Erst nun erinnerte Meg sich daran, wie es ausgesehen hatte. Als er noch ein Kind gewesen war, war das Einzige, was er wirklich registrierte der kalte Blick der dunklen Augen gewesen, deren Pupillen sich nicht mehr rührten.

Selbst als er seinen Vater die Treppe herunterstürmen hörte, konnte er den Blick nicht mehr davon abwenden. Er wusste, dass er nun ebenfalls sterben musste. Es war wie eine logische Schlussfolgerung der Ereignisse. Seine Mutter war tot. Sein Vater sah das offensichtlich genauso und riss ihn ohne große Erklärung auf die Beine.

Dann war da ein Licht. Nein. Dies war die Realität.

Meg war mitten auf der Straße einfach stehen geblieben und starrte geradeaus auf einen weißen Kleinlaster, der direkt in seine Richtung fuhr und laut hupte.

Meg konnte sich nicht mehr rühren. Es war ihm auch ziemlich egal, dass er vermutlich gleich sterben würde. Er war bereits tot.

Das Auto fuhr in einer eleganten Kurve ein paar Zentimeter an Meg vorbei und streifte dabei eine Pfütze, deren kaltes Wasser hoch spritzte und Meg im Gesicht traf. Erst das kalte Wasser machte ihm klar, dass er tatsächlich existierte. Er schüttelte sich. Er musste fort. Er musste weg. Noch immer wollten sich seine Beine nicht mehr richtig bewegen.

„Was ist los? Bist du betrunken?“, war eine gereizte Stimme zu vernehmen und nun bemerkte Meg, dass der Fahrer des Wagens das Fenster herunter gekurbelt hatte und sich ein Stück weit aus der Tür beugte. Der Wagen stand beinahe quer zur Fahrbahn.

Meg drehte den Kopf ohne es selbst zu registrieren und hörte sich selbst sagen: „Alles in Ordnung.“ Es fühlte sich so an, als ob er sich selbst von außen beobachten würde. Er hatte nichts mehr mit sich selbst gemein.

Der Mann im Auto musterte ihn eine Weile. „Idiot!“, knurrte er schließlich und kurbelte das Fenster erneut hoch. Dann hörte Meg das Geräusch des Motors wieder und der Wagen fuhr durch den sirrenden Regen davon.

Er fasste sich an die Stirn und atmete tief durch. „Das hätte übel ins Auge gehen können.“, sagte er zu sich selbst. „Ich muss aufmerksamer sein, sonst werde ich noch überfahren.“ Er stolperte ein paar Schritte auf den Bürgersteig und bemerkte, dass seine Beine das eigene Körpergewicht kaum noch tragen wollten.

Er zitterte am ganzen Körper und dieses Mal war es nicht die Kälte.

Wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn man von einem Auto erwischt wird? Sicherlich nicht schön der Zusammenprall.

Meg spürte die kräftigen Hände brutaler den je an seinen Armen und noch immer konnte er sich weder bewegen, noch denken.

Eine Hand ließ ihn los und griff in seine Haare. Dann spürte er wie sein Kopf gewaltsam gegen die Kellerwand geschlagen wurde und dabei einen roten blutigen Abdruck auf dem Hinterkopf hinterließ.

Der erste Schlag tat furchtbar weh und raubte ihm beinahe das Bewusstsein. Der zweite Schlag fühlte sich schon weitaus gedämpfter an und ein seltsames Singen Kopf folgte ihm. Beim dritten Schlag konnte Meg wenn überhaupt nur noch Schatten sehen. Als sein Kopf das vierte Mal auf den harten Stein prallte verlor er das Bewusstsein.

Das Letzte, was Meg wahrnahm, war Regen, der in sein Gesicht schlug und, dass er offensichtlich auf dem Bürgersteig lag. Dann löste sich seine Welt in grauem Nebel auf.
 

* * * * * *
 

Für Ilone war es ein ungewöhnliches Gefühl, als sie Megs Wohnung betrat. In all der Zeit ihrer Beziehung hatte sie niemals einen Wohnungsschlüssel besessen und sich nun Zutritt mit einem Schlüssel zu verschaffen, den ihr Daniel gegeben hatte, fühlte sich falsch an.

Als die Tür aufschwang, fiel ihr erster Blick auf den großen Flachbildfernseher, dessen leere Bildfläche ihr wie ein schwarzes Loch entgegen starrte. Ein Schauer lief ihr den Rücken herunter, als seien ihre Instinkte durch dieses einfache Bild erwacht. Niemals hatte Ilone die Wohnung dermaßen still und leer empfunden. – Ihre Schritte hallten auf dem hellgelben Parkett, als befände sie sich in einer hohen Kirche und wohin Ilone auch sah, bemerkte sie die feine Schicht aus Staub, der sich innerhalb eines Monats an den schwarzen Schränken, auf dem Glastisch und auf dem Boden abgesetzt hatte, als sei es vollkommen unmöglich, dass diese Wohnung je wieder von einem lebendigen Wesen betreten werden könnte.

Sie ging vorbei am großen dunklen Ledersofa, dabei stieß sie im vorbei gehen die Fernbedienung von der Sofalehne, sie fiel mit einem dumpfen Aufprall auf die weiche Sitzfläche. Ilone registrierte es nebenbei und bewegte sich auf die Tür zu Megs Schlafzimmer zu. Sie war nur angelehnt und schwang bei ihrer Berührung beinahe von selbst auf. Ilone betrachtete das ungemachte Bett mit der Satinbettwäsche. – Auch hier waren bereits kleine graue Schlieren.

Für einen Moment war Ilone geneigt sich ein zu bilden, dass die Verschmutzung mit jedem ihrer Schritte zu nahm. Sie war geneigt zu glauben, dass hier etwas sein musste, dass zwar unsichtbar war, jedoch bereits seine Hände nach ihr ausstreckte.

Als habe Meg hier etwas zurück gelassen, dass niemals mit ihr hätte in Berührung kommen dürfen.

Sie öffnete den Kleiderschrank, ohne dabei ihr eigenes Gesicht in den großen verspiegelten Türen zu beachten. Daniel hatte sie gebeten alles darauf vor zu bereiten, dass Meg bald aufwachen würde.

Zwar hatte sie der Oberarzt trotz der guten Vorzeichen gebeten nicht all zu euphorisch zu sein, - noch sei rein gar nichts überstanden – doch Daniel fand, dass man zumindest mittlerweile ehrlich auf ein Erwachen hoffen konnte und das hieß natürlich, sich auch darauf ein zu stellen und Kleidung ins Krankenhaus zu bringen.

Die Auswahl fiel Ilone nicht wirklich schwer. – Zwischen vielen schwarzen Kapuzenpullies mit verschiedenen Bandaufdrucken, wählte sie den Einzigen, der in grau gehalten war und eine blaue Jeans aus, dazu Socken und Unterwäsche. – Alles wurde in der blauen Sporttasche verstaut.

Dann wandte sie sich im Zimmer um und fand tatsächlich auf einem Haufen von Musikzeitschriften eine Bürste.

Vom Fenster her kam ein stetiger Lufthauch. Ilone ging ans Fenster und betrachtete die Hauswand und den Teil der Straße, den man von hier aus sehen konnte. Leichter Nebel stand in den Straßen, was ungewöhnlich für diese Tageszeit war. – Abgesehen davon hatte es begonnen zu schneien.

„Mein Spiegelbild hat sich nicht bewegt!“, schoss es Ilone spontan durch den Kopf und Panik begann in ihr zu rotieren. Hektisch drehte sie sich um. Der Kleiderschrank war geöffnet und eine der Spiegeltüren war direkt auf sie gerichtet, sodass sie ihre eigenen ängstlichen Augen betrachten konnte.

Etwas zögerlich ging Ilone auf das Spiegelbild zu, dass gleich einem vorwitzigen Pantomime jede ihrer Bewegungen imitierte. Sie war eindeutig übernächtigt.

Sie schloss die Tür so schnell, dass sie kurz Angst bekam, die Türen könnten beim Aufschlag auf den Schrank zerbrechen. – Es knallte und alles hatte seine Ordnung.

Nun musste Ilone nur noch alles aus dem Bad holen, was Meg brauchen würde. Sie verließ das Schlafzimmer, ohne den Kleiderschrank noch eines Blickes zu würdigen. – Erneut im Wohnzimmer angekommen begann sie ein ungewöhnliches Surren wahr zu nehmen, sie hielt inne und sah die eigenen Fußabdrücke im Staub der den Boden bedeckte. Wie konnte es möglich sein, dass die Wohnung nach vergleichbar kurzer Zeit bereits dermaßen verdreckt war? Ilone kannte Meg und abgesehen von einem leichten Hang zum Chaotischen gehörte Unordentlichkeit nie zu seinen Charaktereigenschaften. Sie war sich abgesehen davon ziemlich sicher, dass sie die Wohnung bei ihrem letzten Betreten sauber vorgefunden hatte, obwohl sie nicht sonderlich darauf geachtet hatte.

Ilone ging zur Sitzecke und bemerkte, dass das kleine rote Licht am Fernseher leuchtete und monoton blinkte. – Natürlich. Beim Herunterfallen hatte die Fernbedienung offenbar einen Knopf betätigt.

Ilone schoss kurz durch den Kopf, dass dies vielleicht die naheliegendste, aber nicht unbedingt eine logische Erklärung war. Sie schob den Gedanken bei Seite. – Und ging um das Sofa herum, um die Fernbedienung zu erreichen.

Seit einem Monat lag Meg nun im Koma. Würde es jemals so werden, wie früher? Was war, wenn Meg ihr nicht verzieh? Bisher hatte Ilone sich sein Erwachen so vorgestellt, dass sie alle glücklich sein würden und natürlich würden sie über alles reden. – Natürlich wären Meg und sie wieder ein Paar und natürlich würde sich alles zum Besseren wenden.

Ilone atmete tief durch und setzte sich auf das Sofa. Sie richtete die Fernbedienung auf den Fernseher und mit Drücken des „Aus“-Knopfes erlosch das Licht.

Sie musste sich eingestehen, dass dies alles eventuell zu einfach gedacht war. Sie alle hofften, dass Meg bei seiner Rückkehr der Alte sein würde. Wenn dem so war, dann durfte sie nicht zu viel erwarten. Ganz sicher wäre er kaum bereit zu einem klärenden Gespräch – und da er nicht wusste, was Ilone und Daniel in den letzten paar Wochen durchgemacht hatten, wäre sein Stand immer noch der, bei dem er vor einem Monat aufgehört hatte.

Dieser Stand war unumstößlich mit der Trennung verbunden und Ilone bemerkte, wie sie selbst Angst davor bekam, dass Meg die Augen öffnete.

Sie legte die Fernbedienung bei Seite und urplötzlich schaltete sich der Fernseher mit gleißendem weiß ein. – Ilone zuckte zusammen und ihr erster Blick fiel auf die Fernbedienung, die unberührt neben ihr auf dem Sofa lag. Dann wanderte ihr Blick zurück auf den flimmernden Bildschirm.

Schreckblitz

Daniel wartete lange im Krankenhaus, bevor er sich entschloss Ilone nach zu fahren und als er selbst mit dem kleinen Armeegrünen Truck in die Straße vor Megs Haus einbog war Ilone schon mehr als zwei Stunden fort. Er hatte versucht auf ihrem Handy an zu rufen, doch sie hatte es entweder ausgestellt, oder keinen Empfang.

Warum er so unruhig war, wusste Daniel eigentlich selbst nicht genau, allerdings hatte er aus einem unerfindlichen Grund das Gefühl, dass es richtig war, genau hier zu sein.

Die Straße vor Megs Haus hatte sich mit Nebel gefüllt, wie es an herbstlichen Abenden oft der Fall ist. Jedoch schien die Innenstadt für solch einen dichten Nebel seltsam deplatziert und so betrachtete Daniel leicht verwirrt die Häuserdächer, die langsam zu undeutlichen Schemen verschwammen. Es hatte begonnen zu schneien. – Der erste Schnee, der in diesem Jahr fiel und Daniel betrachtete das als ein gutes Zeichen.

Er hatte Schnee immer mit Hoffnung in Verbindung gebracht. Wieso das so war konnte er selbst nicht sagen. Vielleicht, weil der Winter die kurze Zeit im Jahr darstellt, in der die Menschen näher zusammen rücken wollen.

Ein paar Meter vor Megs Haus, bemerkte Daniel die ersten Pressefahrzeuge und verlangsamte sein Tempo, um am Straßenrand halt zu machen. Die Handbremse gab einen gequälten, zerrenden Laut von sich und Daniel stieg aus, um den Rest des Weges zu laufen. Er dachte an Ilone und machte sich Sorgen, ob sie vielleicht von ein paar Reportern oder Fans belästigt worden war. Er schüttelte unwillig den Kopf und wechselte die Straßenseite, um zu vermeiden, dass sie ihn sahen. – Indes war ihm klar, dass der Nebel nicht so dicht sein konnte, als dass sie ihn nicht trotzdem bemerken würden. Er war nun einmal nicht unauffällig, selbst wenn er es wollte. – Vielleicht war es deswegen letztendlich gar nicht so schlecht gewesen in Megs Schatten zu stehen.

Immerhin war er auf der Bühne zumeist unsichtbar geblieben. Meg war derjenige, der sich niemals verstecken konnte. Das Rampenlicht war immer auf ihn gerichtet. Sogar nun, wo er vielleicht starb. – Daniel schauderte bei dem Gedanken. Er selbst fand den Gedanken furchtbar nicht einmal im Tod Privatsphäre haben zu dürfen.

Kalter Wind schlug ihm entgegen und der große Braunhaarige dachte kurz darüber nach, dass der Hauch, der ihn mit tausend schwarzen Armen umfangen wollte eigentlich unnatürlich war.

Hinter ihm verschwamm das Fahrzeug der Reporter im Nebel und dieser verdichtete sich mit jedem Schritt, den Daniel auf Megs Appartementhaus zuging. Als ginge der Nebel von diesem leuchtenden Zentrum aus, das einst Megs zu Hause gewesen war. – Als sei die Natur selbst bemüht den Sterbendem mit einem feinen grauen Seidenschleier zu bedecken, um ihm den letzten Frieden zu geben, den Menschen ihm nicht vermocht hatten zu geben.

Daniel sog die Luft ein, als ihn ein weiterer kühler Windhauch traf. Konnte es sein, dass die Wohnung brannte? – Nein. Bei einem derart dichten Rauch würde man es Meilenweit riechen und das einzige, das Daniel wahrnehmen konnte, war der scharfe Geruch von kalter Luft und Autoabgasen.

Vielleicht war der Nebel und die graue Eintönigkeit der Grund, aus dem Daniel derartig traurige Gedanken hatte. Er wollte nicht, dass Meg starb. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein.

Ohne Meg, das erkannte er nun, wäre sein Leben mit einem Schnitt halbiert. Es war, als sei Meg der Zwilling, den Daniel als Einzelkind nicht hatte – und er fühlte sich mit ihm nicht weniger verbunden, als mit einem Bruder.

Nun, da der letzte Kampf begonnen hatte, bemerkte Daniel, dass er keine Angst mehr hatte. Er würde den Weg mit Meg gehen, egal, wie dieser Aussehen mochte. Er würde gegen alle Dämonen verteidigen, die sich ihnen in den Weg stellen mochten und egal, was auch geschah: Er machte Meg keinerlei Vorwürfe mehr, dass dem so war. Der Nebel umschloss ihn.
 

* * * * * *
 

Meg wurde zurück in die Dunkelheit geschleudert. Der Fall hatte aufgehört. Er war allein in den Schatten.

Wieso hatte er das vergessen? Die blaue Sporttasche, die man damals in aller Hast für ihn gepackt hatte und in der sich alles befunden hatte, was er von da an besitzen würde. Nur all jene Dinge, die er gemocht hatte – seine Spielzeuge, die Nightrise-Puppe, - seine Erinnerungen - waren zurück geblieben.

Man hatte sich bemüht schnellstmöglich zu vergessen. Vor Allem seinen Vater. Meg indes spürte schon damals, dass sein Vater ihn niemals verlassen würde, selbst wenn man ihn an einem sicheren Ort für alle Zeiten weg gesperrt hatte.

Er war bei seiner Tante und ihren schrecklichen Töchtern eingezogen, ohne sich jemals zu Hause zu fühlen. Er sah sich selbst als Insekt und Abschaum, der von fremden Menschen lebte, die ihm nichts bedeuten. War es deswegen so verwunderlich, dass er sich wie ein delinquenter Jugendlicher benahm? Im Endeffekt war er einfach nur einsam. – Er war dort hin gekommen, weil er keine andere Wahl hatte. Er war dort eingezogen, weil sein Vater seine Mutter umgebracht hatte und dann versucht hatte auch ihn, seinen Sohn, zu töten.

Megs Hand fuhr automatisch an seinen Hinterkopf, auf dem er, wenn er vorsichtig mit den Fingern über den Nacken und durch die blonden Haare fuhr, ein paar feine Narben wahrnahm, die selbst die Zeit nie würde heilen können.

Wieso hatte er ihm dies angetan?

„Wie hätte ich jemals die geforderte Stärke erlangen können, wenn er mich umgebracht hätte?“, flüsterte Meg und in diesem Moment ging ihm auf, dass dies seit Jahren die Schutzbehauptung gewesen war, die sein Vater um sich und ihn herum aufgebaut hatte.

„Die Wahrheit ist, dass du das bemitleidenswerte Monster von uns Beiden bist.“, sagte Meg

Urplötzlich war er zurück im Thronsaal.

Er kniete vor dem Thron und sah seinen Vater direkt an. Die Augen der Kreatur vor ihm weiteten sich unmerklich, bevor Meg begriff, dass seine eigene Haut nun schwarz geworden war. Ein seltsames Gefühl von Triumph überkam ihn. Er hatte sich lange nicht mehr derartig komplett gefühlt. - Er war der Schattendämon.

„Sie war stärker als du. Immer! – Deswegen konntest du nichts Anderes tun, als sie um zu bringen.“, zischte Meg nun und eine Hand griff zur goldenen Kette, an der er hing. Sein Vater versuchte im selben Moment die Kette hoch zu reißen, um ihm die Luft ab zu schnüren. Es gelang ihm nicht. Meg zog die Hand zurück.

„Du bist derjenige von uns, der schwach ist.“ Meg stand auf. Jetzt war er bereit. Er hatte noch nie zuvor einen Menschen dermaßen gehasst und er würde seinen Vater nun vernichten. Dieses Wesen hatte in seinen Träumen nichts verloren. Er war ein Eindringling.

„Lass mich los!“, forderte Meg.

„Wieso glaubst du, dass ich dich jetzt freilasse?“, hörte er nun seinen Vater, der sichtlich seine Stärke zurück gefunden hatte. „Da draußen gibt es nichts mehr für dich.“

Meg lachte hohl und riss seinem Vater die Kette aus der Hand. Sie zerbrach klirrend unter dem Ruck des Widerstandes und ein zerstörtes Kettenglied schlug scheppernd auf den Boden.

„Du hast doch gesagt, ich bin meiner Mutter ähnlich. – Das bedeutet, dass ich mich unter Menschen deutlich besser zu Recht finde, als du.“, zischte Meg und er spürte, wie der wabernde Nebel zu den Füßen des Throns angefangen hatte sich zu sammeln. Er wusste nicht, ob das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen war. Er wusste nur, dass es ihm nicht mehr wichtig war.

„Es ist vorbei. Ich habe gewonnen.“, sagte Meg und drehte sich zum Gehen. Wie beiläufig strich er dabei über den Sarg in der Mitte des Raumes. Er hätte es nicht vergessen dürfen.

Dies war die Kathedrale seines Stolzes.

Es war vorbei. Auf die eine oder andere Art. Er hatte sich unbewusst entschieden. Er könnte jetzt sterben und wenn er es tat, würde es auch gut so sein.

„Warte!“, rief sein Vater. Meg ging einfach weiter ohne sich um zu drehen.

Dann hörte er, wie sein Vater aufstand. Meg hörte ein nasses Reißen, als würden Knochen zerbrechen. Ein Schaben von Knochen auf Knochen war zu hören, als der Leib seines Vaters sich vom Thron löste, gleichsam, als sei dieser ein Teil seines Körpers gewesen, den er nun abstreifen musste, wie eine Insektenlarve den ersten Panzer.

Meg spürte, dass ihm trotz Allem ein Schauer den Rücken herunter rann. Er drehte sich um. Sein Vater lief vorwärts, wobei er das eine gebrochene Bein hinter sich herschleifte. Eine Spur aus Blut und Körperflüssigkeiten zog sich über den Boden und dort, wo er langging löste sich die Umgebung auf, als sei sie unter Säure verätzt worden.

„Du wirst erst gehen, wenn ich es dir gestatte!“, schrie sein Vater in einer Stimme, die so herrisch war, dass Meg zunächst einen Schritt zurück wich. Sein Vater streckte eine Hand nach ihm aus, ohne seinen Sohn jedoch zu erreichen.

Meg imitierte die Geste, als wolle er die Hand des Herrschers zum Gruß entgegen nehmen. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Wie konnte sein Vater erwarten, dass er hier in Megs eigener Kammer der Echos, wo die Kreaturen nur seinen eigenen Bedürfnissen gehorchten, der Herrscher sein könnte. Sogar diese grauenvoll entstellte Kreatur selbst, die sich langsam auf Meg zuschob, war nur von ihm dazu erschaffen worden seinen inneren Bedürfnissen nach Schmerz und Bestrafung zu entsprechen.

Dies alles war nun für Meg nicht mehr relevant. Er spürte, dass er den Schmerz, den sein Vater hinterlassen hatte nun nicht mehr brauchen würde.

Er hatte gewonnen. Auf die eine oder andere Art.

Sein Vater war mittlerweile so dicht heran gekommen, dass er Meg beinahe berühren konnte.

„Du hast keine Macht mehr über mich!“, erklärte Meg. Seine Stimme war gefasst und nur ein leichter Hauch von Aggresivität schwang mit.

Die Halle der Echos begann zu verschwimmen. – Zunächst war nur das Gewölbe und die oberen Teile der Säulen betroffen, doch immer schneller breitete sich der Verfall aus, bis er selbst Meg einschloss. Der Nebel umwaberte ihn und seinen Vater, dessen Augen unbewegt im Nebel glühten und schließlich zusammen mit dem Rest dieser Welt verschwanden.

Meg fühlte sich elend. Sein Kopf schmerzte höllisch. Fühlte es sich so an, wenn man starb. Meg versuchte zu atmen und spürte zeitgleich, dass ihm irgendetwas mit unbeschreiblicher Macht Luft in den Körper pumpte. Er griff zu seinem Mund und riss an einer Vorrichtung, die über sein Gesicht gespannt hatte.

Zitternd öffnete er die Schlaufen und klappte das Gerät auf. Dann atmete er.

Durst. Er hatte schrecklichen Durst.

Sein Körper fühlte sich an, als würde er ihn heute zum ersten Mal nutzen, denn jeder Muskel schien zu schwach und seine Gelenke fühlten sich an, als seien sie zu keinerlei Regung mehr fähig.

„Es ist wohl doch nicht so schön, wenn man sich wie neugeboren fühlt.“, flüsterte Meg und richtete sich auf, bevor er überhaupt etwas sehen konnte. Ihm war schwindlig, während seine Sicht sich nur sehr langsam klärte und er bemerkte, dass Sonne in den Raum fiel.

Es war ein neuer Tag.

Er hatte sich ein Krankenhaus eigentlich anders vorgestellt, doch es war bei Weitem nicht so steril, wie erwartet. Überall an den Wänden hingen mit Kinderhand ausgeschnittene Pappbilder, die Fische und andere Tiere darstellten.

Ansonsten war tatsächlich alles in weiß und Chrom gehalten. Meg betrachtete seine eigenen Hände, die ihm seltsam fremd vorkamen. Er verspürte den starken Drang sich wieder in die weichen Kissen zurück zu legen.

Einzig die Tatsache, dass er nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob er wach war, oder dies nur eine neue Traumerscheinung war, hielt ihn davon ab, seinem Drang nach zu geben. Er konnte nicht schlafen, bevor er nicht wusste, was mit ihm geschehen war.

Er schwang seine Beine aus dem Bett und setzte sie auf den Boden. Ruckartig stand er auf und spürte, wie die Knie unter dem eigenen Gewicht einknickten. Er schlug mit dem Handgelenk auf den Boden und schrie vor Schmerzen.

Seine eigene Stimme kam ihm so fremd vor.

Er musste sofort hier raus!

„Ich will aufwachen!“, schrie Meg und bemerkte, dass in diesem Moment die Tür geöffnet wurde. Der Schrei hatte beinahe seine gesamte Kraft aufgebraucht. Meg atmete schwer und schnell.

Das durfte nicht sein. Er würde sich in diesem Zustand nicht verteidigen können. Wenn dies eine Kreatur war, dann musste er jetzt sterben. Eine grobe Hand packte ihn und Meg bemerkte, dass er kaum Kraft hatte ihr irgendetwas entgegen zu setzen.

Er hob einen Arm und wusste, dass er das Wesen, das ihn mit festem Griff hielt am Unterkiefer getroffen hatte. Er öffnete die Augen und sah, dass diese neue Kreatur nicht schwarz, sondern schneeweiß und überlebensgroß war. Sie strahlte Ruhe und Kraft aus, seine Kleidung reflektierte das Licht und gab dem Wesen eine Aura von Helligkeit. Meg verstand die ruhigen Worte, mit denen es sprach nicht. Er wusste nur, dass in dieser Welt alles, was harmlos erscheint nur einen noch größeren Alptraum für ihn parat hatte und er wollte nicht erleben was. Es war genug. Er hatte doch gewonnen!

War dies eine neue Erscheinung des Herrschers? Megs Sicht war zu verschwommen, um Genaues sagen zu können. Er war zu schwach, um sich wirklich zu konzentrieren.

Er wunderte sich, dass die Kreatur noch nichts getan hatte, um ihm weh zu tun. Vermutlich sah sie genau wie Meg, dass er leichte Beute war.

Es würde sich Zeit lassen mit ihm zu spielen.

Natürlich.

Meg spürte, wie er in das Bett zurück gelegt wurde und schließlich einen leichten Stich am Arm, beinahe direkt gefolgt von einer einsetzenden Mattigkeit, die alles zuvor dagewesene bei Weitem übertraf. Er wusste, dass er nun wach bleiben musste. Meg bemühte sich die Augen auf zu machen und es gelang ihm nur noch unter Mühen.

– Die Kreatur über ihm war nicht schwarz. Was genau sollte das bedeuten?

Traurig überlegte Meg, dass er nun nach Allem, was passiert war einfach sterben musste und obwohl er versuchte es zu unterdrücken, wusste er, dass er weinte, während die rauen schneeweißen Hände sanft durch seine Haare fuhren.

Dann schwanden seine überreizten Sinne vollkommen.

Neuanfang

Als er erwachte, hatte er ein Gefühl, als sei nur eine Sekunde seit dem Kampf mit der weißen Kreatur vergangen. Er schlug die Augen mit einem Ruck zurück und stellte fest, dass die Sonne bereits unter ging. Es musste also zumindest einige Stunden her sein.

„Die weiße Kreatur.“, flüsterte Meg und seine Stimme klang noch immer trocken und kraftlos.

„Welche Kreatur?“, hörte Meg eine Stimme neben seinem Bett und war zu schwach den Kopf zu drehen.

„Ilone.“, hauchte Meg und lächelte. Sie war hier.

„Wer ist Ilone?“

Was? Meg sog den Atem scharf ein und drehte den Kopf mit aller Kraft.

Vor sich sah er eine Frau mittleren Alters und mit rostbraunen Haaren. Es war seine Tante und Meg schoss kurz durch den Kopf, wie verdammt unverändert sie war. Meg fühlte sich vollkommen elend. Er wusste mittlerweile, dass es Unrecht war, doch von allen Menschen auf der Welt, hätte er bei seinem Erwachen am allerwenigsten seine Tante sehen wollen. Warum war Daniel nicht hier? Oder Ilone? War er überhaupt schon erwacht? Dies musste ein Traum sein!

„Hör zu!“, begann Megs Tante, ohne Meg Zeit zu geben sich zu sammeln. „Was dein Vater getan hat, war schrecklich für dich, aber deine Mutter… Evelyn…“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Sie ist tot.“, flüsterte Meg. „Und ich werde ihr Andenken niemals verraten, indem ich das vergesse.“

Er sah seine Tante an, die in diesem Moment auf stand und ihre Tasche mit beiden Händen fest hielt. Eine Geste, die Meg kannte. Sie musste immer irgendetwas in den Händen halten, wenn sie etwas Ernstes zu besprechen hatte.

„Hör zu, Meg. Ich weiß, dass das jetzt alles etwas viel für dich sein muss, aber wir sind eine Familie, also wirst du in nächster Zeit bei uns wohnen.“

„Ich habe meine eigene Wohnung.“, wollte Meg antworten, dann schlug er plötzlich die Augen auf. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Er sah auf seine viel zu kleinen Hände und ihm wurde schwindelig.

Sehr langsam begann er zu begreifen. „Wie lange ist meine Mutter tot?“, fragte er und seine Stimme fühlte sich schal an.

„Sie ist vor zwei Wochen gestorben. Du hast fast zwei Wochen geschlafen.“

Meg spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Wenn er 13 Jahre alt war, dann bedeutete das, das Ilone und Daniel niemals… -

„Du lügst!“, schrie er und riss die Arme hoch. Irgendwo begann ein elektronisches Gerät zu piepsen. Meg riss sich einen Schlauch vom Körper und das Gerät verstummte.

„Ich träume noch!“, rief Meg. „Das sind alles Erinnerungen! Ich war hier schon mal!“

„Beruhige dich!“, versuchte seine Tante es und streckte in einer hilflosen Geste beide Arme vor.

„Lass mich alleine! Geh weg!“, schrie Meg und wunderte sich, als seine Tante tatsächlich mit schnellen Schritten aus dem Raum hinaus ging. Die Tür fiel krachend ins Schloss und Meg vermutete, dass seine Tante den Arzt holen würde.

Sollte sie doch! Das hier konnte einfach nicht sein!

Wenn er 13 war, dann bedeutete das, dass Ilone nicht existieren konnte. – Vielleicht war nicht einmal Daniel real. Alles woran er geglaubt hatte, war zerstört. Mit Schaudern bemerkte Meg, dass er sich an ihr Gesicht schon fast nicht mehr erinnern konnte.

Der Traum begann zu verblassen. Er wirkte so weit entfernt und unklar, wie eine vergilbte Fotografie. Nur noch wenige Atemzüge und er würde alles vergessen.

Sein Vater hatte vielleicht Recht gehabt. Vielleicht gab es hier draußen tatsächlich nichts, was ihn hielt. Vielleicht wäre es besser gewesen zu sterben.

Vielleicht träumte er. – Eine nagende Stimme in Megs Kopf sagte ihm, dass dies hier vollkommen real sein musste.

Er spürte die Schmerzen realer. Diese Welt hier folgte anderen Regeln. Sie folgte den Regeln der Wirklichkeit, die einfach zu verstehen, aber schwer zu begreifen sind.

Wach sein kann deutlich mehr weh tun, als jeder Alptraum.

Meg richtete sich auf und stand auf. Mittlerweile trugen seine Beine ihn etwas besser, doch schon, als er das Fenster erreicht hatte, bemerkte er, dass er nicht mehr konnte. Er setzte sich auf das niedrige in die Wand eingelassene Fensterbrett und sah nach draußen auf den großen Karpfenteich des Krankenhauses und den kleinen Park, in dem Angehörige mit Patienten die letzte Sonne des Tages einfingen. Einige schoben Rollstühle über den rotgepflasterten Weg neben dem Teich.

Meg atmete bewusst tief ein und aus. Wenn er jetzt den Verstand verlor, war alles für das er so hart gekämpft hatte verloren.

Wenn dies hier sein neues Leben war, dann würde er es leben müssen. Egal, ob er wollte oder nicht. – Sterben stand nicht mehr zur Auswahl.

Es lag alles in seiner Hand. Er hatte eine Wahl getroffen und es war die Richtige gewesen. Er hatte die Wahl getroffen zu leben.

„Willkommen zurück!“, hörte Meg den Arzt sagen, der vollkommen leise ins Zimmer getreten war und ihn vielleicht schon eine ganze Weile aufmerksam beobachtete. Meg drehte den Kopf und taxierte seinerseits den jungen Arzt kurz, dessen Augen noch die Anzeichen von echtem Mitleid zeigten.

„Ja!“, sagte Meg. „Der Kampf ist gewonnen!“

Jetzt war er bereit für den Schmerz.
 


 


 


 


 


 


 

Danken möchte ich mit und durch diese Geschichte all jenen Menschen, die mich immer wieder inspirieren und unterstützen.

Dazu gehört vor Allem meine Liebe, die mich aus den Wolken holen kann, wenn ich mal wieder drohe mental davon zu fliegen. – Danke für die Stärke meine schlechten Seiten zu ertragen! Danke für die Geduld, wenn ich mal wieder nicht gesehen habe, was dir wichtig ist! Danke für das Durchhaltevermögen, wenn es darum geht meine Marotten zu ertragen! – Und Danke für deine Liebe! Ich weiß, ich habe sie nicht verdient!

Auch meinem ehemaligen Arbeitgeber möchte ich hier erwähnen und auch all jene Kollegen mit denen ich in den letzten Monaten so viel Spaß hatte. – Da ich nach so langer Zeit der Haltlosigkeit bei euch feststellen durfte, wie wunderbar es sein kann, wenn man Teil eines Teams ist, habt ihr mir in den Monaten, in denen ich bei euch arbeiten durfte die Sicherheit gegeben, die ich brauchte, um meine Träume zu verwirklichen. (Auch, wenn viele von euch das nicht bewusst festgestellt haben dürften)

Ohne euch wäre sicherlich Vieles in meinem Leben anders gekommen. – Allein deswegen werde ich die Arbeit mit euch sehr vermissen, wenn ich zu neuen Ufern aufbreche.
 

Erwähnt seien auch die vielen neuen Freunde, die ich in einer Stadt finden durfte, von der ich lange geträumt habe und von der ich mich nun nach einem wundervollen Jahr verabschieden werde. – Ohne euch wäre dieser Traum nur halb so abenteuerlich gewesen und ihr habt mir mehr gegeben, als ich zu hoffen gewagt habe.
 

Nicht nur in „Katatonia Sleep“, sondern auch im wahren Leben habe ich gelernt, wie wichtig es ist, wenn man Menschen hat, an denen man sich in schwierigen Zeiten festhalten kann. – Ich bin froh, dass die Meisten von euch mir auch auf meinem weiteren Lebensweg erhalten bleiben werden und dafür danke ich euch von ganzem Herzen!
 

Nicht zuletzt natürlich auch: DANKE FÜRS LESEN!!!
 

_____________________

J.J.Wehning;



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Kommentare zu dieser Fanfic (27)
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Von:  SchattenTiger
2014-04-06T21:40:32+00:00 06.04.2014 23:40
Omg ich mach mir gleich in die Hose vor Angst xD gut geschrieben X_x
Von:  Trollfrau
2012-10-15T19:25:54+00:00 15.10.2012 21:25
So. Nun will ich mich hier auch mal verewigen.
Der Einstieg gefällt mir schon mal richtig gut, auch wenn ich die Gedanken und Standpunkte des Protagonisten in keinster Weile teilen kann. ^^
Bin gespannt, was mich in dieser Geschichte hier noch erwartet.
Von:  DemonhounD
2012-08-24T08:35:01+00:00 24.08.2012 10:35
@Yurina: Yeah! 3ter Platz! Ich freue mich immernoch total. Danke euch! ^^
Von:  Yurina-chan
2012-07-09T14:47:58+00:00 09.07.2012 16:47
Hallo *wink*

Danke erstmal, dass du an unserem WB teilgenommen hast. Tut uns wirklich leid, dass du so lang auf die Auswertung warten musstest.

Die Idee ist wirklich toll. Auch die Umsetzung ist dir sehr gelungen. Durch die ständigen Sichtwechsel wird man praktisch gezwungen weiter zu lesen.
Es gibt immer wieder Stellen wo man denkt: "Das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet!", was das ganze immer spannender gemacht hat.

Liebe Grüße,
Yurina-chan und black_mirror
Von: abgemeldet
2011-09-06T12:41:33+00:00 06.09.2011 14:41
Wow, wow, wow...
Im Grunde ist das alles, was man zu dieser FF sagen kann, weil... es stimmt einfach.
Ich habe sie nun komplett am Stück gelesen, nachdem ich sie nun schon eine ganze Weile in meinen Favoriten hatte. Da wollte ich mir richtig Zeit dafür nehmen und... das habe ich.
Normalerweise zähle ich auch zu den Leuten, die jedes Kapitel kommentieren, wenn ich ne komplette FF vor mir habe, aber... so blöd es vielleicht auch ist... ich habe hier darauf verzichtet, weil ich einfach die Gesamtheit betrachten will.
Man muss sie als Ganzes lesen...
Dadurch wirkt sie einfach... phenomenal...
Richtig tiefsinnig und intensiv. Ich habe ständig eine Gänsehaut bekommen, was selten vorkommt, wenn ich mich FFs dieses Genres widme, aber... hier war es schon heftig. =)
Ich habe jedes Kapitel verschlungen.
Die Charaktertiefe, dieser geschickte Wechsel zwischen den verschiedenen Schauplätzen, die trotzdem so fließend ineinander übergehen, die ganzen Beschreibungen, der Stil allgemein... die ganze Idee...
Entschuldige...
Ich gerate gerade sehr ins Schwärmen, aber ich kann da gar nicht viel dagegen machen. XD
Es gibt sehr, sehr wenige gute FFs zu dem Thema.
Und die, die halbwegs gut sind, passen atmosphärisch nicht.
Deine sticht heraus.
Sie zerrt einen mit in die Dunkelheit, lässt einen aber gleichermaßen teilhaben an dem Leben, das außerhalb von Megs Traum / Selbstkonfrontation stattfindet. Wie Daniel und Ilone sich doch irgendwie auf einer Ebene näher kommen, obwohl sie sich vorher scheinbar nicht gut verstanden haben. Der beinahe-Verlust einer so geliebten Person schweißt eben zusammen.
Umso grausamer ist das Ende, wo Meg doch siegreich den Kampf gegen sich selbst und seinen Vater gewonnen hat...
Ernüchterung pur...
Kein Wunder, dass er da erstmal kurzzeitig abschließt.
Wie es weiter geht... nun... ich finde gut, dass du es offen lässt. Spielraum für eigene Ideen. Im Grunde weiß er jetzt sehr viel mehr, als er zu dem Zeitpunkt wissen sollte. Viellicht wird er vieles anders machen, vielleicht wird er sehen, was auf ihn zukommt und nichts verhindern, vielleicht... verzweifelt er daran. Das kann niemand so genau sagen.
Ich denk, sei Schatten wird weiterhin in ihm stecken, egal ob er sich an alles erinnert oder eben nicht.
Was noch?
Jezze habe ich wieder wild vor mich hinphilosophiert...
Ähm...
Ach egal.
Mir gefällt deine FF jedenfalls wahnsinnig gut.
Schon der Titel hat viel versprochen und alles wurde eingehalten.
Sehr, sehr gut. War mir ein Vergnügen, sowas Tolles zu lesen. ;)

lg Rej
Von:  TommyGunArts
2011-05-10T10:47:33+00:00 10.05.2011 12:47
Puuh! Endlich schaffe ich es nach langer Zeit mal, Kapitel Nr. 2 zu lesen und ich muss sagen: ...gruselig! Ein kalter Schauer läuft einem dabei definitiv über den Rücken.
Du hast mal wieder schöne und gut ausgearbeitete Sätze eingebracht und auch an dem Spannungsaufbau hast du nicht gespart.
Schon alleine der Anfang hat es mir angetan: "Meg tauchte ein in weiße Dunkelheit."
So wunderbar widersprüchlich und einfach nur ein schöner Beginn den Kapitels!
Die Spannung ist natürlich gleich zu Beginn da und steigt stetig. Erst befindet sich Meg in diesem "Nichts" und kann sich nicht recht erinnern, wie er dort hinkam. Er überlegt, ob er denn tot sein könne. Und dann diese Stimmen, die er jedoch nicht verstehen kann, machen einem schon etwas Angst. Sind es vielleicht die Stimmen seiner Freunde, die vor seinem Krankenbett stehen oder so? Etwas schade finde ich hierbei nur, dass du nur kurz darauf eingegangen bist, wodurch es so wirkt, als würde sich Meg überhaupt nicht daran stören, dass da irgendwer quatscht, der gar nicht da ist. Also ich wäre da schon SEHR verwundert^^
Naja, vielleicht ist das "Nichts" auch einfach interessanter und zieht deshalb die Aufmerksamkeit auf sich.
Auch die "Staubwelt" hat etwas besonderes und mysteriöses. Obwohl das Fenster geschlossen ist, ist alles mit einer dicken Staubschicht überzogen. Wie gut, dass Meg kein Allergiker ist^^ Aber sehr gut beschrieben.
Und dann noch Ilone, die Meg weder antwortet, noch sich bewegt, sondern einfach nur starr vor dem Fernseher hockt, der nichts als Rauschen zeigt. An dieser Stelle dachte ich: "Oh nein... Bitte versau diese bis jetzt wirklich geniale Geschichte nicht mit billigem Horror, wo Ilone plötzlich einfach aufspringt und Meg ein Stück haut abbeißt und ihn auffressen will!"
Aber nein^^ Ich war wirklich positiv überrascht, denn das, was Ilone gemacht hat war einfach nichts. Und als Meg näher kommt bemerkt er ihre arg veränderte, schwarze Haut. Schließlich will er sich aus dem Staub machen, geht zur Tür, ohne dem Blick von dem Ilone-Verschnitt abzuwenden und öffnet diese. Da die Tür so laut aufgeht, dreht der Ilone-Verschnitt plötzlich den Kopf, was ich ebenfalls sehr gruselig fand^^
Und schließlich endet Meg erneut im Nichts.
Wieder einmal ein schönes Ende des Kapitels, welches auf mehr hoffen lässt. Ich hoffe mal dass ich nun ein bisschen mehr Zeit habe, um die Geschichte jetzt mal weiter zu lesen und nicht erst ein halbes Jahr verstreichen zu lassen^^
Mal sehen ob es klappt :p
Zum Schluss nochmal: Das Kapitel gefällt mir noch besser als das erste und ich kann mir gut vorstellen, dass es noch sehr spannend wird.
lg
Schnorzel
Von:  DemonhounD
2010-10-27T20:12:27+00:00 27.10.2010 22:12
hehehe. ^^ Ich hatte mir den Schattendämon in etwa so vorgestellt, wie den König auf einer meiner Zeichnungen:
http://animexx.onlinewelten.com/fanart/zeichner/66423/1663247/
Daher bin ich schließlich auch auf die Thronszene gekommen. - Normalerweise schreibe ich ja eher RICHTIGES Fantasy und deswegen wollte ich an dieser Stelle gerne eine Art Hommage an meinen sonstigen Stil einbauen, indem ich eine WIRKLICH traumwandlerische Szene einbaue und etwas auf den Putz haue.
Das war ich auch dem Charakter des "Herrschers" schuldig. ^^

Ja... Daniel ist echt einer meiner Lieblingscharaktere. nicht nur für die FF, sondern beinahe "überhaupt". ^^
Wie ich letztens festgestellt habe sind meine Hauptpersonen fast immer extreme "Mary Sues"... umso erfrischender finde ich es dann einen wirklich MENSCHLICHEN Chara in die nebengeschalteten Hauptrollen zu setzen. ^^
Von:  DemonhounD
2010-10-27T20:07:45+00:00 27.10.2010 22:07
Muharharharhar. Schön, dass du dich das ebenfalls fragst. Ich als Author bin relativ sicher, DASS Daniels erscheinen auch in seiner verzerrten Form kein schlechtes Zeichen sein KANN, denn überhaupt garnichts an Daniel war jemals etwas anderes, als auf Megs Seite und das muss auch im Unterbewusstsein der Hauptperson verankert sein. ^^

Juhuuu... die Echos mag ich überhaupt sehr gerne und schreibe sie auch unheimlich gerne. Obwohl Meg und ich uns ansonsten nicht wirklich ähnlich sehen glaube ich ja, dass ich ganz ähnliche Echos, wie er hätte. ;-)
Von:  DemonhounD
2010-10-27T20:05:35+00:00 27.10.2010 22:05
Hehehe. ^^ Spiegelbilder sind für mich eigentlich das GRUSLIGSTE überhaupt. Ich muss zugeben, dass ich eine sehr leichte Phobie vor Spiegeln habe. - Und diese Szene mit Meg und seinem Spiegelbild wollte ich eigentlich von Anfang an einbauen.
- Wobei ich eigentlich finde, dass Meg auch hätte stehen bleiben können. Immerhin ist das, was aus dem Spiegel heraus kommt aller Wahrscheinlichkeit nach niemand anderes als der "Schattendämon" und das wäre ja nicht unbedingt schlecht gewesen.
Tja... Grundkonflikt ist nach wie vor: Meg kann niemandem vertrauen.

Hehehe. ^^ Und das mit dem Frauenkörper hat eigentlich nur den Grund, dass ich Ilone nicht nochmal vorm Fernseher sitzen lassen wollte. (Aber sie ist nach den Regeln dieser Welt natürlich noch in "ihrem" Raum. - Würde sie noch sitzen, hätte mich bestimmt irgendwann irgendwer gefragt, ob ihr hintern nach so langem Sitzen nicht irgendwann einschläft. ^^
Von:  DemonhounD
2010-10-27T20:00:53+00:00 27.10.2010 22:00
niarharharharhar. ^^ Ich weiß noch, dass ich eigentlich nur eine ganz vage Vorstellung hatte, wie das Ende in seinen EINZELHEITEN geschehen sollte, deswegen ist es hier vielleicht interessant zu sagen, dass mir erst, als ich dieses Kapitel geschrieben habe erst wirklich bewusst geworden ist, wie genau sich das Ganze abgespielt hat.
- Erst wollte ich ja, dass Meg seinen Vater einfach stumpf kalt gemacht hat. Ich bin froh, dass ich einen anderen Weg gefunden habe den Vater-Sohn-Aspekt auf die Spitze zu treiben, denn der erstere Weg wäre etwas zu "klassisch" gewesen. (Ich denke, so wäre es in "Silent Hill" gewesen.)

hehehe^^ Das mit den Verfolgern war allerdings wieder eine Silent-Hill-Adaption.
Ich habe während ich dies geschrieben habe "Shattered Memories" gespielt und da tut man eigentlich die ganze Zeit über nichts anderes, als vor übermächtigen Monstern weglaufen. ^^

Mhm... den Exorzisten kenne ich nicht (Lücke in der Allgemeinbildung!!!) ^^ Aber du hast bestimmt Recht.


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