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Unseen Souls

von

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Prolog

Es war kalt geworden.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, den Wind vor wenigen Stunden so intensiv wahrgenommen zu haben. In der Zwischenzeit erschwerte er mir das Atmen. Langsam hob ich die Hand, tastete in meinen Nacken und streifte mir die Kapuze über. Dumpf umspielte mich der dunkle Mantel und presste sich um meine Beine, als mich eine weitere Böe erfasste.

Ebenso ein Dröhnen, das sich auf die finstere Umgebung legte, auf die ich hinabblickte. Ein permanentes Rauschen, das in meinen Ohren schallte und mich die Augen von den qualmenden Ruinen der Stadt lösen ließ. Ich blickte auf zum dunklen, wolkenlosen Nachthimmel. Von dem Hügel, auf dem ich stand, ließ sich soviel erkennen und ich blinzelte und spähte hinüber zu den schwarzen Umrissen des Gebirges. Das Grollen des nahenden Gewitters schien geradewegs von dort aufzuziehen und schickte seine schneidigen Vorboten, die mich umspielten wie verlorene Seelenfragmente.

Nur beiläufig spürte ich das Gewicht des Golems, der sich auf meiner Schulter niederließ.

Gebrechlich neigten sich die Halme zu meinen Füßen, nicht weit entfernt waren es auch die rauschenden Wipfel vereinzelter Bäume, die sich dieser Macht unterwarfen und aus den Augenwinkeln verfolgte ich die sich bewegenden Lichter zwischen den Schatten der zerstörten Fassaden und Mauern. Entgegen meiner Ruhe an diesem hohen Punkt war das Chaos weiter unten annähernd greifbar.

Lange würden die Finder noch durch die Gassen und Straßen eilen.

Lange würden sie das Ende ihrer Aufgaben nicht vor sich sehen, während ich hier hinter der Linie meines Zieles stand. Ich regte die Hand, spürte unter dem robusten Stoff des Handschuhs diesen Widerstand und erfasste das gleißende, grüne Licht, das sich unter dem sich aufbäumenden Stoff des Mantels verbarg. Ich hielt es vorsichtig, nahe bei mir und überzeugte mich gerne von dieser Anwesenheit.

Vor kurzem noch inmitten des Tumultes, hatte ich mich nun von ihm getrennt und eine Grenze zwischen uns gezogen. Flüchtig streifte Tims Flügel den Stoff meiner Kapuze und von den aufsteigenden, finsteren Rauchwolken blickte ich erneut zu den rauschenden Baumkronen.

Selbst Himmel und Erde schienen sich zu bekriegen, dachte ich mir.

Knackend unterwarf sich ein Ast der hohen Macht, versenkte sich rauschend inmitten der sich wogenden Wiese und trieb mir ein Schmunzeln auf die Lippen. Wie seltsam. Man unterwarf und wurde unterworfen.

Aber ich war kein Teil davon. Ich stand hier oben.

Kaum hatte ich die Hand gehoben, begegnete ich dem Golem, spürte seinen Flügelschlag und auch einem leichten Gegendruck, als er Halt an meinem Arm suchte. In gewissem Sinn wollte ich dieser Mission nachtrauern. Den Anstrengungen, die sie erforderte, den Gefahren, in die sie mich brachte.

All das vereint im Ganzen würde mir in den nächsten Stunden fehlen.

Es war kaum zu mir gedrungen, wie gedankenlos und fixiert ich während der letzten Tage war. Neben mir hatte es nur eine einzige Existenz gegeben. Es war das Ziel, das diese ausmachte. Nichts als das Ziel und der Erfolg, den ich nun mit der Hand umschloss, während ich hinabblickte und mich in dieser allerletzten Betrachtung verlor.

Es war gut gewesen. Nur ein weiterer meiner Schritte und trotzdem konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als nun hier oben zu stehen und mich von dem zu lösen, was dort unten zu meinen Füßen loderte und brannte. Beißend war der Geruch, der zu mir aufstieg, grell das Aufzucken der Flammen und ein weiteres Mal spähte ich zum Himmel, gelockt von dem dumpfen Grollen. Ich spürte, wie sich ein Regentropfen auf meiner Stirn brach und ein dünnes Rinnsal meine Nase hinab perlte.

Sofort folgten weitere, gingen kalt auf mein Gesicht nieder und ließen mich die Augen schließen, während sich um mich herum leises Rauschen erhob. In letzter Zeit geschah es fast permanent. Die Monate wurden kalt, das Wetter unerbittlich und die Luft schwer und stickig vor Feuchtigkeit. Ich öffnete die Lippen einen Spalt weit, spürte auch auf ihrer rauen Oberfläche die angenehme Erfrischung, als sich die vereinzelten Tropfen zu einem Schauer erhoben und mich die Umgebung grau und undurchsichtig umgab.

Nur undeutlich drang das Rauschen der Schritte an meine Ohren.

Langsam bahnte sich jemand seinen Weg durch das Gras und ich bewegte die Lippen, labte mich an der natürlichen Frische, bis die Geräusche hinter mir verstummten und die Schritte ein Ende fanden. Ein tiefes Durchatmen. Die Kühle drang bis in meine Brust und nur langsam senkte ich den Kopf und hob die Lider.

„Walker?“

Diese Stimme hatte mich binnen der letzten Tage permanent begleitet. Jetzt erhob sie sich neben mir und ich verfolgte das Glitzern der Tropfen, die sich aus den Strähnen meines Haares lösten.

„Ich habe mich um alles gekümmert. Wir können uns auf den Weg machen.“

Ich blinzelte die hinab rinnende Feuchtigkeit aus meinen Wimpern und nickte.

Auf den Weg machen.

Wir gingen nach Hause und ich spürte dieses Lächeln auf meinen Lippen, als ich mich an den Finder wandte.

„Danke für deine Mühen.“

„Oh.“ Der junge Mann verzog überwältigt das Gesicht, räusperte sich verlegen. „Vielen Dank.“

Er kratzte sich die vom Regen durchnässte Kapuze und aus den Augenwinkeln sah ich das knappe Verbeugen, bevor ich den nassen, schweren Mantel zurückschlug und mich abwandte.

„Komm.“ Rauschend streiften die Halme meine Beine, als ich durch die hohe Wiese zog und die Kapuze unter einer scharfen Böe mit der Hand sicherte. Ich kehrte einem weiteren Ort den Rücken und tat es ohne zurückzublicken. Es war ein weiteres, nicht besonders großes Kapitel, das ich mit dieser Bewegung abschloss.

Tief atmete ich erneut diesen kalten, klaren Wind, der sich gegen meinen Körper presste und mich doch nicht an meinen Schritten hinderte. Das hatte er noch nie getan. Ich hatte mein Ziel und entgegen der Flammen, die ich mir lange betrachtete, strebte ich jetzt dem dunklen, ruhigen Horizont entgegen.
 

-tbc-

1

Ein langer und beschwerlicher Weg lag hinter uns, bevor sich vor unseren Augen die schwarzen Umrisse des Turmes erhoben. Nur leicht hob er sich vom wolkenlosen Himmel ab und in zielstrebigen Schritten zog ich unter den Schatten der Golem hindurch. Beinahe lautlos bewegten sie sich über unseren Köpfen, bis wir das Tor erreichten und nach dem Donnern der schweren Pforte den stürmischen, dunklen Innenhof des Komplexes.

Es war eine neue Nacht, in der wir unser Ziel erreichten. Hinter uns lag ein Tag und das monotone Rattern des Zuges, während es hinter den Scheiben des Abteils nur noch kälter wurde. Jetzt spürte ich es. Ich fühlte die Gänsehaut auf meinen Armen und die Lust auf warme, helle Räume. In letzter Zeit hatte ich den Tag genutzt, um zu neuen Kräften zu finden, sonst permanent die Nacht vor mir gesehen und deren Erschwernis, mit Gefechten umzugehen.

Der Kies des Vorplatzes knirschte unter den Sohlen meiner Stiefel und während sich der Finder frierend in seinen Mantel vergrub, sah ich dieses weitere Tor näherkommen. Nur kurz drifteten meine Augen zur Seite, erfassten die schwachen Konturen der Wachmänner, die sich vor einer Mauer postierten und meine Aufmerksamkeit teilten. Wie offensichtlich ihre Pupillen an mir hafteten. Selbst auf diese Entfernung war es mir kein Geheimnis und kurz blickte ich zurück zu meinem Weggefährten.

Nur noch wenige Schritte, bis der schneidige Wind uns nicht mehr erreichte und auch das Pfeifen in unseren Ohren verstummte. Hoch bauten sich die Wände des Komplexes um uns auf und ich streckte die müden Glieder, als ich in die ersehnte Wärme eintauchte und mich von der finsteren Nacht trennte.

Es war ein gutes Gefühl. Eigentlich war es das immer.

Tim löste sich von mir, gab meinen Schutz auf und ich lauschte seinen nahen Flügelschlägen, in denen er sich in die Lüfte erhob. Gleichzeitig streifte ich die Kapuze zurück, setzte den Fuß auf die erste Stufe und schüttelte meinen Schopf. Leise schallte mein befreites Ächzen in den steinernen Gängen und unverdrossen schloss sich mir der Finder an. Wir ächzten gemeinsam, fuhren uns durch das Haar und es war auch keine Überwindung, den durchgefrorenen Mantel loszuwerden. Ich stieg höher, streifte ihn mir von den Schultern und sah das Schimmern des Golems hinter der nächsten Ecke verschwinden.

Beiläufig bettete ich den Stoff über meinem Unterarm, hakte den Daumen in den Gürtel und kam zum Stehen, als wir das Treppenhaus erreichten. Meine Finger fanden den Kragen und während ich ihn lockerer zog, wandten der Finder und ich uns aneinander. Wieder verfolgte ich die knappe Verbeugung, zupfte und zerrte an dem robusten Stoff.

„Die Zusammenarbeit mit Ihnen hat mir wieder große Freude bereitet“, leitete er den Abschied ein. „Ich hoffe, wir werden eines Tages wieder zusammenarbeiten.“

Dieser Wunsch überraschte mich nicht.

Vermutlich gab es hier andere, mit denen die Zusammenarbeit nicht ganz so leicht fiel.

„Ruh dich aus.“ Somit hob ich die Hand und setzte meinen Weg fort. „Die Reise war beschwerlich.“

„Ja.“ Wieder kratzte er sich verlegen und nach einem letzten Wink verlor ich ihn aus den Augen und bog zur Seite. „Vielen Dank.“

Es war das Letzte, das zu mir drang, bevor ich einen Gang nutzte und auch die darauffolgende Treppe.

Ich besah mir die Stufen und tastete nach dem Riemen des Stiefels. Es wurde höchste Zeit, dass ich alles, was mit dieser Mission zu tun hatte, hinter mir ließ und mir für andere, dringende Dinge Zeit nahm.

Ich stieg weiter und erspähte Tim. Er flatterte dort oben, bewegte sich fast drängend in der Luft und ließ mich ächzen. Genug der Hast und kaum dass ich die Gedanken in die bestimmte Richtung lenkte, hallte neben meinen Schritten auch das Knurren meines Magens durch das Treppenhaus.

Augenblicklich erschlaffte jeder Muskel meines Gesichtes und unter einem erneuten Ächzen zogen mich meine nächsten Schritte zur Seite und ließen meine Schulter an der Wand entlang schrammen.

Kein schneidiger Wind mehr, der mich von der wahren Problematik ablenkte und fast höhnisch begleitete mich das Knurren den gesamten Weg über. Durch Gänge und über Treppen, bis ich eine Tür erreichte und unter dem Licht der Lampen blinzelte, das mir entgegen zog, als ich sie öffnete.

Ich hörte das Rascheln vieler Blätter, ein Gewirr aus Stimmen und Stöhnen. Träge bewegten sich vor mir die weißen Kittel der Wissenschaftler, als ich in die Abteilung trat, die Hand zu einem Wink hob und den zermürbten Gesichtern mit einem grüßenden Lächeln begegnete.

„Allen!“ Flatternd ging ein Stapel aus Unterlagen zu Boden, als River die Beine vom Schreibtisch zog und eine Mappe sinken ließ. Zufrieden reckte sich auch seine Hand und kurz folgte ich dem Schnarchen und schloss die Tür hinter mir. Johnny schlief irgendwo hinter den Bergen aus Ordnern, die die Fläche seines Schreibtisches für sich einnahmen.

„Da bin ich.“ Den Mantel über der Schulter winkte ich auch Rokujugo, der über eine erhöhte Plattform schwebte.

„Wie ist es dir ergangen?“ River nutzte die Gunst der Stunde für eine Pause. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schielte zu dem Zahnstocher, der sich zwischen seinen Lippen regte. „Ist ein ganz schönes Sauwetter, was?“

„Ja.“ So durchfuhr ich mein nasses Haar erneut mit den Fingern und seufzte unter der Erleichterung des Momentes. „Ist Komui da?“

River kratzte sich die Schläfe und ein unentschlossenes Rascheln machte die Runde, bevor Rokujugo von dem oberen Geländer herab schwebte. „Der schläft.“

„Immer noch?“, ächzte River und schnarchend gab Johnny hinter der Trennwand aus Büchern ein Lebenszeichen von sich.

„In den letzten Tagen war hier eine Menge los.“ Somit raffte Rokujugo einen Stapel Bücher hoch.

„Mm“, stimmte River zu und gähnte.

Die schwere Arbeit war hier niemandem ein Fremdwort und trotzdem blieb ich aufmerksam und musterte River.

„Ist etwas passiert?“

Es interessierte mich und die Frage kam, ohne dass ich mich zu ihr zwingen musste.

Wir lebten in schwierigen Zeiten und letztendlich fühlte ich mich nur sicher, wenn ich Bescheid wusste über die Dinge, die während meiner Abwesenheit geschahen. Aber River kratzte sich nur im Schopf und hielt nach seiner Tasse Ausschau.

„Nichts Bestimmtes“, lenkte er ab und flüchtig spähte ich zu Rokujugo, sah ihn an verschiedenen Büchern hantieren.

„Wir hatten einige Besprechungen.“ River langte nach seinem Zielobjekt und nahm einen Schluck. „Ihr werdet alles erfahren, wenn die Zeit reif ist.“

Ich nickte. Mir gegenüber wurde die Tasse geleert.

„Lassen wir Komui noch etwas in Ruhe. Bericht erstatten kannst du morgen.“ River rückte zurück an den Schreibtisch, sammelte seine Gedanken. „Bring das Innocence zu Hevlaska und danach kannst du dir ein Beispiel an Komui nehmen.“ Ein flüchtiges Grinsen zog an seinem Mundwinkel, bevor er zu mir spähte. „Wir haben schon gehört, dass es nicht einfach gewesen sein soll.“

Ich zuckte mit den Schultern, lächelte bedauernd und beließ es dabei. Eigentlich war es gar nicht so übel, dass Komui seine seltene Schlafenszeit auf meine Rückkehr verlegte. Das Abendbrot wäre hinaus gezögert worden durch überflüssige Fragen aber jetzt blieb es bei einem kurzen Umweg in die unterste Etage des Komplexes.

Dorthin, wo ich das Innocence seinem rechtmäßigen Bewacher übergab, unter dem Licht der gewaltigen Gestalt blinzelte und mich zu einigen Worten hinreißen ließ, bevor ich den Fahrstuhl wieder in Bewegung setzte.
 

Endlich war ich am Ziel, zog an den steinernen Wänden vorbei und bemerkte, wie meine Schritte an Tempo gewannen. Flüchtig zog ich eine Grimasse und regte die Schulter unter dem unangenehmen Spannen des robusten Stoffes.

Erst wenn ich neben dem Hunger auch diese Uniform losgeworden war, würde ich nahe am Punkt der Zufriedenheit stehen. Das Gesicht gesenkt, lockerte ich meinen Gürtel, fuhr mit den Fingern über das breite Leder und hob die andere Hand zum Mund. Meine Zähne schabten über die Fingerkuppen, bekamen den Handschuh zu fassen und so befreite ich mich von ihm.

Ein Dröhnen durchzog die Gänge und ließ mich aufspähen.

Da war eine Tür in ihr Schloss gefallen und da sah ich sie auch schon vor mir. Kurz darauf griff ich nach der Klinke, zog mich träge zur Seite, öffnete den Flügel und ächzte genüsslich unter dem Anblick, der sich mir bot. Annähernd leer erstreckte sich der Speisesaal vor mir. Nur vereinzelt saßen hie und da wenige Finder, das Besteck kratzte verhalten und nur leise Stimmen erhoben sich, als ich mich auf den Weg durch die Tischreihen machte.

Ich befeuchtete die Lippen mit der Zunge, presste sie aufeinander und rieb mir die Hände.

Wieder hatte ich es eilig und nur flüchtig wurde ich auf die Gestalt des jungen Mannes aufmerksam, der vor dem Tresen stand und zu warten schien. Meine Aufmerksamkeit schweifte über ihn hinweg, geradewegs und haltlos zur Seite und entspannt hob ich die Hand, grüßte meinen vergangenen Finder, der sofort zurückwinkte und sich lachend an seine Kameraden wandte.

Es blieb ein kurzes Lächeln, dann zog es meine Mundwinkel wieder nach unten und unter einem dumpfen Ächzen schleppte mich die letzten Schritte zum Tresen und ließ mich auf ihn sinken. Die Gerüche, die mir entgegen zogen, waren peinigend, da ich noch nichts vor mir hatte und trübe ließ ich mich um ein Stück tiefer rutschen und suchte mir meine Bequemlichkeit auf dem Holz der Theke.

Jerry war noch nicht zu sehen. Hoffentlich beeilte er sich.

Ich schöpfte tiefen Atem und setzte zu einem lauten Stöhnen an, doch es blieb mir im Hals stecken, so wie mein Gesicht im plötzlichen Ausdruck des Erschreckens.

Direkt und unausweichlich waren die annähernd schwarzen Augen auf mich gerichtet und musterten mich mit einem Anflug bitterer Skepsis. Nur kurz, bevor sie das Interesse verloren.

Auch meine Gesichtszüge erschlafften, flüchtig zog es mich weiter nach unten und Augenrollend rappelte ich mich letzten Endes doch auf.

Ich hatte ihn nicht erkannt.

Was trug er aber auch für einen Mantel?

Schweigend blieb ich neben ihm stehen, kratzte mich, streckte mich und hörte das undeutliche Murren, unter dem mein Zeitgenosse die Tür der Küche fixierte wie ein Raubtier die Beute.

Doch auf der anderen Seite der Theke tat sich nichts und so spähte ich erneut zu ihm.

Genau wie der zivile Mantel hätte auch der Dreck eine Erklärung dafür sein können, dass ich ihn nicht erkannte. Die roten Säume der Uniform, die sich unter dem braunen Stoff versteckten, waren kaum zu erkennen unter dem getrockneten Schlamm. Sogar in seinem Gesicht haftete so einiges, das davon zeugte, dass ich nicht der Einzige war, den das Wetter übel überraschte.

Sein Sinn für Ordnung hatte offenbar schmählich gegen die Naturgewalten verloren.

Der Zopf, zu dem sein Haar gebunden war, saß locker und schief. Vereinzelte Strähnen standen ab und setzten sich abrupt in Bewegung, als er plötzlich das Gesicht zu mir wandte und mich anstarrte wie zuvor die Tür. Ihn unbemerkt anzuschauen war eine schwierige Sache und überrascht tat ich es jetzt umso offenkundiger und wunderte mich über die Stille, die trotz der deutlichen Angriffslust auch weiterhin zwischen uns bestand.

Irgendwelche Bemerkungen wären angebracht und ich rümpfte die Nase, als er sich ohne ein Wort abwandte und sein Oberkörper der Theke unter einem Ächzen näherkam.

Wenn es eine Sache gab, die ich über Yu Kanda gelernt hatte, dann waren es die Zeichen, die man zu deuten hatte. Aus Nächstenliebe sowie aus schierem Selbstschutz. Simple Verhaltensregeln, nach denen ich mich richtete, sobald mir der Sinn danach stand.

Meistens war er in durchschnittlichem Maß ungemütlich. Dieses Normalmaß erstreckte sich bis zu einer gewissen chronischen Aufgebrachtheit, die sein Gesicht zucken und jedes Wort giftig werden ließ. Zu solchen Zeiten war er ziemlich gesprächig und noch als ‚gutgelaunt’ zu bezeichnen. Zu solchen Zeiten war er normal und so, wie ihn jeder kannte. Vermutlich lag es teilweise auch an seinen schmalen, japanischen Augen, dass er dauernd so verärgert aussah.

Wirklich schwierig wurde es erst dann, wenn die giftigen Worte ausblieben und er sich auf finstere Ausdrücke und verspannte Gesichtsmuskeln beschränkte. Es gab da eine Theorie.

Noch immer bewegte sich die Tür um kein Stück und vertieft hob ich die Hand und betrachtete mir meine Finger. Manchmal umging er jedes Wort, das er nicht brauchte, um sich grundlegend versorgt zu sehen. Manchmal hatte er nicht einmal Lust darauf, mir zu sagen, wie wenig er von meiner ihm unbekannten Persönlichkeit hielt und wie viel es ihm doch bedeuten würde, mich nicht mehr sehen zu müssen. Momente, in denen er schweigsam blieb, waren also jene, in denen man es auch sein sollte.

Es kam vor, dass selbst er zu wenig Energie aufbringen konnte. In diesen Fällen war er wirklich schlecht gelaunt und neigte dazu, von seinen harmlosen Sticheleien in düstere, gnadenlose Gefilde abzuweichen. Müde ließ ich die Hand sinken.

Die Zerstreuung in allen Ehren aber nun ging alles in mir zugrunde. Abermals meldete sich mein Magen, ein kalter Schauer durchfuhr mich und vergessen waren all die Theorien über bizarre Persönlichkeiten bei der Brise der gnadenlosen Realität.

„Jerry!“ Ich neigte mich neben Kanda durch den Ausschank. „Was machst du denn?“

Verzweifelt rief ich nach meinem Retter und dumpf ging neben mir eine Hand auf das Holz nieder.

„Wie lange muss man hier stehen, um zu Essen zu bekommen?“, schloss sich mir mein Leidensgenosse an.

„Jerry!“ Meine Stimme verdünnte sich zu einem brüchigen Jammern.

„Seit vier Tagen und Nächten nichts im Magen“, murrte mein Nebenmann.

„Und ich halte schon seit fünf Stunden durch“, fügte ich hinzu und spürte augenblicklich den Stich seines scharfen Blickes. Stirnrunzelnd erwiderte ich ihn. „Was denn?“

Eine Grimasse hatte mir als Antwort zu genügen und bevor doch noch irgendwelche Worte fielen, und zwar welche von der Sorte, die man später bereute, da schwang die Tür der Küche auf und wie der Hoffnungsschimmer selbst stürzte Jerry zu uns. Keuchend und aufgebracht brachte er die Distanz zwischen Tür und Theke in beeindruckender Schnelligkeit hinter sich.

„Es tut mir leid!“

Während neben mir ein unbestimmtes Murmeln ertönte, erhellte sich mein Gesicht.

„Es tut mir leid!“, ächzte er erneut, rückte an seiner Brille und schwang sich die Zöpfe zurück. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, was bei uns los ist! Bevor wir uns versahen, war da diese Stichflamme und der Gestank von verbranntem Essen!“

Mit einer seltsamen Regung verriet Kanda, dass er den Gestank ebenso wenig bemerkte wie ich, aber nach Tagen, die man umgeben von beißendem Qualm verbrachte, nahm man so ein Wölkchen nicht mehr wahr. Erschüttert war ich trotzdem.

„Heißt das, ihr könnt nichts mehr kochen?“, brach es entsetzt aus mir heraus.

„Um Himmels Willen, natürlich können wir das! Es hat nur einen kleinen Teil der Küche erwischt!“

Erleichtert senkte ich den Kopf.

„So ein Drama!“, fuhr Jerry fort. „Ich bin ja ein geduldiger Mensch aber diese unerfahrenen Jungköche…“

„Mach mir Tempura“, wurde er da unterbrochen. Kanda machte selten einen Hehl daraus, wenn er die Geduld verlor und seine finstere Aufmerksamkeit lenkte sich endlich auf einen anderen als auf mich. „Eine doppelte Portion. Nicht angebrannt.“

„Ja, natürlich!“ Jerry nickte heftig und gerade als ich Luft holen wollte, kam ich abermals in den Genuss von Kandas Aufmerksamkeit. Eine abwertende, beiläufige Geste seiner Hand richtete sich an mich.

„Sofort und zuerst. Ich war eher hier als der da.“

Meine Schultern sackten tiefer, dicht gefolgt von meiner Miene und resigniert sah ich ihn an, als er Jerry zurück zur Küche scheuchte.

„Das war herzlos.“

„Halt deinen Rand.“

Vermutlich war das wirklich besser. Gerade jetzt, da mein Essen in unerreichbare Ferne gerückt war, war ich zu zermürbt für einen Streit und wir waren uns so ähnlich, denn die Zeit des Wartens verbrachten wir damit, finster nebeneinander zu stehen.

Kanda stemmte sich auf den Tresen, ich zog mit dem Fuß Kreise auf dem Boden und erst als das Tablett mit der gewünschten Bestellung auftauchte und für gut befunden wurde, kehrte das Leben zurück.

Ohne ein Wort verschwand Kanda inmitten der Tischreihen und ich harrte umso einiges länger aus, bevor auch ich einen Platz auf einer Bank fand und vor mir die Massen, die mich zufrieden stimmten.

Von da an gab es nichts mehr, worüber ich mich beschweren müsste. Ich blieb sogar ungestört. Die ganzen zwei Stunden, die ich dort saß und immer wieder blind nach dem nächstbesten Teller griff.

Die Erwartungen wurden erfüllt und jede Unzufriedenheit beseitigt.

Jerrys Essen war gar nicht zu vergleichen mit der fettigen, überwürzten und unzumutbaren Kleinigkeit, die man an Bahnhofständen ergattern konnte und irgendwie trotzdem runter schlang. Ich ächzte vor Genuss, nahm mir zwischendurch nur kurz Zeit, um mir mit dem Handrücken über den Mund zu fahren und rammte die Gabel unterdessen schon in den nächsten Braten.

In diesen Augenblicken existierte nichts. Nicht die seltsamen Gerüche, die aus der Küche drangen, nicht die Gespräche der anderen oder Timcanpy, der seinen Platz auf dem Tisch fand. Kaum rückte sein knolliger Körper näher an einen Teller heran, da schob ich ihn mit dem Arm zur Seite und zog sein Zielobjekt zu mir.

Einen Auflauf, wie nur Jerry ihn kreieren konnte und die Soße quoll aus allen Poren, als ich die Gabel in die mit Käse überbackene Oberfläche drückte. Fast verschluckte ich mich an dem Saft, während ich das Besteck tiefer drängte aber nach einem Schlag gegen den Brustkorb war ich für die nächsten Bissen gewappnet und besagte Zeit verging, bis ich mich daran machte, die Massen an Geschirr zum Tresen zurückzubringen. Wie immer war Jerry entzückt von meiner Zufriedenheit.

„Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen.“

„Das freut mich.“ Seufzend stemmte er sich auf die Theke, stützte die Wange in die Handfläche und labte sich sichtlich an dieser heiteren Atmosphäre. „Ach, was ich dir noch sagen wollte. Wir sind dabei, die Winteruniformen zu entwerfen. Johnny liegt mir damit schon lange in den Ohren.“ Mit einem Nicken wies er auf meine Robe. „Wenn du demnächst Zeit hast, lass uns noch mal deine Maße nehmen. Spezielle Wünsche kannst du ja an Johnny richten und dann kümmern wir uns ganz schnell darum, dass du bald nicht mehr frieren musst.“
 

Wieder stieg ein Gähnen in mir höher und wie müde stützte ich mich auf das Waschbecken, hielt die Zahnbürste unter den rauschenden Wasserstrahl und versenkte sie im Mund. Die Bade- und Umkleideräume umgaben mich leblos und ruhig, als ich kurz darauf zu einer der Holzbänke schlürfte und mich auf sie sinken ließ.

Es zog mich immer stärker in die Richtung meines Bettes und meinen Bewegungen fehlte es an Zielstrebigkeit, als ich mich hinab neigte. Auf den Reißverschluss des Stiefels hatte ich es abgesehen und gemächlich begann ich die Zahnbürste im Mund zu bewegen, während ich mit der anderen Hand tastete. Fündig zu werden wurde immer schwerer und so brauchte ich eine ganze Weile, bis ich beide Füße ins Freie zog.

Entgegen der Müdigkeit sah ich mich dazu gezwungen, noch einmal im Onsen zu verschwinden und bequem putzte ich weiter, während ich mich aus der Uniform wand und mich an Ort und Stelle schälte.

Auch der Onsen erstreckte sich kurz darauf verlassen vor mir und die Augen trübe auf dieses herrliche Ziel gerichtet, zog ich das Handtuch hinter mir her. Als ich das Wasser erreichte, landete es auf den Holzdielen und dann sank ich wie ein Stein in dieses heiße Nass.

Schwerelos driftete mein Körper auf der Wasseroberfläche. Erst als ein tiefer Atem aus ihm strömte, driftete er tiefer. Kein Fleck blieb schutzlos in dieser geborgenen Hitze und lange gab ich mich dieser Abgeschiedenheit hin, bevor meine Füße den Grund des Onsen suchten. Kitzelnd glitten die Rinnsale über meinen Leib, als ich mich aufrichtete, die Nässe von meinen Wimpern blinzelte und mir das nasse Haar aus der Stirn strich.

Kurz darauf lehnte ich im seichten Wasser an einem Stein und streckte eines meiner Beine in die Höhe. Nachdenklich betrachtete ich mir meine Zehen und bewegte den Fuß. Ein Spannen im Oberschenkel erinnerte mich an die vergangenen Strapazen und kaum hatte ich die Beine überschlagen, da spürte ich das Gewicht des Golems auf meinem Schienbein. Er leistete mir Gesellschaft, schlug mit den Flügeln und umspielte meinen Unterschenkel mit seinem Schweif.

Er war nicht störend. Er war immer da, denn er wurde nicht müde, während mir die Lider schwer wurden und ich die Augen schloss. Manchmal wünschte ich mir, auch programmiert zu sein. Auf Stärke und Durchhaltevermögen. Es geschah zu oft, dass ich mir mehr abverlangte, als ich imstande war, zu tun.

Zu oft am Zweifeln, mich oft fragend, ob man es nicht besser hätte machen können.

Die Herausforderungen wurden nicht leichter und auch nicht weniger.

Ich begann mich zu regen, hob den linken Arm aus der wärmenden Umhüllung und streckte ihn von mir, um ihn mir zu betrachten. Er verschwamm vor meinen Augen, als würde er hier in der Realität verblassen.

Aber ich spürte sie noch, die Kälte auf meiner Haut, als das hinab perlende Wasser von einem leichten Zug erfasst wurde. So spreizte ich die Finger und tastete im Nichts.

Solange ich mich noch fühlte, war ich noch hier. Anderes zählte nicht.
 

Träge schob ich mich gegen die Tür und warf die Uniform nach dem Stuhl, sobald ich mein Zimmer betrat. Es war eine Weile her und ich begrüßte mein Reich mit einem müden Stöhnen, unter dem ich die Tür hinter mir schloss.

Von hier aus ging es nicht mehr weiter und wieder gab ich mich einem ausgiebigen Gähnen hin, bevor ich mich auf die Matratze sinken ließ. Beiläufig befreite ich die Füße aus den Stiefeln, da sank ich bereits zur Seite und das letzte, was ich sah, war der Schatten Timcanpy’s, der sich dunkel vor dem Fenster bewegte. Dann schloss ich die Augen, platzierte den Kopf auf dem Kissen und zog die Decke über mich.

Ein letztes Ächzen entrann mir, als ich spürte, wie schwer mein Körper augenblicklich wurde.

Eine Strähne glitt kitzelnd über meine Stirn und träge bewegte ich die Zehen auf dem Laken, rümpfte die Nase und verlor mich in den nächsten Atemzügen sowie den Sinn für die Realität. Ich glaubte noch den leichten Druck des Golems auf meiner Schulter wahrzunehmen, bevor die Dunkelheit um mich herum noch schwärzer wurde und ich das Gefühl der Matratze unter mir verlor.

Man schlief am besten, wenn man erschöpft war und außerstande, etwas anderes zu tun.

Man schlief tief, war blind und taub, bis die Realität zurück in die Wahrnehmung driftete und man den ersten, tiefen Atemzug in sich aufnahm. Ich behielt die Augen geschlossen, gähnte tief und tastete nach meinem Bauch, um ihn zu kratzen.

Diese Momente waren es, in denen ich am zufriedensten war. In denen mich nichts störte und ich über nichts nachdachte. Träge und noch immer vom Schlaf benommen blieb ich liegen, regte die Schulter und runzelte die Stirn unter dem Kitzeln einer langen Strähne, die durch eine Regung mein Gesicht streifte.

Tims Flügelschläge trieben milde Brisen zu mir und kaum senkte er sich hinab auf die Matratze, da streckte ich die Hand nach ihm aus und bettete sie auf seinem runden Körper.

Seine Flügel streiften meinen schwarzen Arm. Ich spürte es kaum, glaubte fast, es mir nur einzubilden.

Er war wie eine raue Hülle, die nicht geschaffen war für sachte Begegnungen.

Die zerstörte und nicht genoss.

Ich schloss die Finger um seinen Körper, bewegte und rollte ihn abwesend auf der Decke und es verging keine lange Zeit, da spürte ich seine Zähne an meinem Daumen und wie er nach mir schnappte. Reglos blieb ich liegen, ließ ihn auf meinem Finger kauen und setzte bald zu einem weiteren Gähnen an.

Durch die geschlossenen Lider erblickten meine Augen die rötlichen Farben. Die Vorboten, dass der Tag bereits angebrochen war und irgendwann schenkte ich ihm Beachtung. Über Tim hinweg blickte ich in mein Zimmer. Es war ein sonniger Tag im späten Herbst. Hell fiel das Sonnenlicht durch mein Fenster und ließ mich die vertraute Umgebung das erste Mal wirklich erkennen.

Hatte ich diesen Raum wirklich so säuberlich verlassen?

Alles war an Ort und Stelle, abzüglich meiner Kleidung, die den Stuhl um Längen verfehlt hatte. Unter einem tiefen Atemzug ließ ich von Tim ab, rieb mir das Gesicht und hielt nach meiner Decke Ausschau. Sie war hinab gerutscht, träge begann ich mit den Zehen nach ihr zu tasten, doch ein Klopfen an meiner Tür unterbrach das Vorhaben.

Nur kurz versuchte ich mich zu organisieren und Prioritäten abzuwägen. Meine Sinne waren schlaftrunken, waren langsam und so ließ ich mich vom Offensichtlichen leiten und kam auf die Beine. Einen Schritt tat ich, bevor ich mich an die Decke erinnerte. Meinem Fuß noch treu, brachte sie mich fast zu Fall. Ich stolperte, befreite mich von ihr, bekam dann die Klinke zu fassen und blinzelte unter der Zugluft, die mir aus dem Flur entgegen zog.

„Guten Morgen!“ Grinsend neigte sich mir Johnny entgegen. Hinter ihm stand ein Wissenschaftler, der vertieft in einem kleinen Büchlein blätterte und über etwas zu grübeln schien. Hinter seinem Ohr klemmte ein Bleistift und Naserümpfend tastete er nach ihm.

„Guten Morgen.“ Johnnys morgendlicher Leidenschaft war ich nicht gewachsen. Auch meine Stimme verlor schmählich gegen ihn, während ich mich in den Türrahmen lehnte. „Was gibt`s?“

„Komui hat uns geschickt“, verriet er mir. „In einer Stunde findet im Speiseraum eine Besprechung statt, an der du teilnehmen solltest.“

„Besprechung.“ Es kam überraschend und sofort erinnerte ich mich an den vergangenen Abend.

River deutete es an und bevor ich mich versah, wurde mir das Resultat offenbart?

Stirnrunzelnd rieb ich mir die Wange. Noch immer standen wir dort, meine Besucher schienen es nicht eilig zu haben und ich brauchte eine Weile, um es zu realisieren.

Die Kapazität meines müden Verstandes war längst ausgeschöpft durch die Nachricht.

„Und ihr habt den Weg auf euch genommen, um mir das zu sagen?“

„Es traf sich einfach gut.“

„Was traf sich?“

„Allen?“ Mit demselben Grinsen neigte sich Johnny näher, ließ mich den Kopf schief legen und etwas befürchten. Er heckte etwas aus und wirklich, es war die pure Entschlossenheit, die in seinen Augen aufblitzte. „Hast du Zeit?“

„Wofür denn?“

Eigentlich nicht, denn letztendlich würde die Stunde kaum für ein ausgewogenes Frühstück reichen. Duschen musste ich auch, doch bevor ich mich versah, flatterte das Maßband auf. Mit einem Mal zog er es hervor und der Mann hinter ihm begann wieder zu blättern.

Ach ja, die Uniform.

„Bitte!“ Johnny presste das Band, sank flehend vor mir zusammen. „Du wirst sehen. Heute ist es schon um einiges kälter und wenn wir die Maße von euch nicht bald nehmen, dann holt ihr euch eine Erkältung nach der anderen!“

„Erkältung?“ Perplex kam ich nicht um ein Grinsen.

Ja, Erkältungsgefahr. Die einzig wahre Bedrohung, sobald wir das Hauptquartier verließen.

Johnny besaß den Überraschungsmoment, ich nur meine Müdigkeit und bevor ich mich versah, stand ich im Flur. Ich ließ an mir drehen und rücken und wurde mit Adleraugen studiert. Der Mann mit dem Buch war es, der mich anstarrte, während das Band um meinen Körper gezurrt und ich von oben bis unten vermessen wurde. Nur beiläufig vernahm ich Johnnys Stimme, als er die Maße weitergab und sofort zu Papier bringen ließ.

Was hatte sich hier getan, während ich unterwegs war?

Ich hob das Kinn, als sich das Band um meinen Hals schlang.

Worüber hatte man so immens nachgedacht, dass man es jetzt in großer Runde besprechen wollte?

„So.“ Konzentriert biss sich Johnny auf die Unterlippe, als er sich vor mich hockte und das Band um meinen Bauch legte. „Und so macht man das.“ Schon wurde es festgezurrt und wie weinerlich dachte ich an mein Frühstück.

„Bisher haben wir fast alle vermessen. Ihr müsstet also“, das Band rutschte ihm aus den Fingern und kurz fitzte er daran herum, „höchsten fünf Tage warten. Wir arbeiten im Akkord!“

Kurz und skeptisch lächelte ich ihm zu. Wenn ich die nächste Mission ohnehin noch schlotternd hinter mich zu bringen hatte, hätte all das auch noch warten können. Meine Nase juckte und endlich konnte ich die Arme sinken lassen und mich kratzen. Johnny verschwand hinter mir und abrupt erfassten meine Augen eine Bewegung auf der anderen Seite des Treppenhauses.

Die Schritte hatte ich bereits gehört und ich war Kanda mit meiner Aufmerksamkeit kaum voraus, da starrte er schon zu uns rüber. Flüchtig hafteten unsere Blicke aneinander und irgendwie konnte ich es mir nicht nehmen lassen, ihm herzlich zuzuwinken.

Seine Kleidung wies nicht nur darauf hin, dass er trainierte, während ich schlief, sondern auch darauf, dass er sich nicht vor Erkältungen fürchtete. Ich fror schon bei dem Anblick. Ein kalter Schauer kroch über meinen Rücken und das nicht wegen seiner Reaktion auf meinen Morgengruß. In raschen Schritten ging er weiter und wendete sein Schwert in die andere Hand, um nach der Klinke seiner Tür zu greifen.

„Kanda?“ Plötzlich sprang Johnny hinter mir hervor und ebenso rasch zurrte sich das Maßband um meinen Oberarm. „Warte!“

Er reckte den Arm, winkte nach ihm und nur widerwillig hielt Kanda inne und schickte uns einen weiteren dieser Blicke, die selbst dem schönsten Morgen den Reiz nahmen. Unauffällig zupfte ich an dem Band, lockerte es etwas.

„Hast du einen Moment?“ Abrupt wurde am Band gezerrt und sofort rutschte ich mit den Fingern ab. „Wir brauchen deine Maße!“

„Was willst du vermessen?“, erhob sich die andere Stimme gänzlich abgeneigt. „Hat sich nichts verändert.“

„Aber deine besonderen Wünsche!“, protestierte Johnny.

„Jetzt nicht.“

Andächtig lauschte ich dem Geräusch, als sich die Tür hinter ihm schloss.

Neben mir sank Johnny unter einem Seufzen in sich zusammen.

Diese Direktheit, mit der Kanda Probleme löste, war beneidenswert. Vermutlich wäre ich dem Frühstück um ein ganzes Stück näher, wäre ich ihm in dieser Hinsicht ähnlicher. Das Wesentliche war immer noch am verständlichsten, wenn man sich gekonnt kurz fasste.

Er hatte keine Lust oder anderes vor. Mir ging es nicht anders aber im Gegensatz zu ihm stand ich jetzt hier.

Resigniert rümpfte ich die Nase.
 

-tbc-

2

Es endete in einem Wettlauf gegen die Zeit.

Kaum hatte mich Johnny entlassen, eilte ich von einem Raum zum nächsten und einige Minuten meiner ohnehin schon knappen Zeit opferte ich trotzdem noch für eine Dusche. Schnell den Kopf unter den rauschenden Strahl gesteckt und fast tropfte das Wasser noch aus meinem Haar, als ich keuchend in den Speiseraum trat.

Auch ohne Johnny wäre es wohl knapp geworden aber als ich durch die Tischreihen zog, sah es noch nicht nach einer Besprechung aus. Flüchtig spähte ich um mich, erkannte jedoch kaum ein bekanntes Gesicht. Nur vereinzelte Finder.

Entschlossen richteten sich meine Augen auf den Tresen und von ihm aus auf die Wanduhr.

Eine halbe Stunde noch. Ich tastete nach den Knöpfen meines Hemdes und drehte den Obersten ins Loch.

Es wäre mehr, würde mir Kanda einen Teil seines Charmes abgeben.

Als ich dann Jerry vor mir sah, war mein Ziel zum Greifen nahe. Es war ein Morgen ohne Umwege, ohne Verzierungen. Nur für einen knappen Gruß nahm ich mir Zeit.

„Mach mir alles, wofür du nicht viel Zeit brauchst“, bat ich ihn dann und erntete eine perplexe Kopfbewegung. Seinem Gesicht entsprang eine stumme Frage und bevor sie über seine Lippen kam und mich weitere Momente kostete, drückte ich mich deutlicher aus.

„Irgendetwas“, ächzte ich und wischte mir einen hinab rinnenden Wassertropfen von der Wange.

Mir gegenüber wurden die Brauen gehoben.

„Ist etwas passiert?“ Nun kam die Frage doch und das besorgte Gesicht Jerrys mir näher. „Wurdest du aufgehalten? Hast du verschlafen? Ich habe dich früher erwartet! Aber weißt du was?“ Er fuhr voller Entschlossenheit in die Höhe. „Ich schaue, was sich machen lässt!“

Erleichtert ließ ich den Kopf hängen und unter einem letzten unbeugsamen Schnaufen machte Jerry kehrt und rannte zur Küche zurück.

Auf ihn war Verlass.

„Allen!“

Plötzlich und unvorbereitet traf mich eine Wucht. Sie presste sich gegen meinen Rücken sowie meinen Bauch gegen die Kante des Tresens und bevor ich mich versah, steckte ich in einer Umarmung.

„Lavi!“

Der Schmerz war sofort vergessen, die Freude überwiegte und nur schwerlich sicherte ich mir den Halt auf meinen Beinen, als er mich mit sich zog und mit mir schunkelte.

Wie lange war es her? Zwei Monate?

Der Zufall hatte es nicht gut mit uns gemeint. Wir waren uns so selten über den Weg gelaufen, dass ich ihn wirklich vermisst hatte. Und nicht nur ihn. Als seine Nase in meinem nassen Haar badete, ließ er von mir ab und präsentierte mir das breite, ehrliche Grinsen, das mir in manch düsteren Stunden gefehlt hatte.

Er hatte diese Wirkung. Einen fast befreienden Einfluss, der vielen Dingen die Kompliziertheit nahm.

„Wie geht’s?“ Sein Grinsen war unermüdlich und ich ließ mich fallen und war von einem Moment zum nächsten ein anderer.

Vergessen die Hast, vergessen die Nachdenklichkeit sowie die Neugierde, die mich in jedem ruhigen Augenblick heimsuchten. Alle Fragen waren einfach nicht mehr von Belang.

„Wie geht es dir?“, stellte ich ausgelassen die Gegenfrage aber wenn man von dieser Mimik ausging, störte ihn in diesen Momenten herzlich wenig.

„Ach, du weißt schon“, er gestikulierte mit der Hand. „Man tut das eine oder andere. Von dem einen mehr, von dem anderen weniger.“

„Ja, ich weiß schon.“ Sofort nickte ich. „Seit wann bist du da?“

Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Augen kurz zur Küchentür drifteten. Auch zur Uhr.

Mein Zeitgenosse ächzte.

„Seit drei Stunden.“ Er schloss sich meiner Beobachtung an. „Nein, seit vier. Himmel, wo ist die Zeit geblieben?“

„Frag nicht. Meine ist auch verschwun...“

Augenblicklich versagte meine Stimme und mit offenem Mund starrte ich auf die Teller und Schalen, die Jerry aus der Küche balancierte. Er keuchte und ächzte, als er die beiden Tabletts ablud aber das Essen war wirklich da und wieder erhob sich neben mir das klare, heitere Lachen Lavis.

„Man, Allen.“ Ein Schlag traf meine Schulter. „Du hast dich echt nicht verändert.“

Das sagte er nach acht Wochen und auch noch auf meine Essangewohnheiten bezogen?

Diese Form der Nostalgie war fehl am Platz.

„Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben!“ Erschöpft präsentierte mir Jerry seine Fundstücke und in den ersten Momenten konnte ich nur den Kopf schütteln.

„Jerry.“ Ich war gerührt aber der emotionale Moment endete mit einem Ellbogen, der meine Seite traf.

„Na, komm. Wenn du vor der Besprechung fertig werden willst, ist Eile geboten.“
 

„Hast du was gehört?“ Lavi rutschte weiter, ließ mir Platz auf der Bank. „Weißt du, worum es geht?“

Sobald ich still saß und das Besteck zwischen den Fingern hatte, verlor ich einen nicht sehr geringen Teil meiner Aufmerksamkeit. Nur knapp schüttelte ich den Kopf, zog einen Teller zu mir und versenkte den Löffel im Milchreis. Neben mir wurde gebrummt. Lavi stützte sich auf den Tisch und das Kinn in die Hand. „Das frage ich mich schon die ganze Zeit“, murmelte er. „Die Mission, von der man mich abgezogen hat, war nicht gerade unwichtig.“

„Du hast abgebrochen?“ Verwundert spähte ich zu ihm, versenkte den Löffel im Mund und tastete nach dem Becher. Er nickte.

„Muss etwas Wichtiges sein.“

Natürlich irritierte es mich. Nicht viel weniger, als ich all das als zu verlockend ansah.

Fast verfiel ich dieser alten Neugierde und mein nächster Blick zur Uhr war von anderer Natur.

Entgegen der Teller und Schalen, die ich noch zu leeren hatte, könnte die Besprechung schon beginnen. Wenn die Problematik so ernst war, wie ich vermutete, würde ich Prioritäten setzen.

Die darauffolgende Stille gab mir die Gelegenheit zu grübeln. Während ich kaute, trank und mir über den Mund fuhr, drifteten meine Pupillen ziellos von einer Seite zur anderen. Wenn man Lavi von einer ernsthaften Mission abzog und möglicherweise auch andere, was hatte Komui vor?

Ich griff nach einem Schälchen, doch ein dumpfer Laut riss mich aus den Gedanken. Lavi war neben mir hinab auf den Tisch gerutscht, bewegte das Gesicht zwischen den Armen und stöhnte.

„Ah, ich hätte schlafen sollen.“

Ich starrte ihn an und dirigierte den Löffel zum Mund. Seine Hand durchfuhr den roten Schopf.

„Aber irgendwie konnte ich nicht ablehnen, als mich Linali fragte, ob ich mit ihr trainieren möchte.“

Nichts, das mich verwunderte.

Unbeteiligt fixierte ich mich auf das Schälchen und darauf, den Inhalt so schnell wie möglich in meinen Mund zu stopfen. Linali war vermutlich die Einzige, die das Hauptquartier in letzter Zeit nicht verlassen hatte. Ich erinnerte mich. Als ich vor einer Woche aufbrach, hatte sie ihre Zeit im Krankenflügel verbracht, um sich von einer Verletzung zu erholen. Viel hatte ich nicht mitbekommen. Wie immer hatte die Zeit gefehlt aber bei meinem Besuch wirkte sie schwächlich.

Jedenfalls nicht so, als wäre Training in nächster Zeit das Richtige für sie.

Lavi wendete das Gesicht, bettete die Wange auf dem Unterarm und begann den Tisch mit den Fingernägeln zu bearbeiten. Es erhob sich ein permanentes Kratzen, das sich mit dem Scheppern des Geschirrs verband.

„Wir waren im Wald“, begann er zu erzählen und klirrend landete das leere Schälchen wieder auf dem Tablett. „Sie hat sich angestrengt und gute Resultate erzielt. Sie strengt sich wirklich an, verstehst du?“

„Mm-mm.“ Eilig riss ich ein Croissant auseinander und tunkte es in den Joghurt.

„Sie hat wirklich hart trainiert und es lief gut aber dann bekamen wir Besuch vom Freundlichsten aller Geschöpfe.“

Wen er damit meinte, das wusste ich nicht aber wenn ich einfach weiter aß, würde die Erklärung bestimmt folgen. Ich hatte keine Zeit, um Fragen zu stellen.

„Dass Yu ausgerechnet zur selben Zeit im Wald sein musste“, stöhnte er.

Perplex hielt ich inne.

Glaubte er, bei der Beschreibung dachte ich zuerst an ihn? Der Sarkasmus war ihm nicht gelungen.

Er ächze erneut, bevor ich mich wieder meinem Essen zuwandte und den Joghurt schlürfte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was für Gemeinheiten er Linali an den Kopf geworfen hat.“

Das konnte ich allerdings nicht.

Wenn jemand vor Kandas Zynismus sicher war, dann war es Linali.

„Er meinte, sie sollte im Wald lieber spazieren gehen anstatt zu trainieren. Normal laufen, du weißt schon. Das ´Herumgehüpfe´, wie er es nannte, würde nichts bringen außer weiteren Verletzungen.“

Ich schluckte, runzelte die Stirn und als ich erneut zu Lavi spähte, blähte er die Wangen auf. Ich hatte abermals innegehalten und auch jetzt bewegte sich meine Hand nur langsam auf den Eiersalat zu.

„Sie trainierte an einem Baum und laut Yu wäre es das erste Mal, dass ein Exorzist von einer Pflanze besiegt werden würde. Weil Linali mehr Schaden nimmt als die Rinde. So etwas.“

Ich rümpfte die Nase, kurz drifteten meine Augen gen Decke und dann begann ich den Salat zu löffeln.

Diese Szenerie konnte ich mir bildlich vorstellen. Das Seltsame daran war etwas ganz anderes.

„Dabei strengt sie sich wirklich an aber Antrieb und guter Wille spielen in Yus Welt keine Rolle. Ganz gleich, mit welchem Fuß er aufsteht, es ist der Falsche.“

Es war ein bizarres Gefühl und fast fühlte ich mich fremd in meinem Körper, als ich mir eingestand, Kandas Meinung in allen Facetten zu teilen. Derselbe Grundgedanke kam mir auch, als ich von diesem Training hörte. Vermutlich hätte ich es nur anders zum Ausdruck gebracht. Wenn überhaupt.

Selbstüberschätzung war eine gefährliche Eigenschaft. Es gab doch keinen, der sie zu den Maßnahmen zwang. Zu tun gab es immer viel aber letztendlich kam es nicht auf einen Exorzisten an. Vor allem nicht auf einen Schwächelnden. Sie wusste, dass der Grad überaus schmal war zwischen der Unterstützung, die man seinen Kameraden sein konnte und dem Punkt, an dem man zur Last für sie wurde.

Die Zeiten waren zu gefährlich, um so ein Wagnis einzugehen.

Neben mir erhob sich Lavis maulende Stimme unaufhörlich, doch ich hörte nicht mehr zu.

Es war mir schon früh aufgefallen.

In Zeiten, in denen man die Wahrheit nicht sehen und sich hinter falschem Optimismus verstecken wollte; an Tagen, an denen man von vielem sprach, um ein Thema zu umgehen; auch in Stunden, in denen man blind und taub hoffte, um nicht realistisch denken zu müssen.

Früher oder später war immer er es, der es präzise und gnadenlos auf den Punkt brachte und vielen damit eine Hilfe war, die nicht sofort, wenn überhaupt, registriert wurde. Er, der aussprach, was niemand hören wollte und damit an viele Grenzen stieß.

Strikt holte er jeden zurück an den einzigen Ort, der Fortschritte brachte: Die Realität.

Er sagte es einfach.

Es war schon oft so gewesen und ich unter jenen, die gereizt reagierten. Er sagte es und scherte sich nicht um das Echo. Eine seltsame Fähigkeit, die ich schweigend, also gar nicht teilte.

Ich senkte den Kopf und rührte im Quark.

„Was sagst du dazu?“

Mit einem Schlag kam ich zu mir und bemerkte, wie erwartungsvoll ich gemustert wurde. Die Wange auf die Hand gestützt, starrte mich Lavi an und vorerst starrte ich nur zurück und steckte mir den Löffel in den Mund.

„Wozu?“

„Dazu. Würdigst du ihr Engagement?“

Unentschlossen saugte ich den Quark vom Löffel und kratzte mich mit ihm am Kinn.

Was sollte ich sagen?

Um zu handeln wie Kanda, fehlte mir die Bereitschaft, mich mit den Reaktionen auseinanderzusetzen und für meine Worte geradezustehen. Ein knappes Lächeln zog an meinem Mundwinkel und Schulterzuckend hob ich den Löffel.

„Tja“, seufzte dann ich. „So ist Kanda eben.“

„Ja.“ Brummend wandte sich Lavi ab und ich mich dem letzten Teller zu. „Wenn er mich fertig macht, ist das in Ordnung. Ich fordere es ja auch irgendwie heraus. Aber vor Linali könnte er sich zusammenreißen.“

Dazu musste ich nichts mehr sagen. Außerdem blieben nur noch wenige Minuten und die verbrachten wir damit, das Geschirr zum Tresen zu tragen.

Die Schlepperei brachte Lavi auf andere Gedanken. Jedenfalls fluchte er nicht mehr über das Freundlichste aller Geschöpfe und spätestens als wir auf Crowley trafen, lenkten sich die Themen in eine ganz andere Richtung. Angenehme Gebiete, die nicht viel bedeuteten und als wir wieder am Tisch saßen und warteten, da bemerkte ich, dass allmählich Bewegung aufkam.

Eine Seltsame, in der es sämtliche Finder sowie Köche und anderes Personal aus dem Speiseraum zog und stattdessen die leitenden Wissenschaftler hinein. Die Besprechung entpuppte sich als nicht öffentlich und wie aufmerksam verfolgte ich all das, während die Worte neben mir flossen und dem Lachen kein Abbruch getan wurde.

Eine geringe Zahl von Weißkitteln trat ein und suchte sich ihren Platz. Auch Bookman tauchte auf. Mit einer Tasse Tee setzte er sich auf eine nahe Bank und nach einem knappen, grüßenden Zunicken begann er zu nippen. All das schürte meine Neugierde. Beinahe steigerte sie sich schon in eine Anspannung und mir stand nicht der Sinn, mich an den Gesprächen zu beteiligen, als ich mir dieser Ernsthaftigkeit bewusst wurde.

So eine Besprechung hatte es hier nur selten gegeben. Es roch nach Veränderungen, nach Risiken und Themen, die prekär waren. Im Schneidersitz saß ich dort, stemmte die Ellbogen auf die Knie und blickte Johnny nach, der sich in der Nähe des Einganges niederließ und einen mangelhaften Teil der alten Heiterkeit offenbarte. Schon jetzt wurde dort vorne diskutiert und nachdenklich begann ich die Fingernägel mit den Zähnen zu bearbeiten.

Es blieben nur noch wenige Minuten und pünktlich traf auch Kanda ein. Ich bemerkte ihn sofort, doch kurz darauf entzog er sich meinem Blick, wählte eine Bank auf der anderen Seite des Saales und ging unter im Meer der sich regenden Köpfe.

Es herrschte eine recht verhaltene Geräuschkulisse, die ich analysierte.

Genau wie die Gesichter der Menschen, die in meiner Nähe saßen.

Selbst Marie war hier.

Seine große Gestalt zu übersehen, war ein Unmögliches. Man hatte offenbar jeden gerufen, dessen Mission nicht von allerhöchster Wichtigkeit war und ich reckte mich in die Höhe, als die sinkende Lautstärke davon zeugte, dass Komui auch eintrat.

Unter seinem Arm klemmte eine Mappe. Er sah sich um, nickte in die Runde und hatte kaum ein Lächeln für die Anwesenden übrig, als er durch die Tischreihen zog und sich einen guten, zentralen Punkt suchte. Sorgfältig musterte ich sein Gesicht, betrachtete mir auch Linali, die ihn gemeinsam mit River begleitete. Unter einem dumpfen Laut wurde die Tür des Saales geschlossen.

Nun waren wir unter uns. Selbst die Küchentür blieb verschlossen und ich nahm mir Zeit, mir die junge Frau näher zu betrachten. Ihre Schritte wirkten tatsächlich unsicher. Mit gesenkten Schultern schien sie nach der erstbesten Sitzgelegenheit zu suchen und wie zufällig traf mich ihr Blick.

An einer Bank hatte sie innegehalten, ließ sich schon auf sie sinken und grüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. Auch ihre Hand hob sich und sofort winkte ich zurück.

Neben River blieb Komui stehen. Er fand seinen Standort nicht weit entfernt, wurde die Mappe auf einem Tisch los und während die letzten Gespräche verstummten, wandte er sich an River. Ich sah sie flüstern, River nicken und wandte mich ab, als die große Tür mit einem Mal geräuschvoll aufgestoßen wurde. Langsam neigte ich mich nach vorn sowie eine allgemeine Bewegung durch die Masse ging, sich annähernd jeder Kopf drehte und ich kam nicht um ein Schmunzeln, als ich den dunklen Lockenschopf erkannte, der sich durch den Türspalt streckte.

„Oh Gott!“ Im Angesicht der Masse aus Aufmerksamen erstarrte Miranda zu Eis. „Oh Gott, ich bin zu spät! Es tut mir leid! Ihr habt schon angefangen und ich habe euch gestört!“

„Weder noch. Komm, setz dich zu mir.“ Versöhnlich winkte Linali die Frau zu sich und während sie demütig die Tür hinter sich schloss, verlor sich das Interesse an ihr.

Die Anwesenden wandten sich wieder Komui zu und auch ich stemmte den Ellbogen auf den Tisch, sah ihn in der Mappe blättern und die letzten Worte mit River wechseln. Auch in meinem Rücken waren die Gespräche verstummt und nur Crowleys mitfühlendes Seufzen drang an meine Ohren, als sich Miranda durch die Tischreihen schlich und sich zu Linali gesellte.

Somit waren alle anwesend und ich konnte die Augen in der Zwischenzeit nicht mehr von Komui lösen. Ich verfolgte die Bewegungen seiner Lippen, seine Pupillen, die ein letztes Mal den Saal durchschweiften, bevor sie sich auf uns, die Zuhörer und Erwartungsvollen, richteten. Und so wie er sich dann an uns wandte, so richtete ich mich auf.

„Gut.“ Unter einem tiefen Durchatmen zog er die Unterlagen zu sich und blickte prüfend in die Runde. Neben ihm trat River zurück, verschränkte die Arme vor dem Bauch und machte keinen Hehl aus seinen Grübeleien. Deutlich zeichneten sie seine Mimik und als Komui fortfuhr, starrte er zu Boden.

„Erst einmal vielen Dank, dass ihr es alle geschafft habt.“

In der hinteren Ecke knarrte eine Bank unter einer verhaltenen Bewegung.

„Ich weiß, dass es bei einigen von euch knapp war und die Rückkehr plötzlich kam. Aber es handelt sich um eine Notwendigkeit sowie diese Besprechung, zu der ich euch zusammengerufen habe.“

Wie ich es mir dachte. Und während eine weitere Bank knarrte, regte ich mich kaum.

„Nach reichlichen Überlegungen möchte ich euch eine Mitteilung machen. Vor allem an die Exorzisten wende ich mich.“

Komuis Augen fanden zu mir, schweiften auch zu Linali und mit jedem Augenblick wurde seine Mimik der seines Nebenmannes ähnlicher. Seine Stirn legte sich in Falten, kurz bearbeitete er die Unterlippe mit den Zähnen und rückte an seiner Brille, bevor er sich aufrichtete.

„Die Ereignisse der letzten Wochen, insbesondere das Aufeinandertreffen mit dem Grafen und die Episoden von katastrophalen Geschehnissen, haben mich dazu veranlasst, eine Entscheidung zu treffen, die uns alle angeht.“

Ich bemerkte kaum, wie es meinen Oberkörper langsam und stetig nach vorn zog, ich mich seinen nächsten Worten förmlich entgegen neigte und den Sinn für die Umwelt verlor. Komui senkte den Kopf, starrte zu seinen Unterlagen und regte die Finger auf der glatten Oberfläche der Mappe.

„Wir werden in die Offensive gehen“, verkündete er dann und blickte auf.

Mein Gesicht regte sich, meine Schultern sanken und unter einem Stirnrunzeln richtete ich mich auf.

Und ich besah mir Komui eindringlich, während sich das Murmeln um mich herum erneut erhob.

Es waren Reaktionen, die ich noch nicht recht zu deuten wusste. Ebenso wenig wie diese Worte.

Hatten wir nicht immer offensiv gearbeitet?

Wir waren nie untätig gewesen und dem Feindkontakt nie aus dem Weg gegangen.

Was meinte er damit?

Auch auf der Nebenbank wurde gemurmelt. Mich erreichten nur undeutliche Wortfetzen und kurz spähte ich zu den Wissenschaftlern, die sich zueinander neigten. In meinem Rücken erhob sich Räuspern. Die Frage war überflüssig, denn Komui ließ den Zuhörern wenig Zeit, sich eigene Zusammenhänge und Erklärungen zu suchen.

„Wir können es nicht zulassen, dass uns der Graf erneut so einen Schaden zufügt. Dass er unser Herz angreift, anstatt unsere robuste Hülle. Wir waren zu ungeschützt, weshalb wir den Ort der Entscheidung demnächst selbst wählen und damit im Vorteil sind.“

Lautlos öffnete ich den Mund. Meine Miene entgleiste mir nun vollends und während die Atmosphäre mehr und mehr von unentschlossenen Geräuschen und Regungen bestimmt wurde, löste ich mich von Komui und starrte sinnierend zu Boden.

„Seit den jüngsten Zwischenfällen hat die Einmischung und die Offensive des Grafen stark nachgelassen“, drang seine Stimme zu mir. „Die Gegner, die sich den Exorzisten in vergangenen Missionen entgegenstellten, erschienen nach deren Einschätzung planlos und unstrukturiert. Anders als früher. Des Weiteren haben wir die Tatsache beachtet, dass der Kreis der Noah um den Grafen an Festigkeit verlor. In den vergangenen Kämpfen wurden einige von ihnen vernichtet. Wo sich der Graf auch immer aufhält, seine Verteidigung ist um einiges schwächer und ich denke, wir sollten diese vielleicht einmalige Gelegenheit nutzen, um den Kampf, der schon lange tobt, ein für allemal zu beenden. Ich denke, wir sollten uns seine Schwäche zunutze machen und eine Offensive zeigen, die er höchstwahrscheinlich nicht erwartet.“

In der Zwischenzeit war die Ruhe der Anwesenden weiterhin gewichen. Von überall her drangen Worte zu mir. Die Menge regte sich, Gesichter wandten sich einander zu und ich spähte nur kurz auf und anschließend hinter mich. Die Hand am Mund, blieb Lavis Interesse einzig und allein auf Komui gerichtet. Er rieb sich die Lippen, senkte den Kopf und vertiefte sich in eine undeutliche Kopfbewegung.

Ich wandte mich weiter, sah Crowley tief einatmen und meinen Blick unentschlossen erwidern.

Was dachten sie?

Mit jedem weiteren Wort Komuis vermutete ich mich in einer irrsinnigen Situation. Einfach an einem Ort, an dem man nichts so meinte, wie man es sagte. Und mit derselben Sprachlosigkeit kehrte ich den beiden den Rücken und suchte in der Masse nach anderen. Die Hände auf der Brust geballt, saß auch Linali dort und ihr Gesicht war eines der vielen, dem ich nicht viel entnehmen konnte.

Es schien sie zu bewegen. Natürlich, uns alle bewegte es. Nur vermutlich in verschiedene Richtungen und als sich Miranda aufgewühlt durch den Schopf fuhr, starrte ich auf den Boden zurück.

Die letzte Begegnung mit dem Grafen hatte in keinem von uns angenehme Erinnerungen hinterlassen und in dem Meer der Aufregung schüttelte ich den Kopf.

„Sie wollen es ein für allemal beenden?“, meldete sich ein Wissenschaftler auf der benachbarten Bank zu Wort. „Denken Sie, es wird gelingen?“

„Was wäre das nur?“, wurde auf einer anderen geächzt.

Ja, was wäre das?

Gar kein übler Gedanke, den schwarzen und bedrohlichen Schatten loszuwerden. Zu verlockend.

Wäre da nur ein Quäntchen Zuversicht, ein kleiner Teil an Freude in meinem dumpfen Meer aus Skepsis und Unglauben.

Schwarz. Für mich war es das. Alles was in diese Richtung führte.

Schaden hatte es gegeben. Mehr als wir vertrugen und bis heute waren wir nicht vollends dem alten Rhythmus verfallen. Nicht den alten Ansichten, bevor all das geschah.

„Ich bin zuversichtlich“, stand Komui hinter seinen Worten. Seine Stimme machte auf mich den Eindruck, als täten ihm die hoffnungsvollen Reaktionen gut, als würde er sich durch sie notwendig bestätigt sehen. „Bisher war es der Graf, der uns zu sich lockte und uns auflauerte. Diesmal übernehmen wir diese Rolle.“

Er hob die Mappe und als meine Pupillen zur Seite drifteten, traf mich die Hoffnung in den Augen dieser Menschen annähernd schmerzhaft.

„Wir“, fuhr Komui nach einem tiefen Durchatmen fort, „werden nach dem Grafen suchen!“

Permanent erhoben sich diese Stimmen. Es war aufwühlend und langsam hob ich die Hand und rieb mir die Stirn.

„Wann?“, wollte einer der Zuhörer wissen.

Das Meer der Laute, der Stimmen und Gefühle umfing mich dumpf, ließ mich fast versinken im Morast meiner Zweifel. Letztendlich ging es doch um uns, die Exorzisten.

Von uns sprach man, wenn man das ‚wir’ erwähnte.

Wie dachten die anderen darüber?

War ich der Einzige, der in diesem Vorhaben keine Hoffnung sah, sondern einzig und allein ein unverantwortliches, unkalkulierbares Risiko?

Spätestens jetzt wirkte Komui um einiges entspannter.

„So früh wie möglich. Natürlich werden wir umfassende Planungen vornehmen, um dann…“

„Wie hast du dir das vorgestellt?“ Eindringlich durchschnitt eine Stimme die Masse aus Worten, ließ Komui verstummen und mich die Hand senken. Ich öffnete die Augen und vernahm diesen abklingenden Fetzen der ersten Euphorie. Durchschnitten von diesen wenigen, nachdrücklichen Worten, verstummten viele und ich folgte dem Laut der Stimme und spähte durch die Reihen der Anwesenden, die sich regten. Köpfe wandten sich, Körper lehnten sich zurück und durch die Reihe der Bewegung fiel mein Blick auf Kanda.

Ja, wie stellte sich Komui all das vor?

Es waren berechtigte Worte, die mich vor allem durch ihren Unterton interessierten.

Kanda stellte keine Frage, er formulierte scharfe Kritik.

Es kam zu einer Stille, die zu lange andauerte und Momente, die er nutzte, ohne dass ich ein Zögern wahrnahm.

„Du willst, dass die nächste Herausforderung von uns kommt? Wir sind nur noch acht.“ Kandas Stimme erhob sich mit Nachdruck und von Komui sah ich zurück zu ihm und erkannte die Verbitterung in seinem Gesicht. „Die Neulinge sind für so etwas noch nicht bereit. Die loszuschicken wäre dasselbe, wie Lämmer zur Schlachtbank zu führen. Hast du das vor? Das ist genauso schlimm, wie acht Leute zu einem unsicheren Ziel aufbrechen zu lassen. Seit wann stützt du dich so auf Pläne, die nur aus vagen Vermutungen aufgebaut sind?“

„Kanda, etwas anderes bleibt uns nicht.“ Mit deutlich aufgezwungener Ruhe versuchte Komui es zu erklären. Mit einer solchen Reaktion rechnete er offenbar nicht. „Unsere Arbeit basiert häufig auf Vermutungen.“

„Bei den bisherigen Vermutungen gab es nicht so viel zu verlieren“, folgte sofort und strikt die Antwort, die weiterhin an Komuis Konzept kratzte.

Und es geschah ein weiteres Mal.

Kanda sagte, was ich dachte und tat es soviel schneller.

„Deine Entscheidung ist zu einseitig“, protestierte er. „Du gehst einfach von einem Erfolg aus und vergisst die völlige Niederlage, wenn es schiefgeht. Wer verteidigt euch, wenn es uns nicht mehr gibt?“

„Ich bin nicht festgewachsen auf den Erfolgserwartungen“, antwortete Komui, doch machte in meinen Augen längst den Eindruck, sich viel eher zu verteidigen. Er hob die Mappe, während um ihn herum geflüstert wurde. „Ich orientiere mich an unseren Möglichkeiten. Er ist in letzter Zeit so tatenlos, dass man davon ausgehen muss, dass er Gefechten aus dem Weg gehen will. Aus welchem Grund auch immer. Wir können einen Vorteil daraus ziehen.“

„Das ist nur das, worauf du hoffst“, wurde gnadenlos widersprochen.

„Komui“, ergriff ich beinahe unwillkürlich das Wort sofort wandte er sich mir zu. „Wie groß ist neben der Aussicht auf Erfolg die Möglichkeit, dass es sich um eine Falle handelt?“

„Glaubst du wirklich, dass er in der letzten Zeit untätig war?“, ertönte es abermals kritisch von der anderen Seite des Saales. „Wir waren es auch nicht.“

„Der Graf nimmt sich viel Zeit für die Entwicklung neuer Waffen“, fuhr ich fort. „So wie er jeden Tag unzählige und verzweifelte Seelen zu sich lockt. Solange es den Tod gibt, gibt es seine Armeen und warum sollte er sich die Umstände machen, nach uns zu suchen, wenn er ebenso darauf warten kann, dass wir zu ihm kommen?“

Ein Zucken durchfuhr Komuis Miene. Lautlos öffnete sich sein Mund und kurz wirkte er, als würden Kanda und ich von Dingen sprechen, die bisher zu wenig Beachtung fanden. Aus welchen Gründen auch immer. Aber es war unser aller Problem, wenn er diese Scheuklappen trug.

„Wir würden ihm die einmalige Möglichkeit bieten, uns alle auf einmal auszumerzen.“ Kaum war ich verstummt, da meldete sich Kanda wieder zu Wort. „Das einzige, was wir damit erreichen, ist, ihm einen Gefallen zu tun und ihm die Zeit zu ersparen, einzeln nach uns zu suchen! Das sollen all die Jahre des Kampfes jetzt wert gewesen sein?“

Er sagte es. Vermutlich hätte ich all das Gewirr in mir nicht besser formulieren können.

Ich nahm Regungen in meinem Rücken wahr, hörte die Worte der Irritierten deutlich und ließ sie vorbeidriften. Viele waren aufgebracht, ebenso viele schweigsam durch diesen Umschwung. Der Sturz von der Hoffnung, die man ihnen hier predigte, hinab zur Realität, war tief und schmerzhaft.

Von Komuis anfänglicher Ruhe war nicht vielmehr geblieben, als der gescheiterte Gesichtsausdruck, zu dem er sich zwang. Er rang mit sich, führte einen Kampf, der vermutlich ebenso grundschlecht ausfiel, wie der, zu dem er uns zu schicken gedachte. Es war eine Sackgasse und inmitten des aufkeimenden Chaos ließ Kanda Komui nicht erneut die Möglichkeit, sich zu verteidigen.

„Und Linali willst du auch schicken? So wie sie jetzt ist?“ Abrupt und unerwartet nahm er einen festen Bezug und eine allgemeine Bewegung erfasste die Menge, als sich viele Augen auf die junge Frau richteten. Sichtlich erschrocken richtete sie sich auf und starrte von Komui zu Kanda, der knapp in ihre Richtung wies.

„Dann gehen wir doch gleich davon aus, dass wir zu siebt sind und während des Kampfes zu sechst, weil einer sie beschützen muss, wenn ihre Kräfte nachlassen!“

„Ich kann kämpfen!“ Verzweifelt fuhr Linali zu ihrem Bruder herum und gleichzeitig in die Höhe.

„Das solltest du aber nicht.“

Sofort spähte sie zu mir und besonnen erwiderte ich ihren verzagten Blick.

Auch Komuis Aufmerksamkeit lastete dabei auf mir.

„Kanda hat Recht. Du bist noch nicht in der Verfassung für so einen Kampf.“

Fast spürte ich auch ihn - Lavis Blick, der Linalis ähnlich sein musste. Ich fühlte Unglauben und Bestürzung und wandte mich an Komui. Dessen Lippen waren seit geraumer Zeit aufeinander gepresst. Auch jetzt sah er mich nur schweigend an.

Wenn er den Zustand Linalis nicht hatte sehen wollen oder sich von ihrer Entschlossenheit hatte blenden lassen, spätestens jetzt war er zu sich gekommen.

Dem Räuspern, das sich hinter mir erhob, schenkte ich keine Beachtung.

„Vor allem für sie ist das Risiko zu groß“, sagte ich stattdessen. „Und in der Zahl, in der wir sind, können wir überhaupt nichts ausrichten.“

„Ist das ein Befehl von oben?“ Beinahe unterbrach mich die barsche Stimme Kandas und in einer allgemeinen Regung lenkte sich die Aufmerksamkeit zurück auf ihn. Auch Komui kehrte mir den Rücken und fand sich ein weiteres Mal in dieser eisernen Taxierung wieder.

Ja, natürlich. Es war eine der wichtigsten Fragen, die gestellt werden konnten. Letztendlich bildete sie die Grundlage, denn unter diesen Umständen wäre unsere Kritik bedeutungslos.

In bestimmten Situationen hatten wir uns zu fügen und würde Komui jetzt mit einem Nicken antworten, wären uns die Hände gebunden.

„Komui!“ Kanda dauerte es zu lange.

„Nein.“ Matt ließ Komui die Schultern sinken und schüttelte den Kopf. Gleichsam wie Kandas Hand geräuschvoll auf den Tisch niederging und sich der junge Mann von der Bank erhob.

„Ich fasse es nicht.“ Nur gedämpft drangen seine Worte zu mir, als er sich als einziger in der sitzenden Masse bewegte, sich von der Besprechung zurückzog. „Und dafür bin ich zurückgekommen. Eine sinnlose Kamikaze-Aktion. Ein erbärmlicher Märtyrertod!“

Er ging tatsächlich und ich war unter jenen, die ihm nachsahen. Komui hielt ihn nicht auf, entschied sich für den Boden, als sich die Tür schloss und sich die Masse der Zuhörer um einen verringert hatte.

Es war ihm zuwider. Ich begriff es und nutzte die folgende Stille, um mir Gedanken zu machen.

Jeder wusste, wie bedacht Kanda auf seine Arbeit war und wie strikt, wenn er einer Mission gegenüberstand.

Ein Märtyrertod.

Resigniert drifteten meine Augen zur Seite.

Die wahre Bitterkeit des Sterbens lag in der Bedeutungslosigkeit.

Ich vernahm Komuis Ächzen. Er rieb sich die Stirn, zog sich die Brille von der Nase und lehnte sich an die Kante des nahen Tisches. So hielt die Stille an und auch durch Rivers Räuspern änderte sich nicht viel. Der Wissenschaftler kratzte sich im Schopf und unter einem tiefen Durchatmen richtete ich mich auf.

„Komui“, hob ich so erneut an und fand zu einem matten Lächeln. „Das Vorhaben verstehe ich nicht aber bei deinen Beweggründen sieht es anders aus. Wir wünschen uns alle das Ende dieses Krieges aber auf Biegen und Brechen schaffen wir es nicht. Wir sind immer bereit, in den Kampf zu ziehen.“ So hob ich die Hand und maßte mir an, für all meine Kameraden zu sprechen. „Wir versuchen auch in der schlimmsten Lage optimistisch zu sein aber wenn es in Selbstbelügung endet, gehen wir unter. Wir kämpfen, wenn es auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg gibt. Aber hier sehe ich keine.“

Eine undeutliche Regung ging durch Komuis Gesicht, bevor er sich an die Mappe klammerte.

„Allen hat Recht.“ Es war Crowley, der sich plötzlich zu Wort meldete. Ich hörte ihn in meinem Rücken seufzen. „Wir haben in letzter Zeit so viele verloren.“

„Mm“, brummte Lavi.

„Es ist, wie Kanda sagte“, fuhr ich fort. „Wenn wir sterben, ist das Hauptquartier ungeschützt. Eine wirkliche Defensive wird es von euch aus nicht mehr geben.“

Zermartert zog es Komuis Leib zur Seite und unter einem resignierenden Kopfschütteln rieb er sich das Gesicht.

Die Realität war schmerzhaft aber der einzige Ort, an den wir gehörten.

Unsere Existenz war einfach von diesem logischen Denken abhängig. Sie war von Komui abhängig und letztendlich hatte er die schweren Entscheidungen zu treffen.

Was hatte ihn binnen der letzten Tage und während der Vorbesprechungen nur gelenkt?

„Gut.“ Letztendlich straffte er seine Haltung und wirkte dennoch nicht, als hätte er jedes Fragment seiner Fassung wieder. „Ich denke, mehr muss an diesem Punkt nicht gesagt werden. Eure Worte habe ich zur Kenntnis genommen und ich werde sie berücksichtigen, was die weitere Planung anbelangt.“

Ein knapper Blick zu River, dann setzte er sich in Bewegung. All das weiterzuführen, schien ihm ab diesem Punkt unmöglich zu sein und ich verstand nur zu gut, dass er jetzt seine Zeit brauchte, um die alten Überlegungen zu überholen. Ihm sah ich nicht nach, als er an mir vorbeizog, starrte noch auf den Punkt, an welchem er gestanden hatte.

Nach seinen Worten erhob sich um mich herum eine Lautstärke, die kaum zu mir drang. Noch bevor Komui die Tür erreicht hatte, erhoben sich die Stimmen in einem wilden Inferno. Aus allen Richtungen drifteten die Meinungen, ebenso in völlig unterschiedliche und ich handelte automatisch und erhob mich von der Bank.

Es war viel gewesen. Fast zu viel für den Augenblick.

Ich rieb mir die Mundwinkel, rieb mir das Kinn und schob mich hinaus in den kühlen Gang.

War es wirklich an der Zeit, solche Entscheidungen zu treffen?

„Allen!“ Abrupt erhob sich die bekannte Stimme neben mir und ich blickte nur kurz auf, als sich Lavi neben mir einfand. Er keuchte, rückte an seinem Stirnband und teilte meine nächsten Schritte vorerst stumm. „Wow“, ächzte er dann. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“

Ich spürte eine Verspannung im Nacken und begann ihn zu reiben.

„Es wäre wirklich gut, wenn Komui das Ganze noch einmal durchdenkt. Es passt alles nicht zusammen, findest du nicht auch? Es ist lange her, dass wir den normalen Alltag erlebten.“ Lavi zischte auf. „Das passt einfach nicht. Nicht jetzt.“

„Mm“, stimmte ich zu.

Wieder wurde neben mir geächzt und nicht viel später trafen unsere Schultern aufeinander. Er streifte mich verhalten.

„Was Linali angeht.“ Er kratzte sich im Schopf. „Da hattet ihr irgendwie doch Recht.“

Ach, war das so?

Hatte er so viel Angst, in ihrer Gegenwart etwas scheinbar Falsches zu sagen?

Er schnalzte mit der Zunge und damit schien das Thema auch schon abgehakt.

Leise hallten unsere Schritte in dem Gang wider. In unseren Rücken erhoben sich noch immer vereinzelte Stimmen und für die nächsten Momente waren es die einzigen Laute, die uns begleiteten.

Ich erkannte das Treppenhaus, da erhob sich neben mir abrupt ein Lachen.

„Aber jetzt mal ehrlich.“ Lavis Ellbogen traf meine Seite. „Komuis Plan ist grotesk aber deine Wahl an Alliierten ist nicht viel besser.“

„Was für ein Alliierter?“ Ich verzog das Gesicht, löste die Hände aus dem Nacken und versenkte sie in den Hosentaschen. Lavi kam von seinem Grinsen nicht los, während ich mir dabei nicht viel dachte.

War es so erschreckend, dass man dieselbe Meinung teilte, wenn es um so etwas ging?

Es hatte doch nichts mit uns zu tun. Es gab keine anderen Beweggründe als unsere Meinungen.

Für Lavi schien die Sache nicht so simpel.

„Welch Brüderlichkeit und Eintracht“, grinste er und so erreichten wir das Treppenhaus. „Ihr wart eine Einheit. Dieselbe Meinung zu vertreten, ist von gewaltiger Bedeutung, wenn Yu Teil der Gleichung ist.“

Er lachte und ich runzelte nur die Stirn. Die Reaktion bemerkte er und wieder wurde ich angerempelt.

„Fühl dich geehrt, Allen. Das muss ihn eine immense Überwindung gekostet haben.“

Meine Schritte verlangsamten sich und dann erfassten meine Augen diesen Punkt, ließen mich stehenbleiben und an Lavi wenden.

„Eine gewaltige Bedeutung, ja?“

Kaum hatte er genickt, bekam ich seinen Ärmel zu fassen und lenkte seine Aufmerksamkeit zur Seite. „Dann pass mal auf.“ Locker hob ich den Arm. „Kanda!“

Aus seinem Zimmer war er gekommen und sah dabei nicht aus, als hätte sich sein Gemüt eine Besserung erfahren. Wieder hielt er nur unwillig inne und unter einem überschwänglichen Grinsen hob ich den Daumen und präsentierte ihn mit all meinem Stolz.

„Danke für die gute Zusammenarbeit!“

„Wovon redest du?“

Eine andere Antwort hätte mich verwundert und seiner Mimik nach zu urteilen, wusste er es tatsächlich nicht. Sich zu verstellen überließ er anderen wie mir.

Neben mir windete sich Lavi in seiner schmählichen Niederlage.

„Bei der Besprechung!“, rief ich. „Wir waren doch eine Einheit!“

Spätestens jetzt machte Kandas Gesicht die fehlende Geduld deutlich. Er schien zu grübeln aber es vergingen kaum zwei Sekunden, da wandte er sich ab.

„Verschwende nicht meine Zeit.“

Kaum hatte er den nächsten Gang erreicht, da stemmte ich die Hände in die Hüften und labte mich an dieser Bestätigung. Es gab Dinge, die liefen niemals nach Plan aber diesmal war ich mir sicher gewesen, dass alles genauso passierte, wie ich es erwartete. Das Ziel war erreicht und neben mir rieb sich Lavi die Nase.

In vielen Dingen verstand ich Kanda nicht. Ich stieg nicht hinter die Verhaltensweisen, die er uns täglich servierte und sah auch oft keinen Grund, es zu versuchen. Aber in Situationen wie diesen konnte ich völlig mit seiner Mitarbeit rechnen. Was gewisse Dinge anbelangte, war er angenehm unkompliziert.
 

-tbc-

3

Nach dieser einseitigen Blamage trennten sich unsere Wege. Während Lavi sich auf die Suche nach Bookman machte, lag mein Ziel in der Nähe und ein Seufzen entrann mir, als ich die Tür meines Zimmers hinter mir schloss. Mein Kopf sehnte sich nach einer Pause und so blickte ich mich nur um.

Dass ich selten hier war, bemerkte ich in dem Moment zum erneuten Mal.

Ich saugte an meinen Zähnen, wippte auf den Fußballen und spähte zum Schrank.

Er stand um ein Stück offen. Das lag an dem Hosenbein, das in der Tür klemmte und auch einen verlorenen Strumpf erkannte ich unter dem Bett. Es war irgendwie ernüchternd.

Die zerknitterte Bettdecke, das zu Boden gerutschte Kopfkissen. Auch die Kleider auf dem Stuhl hatten sich nicht lange gehalten. Ich stand vor einem Chaos, spähte zum Bild, das über meinem Bett prangte und begann kurz darauf zu schlendern. Vorbei an dem Schrank, vorbei an dem Stuhl und haltlos ließ ich mich dann neben das Bett sinken und fand in der Matratze eine angenehme Kopfstütze.

Ich rutschte tiefer, bettete mich bequem und streckte die Beine von mir. So starrte ich eine Weile vor mich hin und runzelte irgendwann die Stirn. Jetzt, wo ich Ruhe genoss, fiel es mir auf.

„Tim?“

Nachdenklich lauschte ich der darauffolgenden Stille.

Er war weg aber er tauchte schon wieder auf und so rückte ich mich zurecht und schloss die Augen.

Nur das leise Ticken der Uhr und die entfernten Geräusche draußen im Treppenhaus drangen zu mir. Diese Türen ließen nicht mehr durch, als man vertrug und mit geschlossenen Augen blieb ich liegen.

Ich stellte mir die Frage, was Komui zu diesem Zeitpunkt tat. Dass nicht nur ich nachdenklich sein dürfte, war nur natürlich aber im Moment wünschte ich mir, die Zeit vorspulen zu können bis hin zu dem Moment, an dem er uns die endgültige Entscheidung mitteilte und zeigte, ob er sich durch unsere Worte umstimmen ließ.

Eigentlich war es so offensichtlich.

Hier geschahen überall abnorme Dinge und nach geraumer Zeit kam ich unweigerlich auch zu diesem anderen Punkt. Er suchte mich einfach heim und grüblerisch spähte ich zur gegenüberliegenden Wand und bewegte die Füße.

Lavi redete ziemlich viel über Dinge, bei denen es genügte, nur so zu tun, als würde man zuhören.

Aber was er diesmal losgeworden war, beschäftigte mich nun doch.

Zugegeben, es geschah nicht oft, dass ich Kandas Meinung teilte.

Ich konnte nur von mir sprechen, denn verbale Zustimmung schien ihm nicht so zu liegen. Im Gegensatz zu seinem Verhalten war das, was dahinter lag, weder zu erdenken noch zu begreifen. Letztendlich blieben seine Entscheidungen oder die Art, wie er sie artikulierte, immer fragwürdig.

Vielleicht nicht akzeptabel, obwohl sich ein guter Wille und striktes, logisches Denken dahinter versteckten. Nicht so wie dieses Mal.

Wie nachvollziehbar war jedes Wort gewesen. Wie augenblicklich hätte ich zu jedem seiner Zweifel genickt. Wie hatte ich hinter ihm gestanden und wie sehr hatten wir letztlich zusammengearbeitet.

Es war irgendwie seltsam - dieses Wissen, dass sich seine Gedankengänge in diesen Momenten um keinen Deut von meinen unterschieden.

Eigentlich war es natürlich, dass wir stets in entgegengesetzte Richtungen spähten, dass wir der gegenteiligen Meinung waren oder die andere zumindest nicht vollständig teilten. Das war unsere Normalität. Das, woran wir uns gewöhnt hatten.

Ich bewegte mich in komischen Gefilden und mit zweifelloser Sicherheit war ich damit der Einzige.

Er hatte den Anschein gemacht, in Eile zu sein. Als hätte er bereits ein neues Ziel, in das er sich vertiefte. Auf seine strikte, zielstrebige und trockene Art, die ihm nicht erlaubte, gedanklich abzuschweifen.

Ein knappes Grinsen zog an meinem Mundwinkel.

Er hatte wirklich nicht gewusst, wovon ich sprach.

In gewisser Weise überraschte er mich nicht mehr. Nur heute gelang es ihm.

Vermutlich war ich es einfach nicht gewohnt, normal mit ihm zu sprechen. Wir foppten uns, wir stichelten und zumindest ich hatte dabei immer Spaß. Ich war seinen Zynismus gewohnt. Auch sein ablehnendes Verhalten, mit dem er mir gegenübertrat, mich verhöhnte und zur rechten Zeit doch ernst nahm.

Eine seltsame und außergewöhnliche Situation hatte uns heute zu einer neuen Ebene der Unterhaltung geführt. Dass ich ihn nicht nur während eines Kampfes auf meiner Seite hatte, sondern dass wir auch im Alltag dazu imstande waren, an einem Strang zu ziehen, war verblüffend und in diese Einsicht vertieft, juckte ich mir das Kinn.

Und nahm man zu dieser Kreation noch die Zutat des morgendlichen Vorfalles, bei dem ich seine Meinung bereits teilte, entstand da ein Gericht, das selbst ich nicht ohne weiteres runter bekam.

Ich juckte mich weiter und lugte zur Uhr.

Dieses Gebiet war mir zu ominös. Mich weiter vorzuwagen würde mir nichts bringen als endlose Irritation, in der ich letztendlich feststeckte.

Über Kanda zu sinnieren war lächerlich, denn im Grunde kannte ich ihn überhaupt nicht.

Ich kannte sein Verhalten in diesem Gebäude, auch das auf dem Schlachtfeld und mir gegenüber.

Was er gerne aß, das wusste ich auch, also am Ende so gut wie gar nichts.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto fremder wurde mir dieser Mensch und so entschied ich mich dazu, es bleiben zu lassen und mich von dieser endlosen Irritation fernzuhalten.

Nachdem ich weitere Minuten nur taten- und gedankenlos dort gelegen hatte, rappelte ich mich auf und stattete Jerry einen Besuch ab.

Durch den Hintereingang schlich ich mich in das Getümmel der Köche und der Dämpfe, die aus den köchelnden Töpfen drangen. Der normale Betrieb schien wieder aufgenommen worden zu sein. Es war der Alltag, der mir begegnete. Nichts zeugte mehr von dramatischen Besprechungen. Das Essen wurde bestellt und zubereitet und hatte ich eigentlich kurz den Willen gehabt, jemandem unter die Arme zu greifen, hatte ich plötzlich nur noch Appetit und keine Ambitionen, körperliche Arbeit zu leisten.

Vorerst beließ ich es dabei, an der Tür zu stehen und die Schufterei anderer zu verfolgen.

Hin und wieder sah ich auch Jerry in der Menge. Er war hektisch, hatte viel zu tun und so schlich ich mich zur Seite und in den hinteren Teil der Küche. Umgeben von Töpfen und Geschirr ging ich meiner Wege und wurde erst aufmerksam, als ich die Vorrats- und Zutatenregale erreichte.

Da gab es so einiges. Gewürze, Kräuter, und dann blieb ich stehen.

Den Hinterkopf in den Nacken gelegt, hatte ich dort oben etwas gesichtet und ohne zu zögern streckte ich mich hinauf. Mein Bauch schien förmlich zu reagieren bei diesem Anblick und konzentriert erwischte ich die Dose, zog sie aus dem Fach und machte mich sofort am Deckel zu schaffen. Versteckt und verborgen im hinteren Winkel des großen Raumes hob ich die Dose zur Nase und nahm einen tiefen Atemzug.

Das war es - das Ende meiner Suche und sofort machte ich mich ans Werk.

Dass Jerry gerade Besseres zu tun hatte, war nicht zu übersehen und so beließ ich es bei der Anfrage, ob ich mich hier in seinem Territorium bedienen durfte. Die gerührte Zustimmung schrie er mir durch den halben Raum zu und es verging keine lange Zeit, da trat ich in einen anderen Vorratsraum. Ein hölzerner Kasten mit Milchflaschen stellte mein Ziel dar und konzentriert klemmte ich mir drei von ihnen unter den Arm.

Sicher durch das Gedränge zu kommen war schwer aber irgendwann erreichte ich eine abgelegene Arbeitsfläche und richtete mich dort ein.

Es war genau das Richtige. Bei gewissen Sachen konnte man einfach abschalten und so begann ich den Kakao in ein großes Glas zu löffeln. Vier Löffel, fünf, sechs und erst als es halbvoll war, zog ich auch eine der Milchflaschen zu mir. Der Radau der Küche erreichte mich nicht mehr, als ich zu rühren begann und erst als sich eine bekannte Stimme in der Nähe erhob, löste ich mich von dem Glas. Überrascht blickte ich auf und versenkte den Löffel im Mund.
 

„Ist das lecker.“ Vergnügt nippte Linali an ihrem Kakao und bewegte die Beine in der Luft.

Die Ablage war bequem und friedlich saßen wir nebeneinander und taten in den ersten Momenten nicht viel mehr, als zu schlürfen und unserem Genuss nachzuhängen.

„Dazu kommt man viel zu selten.“

Sie lächelte immerzu, bekam das Glas kaum von den Lippen und zustimmend nickte ich, bevor ich die Dose zu mir zog und dem kümmerlichen Rest in meinem Glas noch etwas von dem Pulver beifügte. Vertieft löffelte und rührte ich und neben mir wurde geseufzt.

„Du hast auch etwas Abstand gebraucht, nicht wahr?“ Ich spürte, wie sie mich in Augenschein nahm.

„Und du?“ Beiläufig schob ich die Dose von mir, schwenkte die dickflüssige Masse im Glas und hob es zurück zum Mund. Linali bettete ihr Glas auf dem Schoß, blickte leicht betrübt zu Boden. Ich nahm ich sie in Augenschein, bewegte die Milch im Mund und suchte nach den Kakaoklumpen.

„Mein Bruder hatte es in letzter Zeit schwer“, hob sie an. „Er hat viel nachgedacht. Ich vermute, dass man ihn auf irgendeine Weise unter Druck gesetzt hat. Er hat kaum geschlafen.“ Wieder ein Seufzen, bevor sie mir ein brüchiges Lächeln offenbarte. „Bitte nimm es ihm nicht übel, ja? Es war bestimmt keine leichte Entscheidung für ihn.“

Natürlich. Er traf die Härtesten von uns allen aber es gab auch andere Gründe, die mich davon fernhielten, schlecht von ihm zu denken.

„Ich bin nicht wütend.“

„Danke.“ Etwas entspannter nahm sie einen weiteren Schluck und kreuzte die Beine. „Ich war auch überrascht aber mein Bruder wird die richtige Entscheidung treffen. Kanda und du haben ihm den Anstoß dazu gegeben.“

Konnte ich davon ausgehen, dass ihre Meinung sich nicht allzu sehr von unserer unterschied?

Vermutlich fiel es ihr schwer, die Stimme zu erheben, wenn es sich um diesen Gegenpart handelte.

Ich beließ es bei einem Nicken, setzte das Glas an die Lippen und leerte es.

„Aber schön wäre es schon.“ Beinahe lautlos erhob sich dieses Flüstern neben mir. „Stell dir das doch mal vor, Allen. Wenn das alles vorbei wäre.“

Kurz hielt ich in der Bewegung inne.

Nach der Milch hatte ich gegriffen und meine Augen drifteten versteckt zur Seite, bevor ich die Flasche zu mir zog.

Ja, was wäre wenn.

Schweigend schraubte ich und hielt das Glas zwischen den Beinen.

Wenn dieser Kampf endete. Wenn die Existenz der Akuma starb und jede Gefahr, die uns auf unseren Wegen begleitete. Wenn dieser mächtige Widersacher nicht mehr präsent wäre. So unvorstellbar der Sieg auch war, auch meine Gedanken und Vorstellungen konnten weit driften und schnell gelangte ich an den Punkt, an welchem all das für mich real wurde. Ungestörte Totenruhe.

Viele Sorgen wäre man los und ich stellte mir die Frage, in welche Richtung unsere Arbeit von diesem Punkt aus ginge. Die Milch gluckerte in das Glas und abwesend hob ich die Flasche und setzte den Deckel auf ihren Hals. Was wäre, wenn dieser entscheidende Krieg wirklich sein Ende fand. Ich spürte die flüchtige Regung meines Gesichtes.

Sobald wir die Präsenz des Grafen verloren, würde auch ich etwas Wesentliches verlieren.

Ich senkte den Kopf und vergrub den Löffel im Kakaopulver.

„Allen?“

„Mm?“ Sofort blickte ich auf und las ein seltsames Flehen in ihren Augen. „Ich weiß, dass es möglicherweise noch zu früh für Training ist.“ Schuldbewusst umklammerte sie ihr Glas und unter einem schwermütigen Seufzen sank sie plötzlich in sich zusammen. „Es ist genauso, wie Kanda es sagte. Ich darf niemandem eine Last sein. Und deshalb“, ihre Stimme senkte sich beschämt, „hielt ich es für das Beste, so hart an mir zu arbeiten.“

„Linali.“ Anteilnehmend lehnte ich mich zu ihr und sah sie den Kopf schütteln.

„Ich will nicht, dass ihr euch Sorgen macht.“

Gerührt nahm ich sie in Augenschein.

Nun, es lag nur an ihr, dafür zu sorgen, dass wir es nicht brauchten.

All das war nicht von uns abhängig. Wir taten es so oder so, wenn sie uns Grund dazu gab.

„Mach dir keine Sorgen.“ Aufbauend lächelte ich ihr zu. „Wenn du dir Zeit lässt, wird so etwas nicht passieren. Ich finde deine Entschlossenheit beeindruckend, also wirst du es schaffen.“

„Ja?“ Erleichtert richtete sie sich auf.

Es tat ihr gut und sofort nickte ich, setzte mich zurück und blieb doch nahe bei ihr.

„Und ich denke auch, dass Komui eine Entscheidung treffen wird, die uns allen mehr Zeit gibt. Also auch dir, um auf die Beine zu kommen. Aber wenn du es überstürzt, tust du dir keinen Gefallen.“

Und für uns blieben ein weiteres Mal nur die Sorgen.

Ihr folgendes Nicken wirkte weitaus nachdrücklicher und so nippte sie wieder an ihrem Kakao und offenbarte ein festeres Lächeln.

„Danke. Das hat mir wirklich geholfen.“ Ihre Miene verhärtete sich entschlossen, als sie die Faust hob. „Ich werde keine Last für euch sein und den Rückstand ganz schnell wieder aufholen!“

„Nur nicht übertreiben“, lachte ich und löffelte weiter, bis sich das Pulver auf der Milch häufte und ich es mit dem Löffel zu bändigen versuchte.

So verlor die Atmosphäre an Spannung. Es wurde leichter um uns herum und die Tatsache, dass sie wieder aufgerichtet neben mir saß, bereitete mir eine nicht zu unterschätzende Erleichterung.

„Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, Kanda dasselbe zu sagen.“ Neben mir kratzte sie vertieft am Rand ihres Glases. „Dass er sich keine Sorgen zu machen braucht.“

„Hol es doch nach“, nuschelte ich in all das Pulver vertieft.

„Später. Er ist schon wieder aufgebrochen.“

Deshalb seine Eile.

Gemächlich rührte ich weiter.

„Ich hätte es aber auch schon eher tun können.“ Jetzt begann sie laut zu denken. Ihre Stimme nahm einen absenten Ausdruck an und endlich konnte ich es mir wieder schmecken lassen. „Eigentlich hat er immer Recht.“

Ich lugte zu ihr, spürte einen großen Klumpen auf der Zunge und ließ ihn platzen. Trocken verteilte sich der Kakao in meinem Mund und so war ich in den nächsten Momenten nur mit Schmatzen beschäftigt.

Dass Kanda zu Linali eine andere Bindung hatte als zu mir, war nur zu verständlich.

Wie gesagt, sein böser Wille war schon immer an ihr vorbeigedriftet. Etwas anderes hatte ich nie mitbekommen und konzentriert begann ich mit der Zunge an meinen Zähnen zu puhlen.

Alles klebte.

„Er hat ein Auge auf mich, seit wir klein waren.“ Es klang melancholisch aber als ich mich überzeugte, sah ich sie lächeln.

Es fiel mir nicht schwer, mich als ‚unerfahren’ zu bezeichnen, sobald ich mich mit ihm verglich. Während meine Hände ausschließlich mit Karten und Dreck in Berührung gekommen waren, hatte an seinen schon das Blut des Feindes gehaftet. Er und Linali waren unter den ersten gewesen. Es brauchte mich also nicht zu wundern, dass ich Kandas Entschlüsse und Verhaltensweisen nicht immer nachvollziehen konnte.

Er hatte schon mehr gesehen, als ich. Schwer vorstellbar.

„Es war noch nie ein Fehler, auf das zu hören, was er mir rät.“ Ihre Hände begannen das Glas zu drehen. „Er meint es ja immer gut mit mir und macht sich auch nur Sorgen.“

„Mm.“ Gedankenlos entwich mir dieses Brummen.

Ich könnte selbst nicht sagen, was es zu bedeuten hatte. Ob ich zustimmte oder nur einen Laut von mir geben wollte. Ich wusste nur, dass ich eine gewisse Verblüffung spürte. Über Dinge, die offensichtlich waren. Dass er ihr oft mit Rat zur Seite stand. Dass er es war, den sie aufsuchte, um uns nicht mit ihren Sorgen zu belasten. Anscheinend konnte er ihn tragen. Einen Teil ihrer Last.

Warum wunderte es mich, dass Kanda für sie ein offenes Ohr hatte?

Sie kannten sich lange und auch dass er im Grunde kein schlechter Mensch war, war mir nicht neu.

Ich denke, es fiel mir nur schwer, mir diese Szenerie vorzustellen. Ich kannte keinen Kanda, der Ratschläge erteilte oder sich Zeit für die Belange anderer nahm.

‚Ist nicht mein Problem’, sah ich ihn vor meinem geistigen Auge murren.

„Na ja“, Linali lachte, „ich muss gestehen, meistens dränge ich mich ihm wohl etwas auf.“

Ach. Ich schloss mich ihrem Grinsen an.

Jetzt nahm die Szenerie allmählich Gestalt an. Ab diesem Punkt konnte ich es mir bildlich vorstellen.

Sich ihm aufdrängen also. Versuchen sollte ich es trotzdem nicht. Höchstwahrscheinlich würde er mir statt einem Rat eher etwas erteilen, das Prellungen hinterließ.

„Oh.“ Plötzlich neigte sich Linali nach vorn.

Sie hatte etwas entdeckt und sofort folgte ich ihrer Beobachtung.
 

„Mm!“ Der Genuss schien Lavis ganzen Körper zu lähmen. Nach dem ersten Schluck streckte er sich, rollte mit dem Kopf und fuhr sich über den Mund. Direkt neben mir hatte er seinen Platz gefunden. Unsere Beine baumelten, unsere Gläser hoben sich fast synchron und beinahe schwappte mein Kakao über, als mich sein Ellbogen erwischte.

„Weißt du was?“, gluckste er und hielt mir sein mit Pulver verschmiertes Glas unter die Nase. „Wir sollten so etwas öfter machen.“

„Was meinst du?“, erkundigte sich Linali, während ich das Glas von mir schob.

„Gemeinsames Kakaotrinken.“

Ich löste das Glas von den Lippen. „Ja, lass uns Komui fragen und sowas in den Tagesplan integrieren.“

Neben mir brach Linali in Lachen aus und kaum hatte ich mich ihr zugewandt, fand ich mich in einer festen Umarmung wieder. Lavis Arm umschlang meinen Hals und nur notdürftig gelang es mir, den Kakao auszubalancieren, als er mich zu sich zerrte.

„Wir laden alle ein!“, verkündete er und reckte feierlich seinen Kakao in die Höhe. „Yu auch!“ Er klopfte meine Schulter. „Das übernimmt unser Allen hier.“

„Hah?!“ Entsetzt schrie ich auf. Er wollte mich wirklich loswerden.

Unentwegt erhob sich Linalis Lachen. Sie hielt sich den Bauch, als sie sich nach vorn neigte und wütend streckte ich mich Lavi entgegen.

„Warum machst du das nicht?!“

„Ich? Ich bin doch nicht verrückt! Willst du etwa, dass mir etwas passier… au!“

Deftig traf ich seine Schulter und als er sich eilig vor dem Sturz von der Arbeitsfläche bewahrte, schwappte es aus seinem Glas.

„Man, Allen! Wie kannst du nur so herzlos sein!“ Empört schüttelte er die Hände, versuchte sich von der klebrigen Flüssigkeit zu befreien und schnitt Grimassen, während ich mich wieder meinem Kakao hingab.

Ächzend rappelte sich Linali auf, zitterte unter dem Lachen, das sie nicht mehr loswurde und strich sich keuchend die Nässe aus den Augen.

„Ihr beiden“, stieß sie dann aus, schüttelte den Kopf und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
 

Die Zeit verging und bald griff ich wieder nach der Flasche und füllte mir das nächste Glas.

Meine Konzentration war die alte und nur kurz blickte ich skeptisch zu einem Punkt, bevor ich mich meiner Arbeit zuwandte und vor Lavi in Acht nahm. Ich befürchtete, er könnte mich anrempeln, wenn ich mit der Flasche hantierte. Der Erfolg wäre gewaltig aber er blieb manierlich und ein weiteres Mal spähte ich zu der Stelle, schob die Flasche zurück und tastete in meinem Rücken nach der Dose.

Auf der einen Seite schlürfte Lavi an seinem zweiten Glas, auf der anderen strich Linali das Kakaopulver vom Rand ihres Glases. Um ihre Stimmung brauchte man sich keine Sorgen mehr zu machen. Aber über etwas anderes schon. Ich runzelte die Stirn, löffelte den Kakao in die Milch und dann kapitulierte ich.

„Was hat dich eigentlich hierher verschlagen?“

„Bitte?“ Abrupt blickte Crowley auf. Seit kurzem saß er vor uns und auf einem Schemel und löffelte eine Suppe. Sicher war der Teller auf seinen Knien gebettet, während er zurückstarrte. Neben mir schlürfte es weiter.

„Ich kam zufällig vorbei“, hauchte er gerührt von diesem Beisammensein.

„Was für Zufälle.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf.

Jetzt saßen wir also hier, löffelten, schlürften und waren außerdem noch völlig untätig und nutzlos.

Wir waren die Streitmacht, von der alles abhing. In solchen Momenten wünschte ich mir, Kanda würde tatsächlich vorbeikommen. Auf sein Gesicht und die folgende Bemerkung wäre ich gespannt.

Ich grinste und genauso verträglich ging es auch weiter, bis Lavi die Beine auf die Ablage zog. Er setzte sich in den Schneidersitz und rückte sich zurecht.

„Wollen wir trainieren?“, murmelte er und stemmte sich zurück.

Nachdenklich leckte ich den Löffel ab, versenkte ihn in der Brusttasche meines Hemdes und begann zu trinken. Und als würde mein Körper die Antwort übernehmen, spürte ich meinen prallen Bauch. Sofort stellte ich mir die Frage, wie viele Gläser ich eigentlich getrunken hatte aber letztendlich wusste ich nur, dass ich von oben bis unten mit Kakao gefüllt und somit nicht nur bewusst träge sondern auch bewegungsunfähig war.

Vorerst beließ ich es bei einem Brummen und trank weiter. Es schien trotzdem verständlich gewesen zu sein, denn Linali meldete sich zu Wort. Leicht verlegen zupfte sie an einer ihrer Haarsträhnen.

„Nach dem Training heute Morgen schone ich mich jetzt lieber etwas“, meinte sie lächelnd und schickte mir einen gewitzt erwartungsvollen Blick. Lobend und den Mund noch am Glas, hob ich den Daumen und neben mir erhob sich ein Ächzen. So fielen unsere Blicke auf Crowley, doch dieser reagierte schnell. Seine Miene nahm einen Hauch von Leid an und bedauernd streckte er sein Bein, wies auf seinen Fuß.

„Ich“, hob er an, „habe mir den Knöchel verstaucht.“

„Ach man, ihr seid ja bloß faul.“ Stöhnend rieb sich Lavi den Bauch. „Was bin ich müde. Ich kann mich gar nicht mehr bewegen.“

Vermutlich war ihm diese allgemeine Ablehnung gar nicht so ungelegen gekommen.

„Walker?“ Nur undeutlich erreichte mich das weit entfernte Keuchen. Das Stöhnen und die Trägheit um mich herum hielten an, als ich mich in die Höhe reckte und durch die Regale hindurch etwas zu erkennen versuchte.

„Ich suche Walker!“, ertönte es da wieder und endlich entdeckte ich zwischen den Töpfen und anderen Utensilien den Mantel eines Finders, der sich erschöpft in die Küche lehnte.

„Hier!“ Ich streckte den Arm und verbunden mit weiterem Ächzen ließ der Finder die letzte Distanz hinter sich, trat hinter dem Regal hervor und hob die Hand. Dabei blieb es auch, denn er stemmte sich auf die Knie und rang nach Atem. Scheinbar hatte er es sehr eilig gehabt. Schulbewusst drifteten meine Pupillen zur Seite und vorbei an Lavi, der den Finder mitleidig in Augenschein nahm.

Vielleicht hatte er es sogar sehr lange sehr eilig gehabt, seit ich neuerdings ohne Golem unterwegs war.

„Ein Glück!“ Vor uns rappelte er sich wieder auf. „Komui möchte Sie sprechen.“

In den ersten Momenten tat ich nicht vielmehr als die Brauen zu heben und mich über diese Eile zu wundern. Wenn ich mich nicht irrte, lag die Besprechung nicht länger zurück als zwei Stunden.

Auch meine Zeitgenossen waren erstaunt und in den nächsten Augenblicken tauschten wir Blicke.

Nachdenklich rührte Crowley in seiner Suppe.

„Sag bloß, die Entscheidung ist getroffen.“ Lavi war es, der zuerst zur Sprache zurückfand. Neben mir schöpfte Linali tiefen Atem und kurz nahm ich die Bewegung des Finders wahr. Er kratzte sich nervös an der Kapuze.

„In dem Fall würde er uns allen Bescheid geben.“ Nachdenklich nahm ich mein Glas unter die Lupe.

„Vielleicht nur eine Mission?“, schlug Linali vor und Schulterzuckend machte ich mich daran, mich von all dem Kakao loszureißen, schob mich von der Arbeitsfläche und strich meine Hose glatt.

„Ich finde es gleich heraus.“

„Mm.“ Lavis Beine begannen zu wippen, langsam rollte er sein leeres Glas zwischen den Händen und bevor ich mich abwandte, riss er sich meines unter den Nagel. Es wurde ihm vergeben. Ich bekam keinen Schluck mehr runter und kurz hob ich die Hand, bevor ich dem Finder folgte.
 

„Tut mir leid.“ Reumütig trat ich zu ihm in den Flur. In meinem Bauch gluckerte es unaufhörlich und ich rieb ihn mir, während vor mir hastig mit den Händen gestikuliert wurde.

„Ich bitte Sie!“ Ein nervöses Lachen brach aus dem jungen Mann heraus und ohne weitere Zeit zu verschwenden setzten wir uns in Bewegung. „Sie müssen sich doch nicht entschuldigen!“

Allmählich stellte ich mir wirklich die Frage, wo Tim abgeblieben war.

Verschwinden tat er nicht oft und wenn es passierte, dann versah ich mich kaum, bevor er wieder neben mir flatterte. Nachdenklich sah ich mich um, grübelte in diesen Momenten aber schon über die nächste Begebenheit.

Die Verwunderung über Komui ließ mich nicht los. Dass er mich jetzt schon zu sich rief, ließ mich meine Schritte verschnellern und ich zögerte auch nicht, bevor ich an jede Tür klopfte, sie öffnete und in das Büro des Abteilungsleiters trat. Knitternd und raschelnd bewegte sich das Papier unter der Tür und es brauchte einen kraftvollen Ruck, um sie wieder zu schließen.

„Allen“, kaum hatte ich sie in das Schloss gedrängt, wurde nach mir gewunken.

Wenn ich mir Komui jetzt besah, wirkte er beinahe gelöst. Obwohl die Besprechung und die damit verbundene Aufregung nicht lange zurücklagen, saß er recht entspannt hinter seinem Schreibtisch. Die Beine von sich gestreckt, die Tasse erhoben, sah er mich näherkommen, blies über die dampfende Oberfläche des Kaffees und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf das Sofa.

Ich hatte ihn gemustert, nur kurz und trotzdem ließ mich dieser Anblick zuversichtlich werden. Er verschaffte mir eine gewisse Ruhe, während ich mich niederließ. Das beklemmende Gefühl schien sich gemildert und die angespannte Atmosphäre an Kraft verloren zu haben.

Komui sah nicht aus, als stünden ihm unangenehme Mitteilungen bevor.

„Mm.“ Er setzte sich keiner Hast aus, genoss den Schluck und tat es etwas schneller, als ich die Stirn runzelte. Seine Hand hob sich, wortlos bat er mich um Geduld. Dann wurde er die Tasse auf dem Schreibtisch los und schien nach etwas zu suchen. Von einer Seite spähte er zur anderen.

„Wo ist Tim?“

„Ah.“ Unentschlossen richtete ich mich auf. „Bin nicht sicher. Hat sich wohl kurz aus dem Staub gemacht.“

„Ist das so?“ Unter einem tiefen Durchatmen schüttelte Komui den Kopf. „Nun gut, finde ihn nur schnell wieder.“

Ich war damit ja auch nicht zufrieden.

Sofort nickte ich und wurde erneut in Augenschein genommen. Diesmal war es eine feste, zielstrebige Aufmerksamkeit, die ich erwartungsvoll erwiderte.

„Ich möchte noch einmal auf die Besprechung zurückkommen.“ Somit faltete er die Hände und begutachtete die Unterlagen, die sich zu all seinen Seiten stapelten. „Mit Kanda habe ich schon gesprochen und mich unter anderem für diese überstürzte Planung entschuldigt.“

Langsam neigte ich mich nach vorn. Meine Ellbogen senkten sich auf meine Knie und ich musste zugeben, dass mich diese Wendung doch überraschte.

Bedeutete es, dass Entschlüsse rückgängig gemacht wurden?

Was hatte Kanda ihm nur unter vier Augen noch alles gesagt?

„Es ist mir wichtig, dass ihr mich versteht“, fuhr Komui in diesem Moment fort. „Und dass ihr wisst, dass ich euch niemals leichtfertig auf so eine Mission geschickt hätte.“

Natürlich. Zumindest ich wusste es und Komui schien es in meinem Gesicht zu lesen, denn er begegnete meinem Schweigen mit einem langsamen, durchaus zufriedenen Nicken.

„Es war eine überstürzte Entscheidung. Vielleicht auch etwas zu selbstgerecht. Druck wird immer ausgeübt aber ich darf euch nicht benutzen, um ihn loszuwerden. Am Ende wären mir nur Vorwürfe geblieben.“ Er lächelte bedauernd. „Bestenfalls.“

Ich hatte es mir gedacht. Während er sich bemühte, viele Missionen unter ein entspanntes Licht zu stellen und uns nicht verbittert auf Erfolge zu trimmen, war die Last auf seinen Schultern nicht gering. Er als unser Vorgesetzter unterschied sich so immens von denen, die ihm vorgesetzt waren. Es entsprach meinen Vermutungen und wie gesagt, einen Gräuel hatte ich ihm gegenüber nie gehegt.

Letztlich tat er sein Handwerk gut und brachte viel Menschlichkeit in die Welt, in der wir lebten.

„Ich bin euch dankbar.“ Somit fand er zu einem glaubwürdigen Lächeln zurück und nur knapp erwiderte ich es.

Es war in Ordnung aber ich brauchte es nicht zu sagen.

„Wie geht es jetzt weiter?“ Ich ließ ihn nicht weiter in diese Richtung schweifen.

„Wie gehabt“, antwortete er. „Unsere bisherige Arbeitsweise hat uns Erfolge gebracht und so werden wir vorerst weitermachen.“

Es gefiel mir. Soviel mehr als die absurde Idee, all das zu beenden.

„Was gibt es zu tun?“

Zurück zum Alltag und zu den Fragen, die ich oft stellte.

Eine Mission kam mir gelegen. Ich war bereit aber Komui winkte ab, bat mich um Geduld.

„Zu tun gibt es genug aber diesmal nicht für dich alleine.“

Entspannt bettete ich den Ellbogen auf der Lehne, wippte mit den Füßen und schöpfte tiefen Atem.

Alles pendelte zurück auf den Weg, auf dem ich mich sicher fühlte.
 

-tbc-

4

„Lust auf Japan?“ Schmunzelnd reichte er uns die Mappen über den Tisch und während sich Crowley nach ihnen streckte, verengte ich die Augen.

Japanisches Essen war verdammt gut.

Leicht berührte eine der Mappen meine Schulter und sofort griff ich nach ihr und sah die Vorstellungen des Essens sich sofort in Luft auflösen. Ich wendete die Mappe in den Händen und öffnete sie. Mein kurzes Studieren der Schriften wurde sofort kommentiert. Auch neben mir raschelte es und nach wenigen Worten hielt ich inne und spähte auf.

„Die Wahrscheinlichkeit, ein Innocence zu finden, ist diesmal sehr hoch.“ Zuversichtlich sah Komui uns an aber in mir regte sich eine ganz andere Frage. „Die Anzeichen sprechen deutlich dafür, weshalb es wichtig ist, dass ihr sofort aufbrecht.“

„Okinawa“, murmelte Crowley, als er die Karte studierte.

Kurz lugte ich zu ihm, bevor ich die Stirn runzelte.

„Komui?“ Ich rückte mich zurecht, spürte unter mir irgendwas Hartes. „Wenn Crowley und ich nach Japan gehen, sehe ich Probleme bei der Kommunikation.“

Während Komui leise aufächzte, juckte ich mich an der Wange.

„Fast hätte ich es vergessen.“ Eine gewisse Vermutung lag nahe, als sich sein Gesicht erhellte. „Vor Ort trefft ihr euch mit Kanda. Er wird euch unterstützen. Treffpunkt ist markiert. Er ist schon unterwegs, macht nur einen kleinen Umweg und kümmert sich um eine andere Angelegenheit. Ich habe ihn schon mit der Mission vertraut gemacht und wenn er die Zeit richtig eingeschätzt hat, wird er pünktlich sein.“

Das erklärte dann wohl die Eile, die ihn nach der Besprechung zu fassen bekam. Er war wirklich sofort aufgebrochen.

Ich rümpfte die Nase, achtete nicht auf Komuis Mund, der sich immer noch und pausenlos bewegte. Crowley war aufmerksam genug für uns beide.

Eine Mission mit ihm?

Wenn ich genauer darüber nachdachte, lag es lange zurück, dass wir uns gemeinsam auf dasselbe konzentrierten und er die Atmosphäre mit seinem sonnigen Gemüt erfrischte. Ich folgte den Kanten der Mappe mit den Fingerkuppen. Es war in Ordnung.

Mit ihm auf Mission zu gehen, brachte Abwechslung sowie deutliche Fortschritte.

Halbe Sachen lagen ihm nicht und mit dieser Gemeinsamkeit ließ sich arbeiten.
 

Es waren nicht mehr viele Worten, die zwischen uns fielen, bevor wir das Büro verließen. Der Aufbruch sollte nicht lange auf sich warten lassen und so verschwendeten wir keine Zeit, betraten das Treppenhaus gemeinsam und trennten uns nur kurz, um in unseren Zimmern zu verschwinden.

Eilig öffnete ich meine Tür und erspähte schon die Einzelteile der Uniform, die immer noch im halben Zimmer verstreut waren.

Auf dem Weg zu ihnen bekam ich den Saum meines Hemdes zu fassen, streifte es mir über den Kopf und warf es in die Richtung meines Bettes. Wenn die Winteruniform noch etwas auf sich warten ließ, sollte man nicht an Kleidung sparen und ebenso flink öffnete ich den Kleiderschrank und wühlte zwischen dem Stoff. Vor allem in den letzten Momenten der Abreise waren meine Gedanken ausschließlich auf das Kommende fixiert. Andere Dinge waren nicht mehr von Belang und abrupt hielt ich inne, als sich der Stoff einer Hose in einem der untersten Fächer plötzlich zu regen begann.

Irritiert verfolgte ich das Phänomen und zog das Hemd mit mir.

Was war das denn?

Vergessen war die Hast. Auch Timcanpy war es gewesen und wie plötzlich sah ich mich mit dem goldenen Flügel konfrontiert, der sich da nach draußen wühlte.

„Hah?“ Mit großen Augen ließ ich das Hemd fallen, hockte mich vor das Regal und war dem Golem dabei behilflich, sich zu befreien. „Was…“ Ich zog eine Grimasse, war aber gleichzeitig erleichtert.

Kurz darauf umflatterte er mich schon wieder. Es musste heute Morgen und in der Eile passiert sein, in der ich nach meinem Frühstück rannte und unter einem Seufzen ließ ich den Kopf hängen. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich Johnnys Worte beherzigte und mich warm anzog. Er hätte es nicht leicht gehabt, tagelang in diesem Fach.
 

Eine lange Reise stand uns bevor.

Stunden und Tage, bis wir unser Ziel erreichen würden. Japan.

Dorthin aufzubrechen löste wohl in jedem von uns ein seltsames Gefühl aus. Erinnerungen lasteten auf diesem Land und den Weg zum Bahnhof verbrachten Crowley und ich schweigend. Jeder von uns hing seinen Gedanken nach und so vergruben wir uns in den wärmenden, schwarzen Mänteln, zogen uns die Kapuzen weit in das Gesicht und blinzelten unter dem schneidigen Wind, der uns entgegen stieß, als wolle er uns an jedem unserer Schritte hindern. Dröhnend drängte er sich unter den Stoff meiner Kapuze, ließ mich sie mit der Hand sichern und den Kopf senken.

Wieder suchte auch Tim auf meiner Schulter nach Halt.

Es war keiner der hellen Tage. Der Herbst selbst verlor die Kraft im Angesicht der uns bald bevorstehenden weißen Welt. Die letzte Dunkelheit sendete er uns und als wir den Bahnhof erreichten auch den letzten Regenschauer, bevor jede Nässe gefror. Es würde nicht mehr lange dauern und wie erleichtert waren wir, als wir die Halle betraten. Vor dem eisigen Wind geschützt, hörten wir den Regen auf das Dach des Gebäudes niederprasseln und zogen den Bahnsteigen entgegen.

Flatternd folgte uns Tim auf unserem kurzen Weg und fand seinen Platz auf dem hölzernen Rahmen des Fahrplanes, in den wir uns vertieften. Während sich Crowley dem richtigen Sitz seiner Uniform hingab, neigte ich mich nach vorn, strich mir das etwas wirre Haar zurück und verengte die Augen.

Drei Tage, schätzte ich. Eher erreichten wir das Ziel unter keinen Umständen und wenn ich es jetzt recht bedachte, war es schon in Ordnung, erst vor Ort auf Kanda zu treffen. Selbst kurze Reisen verloren mit ihm irgendwie an Reiz und zogen sich durch die Gesellschaft seines ablehnendes, einzelgängerischen Verhaltens unbequem in die Länge.

Es gäbe eine angespannte Atmosphäre. Ein Ding, das mir mit meinem jetzigen Begleiter nicht passieren konnte. Mit Crowley war ich gerne unterwegs. Man führte Gespräche und vertrieb sich die Zeit, während die Zugräder ratterten und eine Haltestelle der vorherigen folgte. Er war ein angenehmer Kollege und so konnte ich mich doch glücklich schätzen, dass nun er an meiner Seite stand.
 

So stiegen wir in den ersten Zug und am Abend auch auf das Schiff mit direktem Kurs auf Belgien. Und wir sprachen in den ersten Stunden ununterbrochen und schwiegen erst, als das Schiff unter uns schwankte und das Rauschen der Wellen uns umgab. Die frühe Dunkelheit dieser Monate machte uns müde, die Bewegungen und das Knarren des Schiffes ließen auch mich in eine gewisse Dämmerung treiben und während Crowley in der Koje unserer Kajüte lag und schlief, saß ich an einem kleinen Tisch und starrte auf die Flamme der Kerze.

Sie blieb in permanenter Bewegung, zitterte vereinzelte Male, wenn sich eine Brise frischen Meereswindes ihren Weg zu uns suchte. Den Rücken an der Wand der Kajüte, bewegte ich lange Zeit die Hände in meinem Schoß, lugte auch zu Tim, der das Obere der zwei Betten dafür nutzte, wofür es gemacht war. Reglos hockte er dort auf der Decke, schlug nur selten mit den Flügeln und ein seltsamer Antrieb ließ mich irgendwann aufstehen und das kleine Zimmer verlassen. Es zog mich nach draußen, durch die Flure des Schiffes und an Deck. Ich öffnete die Tür, nahm die frische, kalte Luft in mir auf und öffnete den Mund, als sich mir das helle Flimmern der Luft offenbarte.

Eine stetige Bewegung vor dem grauen Nachthimmel und langsam trat ich hinaus, spähte in das unendliche Getümmel der ersten Schneeflocken und hielt die Hand in das Gestöber und verfolgte fasziniert, wie mild vereinzelte Flocken auf sie niedergingen.

In ziellosen Schritten führte mich mein langsamer Weg daraufhin quer über das verlassene Deck. Alleine bewegte ich mich in diesem weißen, lebendigen Wintergruß und verfolgte, wie die Schneeflocken auf meiner Haut an Größe verloren, wie sie in sich zusammensanken, kurz darauf als Wasser von meiner Hand perlten. Hell beschlug auch mein Atem und wie gebannt blieb ich stehen, hob den Kopf und blinzelte nach oben. Mein Blick für die Deutlichkeit verschwamm, als der Weg einer Schneeflocke an meinen Wimpern endete.

Ich blieb einfach stehen und blickte in das weiße Gestöber. Die Welt wirkte lebendig, wenn es schneite.

Ich mochte den Schnee, hatte mich auf ihn gefreut und der Schlaf konnte warten, bis die nächste Nacht über uns hereinbrach und ich mich an diesem weißen Wunder satt gesehen hatte.

Eine Böe ließ den robusten Stoff meines Mantels erbeben.

Vor allem hier auf dem Meer war man ungeschützt und den Naturgewalten soviel mehr ausgeliefert, als auf dem Festland. Hier gab es nur das Rauschen der Wellen, die sich am Schiffsrumpf brachen, das Pfeifen des Windes und neben diesen Geräuschen nichts.

Keine Schritte, keine Stimmen.

In diesen Momenten gab es keine anderen Menschen. Nur mich und dieses weiße Nichts, das nach keinen Worten verlangte. Beiläufig und wie vertieft zog ich bald auch den zweiten Handschuh aus, entblößte die schwarze Hand und ließ sie teilnehmen an der Frische.

Bei ihr war es anders. Sie signalisierte mir kaum die zarten Berührungen, ließ das Kitzeln der vorbei gleitenden Schneeflocken kaum in mein Bewusstsein dringen. Die Begegnungen waren zu mild und trotzdem sah ich jede der Flocken auf der schwarzen Haut schmelzen. Es war ein kurzer Frieden, den ich mir suchte und nur mit meinen Gedanken teilte. Momente der Stille, die ich nicht einmal durch meine eigenen Schritte zu brechen gedachte und ich blieb, bis meine Glieder unter den schneidigen Böden zu beben begannen, meine Ohren unter der klirrenden Kälte schmerzten und mein Leib an Ruhe verlor.

Die Eindrücke brachen meine Konzentration. Die Wirklichkeit drang zurück in meine Wahrnehmung so setzte ich mich in Bewegung, kehrte dem Schnee den Rücken und schob mich zurück in die windstillen, dunklen Gänge des Schiffes.
 

In den frühen Morgenstunden erreichten wir Belgien. Der Schnee war jeder Stunde der Nacht treu geblieben und so knackte er unter unseren Stiefel, als wir durch die dunklen Straßen zogen und nur wenigen Menschen begegneten. Viele waren zu dieser Zeit nicht unterwegs. Tief in die Mäntel oder Jacken vergraben, angespannt durch die Kälte den Sitz der Mützen mit der Hand festigend. Dunkel zogen auch die Schatten der Kutschen und Karren an uns vorbei, während wir Wohnhäuser und geschlossene Läden hinter uns ließen, uns stetig dem nächsten Bahnhof nähernd.

Wir hofften, mit dem nächsten Zug eine größere Distanz hinter uns zu bringen.

Durch Deutschland, Tschechien. Die wahre Belastung bestand darin, oft umzusteigen, oft nach einem anderen Zug zu suchen und lange vertieften wir uns in den Plan, als wir die steinerne, kalte Halle erreichten. Wir rieben uns die Hände, während unser Atem selbst innerhalb des Gebäudes beschlug und die Züge zischend weißen Dunst aus den Kurbeln stießen.

Nur wenige Stimmen waren es, die uns umgaben. Auch hier nur wenige Menschen und, wie ich schnell bemerkte, keine Möglichkeit, an etwas Essbares heranzukommen. Möglicherweise im Zug und der Richtige war schnell gefunden. Einen gesamten Tag würden wir in ihm zubringen aber letztendlich waren wir allein durch die Wärme in unserem Abteil zufrieden gestellt. Die Polster waren bequem, auch an Essen konnte man herankommen und sobald ich die Bank neben mir mit den neu erworbenen Vorräten zustellte, Crowley und ich in Ruhe aßen und auch die Zeit und die Muße für ausgelassene Gespräche hatten, wurde die Reise wieder umso einige Nachteile ärmer.
 

Es blieb bei drei Tagen.

Endlose Stunden saßen wir in Zugabteilen, standen auf dem schwankenden Boden verschiedener Schiffe, lauschten wir dem Rattern der Zugräder und versuchten wir uns mit Spaziergängen in kalten Bahnhofshallen warm zu halten.

Es war eine Reise, die man nicht nur als unangenehme Erfahrung werten konnte und spätestens, als wir von China aus auf das nächste Schiff stiegen, kurz davor, die Reise hinter uns zu bringen, begannen wir die schwarzen Mappen abermals zu überfliegen.

Acht Stunden trennten uns von dem Ziel, als das Schiff vom Kai ablegte. Es war ein klarer wenn auch kalter Tag. Der Himmel erstreckte sich grau und hell über unseren Köpfen, als wir an Deck traten. Geschneit hatte es am vergangenen Tag zum letzten Mal. Zurück blieb nun die weiße, stille Gegend und ebenso weiß und schneebedeckt erspähten wir bald am Horizont Okinawa.

Die Insel, die das Ende unserer Reise darstellte. Die Insel, deren weißer, schimmernder Schein trügerisch wirkte. Dort hatten wir zu arbeiten, dort hatten wir zu forschen und entgegen der Informationen, die die schwarzen Mappen für uns bereithielten, wussten wir doch nicht, was uns erwartete.

Flach erstreckte sich die Insel vor unseren Augen, lag still inmitten des Ozeans und großzügig vermummten wir uns in unseren Mänteln, während wir an der Reling standen, nur noch wenige Minuten vom Ufer entfernt.

Permanent wurde neben mir die Nase hochgezogen, vorsichtig bewegte sich Tim auf der hölzernen Absperrung und kurz stellte ich mir die Frage, ob Kanda schon dort war. Vermutlich hatte er es etwas schwerer gehabt als wir. Es war keine Sache, die mich sonderlich interessierte aber sie ließ mich nachdenklich werden.

Die Belastung, in diesen eisigen Monaten zu viel unterwegs sein zu müssen, hatten Crowley und ich erneut kennen gelernt. Langsam verschränkte ich die Arme, rümpfte die Nase und blinzelte unter einer Böe, die mir in den Augen brannte. Was mich beschäftigte, war die Laune, die Kanda offenbaren würde.

Sein Weg war länger gewesen, seine Kräfte vermutlich weit mehr gefordert. Er hatte weniger in einem ruhigen Zugabteil gesessen, war wohl auch weniger zum essen gekommen als wir.

Eine Last.

Ja, plötzliche spürte ich sie und sank unter einem Seufzen in mich zusammen.

Nach dieser Reise hatte ich wirklich Respekt vor einem tödlich genervten Gesicht und noch tödlicheren Worten. Wie bildlich konnte ich mir seine Mimik vorstellen. Just in dem Moment, als Komui ihm die Tatsache offenbarte, dass er als Dolmetscher herzuhalten hatte.

Er hatte den Kontakt herzustellen, dafür zu sorgen, dass wir uns in dem Land zurechtfanden. Es war ein Akt voller Aufmerksamkeit, den er bestimmt in jedem erdenklichen Moment verfluchte.

Vermutlich würde er es uns nicht leicht machen.

Ich zog ein langes Gesicht und starrte resigniert auf das weiße Paradies. Es war ein sarkastischer Moment, in dem mich diese Insel wie eine höhnisch lachende Fratze erwartete.
 

Dann erreichten wir das Ziel. Über den Steg verließen wir das Schiff, stiegen hinab zu dem kleinen, Hafen. Ein Frachtschiff hatte uns für die Überfahrt gereicht und wirklich waren wir neben Kisten und Lieferungen die einzigen Passagiere. Die Mäntel eng um den Leib geschlungen betraten wir japanischen Boden und während ich mich den ersten Eindrücken hingab, begann Crowley seine Taschen zu durchstöbern.

Der Treffpunkt sollte nicht weit entfernt sein. Es war die Karte, die er suchte.

Kurz driftete Tim durch mein Blickfeld und während es neben mir raschelte, spähte ich zur Seite.

Nicht weit vor uns und auf der Grenze zwischen Hafen und Wald erhob sich ein steinernes Gebilde. Es schien so sorgfältig aus dem Stein geschlagen zu sein, dass ich Interesse daran fand.

Es schien ein kleiner Schrein zu sein. Ein kleines Ding mit großer Bedeutung und eifrig falteten Crowleys zitternde Hände den Plan auseinander. Bisher hatten mich meine Wege erst einmal in dieses Land geführt. Fragwürdige Wege zu einem fragwürdigen Ziel. Gefahren hatten mir den Blick auf die Umgebung verwehrt und mir nicht die Zeit gelassen, die Atmosphäre Japans zu spüren. Jetzt tat ich es.

Inmitten dieses weißen Meeres lauschte ich einem Glöckchen, das in weiter Ferne leise ertönte. Der Schnee knackte, als Crowley zu mir trat und zusammen vertieften wir uns in den Plan.

Die rote Kennzeichnung Komuis war nicht zu übersehen. Fast verwehrte uns die Farbe des dicken Stiftes den Blick auf die gesamte Umgebung des Treffpunktes.

Das erste Dorf oder die erste Stadt lagen in weiter Ferne und so würden wir Kanda und unserem Finder im Wald begegnen. Die Richtung fanden wir schnell, weit war es auch nicht und so setzten wir uns in Bewegung und nutzten einen schmalen Pfad, der uns zwischen die Bäume führte.

Eine kleine Lichtung war es, die wir bald darauf erreichten.

Ein Fleck im Wald, der besonders war. Es war ein Gebäude, vor dem wir standen. Ein Steinernes mit schrägen, abgerundeten Dächern und in jeder Einzelheit so zierlich, dass der Bau von Präzision und Bedeutung zeugte. Es musste ein Tempel sein, zu dem diese versteckten, Waldwege führten. Hell ragte er vor uns in die Höhe, stumm bewegten sich rote Laternen am Eingangsbereich unter den milden Brisen des Windes und wieder drangen auch die leisen Laute verschiedener Glöckchen an meine Ohren.

Es war eine seltsame Atmosphäre, die sich uns hier bot. Die kahlen Bäume umgaben uns zu allen Seiten, bildeten einen sanften Kontrast zu dem grauen Himmel, der sich über uns erstreckte.

Niemand war hier unterwegs. Verschlossen war auch die Tür des Tempels, während die Glöckchen unter der folgenden Windstille verstummten und Crowley sie mit einem Seufzen ablöste.

„Ein schöner Ort“, stellte er fest und sofort nickte ich, sah ihn mit einem Nicken auf den zierlichen Zaun deuten, der den Tempel umgab. Eher zur Zierde, denn er war kaum höher als einen Meter. „Sind wir pünktlich?“

„Ich denke schon.“ Somit musterte ich die Wege, die von der Lichtung wegführten.

Wir waren wirklich beizeiten hier. Vermutlich blieb uns sogar noch eine Weile, denn wenn Kanda nichts in die Quere kam, würde er pünktlich sein. Das war er immer.

Mit wenigen Schritten entfernte ich mich von dem Tempel, erreichte einen Stein, befreite ihn von der dünnen Schneeschicht, schlang meinen Mantel um mich und ließ mich nieder.

Crowley leistete mir Gesellschaft. Tim setzte sich auf meinem Kopf, als ich mich zu bewegen begann, die Hand unter dem Mantel versenkte und in einer meiner Gürteltaschen zu suchen begann. Ich tastete und wurde bald fündig. Mit großen Augen starrte Crowley auf die Verpackung, die ich aus dem versteckten Winkel zog. Ein Sandwich, das mir jetzt gelegen kam und zufrieden begann ich die Verpackung zu bearbeiten.

„Von wann ist das denn?“ Crowley sah überrascht aus aber ich war mir gar nicht so sicher.

Eigentlich trug ich meistens irgendetwas mit mir herum.

„Ich glaube von gestern Abend.“ Vergnügt zog ich das Toast hervor und rückte mich auf dem Stein zurecht. „Willst du ein Stück?“

„Nein, nein.“ Gerührt winkte Crowley ab und schon biss ich zu und ließ es mir schmecken. „Gestern im Zug habe ich soviel gegessen, dass ich für eine ganze Weile nicht mehr hungrig sein werde.“

Ich zuckte mit den Schultern, leckte mir die Mayonnaise aus dem Mundwinkel und begutachtete den grünen Salat und die Tomaten. Durch die Uniform und den Mantel spürte ich nicht einmal die Kälte des Steines und kurz darauf wählte Crowley den benachbarten Stein. Wir streckten die Beine und verfielen dem alten Schweigen. Nach Tagen des Austausches und der Worte, die wie reißende Ströme flossen, war es nicht verkehrt, mal eine Pause einzulegen.

Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis sich der helle Mantel des Finders zwischen den Bäumen bewegte und uns einer der beiden fehlenden Weggefährten Gesellschaft leistete. Damit endete die Stille auf der Lichtung. Unter dem sandfarbenen Mantel versteckte sich ein aufgeweckter junger Mann.

„Ich spreche ein wenig japanisch“, sagte er, während ich zwischen dem Weißbrot nach der bitteren Gewürzgurke fischte. „Deshalb wurde ich hierher geschickt.“

„Und sind Sie schon lange hier?“, übernahm Crowley das Sprechen.

„Seit gestern“, meinte der Finder. „Ich wollte mit den Nachforschungen beginnen, um Ihnen eine gute Grundlage zu bieten, nur leider fehlt es mir doch an sprachlichen Fertigkeiten, denn hier auf Okinawa spricht man einen Akzent, den ich schwer verstehe. Darüber hinaus begegnen die Einheimischen Fremden sehr misstrauisch.“

Ich schöpfte tiefen Atem und fuhr mit mir dem Handrücken über die Lippen.

„Haben Sie eine Uhr?“, erkundigte sich Crowley.

„Natürlich.“ Sofort begann der Finder seine Taschen zu durchforsten und ich vertiefte mich in die Suche nach der nächsten Gurke. Konzentriert zog ich das Weißbrot auseinander.

„Wir waren wirklich pünktlich“, bemerkte Crowley und kurz verzog ich das Gesicht unter Tims Flügel.

Er streifte meine Wange, als er sich in Bewegung setzte und kurz darauf umflatterte er mich.

„Wenn wir uns verspätet hätten, würde er die Hölle vorheizen, bevor er uns dorthin schickt.“ Damit hob ich das Sandwich zum Mund, fischte mit den Zähnen nach der aufgetauchten Gurke und lauschte dem Lachen neben mir. Der Finder schloss sich der Geste weniger an, nahm es so ernst, als hätte er solche Erfahrungen schon gemacht.

Sobald das Thema in eine andere Richtung schweifte, wurden die Unterhaltungen entspannter und ganz in das Gespräch vertieft, war ich der Erste, der den Vierten im Bunde erspähte.

Hinter dem Finder und zwischen den Bäumen war es eine Bewegung, die ich ausmachte und das Sandwich sinken ließ. Ich lehnte mich zur Seite und erkannte den vertrauten roten Saum der schwarzen Uniform. Da kam er und ich schluckte hinter und machte ich mich auf so einiges gefasst, als er aus dem Wald trat.

Ich verfolgte, wie er seinen Mantel zurückstreifte und einen Strauch umging. Natürlich war er pünktlich.

Seine in den schwarzen Handschuhen verborgenen Hände machten sich an der Uniform zu schaffen.

Er wischte sich über den Bauch, rieb auch den Gürtel und als er nähertrat, erkannte ich den Grund dafür. Befürchtungen bestätigten sich und ließen mich das Sandwich nur stockend zum Mund heben.

Er machte durchaus den Eindruck, als wäre die vergangene Mission anstrengend gewesen.

Seine Uniform machte ihn auf jeden Fall, denn ein weiteres Mal prangten an ihr Flecke, die von getrocknetem Schlamm herrührten. Noch immer wischte er und der Finder trat zur Seite, bevor er bei uns stehenblieb.

Ich hob die Brauen, als eine Begrüßung seinerseits ausblieb und seine Augen stattdessen ohne Umschweife zu mir fanden. Von meinem Gesicht senkten sie sich zu dem Sandwich, das ich schon nahe am Mund hielt.

Die ersten Augenblicke waren entscheidend und beiläufig begann ich mit der Zunge meine Zähne zu erkunden, als er die Stirn runzelte.

„Ich sehe schon“, erhob sich seine Stimme dann in gewohntem Klang. „Wer es nicht im Kopf hat, hat es im Magen.“

Ich ertastete ein Stück Gurke und entspannte mich binnen weniger Augenblicke.

Ein seltsamer, gewohnter Fluss ließ mich mit sich treiben. Mit einem Nicken wies ich auf seine Uniform.

„Und wer es nicht unter den Schuhen hat, hat es an der Kleidung.“

Ja, es waren wirklich so einige Flecken und abermals wischte er über einen von ihnen.

„Wenigstens sehe ich so aus, als hätte ich etwas gemacht. Wenn man dich sieht, bist du nur dabei, Geld zu verfressen.“

Das Seufzen Crowleys drang kaum in meine Wahrnehmung, als ich mit dem Sandwich gestikulierte.

„Wo wir gerade bei ‚fressen’ sind, hat dich ein hungriges Schlammmonster überfallen?“ Unter einem überlegenen Seufzen spähte ich an ihm vorbei. „Hat dich wohl wieder ausgespuckt, weil du unerträglich bitter schmeckst.“

„Du kriegst gleich was Bitteres.“

„Ich habe schon was zu essen.“ Darbietend hielt ich ihm das Sandwich unter die Nase.

„Wann hast du das nicht, Bohnenstange?“ Annähernd angewidert zog er sich vor dem Sandwich zurück. „Wenn du durch die Unmengen, die du isst, wenigstens mal ordentlich wachsen würdest.“

Gut, der Punkt ging an ihn und unter einem Stöhnen sank ich in mir zusammen.

Ich war jung. Das richtige Wachsen kam vermutlich später noch.

Unweigerlich zog es meine Gesichtsmuskulatur gen Boden und neben mir räusperte sich Crowley.

„Ich finde dich groß genug“, drang dann sein Flüstern zu mir.

Oft wurde die Art, wie Kanda und ich miteinander umgingen, von anderen missverstanden.

Eigentlich brauchte ich gar keinen Trost, denn was hier geschah, brachte mir Erleichterung und Wohlbehagen. Es waren keine Beleidigungen, die mich erreichten, sondern Zeichen, dass Kanda bei außerordentlich guter Laune war. Sein Schweigen hätte mich beunruhigt und meine Sorgen um seine Nerven nur bestätigt aber nun war ich zufrieden.

So schnell wie dieses Wortgefecht entstand, so schnell verlor es sich auch schon und zurück blieben wir und ich voller Zuversicht. Als sich Kanda abwandte und sich auf den Weg machte, stopfte ich das letzte Stück des Sandwiches in meinen Mund und kam auf die Beine.

„Wohin gehen wir?“, erkundigte ich mich, als wir uns ihm anschlossen. „Dorthin, wo die Akuma gesichtet wurden?“

Es war ein Friedhof, den sie oft durchstreiften. Aus unerfindlichen Gründen und in großer Anzahl.

So hatte es in der Mappe gestanden.

„Der Friedhof ist nicht weit entfernt“, antwortete Kanda und spähte zu den Handschuhen, deren Sitz er sicherte. „Wir sehen uns um aber wenn sie nur nachts gesehen wurden, werden wir zu anderen Zeitpunkten kaum etwas herausfinden. Nicht weit entfernt gibt es ein Dorf. Dort können wir auf die Nacht warten.“

„Du kennst dich hier gut aus“, bemerkte Crowley und natürlich hatte ich mir Ähnliches gedacht, nur alles andere getan, als es auszusprechen. „Hast du einmal hier gelebt?“

Augenblicklich fanden meine Augen zu Kanda. Es war ein plötzlicher Reflex, der mich dazu veranlasste, mich für seine Reaktion zu interessieren und nur kurz offenbarte sich mir sein Gesicht, bevor er sich umdrehte, geradlinig an mir vorbei und zu Crowley starrte.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Du hast Recht. Verzeih mir“, gab Crowley verträglich nach und ich verfiel einer flüchtigen Nachdenklichkeit.

So direkt und eindeutig.

Crowley stellte eine Frage, Kanda wollte sie nicht beantworten und sagte es einfach.

Ein verstecktes Lächeln formte meine Lippen und ich fühlte mich, als würde es sich bedauernd gegen mich selbst richten. Gegen mich und die Scheinheiligkeit, mit der ich einer solchen Frage niemals geradlinig begegnet wäre. Vermutlich hätte ich für Ablenkung gesorgt und dafür, dass man die ausstehende Antwort einfach vergaß. Aber geheuchelte Offenheit blieb nur Offenheit, wenn niemand die Lüge durchschaute.

Ich besah mir Kanda mit schwindendem Lächeln.

Ohne Heuchelei schien es leichter zu sein. Beeindruckend, wie er all die schweren Wege umging.

Als wären sie nur für mich bestimmt.
 

-tbc-

5

Der Weg war kein langer. Es blieben nur wenige Minuten, in denen wir durch das Meer aus Kontrasten und Stämmen zogen und nur wenige Worte wechselten. So begann unsere gemeinsame Mission. Eine weitere Reise, deren Ende wir nicht kannten und somit das, wonach ich mich sehnte.

In jedem Moment, den ich dort in dem Speiseraum verbrachte und Komui zuhörte.

Diese Fremde. Gerade jetzt, da ich mich in ihr befand, konnte ich mir nicht vorstellen, sie aufzugeben.

Es gab noch soviel zu tun und wie abwesend gab ich mich diesen Gedanken hin, bis der Wald vor meinen Augen endete und ich neben Kanda stehen blieb.

Eine große Lichtung war es, die sich vor uns auftat, die wir uns aufmerksam betrachteten. Ein Friedhof inmitten dieser weißen Stille und wie schienen die aneinandergereihten, säuberlichen Grab- und Andachtssteine diesen Frieden zu teilen. Ein zierlicher Zaun umrandete den Ort und wieder sah ich die feinen Arbeiten, durch die jeder dieser Steine entstanden war.

Schmal ragten sie in die Höhe, waren versehen mit dunklen Schriftzeichen, die vergangene Leben beschrieben, vergangene Existenzen.

Weiter hinten führte ein schmaler Pass aus wenigen Treppenstufen zu einem steinernen, hohen Schrein, dem Mittelpunkt dieses Ortes, vor dem ich selbst aus dieser Entfernung die matten Lichter weniger Kerzen flackern sah.

Eine vereinzelte Gestalt war es, auf die wir kurz darauf aufmerksam wurden. Ein älterer Mann, der, in einen dicken Umhang gehüllt, durch die Reihen der Grabsteine zog. Die Hand, die aus einer Falte des Umhanges lugte, hielt ein Räucherstäbchen und nach wenigen weiteren Schritten kniete er sich vor eines der Gräber. Natürlich war es Misstrauen, das wir alle hegten, doch mein Auge nahm dieser Vorsicht die Begründung.

Es war nur ein Mensch, der diesen Ort besuchte. Ein Trauernder.

Ich verfolgte, wie der Finder an uns vorbeizog.

„Ich zeige Ihnen, bei welchem Grab ich sie gesichtet habe“, erklärte er und so setzten wir uns wieder in Bewegung.

„Sie halten sich immer bei ein- und demselben Grab auf?“, erkundigte ich mich, als wir den Zaun hinter uns ließen. Dumpf gingen die Stiefel des Finders auf den gefrorenen Boden nieder, während er nickte. Auch seine Stimme erhob sich mit dem ihm eigenen Temperament und flüchtig wurde ich auf die Bewegung des Trauernden aufmerksam. Er wandte kurz das Gesicht zu uns und verkroch sich schweigend in seinem Umhang.

„Immer dasselbe“, bestätigte der Finder. Eine flüchtige Brise des Räucherstäbchens erreichte mich, als wir an dem Mann vorbeizogen. „Als würden sie auf etwas warten. Seit vier Tagen erscheinen sie in jeder Nacht und halten sich länger dort au…“

„Wir hören dich gut“, wurde er da abrupt von Kanda unterbrochen. „Sprich leiser.“

„Verzeihung.“

Es überraschte mich, dass er sich Zeit nahm, einen Finder zurechtzuweisen.

Seit jeher hatte er sich herzlich wenig für die Dinge interessiert, die sie taten, doch diesmal war es anders. So gesehen war es sein Grund und Boden, auf dem wir uns hier bewegten. Inmitten seiner Kultur, die ihm offenbar wichtig genug war, um für sie das Wort zu ergreifen.

Es lag wahrscheinlich weniger an der Sensibilität seiner Ohren, als an dem Ort, an dem wir uns befanden.

In diesem Boden ruhten die Toten und wie seltsam war die Annahme, Kanda würde ihren stillen Frieden verteidigen. Es war eine seltsame Zugehörigkeit, die ich hier an ihm spürte.

Eine Vertrautheit mit den Atmosphären, die uns in diesem Land umgaben. Und der Finder blieb stehen.

Es war ein Grab unter vielen, auf das er wies. Nicht auffälliger als die anderen, nicht größer, nicht kleiner. Ich besah mir den grauen Stein und die sauber geschliffenen Kanten.

Es hatte den Anschein, dass es eines der neueren Gräber war. Auf der glatten Oberfläche sah ich kaum einen Verschleiß und von den Schriftzeichen spähte ich zu Kanda.

„Bist du sicher?“ Er wirkte nachdenklich, als er sich an den Finder wandte und ein deutliches Nicken erntete.

„Wer liegt hier?“, erkundigte ich mich.

„Ein Guji. Der Priester eines Schreins.“

„Dann ist es ein heiliger Friedhof“, flüsterte Crowley in seine Beobachtung vertieft.

Kandas Murmeln klang nach einer Zustimmung und unter einem tiefen Atemzug rieb ich mir die Wange. Flatternd ließ sich Tim auf dem Grabstein nieder.

„Was an diesem Grab weckt ihr Interesse?“ Fast lautlos flüsterte ich, sprach vielmehr mit mir selbst und stemmte das Kinn in die Handfläche. „Spielt der Verstorbene eine Rolle?“

„Was soll der Priester für eine Rolle spielen?“, antwortete Kanda verständnislos. „Er ist tot und somit nicht mehr von Bedeutung.“

„Wenn es an diesem Ort liegen würde, wären sie nicht nur auf dieses eine Grab fixiert“, erwiderte ich und sah abwägend zu ihm auf. Ich war mir nicht sicher, ob er Recht behielt. Diese Angelegenheit stellte mich vor Fragen und das Einzige, was er tat, war, die Arme zu verschränken und zur Seite zu blicken.

Es gab nicht viele Dinge, die Akuma anzogen und somit auch uns. Aber hier boten sich mir nur das Gestein und längst erloschene Räucherstäbchen in einer zierlichen, hölzernen Halterung. Und die Erde.

„Wir recherchieren über den Verstorbenen und halten die Akuma von dem Grab fern“, entschied Kanda in diesem Moment und mir blieb nichts anderes übrig als ein Nicken.

Dass er in die Anführerrolle schlüpfte, störte mich in keiner Weise, sobald es sinnvoll erschien und uns auch keine andere Möglichkeit zur Verfügung stand. Es war vermutlich ein Anfang und so kam ich zurück auf die Beine, winkte Tim von dem Grabstein und spürte ihn kurz darauf auf meiner Schulter. Beiläufig bekam ich seinen goldenen Schweif zu fassen.

Weiterer Aufenthalt brachte uns nichts. Es war der falsche Moment, um an diesem Ort zu bleiben und so kehrten wir ihm vorerst den Rücken und machten uns auf den Weg zu einem nahen Dorf.

Wie Kanda sagte. Dort konnten wir warten, bis es dämmerte.

Ich war gespannt, als ich mich so ein weiteres Mal hinter ihm hielt, wir denselben Wald erneut durchquerten, auch den Tempel hinter uns ließen und einen der anderen Waldwege nutzten. Es sollte nicht weit entfernt sein und nach der Reise stand mir auch der Sinn danach, vorerst zur Ruhe zu kommen und Kräfte zu schöpfen für eine Nacht, von der niemand wusste, was sie uns brachte.

Meine Beine waren das ewige Laufen allmählich müde und während in meinem Rücken Gespräche geführt wurden, konzentrierte ich mich auf die weiten Felder, die uns umgaben, als der Wald hinter uns lag.

Es mussten Reisfelder sein. In diesen kalten Monaten wirkten sie jedoch nur wie weite, kahle Flächen, die von keinem benutzt wurden.

Das Wasser war gefroren. Es keimte nichts und so waren es auch nur wenige Einheimische, die ihrer Wege zogen. Vereinzelt bewegten sich die grauen Gestalten in weiter Entfernung, kamen uns entgegen und zogen an uns vorbei, ohne dass ein Wort gewechselt wurde.

Schneidig drängte sich der Wind gegen mein Gesicht, unter meine Kapuze und aufmerksam zog ich sie ein ums andere Mal tiefer in meine Stirn, verbarg alles unter dem Stoff, das in diesem Land pure Auffälligkeit wäre. Keine blonden Schöpfe, in deren Riege man durch Oberflächlichkeit gesteckt werden könnte.

Die Augen auf den gefrorenen Boden gerichtet nahm ich das Gespräch hinter mir kaum wahr, achtete auch kaum auf das Lachen Crowleys und spähte erst auf, als sich vor uns das Ziel offenbarte.

Über einen Hügel waren wir gekommen, von weiter oben und hatten einen wunderbaren, übersichtlichen Blick auf das Dorf, das sich zu unseren Füßen und in einem tieferen Tal erstreckte. Es reichte weit und während Kanda weiterzog, verlangsamten sich meine Schritte.

Auch die Worte in meinem Rücken verstummten flüchtig, während ich von einem Schneebeladenen Dach zum nächsten schaute, den Bewegungen der Dorfbewohner zwischen den Fassaden folgte.

Es waren so einige, die draußen waren, die ihren Weg und ihr Ziel hatten und kurz darauf fand ich mich wieder hinter Kanda ein, verschränkte die Arme vor dem Bauch und sehnte mich mit jedem Schritt mehr nach einer warmen Unterkunft.

Je näher wir kamen, desto mehr erspähte ich.

Vereinzelte Karren wurden über die schmalen Wege gezogen, auch vorbei an künstlich angelegten Seen und Wasserstellen. Allesamt gefroren und kaum von der Umwelt zu unterscheiden. Terrassen erstreckten sich neben uns, mit Washi bespannte Schiebetüren, die das Innenleben der Häuser vor unseren Augen versteckten. Feuerstellen, zumeist leer und kalt, steinerne Mauern, die einzelne Grundstücke voneinander abgrenzten. Langsam tastete ich nach der Kapuze, zog sie abermals tiefer und lauschte unterdessen den Wortfetzen, die an meine Ohren drangen.

Leise Gespräche drangen zu uns. Durch einen Spalt der Schiebetüren, von den Menschen, die uns entgegenkamen, uns ausdrücklich jedoch unauffällig musterten. Die es in dem Rahmen taten, dass ich es nicht als Unhöflichkeit auslegen könnte. Unser Ziel schien noch entfernt und bald meldete sich Crowley wieder zu Wort. Das Gespräch mit dem Finder wurde fortgesetzt, während ich zwei Kindern nachsah.

Das kurze, schwarze Haar stand den Jungs wüst zu Berge, als sie an uns vorbeitobten.

Gekleidet in wärmende Yukata jagten sie einen hölzernen Ball. Aus einer anderen Richtung drang die impulsive Stimme eines Mannes und sofort drehte ich mich um. Auf der Terrasse eines Hauses stand er, gestikulierte mit dem Arm und schien kein Problem in der weiten Distanz zu sehen, die ihn von seinem Gesprächspartner trennte.

Der stand irgendwo hinter uns. Unaufhörlich und rasant flossen die unverständlichen Worte und wie war ich froh, dass Kanda bei uns war. Wie verloren wären wir gewesen. Ganz zu schweigen von der Mission wären wir schon daran gescheitert, uns eine Unterkunft zu suchen.

Und dann erreichten wir sie endlich.

Dass Kanda nicht zum ersten Mal hier war, wurde spätestens dann zur Tatsache.

Er bewegte sich, als würde er jeden Winkel dieses Dorfes kennen, als er zur Seite bog, einen schmalen Pass nutzte und auf ein Gebäude zusteuerte, das recht hoch vor uns aufragte.

Das massive, helle Haus erhob sich bis zur zweiten Etage. Auf den abgerundeten Dächern schimmerten kleine, dunkle Dachziegel, während der Großteil der Fenster mit dünnen Bastmatten abgeschirmt war. Auch die nahe Umgebung wirkte gepflegt und unter unseren Sohlen knirschte heller Kies, als wir vor den Eingangsbereich traten und hinter Kanda hinauf auf den tiefen, hölzernen Vorbau.

Als würde uns die Natur einen letzten, höhnischen Boten schicken, lebten unsere Mäntel unter einer schneidigen Böe auf und wie dankbar war ich Kanda, als er die Schiebetür zur Seite zog und eintrat.

Ich könnte es nicht eiliger haben und so stand ich kurz darauf in einem großen Eingangsbereich.

Es war eine kleine Ebene, die an einer Stufe endete. Vor uns erstreckte sich ein sauberer Flur, umrandet von geschlossenen Schiebetüren, jedoch angenehm erhellt durch so einige zierliche Lampen.

Tief atmete ich ein, als der Finder die Tür hinter sich schloss und wir endlich befreit wurden von der klirrenden Kälte. Sofort entspannten sich meine Glieder, der Mantel verlor an Wichtigkeit und nur kurz nahm ich auch den angenehmen Geruch in mir auf, bevor ich auf Kanda aufmerksam wurde.

Er hatte sich von den Stiefeln befreit, ließ nun die kleine Stufe hinter sich und trat in den Flur.

„Ihr wartet hier.“

So ging er und bevor wir uns versahen, verschwand er hinter der Ecke.

„Das ist ein Ryokan“, erklärte der Finder. „Eine japanische Herberge.“

„Sie ist wunderschön“, seufzte Crowley.
 

Wir wurden nicht lange warten gelassen, bevor Kanda zurückkehrte und mit ihm eine ältere Dame in einem dunklen Kimono. Aufwendig war ihr schwarzes Haar zurückgebunden und kaum sah sie uns, da umspielte ein dezentes Lächeln ihre Lippen.

Das Glück war auf unserer Seite. Ein großes Zimmer stand uns zur Verfügung.

Platz gab es reichlich und auch die Bodenmatten waren angenehm. Ich spürte ihre raue Oberfläche, als ich die Zehen bewegte.

So waren wir also angekommen und das erste, was wir taten, war, uns von all dem Überflüssigen zu befreien und bald darauf saßen wir an einem flachen Tisch. Im bequemen Schneidersitz ließ ich meinen Kopf auf die hölzerne Fläche sinken und fand zu meinem ersten, ausgiebigen Seufzen. Hier war es wirklich angenehm und durchaus schläfrig wendete ich das Gesicht auf den verschränkten Armen und schloss kurz die Augen. In dieser Stille fiel mir ein gleichmäßiges, hölzernes Pochen auf. Es schien aus dem Innenhof zu uns zu dringen, erhob sich jedoch so leise, dass ich es nicht als störend empfand. Ganz im Gegenteil.

„Was haben wir heute Nacht vor uns?“, wandte sich Crowley kurz darauf an den Finder. Er saß mir gegenüber und träge bettete ich das Kinn auf den Unterarmen. Kanda war kurz nach unserem Einzug verschwunden, doch es schadete wohl nicht, sich dem Thema trotzdem schon zuzuwenden.

„Wie viele Akuma tauchen bei dem Friedhof auf?“

„Es ist unterschiedlich“, antwortete der Finder und kurz lugte ich zur Tür, versuchte dem hölzernen, pochenden Geräusch zu folgen. „Ihre wahre Gestalt nehmen sie nur selten an. Sieben waren es in der ersten Nacht. Akuma des ersten Levels. In den folgenden Nächten waren es Menschen, die die Umgebung durchforsteten. Gestern zeigten sie wieder die wahre Gestalt. Es waren zehn.“

Nachdenklich rümpfte ich die Nase und juckte mir die Wange.

Wenn es uns auch weiterhin so leicht gemacht wurde, wäre ich dankbar.

„Sie streunen auf dem gesamten Friedhof herum“, fuhr der Finder fort. „Ihre Wege enden aber immer wieder bei dem Grab, vor dem sie eine Weile stehen bleiben und dann wie vom Erdboden verschluckt werden.“

Sie mussten nach etwas suchen, das bisher nicht sichtbar vor ihnen lag, sich jedoch spüren ließ.

„Wir sollten schon zu Beginn der Dämmerung aufbrechen, findest du nicht?“ So wandte sich Crowley an mich und sofort nickte ich.

„Vielmehr, als sie fernzuhalten, werden wir vorerst kaum tun können. Das Wichtigste ist, mehr über dieses Grab zu erfahren und über den Mann, der in ihm liegt.“

Ein Schaben durchbrach die Atmosphäre. Die Tür im Nebenraum hatte sich geöffnet und während sich Schritte erhoben, stemmte ich die Wange in die Hand und bearbeitete die Oberfläche des hölzernen Tisches. Ich folgte der Maserung mit den schwarzen Fingerkuppen und erspähte Kanda, der zu uns zurückkehrte. Die Uniform klemmte unter seinem Arm, als er zu uns trat und seine Aufmerksamkeit richtete sich einzig und allein auf den Finder, dem er die Uniform reichte.

„Mach was gegen die Flecken“, hörte ich ihn nur murmeln.

„Natürlich.“

Träge spähte ich ihm nach, sah ihn um den Tisch herumtreten und so wie der Finder nach draußen eilte, bekamen wir neue Gesellschaft. Es war eine andere Bedienstete des Ryokan, die uns mit einem dezenten Lächeln grüßte und mit einem Tablett zu uns trat. Spätestens jetzt rappelte ich mich doch auf, zog in derselben Bewegung den schwarzen Arm unter den Tisch und besah mir die hölzernen Becher, die sich da offenbarten. Sogar leichten Teeduft meinte ich wahrzunehmen aber das Gebäck in einem Schälchen erweckte mein wahres Interesse.

Still und höflich wurden wir bedient. Mir gegenüber beugte sich Crowley über seinen Becher und hielt die Nase in den Dunst, während Kanda die junge Frau mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete. Es schien alles getan und während sich die Tür unter einem leisen Schaben schloss, blickte ich zu meinem Becher, auch zu dem Gebäck und anschließend zu Kanda.

Seinem Gesicht nach zu urteilen, wünschte er sich, alleine zu hier sitzen und seinem Verhalten nach, tat er es auch. Es schien nur noch diesen Becher für ihn zu geben und schon hob er den Deckel ab, setzte ihn an die Lippen setzte und trank.

„Du.“ Ich konnte es mir nicht nehmen lassen, begegnete ihm mit einem verschmitzten Grinsen und langte nach dem Gebäck. „Hast du das für uns bestellt? Deine Fürsorge ist herzerwärmend.“

Somit musterte ich das Gebäck. Es sah komisch aus und am Ende des Tisches wurde Kandas Gesicht von einem Zucken heimgesucht. Der Becher löste sich von seinen Lippen und kurz darauf spürte ich die finstere Aura, die wabernd zu mir driftete.

„Lass das widerwärtige Gewäsch, Bohnenstange“, verzierte er dann die Atmosphäre mit seiner engelsgleichen Stimme. „Sehe ich aus, als hätte ich nichts Besseres zu tun, als Diener für euch zu spielen?“

„So siehst du tatsächlich nicht aus.“

„Ich habe gehört, dass so etwas zum Empfang gereicht wird“, hob Crowley an, während Kanda abermals trank. Es schmeckte und ich kaute genügsam.

„Ist das so.“ Wieder streckte ich mich nach dem Gebäck.

„Hier sind alle so freundlich.“ Crowley seufzte ergriffen. „Danke, dass du uns zu diesem herrlichen Ort geführt hast, Kanda.“

Ein leises Durchatmen erhob sich neben mir und ich ertappte Kanda dabei, wie er ein Stück zur Seite rutschte und sich leicht von uns abwendete.

„Wie heißen diese Kekse?“ Vertieft zog ich die Schale zu mir und schon begann auch Crowley zu schlürfen. Sein Gesicht verzog sich unter unbeschreiblichem Genuss, während ich in den Keksen wühlte.

Die waren unglaublich.

„Kanda, frag mal nach dem Rezept, dann kann Jerry uns die Kekse jeden Tag machen.“

Plötzlich begann sich Kanda zu regen. Er stand auf, nahm seinen Becher mit und griff nach einer weiteren Tür. Er zog sich zurück und eine kühle Brise zog uns entgegen, als er auf die hölzerne Terrasse des Innenhofes trat. So ließ er uns sitzen, bekam die Schiebetür hinter sich zu fassen und zog sie um ein Stück zurück. Wir konnten sehen, wie er sich setzte, sich vor der Tür niederließ und es lieber mit der Kälte des Winters aufzunehmen schien als mit uns. Ein kurzes Schweigen herrschte zwischen Crowley und mir, doch ebenso schnell erholten wir uns von dem gewohnten Schreck und kümmerten uns wieder um die Aufmerksamkeit des Hauses.

„So gut wird man nicht in vielen Herbergen behandelt. Japaner sind so nette Leute.“ Glücklich bewegte Crowley den Becher zwischen den Händen und hielt die Nase erneut in den feinen Dunst. Zustimmung gelang mir nicht, denn es juckte mich eine Frage. Auch mein Bein und beherzt kratzte ich mich, spähte nach draußen und zu Kanda.

„Wegen dem Grab, Kanda“, hob ich an. „Vielleicht kannst du ja von der Hauswirtin etwas erfahr…“

„Sprich mich nicht an, während ich Tee trinke!“ Abrupt fuhr er zu uns herum und kaum versahen wir uns, so schnell bekam er die Tür zu fassen. Mit einem Mal wurde sie zugezerrt und schottete uns nun restlos voneinander ab.

Perplex schloss sich Crowley meinen Blicken an. Wir starrten auf das Washi. Nur stockend ertastete ich den nächsten Keks mit den Lippen und so wandten wir uns einander zu. Ich beließ es bei einem Schulterzucken und mir gegenüber wurde geseufzt.

„Japaner sind so seltsame Leute.“

„Mm.“ Flink erhaschte ich den Keks und hob den Deckel von meinem Becher.
 

So blieben wir also ungestört und Kanda blieb es auch. Vermutlich zogen wir alle einen Vorteil daraus, denn, ohne Kanda zu nahe treten zu wollen, der Tee oder das Gebäck schmeckten besser, wenn keines der Gesichter ein Finsteres war. Ihn wiederum störten wir auch nicht durch unsere Worte und die flossen und flossen hinter der geschlossenen Tür. Ununterbrochen philosophierten wir über diesen Tee, den ich nur nutzte, um das Gebäck hinein zu tunken. Einmal nippte ich auch an dem Gebräu aber es war nichts, wofür ich mich begeistern könnte. Es war irgendwie bitter aber zu meinem Glück schien sich die Abneigung meines Gegenübers vielmehr auf das Gebäck zu beziehen. So wurden wir uns wortlos einig.

„Zimt.“ Konzentriert wendete ich das Gebäck im Mund, starrte mit verengten Augen um mich, während mir gegenüber weitergeschlürft wurde. „Da muss Zimt drin sein.“

Anteilnehmend verfolgte Crowley meine Forschungsarbeiten und als ich nach dem nächsten Keks griff, hob er die Brauen. „Aber wieso sehen sie so dunkel aus?“

Ja, es stimmte. Dunkel waren sie wirklich aber erklären konnte ich es mir nicht. Nachdenklich wischte ich mir einen Krümel aus dem Mundwinkel und bemerkte ein weiteres Mal, wie sehr diese Kekse im Mund klebten. Die Einzelteile von den Zähnen zu bekommen, war genauso schwer wie die verschiedenen Geschmacksrichtungen herauszubekommen.

„Ist es vielleicht Schokolade?“ Somit schlürfte Crowley weiter aber wenn ich mir einer Sache sicher war, dann war es der Fakt, dass Schokolade hier weit entfernt war. Eher schmeckte es säuerlich und gemütlich vertiefte ich mich in diese Angelegenheit.

„Es klebt, als wäre Leim drin, schmeckt aber nach Fisch. Ein Fischkeks?“

Es war so angenehm, sich einer durch und durch sinnlosen Sache zu widmen. Ich brach den Keks auseinander, betastete das schwarze, getrocknete Blättchen, das ihn zum Teil umschloss.

„Fühlt sich an wie Holz“, murmelte ich und spähte zur Seite, als sich die Tür zum Innenhof öffnete.

Plötzlich wurde sie aufgeschoben und der junge Mann, der auf einmal im Rahmen stand, starrte mich an und tat es resigniert und verständnislos. Eine Hälfte des Kekses rutschte mir aus den Fingern, als ich seinen Blick erwiderte und eine kurze Stille bei uns herrschte.

„Es sind Senbei“, erhob er dann die Stimme, als hätte er mein Philosophieren nicht mehr ertragen. Dann trat er ein. „Reiskekse mit Seetang. Kein Holz.“

Beeindruckt tastete ich nach dem entflohenen Keks. Jetzt hatte er es mir doch verraten und zufrieden ließ ich den letzten Keks im Mund verschwinden. Senbei. Das durfte ich nicht vergessen und nur ein knapper Blick traf das leere Schälchen, bevor sich Kanda auf seinem alten Platz niederließ. Den leeren Teebecher stellte er ab, rückte sich kurz zurecht und atmete tief durch. Kauend wandte ich mich ihm zu, Crowley trank die letzten Schlucke.

„Der Wirtin nach hat der Guji in einem Tempel gelebt und gearbeitet, der nicht sehr weit entfernt ist.“ So wandte sich Kanda an uns und schenkte meiner knappen Begutachtung seines Bechers keine Beachtung.

Sobald dieser Becher leer war, wurde er plötzlich gesprächig. Er setzte wirklich Prioritäten und natürlich hatte er die wichtigsten Fragen längst gestellt. Eigentlich hatte es mich nicht zu überraschen. Ihn auf Missionen zu Taten antreiben zu müssen, wäre ein seltsames Ding.

„Weißt du, wo er ist?“, erkundigte sich Crowley.

„Fünf Kilometer nördlich, in der Nähe von Uka.“ Kandas Hand bekam den Becher zu fassen, begann ihn zu drehen. „Wir müssen dort so schnell wie möglich hin.“

„Wir bräuchten nicht lange.“ Von Crowley sah ich zu Kanda. „Bis zur Abenddämmerung könnten wir wieder zurück sein.“

Wenn wir sofort aufbrachen. Sofort wurde mir gegenüber genickt, doch Kanda war anderer Meinung.

„Einen Gesprächspartner werden wir dort nur abends finden“, meinte er. „Tagsüber sind die Mönche außerhalb unterwegs oder mit Zeremonien, Gebeten und Arbeiten beschäftigt.“

Grüblerisch stemmte ich das Kinn in die Handfläche und starrte auf das gegenüberliegende Regal.

„Der Finder meinte, es wären nur Level 1, die den Friedhof durchstreifen“, hob Crowley an. „Mit denen kann es auch einer von uns aufnehmen.“

„Schon“, stimmte ich zu und regte die Finger am Kinn. „Vorausgesetzt, unsere Anwesenheit ist bisher ein Geheimnis geblieben.“

An der Spitze des Tisches erhob sich ein zustimmendes Brummen. Niemand von uns wusste, ob es möglicherweise nicht auch die falschen Menschen waren, die uns auf dem Weg in das Dorf oder im Dorf selbst zu Gesicht bekamen. Möglicherweise hatten wir längst etwas angelockt, das mehr Stärke forderte.

„Willst du damit sagen, einer überwacht den Friedhof und zwei gehen zum Tempel?“ Kandas Finger machten sich immer noch an dem Becher zu schaffen. Sie glitten über den Rand, betasteten die raue Struktur. Crowley nickte und so richtete ich mich auf.

„Wenn alles so kommt, wie wir es uns vorstellen, sehe ich darin kein Problem.“ Sofort spürte ich Kandas Regung, kam ihm jedoch zuvor. „Aber da das selten der Fall ist, schlage ich vor, dass wir zuerst alle zum Friedhof gehen und herausfinden, auf was für einen Widerstand wir treffen.“

Es schien, als hätte Kanda etwas Ähnliches sagen wollen. Jetzt schwieg er jedenfalls und ich wandte mich an Crowley.

„Sollten es wirklich nur Level 1 sein, werden wir sie zerstören und uns anschließend zu zweit auf den Weg zum Tempel machen. Wenn die Akuma noch nicht von uns wissen, gibt es keine Verstärkung und bevor neue auftauchen, sind wir längst zurück und das hoffentlich mit nützlichen Informationen.“

„Meinetwegen.“ Endlich ließ Kanda von seinem Becher ab. Nach der letzten Berührung pendelte er sich scheppernd auf dem Tisch ein. „Um der Eskalation vorzubeugen, halten wir den Kontakt. Sollte es sich um eine Falle handeln, ist der Rückweg zum Friedhof schnell hinter sich gebracht.“

Er spähte zur Seite und wurde auf mehrere, kleine Mappen aufmerksam, die in einem der Fächer lagen.

„Ich hätte kein Problem damit, mit dem Finder die Stellung auf dem Friedhof zu halten.“ Crowley beugte der folgenden Frage vor. Letztendlich war es egal, wer von uns beiden Kanda begleitete, also nickte ich.

Es würde bei der Abenddämmerung bleiben, nur nicht bei demselben Ziel.

Irgendwie stieg auch in mir ein Gähnen höher und während Kanda auf die Beine kam, streckte ich mich. Nach wie vor blieben uns noch einige Stunden und irgendwie stand mir der Sinn danach, die Zeit für eine gesunde Mütze voll Schlaf herzugeben. Wirklich erholen konnte man sich auf einer Reise nicht. Man gelangte einfach nicht an diesen angenehmen Tiefschlaf.

Ächzend sank ich in mich zusammen und verfolgte trübe, wie sich Kanda eine dieser Mappen nahm. Es war alles gesagt und sofort fokussierte er sich nur noch auf die dicken, rauen Seiten, die ein Meer aus Schriftzeichen offenbarten.

Stirnrunzelnd neigte ich mich zur Seite und warf einen Blick in diese Mappe. Das Schaben der Tür verschaffte mir die nötige Ablenkung. Es war der Finder, der zurückkehrte und mit ihm ein säuberlicher Mantel. Und er hätte keinen besseren Moment abpassen können. Durch ihn hatten wir Kanda nicht mit weiteren Fragen zu provozieren und erfuhren schnell, dass er nichts anderes als den Speiseplan des Hauses studierte. Das Lesen der Schriftzeichen fiel dem Finder glücklicherweise leichter als die fließende Kommunikation und so verbrachten Crowley und ich eine lange Zeit damit, uns all die Gerichte vorlesen zu lassen.

Die japanische Küche war komplex aber die Bestellung gelang im Nachhinein ganz zufriedenstellend. Es dauerte auch nicht lange, bis serviert wurde. Das Essen war üppig, zierlich gestaltet und in der ganzen Menge eigentlich mehr häppchenweise zu genießen. Etliche Schüsseln, Schälchen, Teller und Krüge und während ich dann kaute, kam ich einfach nicht umhin, meine Augen zur Seite schweifen zu lassen. Mir gegenüber verschaffte sich Crowley einen vorsichtigen Eindruck von den fremden Delikatessen. Auch der Finder ließ es sich schmecken aber es war eine ganz andere Sache, über die ich nicht hinwegkam.

Kanda war ein seltsamer Mensch.

Fast unaufhörlich starrte ich auf das Tablett, über das er sich beugte. Hier, wo er die freie Wahl hatte und man ihm alles zubereitet hätte, blieb er seiner Gewohnheit treu und aß Soba-Nudeln. Es schmeckte ihm offenbar so gut, dass er nicht einmal auf meine penetrante Beobachtung einging. Die Augen auf die Schale gerichtet, versenkte er die Stäbchen in den Nudeln, kratzte am Wasabi und kaute genügsam.
 

Den Rest des Tages nutzten wir, um zu neuen Kräften zu finden. Die kommende Nacht war nicht einzuschätzen und so dösten wir etwas, während Kanda im Ryokan unterwegs war. Was er tat, das wusste ich nicht aber vermutlich reichte die Erklärung, dass er überall lieber war als bei uns. Erst als die Abenddämmerung einsetzte, betrat er wieder den Raum und gemeinsam trafen wir die letzten Vorbereitungen, bevor wir in den Sonnenuntergang hinaustraten und zu jenem Friedhof zurückkehrten.

Wir gingen zügig, waren lieber zu früh am Ort des Geschehens, als zu spät und fanden uns zu dieser Uhrzeit alleine auf den Feldwegen Okinawas wieder. Nur einmal erspähte ich in weiter Entfernung die Bewegungen zweier Bauern, die ihre Felder verließen und dorthin zogen, von wo wir kamen.

Zurück zum Dorf, zurück in die Sicherheit, der wir uns entzogen. Und das Ziel war schnell erreicht. Bald pirschten wir uns schon zwischen den dunklen Stämmen hindurch, stiegen durch tückisches Unkraut und gingen unter den annähernd schwarzen Baumwipfeln unseres Weges.

Dass etwas nach Plan verlief, geschah nicht oft. Die meisten Missionen waren so schwierig und hielten alles für uns bereit, womit wir nicht rechneten. Nicht so wie diesmal und der Anblick der wenigen Level 1-Akuma, die durch die Reihen der Grabsteine drifteten, brachte uns Zuversicht.

Es war keine Herausforderung und kaum waren wir aus dem Dickicht getreten, erlagen die schweren Körper schon unseren Waffen. Nur kurz erhoben sich die ohrenbetäubenden Geräusche, nur wenige Schüsse entflammten an dem heiligen Ort, bevor die Akuma dumpf zu Boden gingen und die Umgebung unter grellen Explosionen aufleuchtete.

Man meinte es gut mit uns und wir wechselten kaum ein Wort, bevor wir uns trennten. Crowley und der Finder blieben zurück, hielten die Position inmitten der letzten, brennenden Überreste der Akuma, während Kanda und ich uns rasch in Bewegung setzten. Fort von dem Friedhof und zurück in das Unterholz.
 

-tbc-

6

Für kurze Zeit umgab uns nur das Zischen des Blattwerkes. Vereinzelte Äste, die uns streiften, während wir uns unseren Weg durch das Dickicht suchten. Wir liefen zügig, pirschten uns durch das Meer der Stämme und schienen einem sicheren Pfad zu folgen. Ich hielt mich hinter Kanda, nicht penetrant, eher so, dass ich ihm im Auge hatte und mir der Tatsache sicher sein konnte, dass er wusste, wohin er mich führte.

Leicht und fließend bewegte er sich, schob sich an Stämmen vorbei, neigte sich unter tiefen Ästen und nur selten ertappte ich ihn dabei, wie er orientierende Blicke in alle Richtungen schickte.

Ich spürte das trockene Knacken gefrorener Äste unter meinen Stiefeln, schob mich durch ein kahles Gebüsch und binnen kürzester Zeit überquerten wir einen breiten Waldweg. Von einer Seite hinaus aus dem Dickicht und augenblicklich hinein in das andere. Wie zwei flüchtende Schatten in dieser Welt aus Kontrasten.

Ein einziges Gewirr aus Ästen erwartete uns auch weiterhin und beiläufig streifte ich einen zur Seite, ließ eine kleine Gruppe mit einem leichten Satz hinter mir und erblickte nicht weit entfernt einen steinernen Hügel, der aus dem Boden ragte. Er wirkte wie ein einziger, weißer Riese und mit einem Satz erreichte Kanda einen schmalen Vorsprung. Er fand sicheren Halt und nur ein knapper Blick war es, mit dem er sich von meiner Anwesenheit überzeugte, bevor er abermals in die Knie ging, leichthin den nächsten, sicheren Platz erreichte und sich über das kalte Gestein tastete.

Weiß beschlug sein Atem, als er zur Seite trat, höher stieg und sich zur Spitze zog. Es war schnell geschafft und auch ich setzte hinauf, tat es mit zwei weiten Sprüngen und setzte schlitternd auf der Spitze des Hügels auf. Es war glatt und flatternd umspielte mich der Mantel, unterwarf sich den eisigen Böen, die uns hier oben erreichten.

Weit konnte es nicht mehr sein. Nach wenigen, weiteren Schritten war auch Kanda stehengeblieben und in der klirrenden Kälte leise keuchend trat ich neben ihn, spähte an Tim vorbei und zu jenem Tal, das sich vor uns erstreckte. Wir waren weit hinaufgekommen und während ich den Kopf schief legte und jenes Tal durchforstete, wandte sich Kanda zu mir. Er spähte zur Seite, direkt an meinem Schopf vorbei und lehnte sich leicht zurück. Ein weiteres Mal verschaffte er sich einen Überblick und auch sein Atem erreichte mich als weißer Fetzen, brachte mich dazu, mich seinen Beobachtungen anzuschließen.

Selbst Timcanpy schien sich dafür zu interessieren und während wir die Momente auch nutzten, um unsere vor Kälte schmerzenden Kehlen zu schonen, ließ er sich auf meiner Schulter nieder. Er verschaffte sich seinen Halt und beiläufig wischte sich Kanda seinen Flügel aus dem Gesicht, als er sich zurücklehnte. Ich vernahm nur ein Ächzen, während ich zu dem grauen, dämmernden Himmel auf spähte und bemerkte, wie erdrückend er wirkte.

Vor allem hier an diesem hohen Platz. Wie ein dunkles, trostloses Tuch spannte er sich über die kahlen, ineinander verzweigten Baumkronen, die über unseren Köpfen empor ragten.

Nebenbei nahm ich dabei Kandas Bewegung wahr. Wie er nach vorn trat, heran an den steilen Abhang und kurz darauf war er auch schon verschwunden. Er ließ sich hinab schlittern, schnell versiegte das Kratzen seiner Schuhsohlen auf dem Gestein und nachdenklich löste ich mich von diesem Himmel und folgte ihm. Es war so seltsam.

Flatternd löste sich Tim von meiner Schulter und so ließ auch ich mich hinab rutschten und erblickte den weißen, schneebeladenen Boden des Waldes, dem ich mich schnell näherte. Selbst in dieser späten Stunde schimmerte er noch und mit einem leichten Satz umging ich verdächtige Kerben im Gestein, setzte im Schnee auf und spürte seinen sanften Widerstand. Kanda pirschte sich bereits weiter und von ihm aus spähte ich erneut nach oben, erhob mich aus der Hocke und setzte mich in Bewegung.

Während sich die schwarzen Äste dort oben vor dem dunklen Himmel wie Totenfinger krümmten, war es hier unten so weiß, so rein.

Permanent knackte es unter meinen Stiefeln, raschelnd löste sich zu meinen Seiten der Schnee von den Ästen und nicht selten spähte ich ihm nach, wie er zu Boden rieselte und diese weiße Wolke hinterließ, die ihm mit Verspätung folgte.

Es waren seltsame Anblicke. Nicht ungewohnt und trotzdem bannten sie mich jedes Jahr aufs Neue. Beiläufig behielt ich Kanda im Blick. Es war nicht schwer. Unsere Uniformen verschmolzen geradezu mit den finsteren Stämmen der Bäume, während sie sich vollends von dem weißen, reinen Schnee abhoben, ja, beinahe abstießen. Als würden wir nicht wirklich hier auf den Erdboden gehören.

Mich durchzog eine flüchtige Regung, kurz fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Stirn und war kurz davor, Kanda einzuholen. Dass er seine Schritte verlangsamte, konnte nur davon zeugen, dass wir unser Ziel erreichten. Und ich sah es, als wir aus dem dichten Meer der Stämme auf eine große Lichtung hinaus traten. Gemeinsam ließen wir den Wald hinter uns und mit einem Mal begegnete uns wieder Leben.

Der Schrein war ein einziger Komplex. Umzäunt und eingeschneit ähnelten die Gebäude dem Steinernen, das wir bei unserer Ankunft gesehen hatten. Nur größer und ich blickte auf, spähte bis zu den geschwungenen Dächern und folgte Kanda. Vor uns erhoben sich mehrere Gebäude, durch überdachte Gänge miteinander verbunden und umgeben von kleineren Bauten, steinern und hölzern.

Kleine Schreine, zwischen denen sich vereinzelt Gestalten bewegten und wir uns gemächlich auf sie zu. In dicke, dunkle Mäntel gehüllt, folgten die Mönche den Wegen, zogen von einem Haus zum anderen und leise vernahm ich auch das Klacken vereinzelter Türen und das Kratzen eines Besens, mit welchem einer der Mönche den Eingangsbereich vom Schnee befreite.

Es schien die geeignete Zeit zu sein und unweigerlich lenkte mich das schnarrende Geräusch einer Gebetsmühle ab, die in einem versteckten Winkel des Tempels geschwungen wurde. Es war einer der sonderbaren Orte dieses Landes. Ein stiller, wortloser Platz, den man erreichte, indem man aus dem Nichts des Waldes trat.

Von einem der Schreine blickte ich zurück zu dem Mönch, der sich nahe den steinernen Pfosten des Eingangsbereiches bewegte. Er hielt sich gebeugt, führte den Besen trotz seines beachtlichen Alters entschlossen und schon hob sich meine Hand vor mein Gesicht und sicherte den Halt der Kapuze, als wir den Mönch erreichten.

Er war auf uns aufmerksam geworden, stemmte sich auf den Besen, nutzte ihn als Stütze und in den ersten Momenten des Schweigens verfolgte ich eine knappe Verbeugung. Eine stille Begrüßung Kandas, der sich der Mönch anschloss. Eine kalte Böe drängte sich in unseren Rücken und verschluckte die ersten Worte, die Kanda an den Mönch richtete. Sobald dieses Pfeifen in meinen Ohren erstarb, spähte ich zu ihm.

Es war ungewohnt und mir schon eher aufgefallen. Auch als er sein Essen bestellte. Aber in diesem Moment war es nicht mehr als ein beiläufiges Brummen gewesen, gehüllt in Worte, die ich nicht verstand.

Die Augen auf den Mönch gerichtet, erhielt er dessen gesamte Aufmerksamkeit und unweigerlich drifteten meine Augen zu seinen Lippen. Sie bewegten sich fließend, wenige Augenblicke länger, bis sie verstummten und sich das Raunen des Mönches erhob. Es war eine seltsame Sprache, die ich nicht zum ersten Mal hörte. Aber das erste Mal von Kanda und während er zu den Worten des alten Mönches nur nickte, wandte ich mich ab.

Als die Aufmerksamkeit des Mönches auch auf mich traf, kommentierte Kanda es nur mit wenigen Worten, mit denen sich der Alte zufrieden gab.

Wenige Augenblicke später folgten wir ihm durch den Eingang und zu dem ersten großen Gebäude der Tempelanlage. Wir hielten uns hinter ihm, passten uns seinen schlürfenden, langsamen Schritten an. Unter der Kälte verschränkte ich die Arme vor dem Bauch und bewegte die Schultern unter dem dicken Stoff des Mantels. Scheinbar hatte man Zeit für uns und so hielt ich mich schweigend neben Kanda und trat kurz darauf in das warme Innere des Gebäudes. Die steinernen, dicken Fassaden versteckten hinter sich ein säuberliches, wenn auch simples hölzernes Innenleben.

Es schien ein Mönch hohen Ranges zu sein, der sich Zeit für uns nahm. Wir wurden in einen kleinen, mit Holz ausgestatteten Raum geführt und wieder erhoben sich die unverständlichen Worte, als der Mönch uns seinem Genossen vorstellte. Nur ein kurzes Gemurmel, dem Kanda schweigend lauschte und keine lange Zeit verging, bis man uns mit dem Mönch, ebenfalls einem Mann hohen Alters, alleine ließ.

Schlürfende Schritte verrieten, wie sich der andere entfernte und es blieb bei einem stillen Zunicken und einem seltsamen, wortlosen Verständnis, bevor Kanda den Mantel zurückschlug und vor dem Lager des Mönches niederkniete. Er bewegte sich ungezwungen und trotzdem meinte ich, seinen Regungen mehr Stolz zu entnehmen, als meinen, in denen ich es ihm gleichtat. Auch seine Haltung. Er hielt sich aufrecht und während ich die Schultern senkte und es mir einfach bequem machte, wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass es bei ihm eigentlich noch nie anders gewesen war.

Er bewegte sich anders, verhielt sich anders als ich. Schon immer und in diese knappen Grübeleien vertieft, schenkte ich der Musterung des Mönches kaum Beachtung.

Erst als er erneut die Stimme erhob, blickte ich auf und es schien bei einer kurzen Frage zu bleiben. Sie wurde eher an Kanda gerichtet und was auch immer er sagte, wie er den Verlauf auch bog, damit hier und jetzt kein Misstrauen entstand, unser Gegenüber hörte aufmerksam zu und bald senkte er den Kopf unter einem langsamen, andächtigen Nicken.

Wieder spähte ich zu Kanda, der dem Mönch keine Zeit für eine Antwort ließ. Fließend fuhr er fort und obwohl über seine Lippen ein Strom aus seltsamen Ausdrücken kam, war mein Interesse geweckt.

Mich jetzt um die Fakten zu kümmern, die hier besprochen wurden, hätte mir herzlich wenig gebracht und so saß ich nur weiterhin dort, die Reaktionen des Mönches studierend und ebenso die ruhige, jedoch forschende Tonlage, der Kanda verfiel. Es war so anders. Ganz anders, als in dem tagtäglichen Geschehen, in dem wir steckten und meine Muttersprache nutzten. Ich hatte gelernt, seine Stimmlage einzuordnen.

Die verschiedenen Facetten, die sie in ebenso verschiedenen Situationen aufwies. Im Eifer des Gefechtes. Ich wusste, wie er sich anhörte, wenn er schrie. Daheim. Manche seiner sarkastischen Untertöne schien er eigens für mich entwickelt zu haben. Andere Lagen, andere Zustände und immer war da das offenkundige Murren und die deutliche Unzufriedenheit über Dinge, an denen man so oder so nichts ändern konnte.

Nur hier und jetzt offenbarte sich mir eine völlig unbekannte Stimmlage. Ein sauberer, klarer Redefluss, ohne dass er den Mönch zu beleidigen oder zu bedrohen schien. Und ich lauschte aufmerksam, hörte zu und doch wieder nicht.

Es war wohl egal, an welcher Sprache er sich bediente, auch egal, ob er seine Entschlossenheit tarnte oder sie offen und barsch vor fremde Füße warf. Letztlich verrieten mir seine Augen in jedem Moment, dass er sicher auf eine zufriedenstellende Antwort hinarbeitete. Konzentriert ließen sie sich keine Reaktion des Mannes entgehen und flüchtig hob er die Hand zu einer seltsamen Geste, bevor er verstummte und dem Mönch das Wort überließ.

Ein Nicken und kurz saßen wir in nachdenklicher Stille dort, bevor sich die raue Stimme des Alten erhob und er zu erzählen begann. Ich fühlte, spürte oder glaubte zu wissen, dass diese Worte von großer Wichtigkeit waren. Es mussten Antworten sein, Erklärungen, die wir brauchten und von dem Gesicht des Priesters spähte ich nicht selten zu Kanda. Was auch immer er hörte, er regte sich kaum und nur einmal ertappte ich ihn dabei, wie er den Blickkontakt zu dem Mann unterbrach und flüchtig zu Boden sah.

Seine Lippen schürzten sich, doch kurz darauf fand er zur alten Aufmerksamkeit zurück. Es waren nur wenige, weitere Worte, bis es sich nach dem Ende des Gespräches anhörte. Man schien zu einem Punkt gekommen zu sein, an dem auch Kanda nicht mehr viel zu sagen hatte.

Eine kurze Stille brach über uns herein, in der wir von den erfahrenen Augen des Mannes gemustert wurden und die Kanda offensichtlich mit wenigen weiteren Grübeleien füllte. Es war nicht umsonst gewesen, es existierte eine Einsicht, die ich kennenlernen wollte. Der Inhalt des Gespräches und die Früchte, die dieses trug. Aber ich hatte mich zu gedulden. Während Kanda sich von dem Priester verabschiedete und auch während wir den Raum verließen und uns den Rückweg zum Eingang des Schreins suchten.

Kanda schien es nicht mehr eilig zu haben. Gemächlich hielt er sich vor mir und kurz bevor wir zurück in die eisige Kälte der Nacht traten, schien er sich von einigen Gedanken zu befreien. Seine Bewegungen zeugten von der alten Zielstrebigkeit und als uns die erste, kalte Brise begrüßte, zogen wir die Mäntel enger, stets auf den Waldrand zusteuernd, von dem wir gekommen waren. Und ich wartete, hielt mich neben ihm und spähte kurz zurück zu jenen Mauern, bevor wir in das Meer der Stämme eintauchten.

Sein Schweigen währte lange und ich tat mir keinen Zwang an, als ich neben ihm durch das Unterholz stieg. Ich stellte jene Frage und die dunklen Augen auf den vor uns liegenden Weg gerichtet, erhob er dann endlich die Stimme.

„Der Guji besaß ein Relikt, das für heilig erklärt wurde.“

Ich spähte zu ihm, umging einen verdorrten, kahlen Strauch.

„Ein Relikt, das in seiner Generation weitergegeben wurde. Da er keine Nachkommen hatte, wurde es mit ihm begraben.“

„Was ist das für ein Relikt?“, erkundigte ich mich.

Es war nicht so, dass es nicht Vermutungen in mir gab. Die Worte ließen auf eine gewisse Sache schließen und sobald ich darüber nachzudenken begann, erkannte ich die Schwierigkeit, die dahintersteckte. Dieses Relikt schlummerte gemeinsam mit dem Verstorbenen unter der Erde des Friedhofes. An einem Ort, der heilig war. Ich hatte es mir gedacht. Seit langem und seit ich mir diese gefrorene Erde betrachtete, die den Grabstein umgab. Eine eisige Böe erfasste uns und ließ mich blinzeln. Neben mir tastete sich Kanda an einem Baumstamm vorbei.

„Es handelt sich um einen Kristall, der von innen heraus leuchtet“, vernahm ich seine Stimme. „Seit zweihundert Jahren.“

Ich begann den Inhalt des Gespräches zu begreifen, zu grübeln und mich einem Punkt zu nähern, der mich auf unangenehme Einsichten stoßen ließ. Das alte Schweigen brach über uns herein und für kurze Zeit begleitete uns nur das Knacken der Äste, die wir unter unseren Stiefeln begruben.

Mehr gab es dazu nicht zu sagen?

Ich zog die Nase hoch, verbarg mich fröstelnd in meinem Mantel und ich stellte mir die Frage, ob ich der einzige war, der mit diesem unguten Gefühl lebte und mit dem bitteren Vorgeschmack zu ringen hatte.

Es war ein heiliger Friedhof sowie die Ruhestätte eines heiligen Mannes.

Ein Ort des Friedens, so wie es alle Begräbnisstätten waren. Wie man es drehte und wendete, wie man es auch schön redete und sich die Notwendigkeit vor Augen führte, was wir vor uns hatten, war Grabschändung in besonders schwerem Fall.

Wir hatten den letzten Frieden zu stören, Hand an einen Stein zu legen, der bis in alle Ewigkeit unangetastet hätte bleiben sollen und sofort kamen mir Kandas Worte in den Sinn. Seine Überzeugung, mit der er den Finder zurechtwies und ihn aufforderte, dem Ort den angemessenen Respekt zu zollen.

Und es waren nur Worte gewesen, die er für zu laut hielt.

Versteckt fanden meine Augen abermals zu ihm, doch bei jedem seiner Schritte, bei jeder seiner Gesten fiel mir auf, dass er so war wie immer.

Wie konnte er damit zufrieden sein? War er es?

Es war seine Kultur, die wir verletzen würden.

Was für einen inneren Konflikt musste all das heraufbeschwören?

Er nahm den Rückweg auf sich, als fürchte er sich nicht vor den Vorgehensweisen, die wir an unserem Ziel ergreifen mussten. Sein Einsatz für den Orden war rigoros. Ich hatte ihn noch nie zögern gesehen. Nicht binnen all der Monate, die wir uns kannten oder zumindest glaubten, es zu tun. Mir offenbarte sich hier eine interessante Situation, ein Ausnahmezustand, in dem Kanda doch nicht vom gewohnten Weg abwich. Er war ein Mensch, blieb menschlich und wie zielstrebig er sich auch bewegte und wie eisern seine Mimik auch blieb, es war ausgeschlossen, dass es nicht zumindest ein Zögern in ihm gab. Ich musste nur warten. Auf diesen einen Moment, an dem sich sein Unmut an die Oberfläche kämpfte.
 

„Wir öffnen das Grab.“

Er sagte es, kaum dass wir vor Crowley und dem Finder standen und natürlich verfielen sie sofort der angemessenen Bestürzung. Ich musterte Kanda. Die Bewegungen, mit denen er den Sitz seiner Handschuhe festigte. Nervös blickte der Finder um sich. Wir standen inmitten dieses stillen Friedens und weiterhin blieb ich stumm und in meine Gedanken vertieft.

„Das Grab öffnen?“, wiederholte Crowley und kurz darauf lenkten sich unsere Augen auf jenen Fleck. Wir wandten uns um, spähten hinüber und Kanda blieb mit seinen Handschuhen beschäftigt.

„Hier werden die Toten eingeäschert“, fuhr er fort. „Die Urne liegt nicht tief. Das Innocence wurde ihr beigelegt, also wird es nicht schwer.“

Fast hörte ich das trockene Schlucken Crowleys. Wer in dieser Situation an einem Aberglauben hing, hatte es schwer. Der Finder machte den Anschein, sich in genau dieser Lage zu befinden. Er stand zögernd dort und sobald sich Kanda in Bewegung setzte, lenkte sich die gesamte Aufmerksamkeit auf ihn.

Wir sollten es hinter uns bringen und er machte den Anfang.

Es war ein hölzerner Schuppen außerhalb des Friedhofes, auf den er zusteuerte und auch ich machte mich auf den Weg dorthin. Es ging schnell. Mit einem Ruck wurde die von dem Schnee feuchte, hölzerne Tür geöffnet und kaum hatte auch ich den Schuppen erreicht, zog Kanda schon einen Spaten ins Freie und an mir vorbei.

Wann kam es - sein Zögern?

Seine Schritte blieben so zielstrebig wie zu Beginn und ich kam nicht umhin, ihm nachzusehen, bevor auch ich mir einen Spaten nahm und auf das Grab zusteuerte. Crowley und der Finder hatten sich scheinbar von dem Zögern befreit. Wenn sie es auch nicht so eilig hatten, sie besorgten sich ebenfalls die Geräte, als Kanda und ich schon vor dem Grabstein standen. Die Nacht wurde kälter und kratzend bewegte sich der Spaten auf dem gefrorenen Boden, als ich mich auf ihn stützte.

Wir waren allein und diese finsteren Stunden die einzigen, die wir nutzen konnten. Bevor die Sonne aufging und es die Trauernden des Dorfes zurück zu diesem Ort zog.

Neben mir schlug Kanda den Mantel zurück, versenkte den Spaten mit einer raschen Bewegung in der Erde und ließ ihn stecken, um die Abgrenzung zu übertreten. Ich blieb auf meinen Spaten gestützt, regte die Hände auf dem hölzernen Knauf und verfolgte, wie er das Grab von allen Gefäßen befreite. Von Kerzen, den Halterungen der Räucherstäbchen sowie wenigen Blumen.

Er war so fixiert wie bei jedem Auftrag und ich stand dort und beobachtete ihn.

Bei ihm waren es nur wenige Emotionen, die nach außen drangen. Zu selten konnte man seine Gedanken erahnen und ebenso verschlossen zeigte er sich auch diesmal. Sein striktes Handeln versetzte mich mit jeder Sekunde mehr in die Nähe gewisser Zweifel.

Man wusste es bei ihm nie.

Regte sich etwas in ihm, das man nicht sah oder sah man nichts, weil sich nichts in ihm regte?

Ihn zu durchschauen war unmöglich und kaum riss er den Spaten aus der gefrorenen Erde, um sich an dem Grab zu schaffen zu machen, presste ich die Lippen aufeinander.

War er so gehorsam und auf seine Pflichten fixiert, dass es ihm wirklich nichts ausmachte?

Überschritt er diese Grenze problemlos?

Er fühlte sich ernüchternd an, dieser Gedanke.

Verlor man sein Mitgefühl, wenn man dem Orden so lange diente, wie er es tat?

Würde auch ich bald über nichts mehr nachdenken, was heilig war?

Und er rammte den Spaten in die Erde, jagte ihn mit dem Fuß tiefer und scherte sich nicht um meine anhaltende Zurückhaltung. Schon hebelte er die erste Erde heraus und dumpf landete sie neben mir auf dem Weg. Möglicherweise war er wirklich so. Ich riss mich los, gesellte ich mich zu ihm und versenkte auch meinen Spaten im harten Untergrund.

Ich konnte es mir nicht erklären aber ich befürchtete, enttäuscht von ihm zu sein.

Er zeigte so oft Regungen, die ihn menschlich machten. Macken, Schwächen und eine unzumutbare Launenhaftigkeit. All das hatte ihm in meinen Augen immer eine Humanität geschenkt, die ich hier und jetzt nicht erlebte. Mir gegenüber arbeitete womöglich jemand ohne Gewissen an einer fragwürdigen Aufgabe und ich half ihm, rammte den Spaten hinab und jagte ihn mit dem Fuß tiefer.

Was war die versteckte Zuneigung zu Linali, wenn er sich in Gebieten wie diesen so benahm?

Vor mir tat sich ein schierer Zwiespalt auf und kopfschüttelnd löste ich mich von diesem Denken.

Jede Ausnahmesituation, in der ich ihn erlebte, verwirrte mich. Ein klares Bild hatte ich von ihm nie gehabt und vermutlich würde es von hier an nur weiterhin verschwimmen. Er war undurchschaubar, mir völlig unbegreiflich, und würde es wohl auf ewig bleiben.

Bald schaufelten wir zu dritt.

Mehr Platz blieb nicht und so stand der Finder tatenlos neben uns, die Augen aufmerksam in der Umgebung. Er schien Besuch zu befürchten und wenn man es recht bedachte, wäre das Auftauchen eines Menschen in diesen Momenten beinahe katastrophaler als das eines Akuma.

Wir kamen schnell tiefer. Sobald die obere, gefrorene Schicht abgetragen war, wurde die Erde weicher. Wie Kanda es sagte, die Urne konnte nicht zu tief liegen und wirklich hielten wir alle abrupt inne, als Crowleys Spaten auf einen Widerstand traf. Einen halben Meter, tiefer waren wir kaum gekommen und mit einem knappen Wink scheuchte Kanda uns zurück und warf den Spaten zur Seite.

Wir hatten es geschafft und während er neben dem Loch in die Knie ging, beugten wir uns nach vorn. Es war so leicht gewesen. In dieser Kürze hatten wir nur selten ein Innocence gefunden und fast erhellte diese Zufriedenheit die Finsternis dieses verbotenen Aktes. Die ersten Handgriffe waren das Schwerste gewesen und nun, da das Grab ohnehin geöffnet war, fiel ein spürbarer Teil der Hemmung von uns.

Abermals auf den Spaten gestützt, verfolgte ich, wie Kanda sich in das Loch beugte. Seine Finger gruben sich in die gelockerte Erde und tasteten, bis sie das Gefäß zu fassen bekamen. Es war steinern und leicht als Urne zu identifizieren. Umschlossen wurde sie von einem kunstvollen Band, auch von einem Siegel, das dafür sorgte, dass sie nimmer mehr geöffnet wurde. Und das musste sie auch nicht.

Das Relikt sollte beiliegen. So hatte es Kanda gesagt und so stellte er die Urne neben sich und tauchte wieder in die Finsternis der Grube ein. Er tastete erneut, seine Hand durchkämmte die Erde und je länger er es tat, desto seltsamer wurde die Situation.

Es war nicht da.

Nachdenklich beugte ich mich über die Grube, Crowley murmelte etwas und Kanda beendete die Suche.

Er stemmte sich hinauf, schüttelte die Erde vom Handschuh und rümpfte die Nase. Nichts an diesem Ort hatte den Anschein erweckt, als wäre jemand schneller gewesen. Vor uns war alles unangetastet geblieben und flüchtig rieb ich mir das Kinn.

Meine Augen verloren das Interesse an dem Grab, drifteten höher und genau wie ich wandte sich auch Kanda der Urne zu. Die Situation wurde noch unliebsamer. Es konnte nur eine Lösung geben und kurz darauf starrten wir alle auf diese Urne. Sie war so fest versiegelt, sie barg etwas Wertvolles und ein Seufzen drang aus Crowleys Richtung. Wir alle dachten dasselbe und Kanda handelte ernüchternd schnell.

Seine Hände fanden die Urne und zu dem harten Siegel aus Wachs. Zischend zog er ein kleines Messer aus einer versteckten Scheide, wendete es in der Hand und keine Sekunde verging, da setzte er die Klinge auch schon an das Band und durchschnitt es.

Ich verfolgte diese gnadenlosen Handgriffe, mit denen er das Band von der Urne löste und das Messer wieder verschwinden ließ, bevor er den Deckel des steinernen Gefäßes umfasste und ihn abhob. Mit einem Räuspern machte der Finder auf sich aufmerksam, mit großen Augen neigte sich Crowley nach vorne und Kanda legte den Deckel neben sich ab.

Kein Leuchten drang durch die helle Asche und kaum war mir in den Sinn gekommen, was es als nächstes zu tun gab, da tat Kanda es bereits. Er versenkte die Finger in der Asche des heiligen Mannes und begann zu tasten. Das Behältnis war nicht groß und er brauchte nur einen Augenblick, um fündig zu werden.

Seine Finger hielten etwas umfasst und wirklich wurde die nahe Umgebung in einen leichten Schein gehüllt, als er das Relikt ins Freie zog. Das grünliche Leuchten verbarg sich inmitten eines Kristalls.

Wir hatten es.

Ich fing es auf, als Kanda es mir zuwarf. Es war vollbracht und wie betrachteten wir uns das Fundstück, während Kanda bereits nach dem Deckel der Urne griff. Seine Bewegungen verloren mein Interesse.

Die Überwindung hatte sich gelohnt und als ich den Kristall an Crowley weitergab, hatte Kanda die Urne bereits wieder im Grab verstaut. Das Band, wenn auch zerschnitten, hatte seinen alten Platz gefunden und flüchtig befreite er sein Gesicht von vereinzelten Strähnen, bevor er auf die Beine kam und sich nach seinem Spaten umsah.

„Was steht ihr hier noch herum?“, hörte ich ihn fragen. Sein Fuß setzt sich auf die gefrorene Erde, die wir aus dem Grab geholt hatten. „Geht zurück und erstattet Meldung.“

Es waren Worte, die Crowley mit einem Nicken abtat, mich jedoch in ein abruptes Zögern stürzten.

Von Kanda spähte ich zu Crowley, auch zu dem Finder. Sie hatten sich an diesem Ort nie wohlgefühlt. Sicher verstaute Crowley das Innocence unter einer Falte seines Mantels und der Finder nahm die Spaten an sich, während Kanda seinen zurück in die Erde rammte. Und abermals versuchte ich in ihm zu lesen, in seinem Gesicht oder seinen Bewegungen den Grund für diese Worte zu finden.

Dies war ein weiterer Punkt, an welchem ich nicht verstand, worauf er aus war, wie er dachte und ich konnte ihn so verstohlen mustern wie ich wollte, seine Worte waren deutlich und vor allem das Unverständnis war es, das mich dazu brachte, dieser Direktheit zu folgen. Ich tat es nur langsam, als der Finder zurückkehrte und unsere Spaten sich als verstaut betrachten konnten.

Kanda blieb zurück und auch als wir uns in Bewegung setzten, stand er nur dort, regte die Hand auf dem Griff des Spatens und blickte sich um. Seine Augen schienen den Boden abzutasten, nach etwas zu suchen und ich presste die Lippen aufeinander, bevor ich ihm den Rücken kehrte und Crowley und dem Finder durch die Reihen der Gräber folgte. Ich schaute nicht zurück, tastete nur nach Tim und zog ihn zu mir.

„Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass dieser Auftrag so leicht wird.“ Seufzend schlug sich Crowley in das Dickicht, hatte mit so einigen Ästen zu ringen, die sich ihm entgegen neigten.

Er hatte Recht und auch der Finder war erleichtert. Es hatte kaum ein Gefecht gegeben. Der Kampf war nicht als ein solches zu bezeichnen. Es war so schnell gegangen und jetzt, kaum zwei Stunden, nachdem Kanda und ich den Schrein verließen, war es getan.

Ich spürte die harten Äste unter meinen Stiefeln, verschränkte im Schutz des Mantels die Arme vor dem Bauch und senkte das Gesicht. Meine Schritte gefielen mir nicht. Vor allem nicht die Tatsache, dass ich mich von einem Ort entfernte, wo etwas geschah, das nicht für unsere Augen bestimmt war.

Weshalb Kanda darauf bestand, das Grab alleine zu schließen, ohne Hilfe und ungesehen.

Natürlich bekamen mich die alten Grübeleien zu fassen. Erwartungen, die sich doch nur in seltsame Gefilde erstreckten. Ich konnte ahnen, konnte schätzen, aber ich wollte es sehen.

Verstohlen blickte ich auf und musterte die Rücken meiner Vordermänner.

Unbesorgt führten sie Gespräche und bemerkten nicht sofort, dass die Geräusche meiner Schritte hinter ihnen verstummten, dass ich innehielt und zurückblickte. Wir waren weit genug entfernt. Eine breite Mauer von Stämmen trennte uns von Kanda.

„Allen?“ Crowley war stehen geblieben und kaum spürte seinen fragenden Blick, da schnellte ein Lächeln über meine Lippen.

„Ich denke, ich gehe noch etwas spazieren und komme nach“, sagte ich und wies mit einer knappen Kopfbewegung zur Seite. Wir hatten den Auftrag erfüllt. Bericht erstatten konnte auch einer von uns und so kamen keine Fragen auf. Nur Verständnis gegenüber dieser selbstverständlichen Sache.

So setzten sich die beiden wieder in Bewegung und ließen mich inmitten der Bäume zurück.

Aufmerksam behielt ich mein Lächeln bei und wirklich, Crowley ging nur wenige Schritte, bevor er sich umdrehte und entspannt hob ich die Hand und winkte. Es war alles in Ordnung und kaum sah ich wieder die Rücken der beiden, wie sie in der Finsternis des Waldes allmählich verblassten, da verblasste auch der Ausdruck auf meinen Lippen.

Langsam schloss ich die erhobene Hand, ließ sie sinken und schöpfte tiefen Atem.

Ich hätte nicht weitergehen können. Keinen Schritt, ohne zu wissen, was hinter mir lag.

Es war ein seltener Moment, in dem ich eine Seite an Kanda eventuell durchschauen konnte.

Mich interessierte, was er tat. Natürlich interessierte es mich, genau wie jede Möglichkeit, ihn besser zu verstehen, mich seinem wahren Charakter zu nähern und alles hinter mir zu lassen, womit er diesen gewöhnlicherweise tarnte. Ich wollte ihn sehen. So wie er wirklich war.

Vermutlich blieben die einzigen Möglichkeiten die, in denen er sich nicht beobachtet fühlte.

Ich drehte mich um.

Fragen wollte ich genauso wenig beantworten wie er und so ging ich leise und an verräterischen Stöcken vorbei. Selbst das Flattern meines Golems unterdrückte ich, indem ich ihn seiner Freiheit beraubte und unter meinem Mantel verstaute. Lautlos zog ich auch die Kapuze über meinen Schopf, passte mich der Dunkelheit an und es brauchte nicht viele Schritte, bis ich das Ende der Bäume vor mir sah und einen winzigen Teil der Lichtung, auf der sich jener Friedhof erstreckte.

Ich schob mich an einem Gebüsch vorbei, wollte nur soweit gehen, bis sich mir eine etwas bessere Sicht bot. Schon jetzt waren es Geräusche, die zu mir drangen. Ich hörte das Kratzen des Spatens in der Erde, das Zischen, als er tiefer in sie drang und den dumpfen Laut, mit welchem sie an einem anderen Platz landete.

Langsam hob ich die Hand, tastete mich zum nächsten Baum und tat den letzten Schritt so zaghaft, dass meine Bewegung zwischen den Bäumen nicht auszumachen war. Wie ein Tier, das sich anpirschte, um einen Erfolg zu erleben. Und ich hatte ihn vor mir, als meine Augen ungehindert zwischen zwei Stämme dringen konnten. Meine Hand blieb auf die Rinde des Baumes gebettet und stockend lehnte ich mich gegen sie.

Kalt drang die Luft an meine Augen. Ich spürte dieses Brennen und blinzelte dennoch nicht.

Beiläufig wurde der Spaten fallen gelassen. Kanda warf ihn zur Seite, als sich die Grube vor ihm mit der alten Erde gefüllt hatte. Die Oberfläche war beinahe eben und trotzdem nicht eben genug. Er ging in die Knie und drückte die Erde glatt. Gemächlich und mit den Händen und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals den Fuß auf diesen Fleck gesetzt hätte. Nein, auch jetzt kauerte er keineswegs auf der Erde, die zu dem Grab gehörte. Lieber beugte er sich weit nach vorn, strich über die bald ebene Fläche und schien zufrieden. Es war nur ein kurzer Moment, in welchem er das Resultat begutachtete und für gut befand. Jedoch nicht perfekt.

Es waren die kleinen Gefäße und Blumen, die fehlten und nur selten hatte ich bei ihm solch ruhige Bewegungen gesehen. Er griff nach den Gefäßen, als bestünden sie aus dem fragilsten Glas und ich war mir dessen nicht sicher, doch es wirkte, als wurden sie auf dieselben Stellen zurückgesetzt, von denen sie genommen worden waren.

Er hatte darauf geachtet. Eine Aufmerksamkeit, die sich gekonnt hinter seinem Tatendrang versteckte. Sie musste so kurz gewesen sein und doch so intensiv. Vorsichtig wurden sie auf die Erde zurückgesetzt, leicht in den Untergrund gedrückt und kurz sah ich ihn auch an den Blumen hantieren. Sie wurden tiefer in die Vase geschoben und kurz und präzise zurechtgerückt. Meine Lippen wurden trocken und meine Augen machten mich darauf aufmerksam, dass ich noch immer nicht geblinzelt hatte.

Ich tat es schnell, befürchtete auch nur eine Sekunde dieses abstrusen Schauspiels zu verpassen.

Es war so einzigartig. Unvorstellbar. Doch ich wurde Zeuge und ohne dass ich es bemerkte, sank mein Körper gegen den Stamm. Nur stockend schürzte ich die Lippen und befeuchtete sie mit der Zunge.

Bald waren alle Stücke wieder am alten Platz. Hie und da wurde noch gerückt und die nächste Bewegung schien ein Fremder auszuführen. Seine Hand hob sich, strich mit solch einer Vorsicht über die eingemeißelte Schrift des Grabsteines, um sie von der Erde zu befreien, dass es nicht Kanda sein konnte. Er wischte, streifte das Gestein nur leicht und anschließend hockte er dort, schien das Bild abermals zu kontrollieren und neigte sich zur Seite.

Worauf seine nächsten Bewegungen aus waren, konnte ich kaum erkennen. Er griff nach einem der Gegenstände, beschäftigte sich mit ihm und erst als die Flamme eines Streichholzes aufloderte, bot sich meinen Augen das genaue Bild. Sachte hielt er es, schützte es mit der anderen Hand vor dem Wind und langte kurz darauf nach einer hölzernen Schachtel. Ein Stäbchen war es, das er hervorzog und über die Flamme hob. Sie zitterte, bebte aber sie hielt durch und schon stieg Rauch von dem Stäbchen auf.

Eines der Utensilien des Grabes.

Unablässig stieg der hellgraue Rauch auf und ich bemerkte kaum, wie ich den Kopf reckte, als er das Stäbchen flüchtig vor dem Grab bewegte. Verspielt umfing der Rauch das Gestein, folgte dem Stäbchen, als es sinken gelassen und sachte in einer Halterung postiert wurde.

Stockend bewegte ich die Fingerkuppen an der Rinde und nahm ihre Rauheit doch kaum wahr. Ich stand unter einem seltsamen Bann, nahm diesen Anblick in mir auf wie den frischen Sauerstoff dieser kalten Nacht und vergaß das Blinzeln erneut, als Kanda sich zurückschob. Er brachte Distanz zwischen sich und das Grab und dann verfolgte ich, wie er tiefer sank und auf die Knie. So demütig.

Noch nie hatte er sich vor meinen Augen so klein gemacht. Und dann verbeugte er sich tief.

Ein unentschlossener Ausdruck zerrte an meinen Lippen. Er bat um Vergebung und zollte dem Toten den größten Respekt. Ich spürte, wie trocken mein Hals war. Das Schlucken fiel mir schwer.

„Was soll der Priester für eine Rolle spielen?“ Abrupt kamen mir seine herzlosen Worte ins Gedächtnis.

„Er ist tot und somit nicht mehr von Bedeutung.“

Das hatte er gesagt.

Ich sah, wie er sich bald darauf aufrichtete, meinte auch, seine Stimme zu hören. Ich sah es und doch wieder nicht. Wie er sich ein weiteres Mal tief hinab beugte, sich verneigte, sich unterwarf. Es drang kaum in meine Wahrnehmung. Auch die Bewegungen nicht, mit denen ich mich vom Stamm löste.

Ich hatte genug gesehen und kehrte der Lichtung den Rücken.

Stockend fand meine Hand zu meinen Lippen und ich rieb sie mir, als ich die ersten Schritte tat.

Mich beherrschte purer Unglauben. Ich wusste nicht, was ich auf dieser Lichtung erwartete, als ich Crowley und den Finder alleine weitergehen ließ. Ich ahnte nicht, dass es eine solche Demut in Kanda gab.

Dass er einen Verstorbenen hoch genug achtete, um ihm gegenüber Schuldgefühle zu verspüren.

Diese Eile, mit der er das Grab aushob. Mein Körper bewegte sich von allein. Still an einem Gebüsch vorbei.

Gleichgültigkeit und der von ihm gewohnte Ansporn oder der Wunsch, es schnell hinter sich zu bringen?

Wäre ihm die langsame Arbeit als zu quälend erschienen?

Dieses neue Licht, in dem ich ihn sah, blendete mich.

So wie ich selbst so geblendet gewesen war, so naiv gläubig seinem Verhalten gegenüber.

„Wir öffnen das Grab.“

Natürlich. Mit diesen Worten hatte er etwaige Diskussion über dieses Vorhaben unterbunden.

Weil er jede Kritik verstanden und nachempfunden hätte?

Wäre es ihm noch schwerer gefallen, hätten wir Worte über diesen Entschluss verloren?

Es musste schwer genug gewesen sein und trotzdem hatte er es getan. Vor allem er.

Jeden Handgriff, für den er sich nun entschuldigte.

Laut brach der Atem aus mir heraus. Ich war weit genug entfernt. Wieder fuhr meine Hand über mein ungläubiges Gesicht.

Was tat er nur?

Woraus bestand sein Grund, sich vor mir, nein, vor uns allen zu verstellen?

Weshalb zeigte er sich von seiner finsteren Seite, um nicht in dieses Licht gerückt zu werden?

Meine Schritte wurden sicherer, größer, fanden die alte Zielstrebigkeit und während ein stummes Lachen über meine Lippen kam, befreite sich Tim. Schimmernd flatterte er aus der Falte des Mantels.

Wie absurd. Gerade von ihm hatte ich nicht erwartet, mich zu überraschen. So unverständlich mir seine Art auch war, sie war so beständig, dass ich alles in ihr sah, was ihn ausmachte. Unter einem erneuten Kopfschütteln rieb ich mir die Mundwinkel und blinzelte verstohlen zu Boden.

Vermutlich hatte ich ihm gegenüber aufmerksamer zu sein. Soviel mehr als bisher.

Sein Geschick, sich zu verstellen, grenzte an Perfektion.

Genau wie ich war auch er nicht das, was er vorgab zu sein.

Seine verborgene Seite war interessant, meine nur finster.
 

-tbc-

7

Ich kehrte in den Ryokan zurück. Kanda nahm sich Zeit und ich wusste wofür.

Meine Lippen waren zu einem andauernden Schmunzeln verzogen und erst als ich in die Räume der Herberge trat, verblasste dieser Ausdruck. Was ich gesehen hatte, war zu wertvoll, um es weiterzugeben. Dieses Wissen gehörte nur mir.

So gesellte ich mich zu Crowley und dem Finder und machte mich an den Schnallen meiner Uniform zu schaffen.

„Allen.“ Sofort wandte sich Crowley an mich. Neben dem Finder saß er am Tisch und wärmte seine Hände an einem Tee. „Ich habe mit Komui telefoniert. Ich werde zurückgerufen, soll mich sofort auf den Weg machen.“

„Ich ebenso“, fügte der Finder hinzu.

Unter einem befreiten Durchatmen ließ ich mich ihnen gegenüber auf die Tatami-Matten sinken, streckte die Beine und zog den Krug zu mir. Aufmerksam schob Crowley einen Becher über den Tisch, nach dem ich sofort griff.

„Kanda und du“, fuhr er fort, „ihr bekommt eine neue Mission.“

Kurz verfiel ich wieder diesem undeutlichen Schmunzeln und schenkte mir ein.

Weitere Tage mit Kanda zu verbringen, erschien mir nicht schlimm.

Vielmehr gab es plötzlich Erwartungen in mir. Interesse und Neugier.

„Komui hat darum gebeten, dass einer von euch zurückruft.“

Ich nippte am Becher. Der Tee war nicht ganz mein Geschmack aber er wärmte. Beiläufig winkte ich nach dem Telefon des Finders, augenblicklich setzte er sich in Bewegung und während er wählte, blickte ich durch die leicht geöffneten Shoji und betrachtete mir den weißen, kalten Innenhof des Gebäudes.

„Bitte.“

Das leise Klacken des Bambusrohres über dem kleinen See. Das Wasser plätscherte permanent, drängte es gen Boden und ließ es kurz darauf wieder höher schnellen. Ich griff nach dem Hörer, der mir gereicht wurde und behielt die abwesende Beobachtung bei. Das Rufsignal erhob sich nahe an meinem Ohr, permanent erhob sich auch das Pochen aus dem Innenhof und erst als sich Komui meldete, blinzelte ich mich von den Gedanken frei, die sich seit kurzem in ein und dieselbe Richtung lenkten.

„Ich bin’s.“ Bequem rückte ich mich zurecht und schwenkte den Tee im Becher. Ich war gespannt, welcher Art die Wege waren, die wir gemeinsam zu gehen hatten.

„Allen!“ Zu gewissen Zeiten freute sich Komui über jeden Anruf und ich juckte mich an der Wange, lauschte seinem Lachen. „Seid ihr schon eingeschneit? Ist es bei euch auch so kalt?“ Geräuschvoll wurde die Nase hochgezogen. „Ich glaube, ich hole mir eine Erkältung.“

Den Tag, an dem Komui sofort zum Wesentlichen kam, den wollte ich erleben.

Ich legte den Kopf schief und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr.

„Wird Zeit, dass wieder Sommer wird“, meinte ich dazu nur und sofort ächzte er auf.

„Das wird noch dauern. Noch viel zu lange.“

Wo er Recht hatte.

„Ich habe gehört, Kanda und ich kriegen noch etwas zu tun.“

„Ist er in der Nähe?“, kam sofort die Gegenfrage und müde verneinte ich. „Ach, wie schade.“ Das folgende Lachen klang irgendwie tückisch. „Pass auf, Allen. Ihr sollt das Innocence gleich zu einem Marshall bringen.“

„Zu wem?“, fragte ich, doch kaum hatte ich ausgesprochen, da begriff ich es. „Oh.“

„Ja.“ Komui schien sich wirklich zu freuen. „Tiedoll ist in China. Kanda wird es kaum erwarten können.“

Genauso wenig wie ich es erwarten konnte, ihm das mitzuteilen.

Ich rutschte am Tisch etwas tiefer und begann an meinem Becher zu kratzen.

„Er wartet in Shenyang auf euch. Es reicht, wenn ihr euch morgen auf den Weg macht. Gönnt euch eine Nacht Ruhe.“

Ein Geräusch veranlasste mich dazu aufzublicken. Die Tür im Nebenzimmer wurde geöffnet und Komui redete weiter, ohne dass ich ihm zuhörte. Kanda war zurück aber ich hatte nicht vor, Komui das zu verraten.

„Und dann geht ihr…“, erhob sich Komuis Stimme unaufhörlich aber ich hörte ihm immer noch nicht zu.

Viel eher suchte mein Blick nach Kanda. Schritte, dann erschien er im offenen Durchgang. Die Zeugen seiner Arbeit hatte er gut verschwinden lassen. Die Uniform, die er nun am Kragen etwas lockerte, war sauber. Ebenso die Handschuhe, von denen er seine Hände befreite.

„Das ist leicht zu finden“, fing ich einen Fetzen von Komui auf, als er in meinem Rücken vorbeizog und die Schiebetüren zum Innenhof weiter öffnete. Wahrscheinlich, um sich erneut vor uns in Sicherheit zu bringen. Selbst den Hörer an meinem Ohr ließ er unbeachtet. Genauso wie ich die weiteren Worte, die zu mir drangen. Es war die Brise, die Kandas Bewegungen nach sich zog. Sie war es, die meine Sinne auf sich lenkte und tief atmete ich ein, nahm sie in mir auf.

Der dezente Geruch des Räucherstäbchens hing noch an ihm und führte mir die vergangene Situation ein weiteres Mal vor Augen, während sich die Schiebetür schon schloss und Kanda hinter ihr verschwand.

„Alles verstanden?“, erkundigte sich Komui in diesem Moment und ich rückte mich kurz zurecht.

„Kannst du das wiederholen?“

„Was hast du denn nicht verstanden?“, erkundigte er sich irritiert.

„Alles.“

„Mensch, Allen. Wo bist du mit deinen Gedanken?“

‚Woanders’, dachte ich mir nur. ‚Ganz woanders.’
 

Ich bekam die Schiebetür zu fassen und öffnete sie.

Noch immer lastete die Nacht auf der Insel und trotzdem schimmerte der Schnee in diesem Garten so immens, als wäre es erst die Dämmerung. Ich genoss die frische Luft, die mir entgegen zog, blinzelte unter der Kälte und spähte zu den wenigen Lampen, die den Garten umgaben.

Beinahe ruhig loderten die kleinen Flammen, während hinter mir und in den Räumen Stille herrschte.

Ich löste die Hand von dem dünnen, hölzernen Rahmen und spähte zur Seite. Ordentlich standen dort die schwarzen Stiefel auf dem überdachten Weg. Und neben ihnen lehnte Kanda an einem hölzernen Stützpfeiler.

Das offene Haar über die Schulter gezogen, schien er sich den Garten zu betrachten. Er spähte zu dem kleinen See und zu dem Röhrchen, das sich füllte, neigte, leerte und sich wieder emporhob. Immer und immer wieder und kurz verfolgte ich all das, bevor ich zu ihm trat. Die Hände in den Hosentaschen blieb ich neben ihm stehen.

„Was willst du?“ Endlich schenkte er mir Beachtung und wie immer hatte ich mich sofort zu rechtfertigen, wenn ich ihm Gesellschaft leistete.

„Crowley und der Finder sind gegangen. Wir haben den nächsten Auftrag.“

„Worum geht es?“

„Wir sollen Tiedoll in China treffen und ihm das Innocence überbringen.“ Kaum hatte ich ausgesprochen, da erhob sich schon dieses tiefe Durchatmen. Kanda schien irgendwie zum Leben zu erwachen.

„Warum das? Es würde genügen, wenn du gehst.“ Ich spürte einen scharfen Blick. „Jetzt gleich?“

„Morgen“, konnte ich ihn beruhigen aber wirklich zur Ruhe fand er nicht. Hier zeigte er sich mir genauso, wie ich ihn kannte und während er einen nur zu erahnenden Fluch über die Lippen brachte, besah ich mir im Schutz der Dunkelheit seine Hände. Hätte ich es nicht selbst gesehen, würde ich es nicht glauben.

Unter einem absenten Kopfschütteln wandte ich mich ab.

„Ich gehe schlafen.“

„Als ob mich das interessiert.“
 

Ein weiteres Mal öffnete ich die Schränke, in denen die Futons untergebracht waren und zog einen von ihnen ins Freie. Viele Stunden zum Schlafen blieben nicht, also war es das Beste, es nicht länger herauszuschieben. Träge rollte ich den Futon im großen Nebenzimmer des Essensraumes aus und machte mich daran, aus den Stiefeln zu schlüpfen. Ich vergeudete keine weitere Zeit, bis ich mich nieder legte und die Decke über mich zog.

Es war der Moment, in dem ich endlich abschaltete, in dem ich alles vergaß. Für wenige Stunden würde meine Existenz in der kontrastreichen Realität enden und so ließ ich mich in dem warmen, dunklen Gewässer treiben. Ich musste schnell einschlafen. Erst in Augenblicken wie diesen zeigte sich die wahre Erschöpfung.

Was für ein Genuss und auch als ich irgendwann wieder die Augen öffnete, schien ich noch zu schlafen. Alles an mir, bis auf die Lider, die sich hoben. Ich sah das kahle Zimmer des Ryokan vor mir, war nicht dazu imstande, dieses Bild in mich dringen zu lassen, zu spüren, dass ich wach war oder mir die Frage zu stellen, weshalb es der Fall war. Nicht einmal nach Kanda suchte ich, als wäre er nie mit mir hier in diesem Haus gewesen.

Reglos verharrte ich auf dem Rücken, reglos lag meine Hand neben meinem Gesicht gebettet und ohne zu blinzeln blickte ich zu den Konturen eines Wandschrankes. Dort, auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, der in nächtliche Dunkelheit gehüllt war. Der Mond schien hell. Vermutlich hatte er es die ganze Zeit über getan und allmählich begann ich die Tatsachen zu realisieren. Ein tiefer Atemzug durchflutete meinen schweren Körper, als ich den Blick von dem Schrank löste, ihn zu dem hellen Umriss des Fensters senkte, den der Schein des Mondes auf den Boden warf.

Die Realität ergriff mich abermals. Annähernd still tickte der Zeiger irgendeiner Uhr und noch immer vom Schlaf benommen, regte ich die Finger, bewegte die Lippen aufeinander.

Von einem Moment auf den nächsten. Vermutlich war es schnell gegangen. Ich war wach.

Und es war tiefe Nacht. Um welche Stunde es sich handelte, war mir gleich. Die Uhr war es nicht, für die ich mich interessierte und reglos blieb ich liegen, blinzelte dem Boden entgegen und spürte die weichen Daunen des Kissens unter meinem Ohr. Es überraschte mich nicht, denn es geschah oft, dass sich mein Geist mit einem Mal von der Absenz trennte und mich hier in die Realität zurücksandte, als duldeten ferne Gebiete nicht meine Existenz.

Was erwartete man hier von hier?

War mein Körper dieses Pendeln nicht leid? Diese Unentschlossenheit, wohin er gehörte?

Still und dunkel lag ich hier in diesem ebenso finsteren Zimmer und meine Gedanken standen der unergründlichen Dunkelheit in nichts nach. Wie erbärmlich.

Seit geraumer Zeit drehte ich mich in einem mir undeutlichen Rad aus Dejavue's und Endlosigkeit. Runde um Runde, auf das mir von diesem Widerhall annähernd übel wurde. Sobald es dunkel wurde. Kitzelnd glitt eine Strähne in mein Gesicht und abwesend blinzelte ich, richtete den Blick zurück und mitten hinein in den Raum. Ich sah ihn, wie er an die äußere Finsternis anknüpfte, sich in diesem matten, kalten Licht vor mir erstreckte. Das kleine kunstvolle Bild neben dem Schrank. Nur leichte Konturen ließen es sich von der hölzernen Oberfläche der Wand abheben, während ein kleiner Hocker lange Schatten warf.

Und tickend bewegte sich der Zeiger weiter.

Es brachte mir nichts, jetzt aufzustehen und mich diesen belastenden Wiederholungen auszusetzen. Ich benötigte den Schlaf, war kein Mensch, der gegen sich selbst verlor. So senkte ich die Lider abermals, ließ die Sicht vor meinen Augen verschwimmen und schloss sie dennoch nicht. Leicht geöffnet blieben sie, als meine Pupillen abrupt einen Punkt erfassten und nicht mehr von ihm loskamen. Merklich beruhigte ich den Atem, ließ ihn kurz abebben und vertiefte mich in diese seltsame Beobachtung.

Ich starrte in diese Ecke meines Zimmers, die in schierer, undurchdringlicher Finsternis vor mir gähnte. Dort auf der anderen Seite und so unabhängig von der Helligkeit des Mondes, obwohl sie ihr doch ausgeliefert war. Pechschwarz.

Die Konturen der Wand schienen geradewegs in diesem dunklen Nichts zu zerfließen. Ein Schatten, den ich mir nicht erklären konnte. Meine Glieder bewegten sich nicht. Ich lag ruhig dort und sah tief in meinem Inneren keinen Grund, etwas daran zu ändern. Ein Hirngespinst, sagte ich mir. Eines von den vielen, die mir auf meinen Wegen begegneten. Wie das Tor zu einer anderen Welt, das mit weit geöffneten Pforten seine fremden Schatten nach mir ausspie.

Aber es drang nicht zu mir, drang nicht durch den Raum. Keine Kälte, nichts, das dieser Erscheinung wahre Existenz schenkte. Augen konnten täuschen und meine taten es viel zu oft. Ungerührt, absent und stoisch akzeptierte ich es hier an meiner Seite und ohne es zu hinterfragen. Zielstrebig folgten meine Augen einer unauffälligen Strömung innerhalb des Schattens. Eine Wanderung inmitten des schwarzen Nichts, die ich nicht definieren konnte. Es war wie ein Wirbel, der sich dort bildete. Eine seltsame, fremde Bewegung, die mich die Augen vollends öffnen und den Atem anhalten ließ.

In meiner Dunkelheit existierte kein Leben. Ich war alleine, auch wenn sie mir Gesellschaft leistete.

Und abrupt weiteten sich meine Augen. Nichts war mehr wie zuvor. Es veränderte sich binnen weniger Momente, als sich deutliche Konturen bildeten, sich etwas aus der Finsternis des Schattens in das Licht des Mondes hinausstreckte. Hinaus in das Zimmer. Hinaus zu mir.

Fließend, langsam und geräuschlos wand sich etwas ins Freie, streckte sich mir aus weiter Entfernung entgegen sowie lange, klobige Finger, die mich die Erscheinung als Arm erkennen ließen. Ein schwarzer Arm reckte sich mir entgegen und abrupt schnellten meine Pupillen hinab, als dem Arm ein kurzes, breites Bein folgte. Eine Gestalt!

Stumm öffneten sich meine Lippen, waren so trocken durch den Atem, der über sie hinweg strich.

Nur vorsichtig erhob er sich, still und zitternd, als der Schatten mir seine volle Gestalt offenbarte. Hinabgebeugt und schwarz trat sie hinaus, zog träge die langen, dünnen Arme mit sich, die hinab pendelten, sobald sie sich aus ihrem Schatten lösten. Ein runder, kontrastloser Kopf blieb auch weiterhin gesenkt sowie die kräftigen Schultern des breiten, schwarzen Körpers und dieser der Bewegung nicht lange fern.

Brennend machten mich meine Augen darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr blinzelte. Dumpf schlug das Herz in meiner Brust, während es um den Sauerstoff kämpfte, den ich durch keinen Atemzug mehr aufnahm. Die plötzliche Erscheinung der undurchsichtigen Gestalt hielt mich in meiner Erstarrung, selbst von dem Gedanken oder dem Willen fern, in die Höhe zu fahren. Groß und klobig ragte sie dort auf, stand auf den leicht gebeugten Beinen und selbst der Uhrzeiger schien durch kalte Angst gelähmt zu sein, als sie sich aufrichtete, als sie sich zu ihrer vollen Größe erhob und mich mit ihrem ausdruckslosen Gesicht fixierte.

Eine Aufmerksamkeit, die sich merklich auf mich richtete, mir einen Schauer durch den Körper jagte und ihn fester gegen den Futon drängte. Förmlich drängten sich meine Fersen gegen den weichen Widerstand und mein Hinterkopf sich fester in das Kissen, als bestünde sein Vorhaben darin, durch die Matratze zu sinken und an einem Ort zu verschwinden, an welchem er sicher war vor dieser schemenhaften Erscheinung.

Und kaum spürte ich das verkrampfte Zucken meiner Muskeln, da setzte sich die Gestalt in Bewegung. Gebeugt blieben die seltsam geformten Beine, als sie den ersten weiten Schritt tat, sich annähernd ohne Schwanken näher zu meinem Bett schob. Warum tat ich nichts?

Der Wille zur Flucht wurde nur durch das Zucken meiner Muskeln deutlich und durch den Reflex meines Leibes, am Überleben festzuhalten, sobald er Gefahr witterte. Warum tat ich nichts anderes, als mich auf den Futon zu pressen und unter den weichen Daunen der Decke zu zittern?!

Stockend zog ich einen knappen Atemzug in die Lunge, spürte selbst das Beben meiner Augenwinkel, als meine Pupillen starr den fremden Bewegungen folgten. Das Annähern dieses Körpers schien einen kalten Zug mit sich zu treiben, der über mich hinweg streifte wie die schwache Böe des Winters, die mich nicht umfing und sich trotzdem spüren ließ.

Warum tat ich nichts?

Nichts, als dort zu liegen, so wie ich aufwachte und starr hinaufzublicken zu der Figur, die mich erreichte und somit ihr Ziel. Warum tat ich nichts, um mich zu retten?

Nicht einmal meine Finger regten sich, während mir der Schweiß auf die Stirn trat und ich mich wehrlos vorfand. Völlig abgekapselt und gelähmt. Als würde sich mein Körper von meinem Geist trennen und alles verlieren, was dem Überlebenswillen gleichkam. Selbst meine Gedanken wollten mir nicht gehorchen, nicht die greifbaren Ängste aufbauen oder das Sinnieren, um diese zu verstehen.

Angst, Lähmung und das, was ich sah. Mehr gab es nicht und schmerzhaft schien mir das Herz in der Brust zu zerspringen, als sich die breiten, klobigen Arme über mich hoben. Weit gespreizt und allem voran die Hände, die sich kurz darauf schon zu mir hinab senkten und den schweren, dunklen Körper folgen ließen. Das Licht des Mondes schien schlagartig zu vergehen, als die Gestalt ihren Schatten mit mir teilte, mich in ihm einfing, während sie sich zu mir hinab neigte. Langsam, fließend und ich meinte, dieses Gewicht schon zu spüren, bevor ich auf ihre Materie stieß. Wie es über mir dunkel wurde und vor meinen starren Augen, die sich nicht schließen ließen. Höhnisch und gnadenlos ließen sie mich all das verfolgen, machten mir die Folgen meiner Reglosigkeit deutlich und mich gleichsam seltsam schwer und dumpf.

Meinen in sich verzerrten Körper erreichte diese klirrende Kälte, legte sich auf meine Haut, als wolle sie sie betäuben, sie vorbereiten auf das, was folgen würde.

Nahe hatte sich das gestaltlose Gesicht zu mir gesenkt, nahe zu mir die kopfförmige Kugel, aus der kein Atem drang und schmerzhafte Stiche schossen durch jede Faser meines Körpers, als sich diese Masse auf mich senkte. Gemächlich und doch unbarmherzig schloss sie mich zwischen sich und dem Futon ein, nahm mir den Raum für Atemzüge und offenbarte einen Druck, als wolle sie mich mit ihrem Gewicht erdrücken. Eine Last. Eine so schwere Last!

Sie nahm mir die Luft, nahm mir die Beweglichkeit und kein Atem kam über meine Lippen, als die Arme sich um mich legten, mich in sich einschlossen und in eiskalter Fixierung hielten. Das Blut schien in mir in den Kopf zu steigen, pulsierte dumpf hinter meinen Schläfen, während ich dem Druck erlag, der sich in mir aufbaute. Ich konnte diese Last nicht tragen! Sie erdrückte mich!

Und mit einem Mal erlangte ich die Fähigkeit zur Regung zurück. Verzweifelt lechzte mein Körper nach ihr, holte die Flucht mit einer viel zu schnellen Bewegung nach, mit der ich von dem Futon in die Höhe fuhr. Ein erstickter Schrei quoll aus meiner Lunge, röchelnd folgte der erste, hastige Atemzug und mit geweiteten Augen starrte ich in den Raum, den ich soeben schon einmal sah. Der Schrank, die hölzerne Wand, das Bild. Nur keinen Schatten. Still umgab mich das Zimmer und meine Brust schmerzte unter dem heftigen Keuchen. Mein gesamter Körper bebte und nicht einmal den Griff meiner Hände in die Decke nahm ich wahr, als ich um mich starrte. Die Realität?

Mein Kopf fuhr zur Seite, richtete sich auf das Fenster, hinter dem sich das Licht der Dämmerung erhob.

Wo war ich? War ich hier richtig?

Ich presste die Lippen aufeinander, verschloss das Keuchen hinter ihnen, auf dass es kurz darauf nur umso heftiger hervorbrach. Meine Hände machten mich mit einem leichten Schmerz auf die Kraft aufmerksam, mit der ich die Finger in die Decke drängte. Nur schwer ließen sie sich lösen und ich ächzte und stöhnte, blinzelte so lange, bis ich begriff, dass es die Realität war. Der Ort, der stimmte. Hier war ich sicher.

Sicher vor dem Alb und seiner erschreckenden Erscheinung. Hier bekam er mich nicht.

Mein Körper badete im Schweiß, als ich mich von dem Futon schob und sofort Anstalten machte, mich zu erheben. Kraftlos folgte der Körper den Füßen und letztendlich schob er sich nur wankend und unsicher in die Höhe. Die Decke hatte sich in meinen Beinen verfangen, doch blieb unbeachtet, als ich den ersten Schritt tat. Abwesend befreite ich mich von dem Stoff. Es war die Schiebetür, die mir auffiel und wankend sowie stolpernd machte ich mich auf den Weg ihr.

Frische Luft. Ich musste atmen. Meine Brust. Alles in mir war so eng gezurrt.

Meine Beine gaben mir kaum Halt und die dünne Tür gab fast nach unter meinem Gewicht, mit dem ich mich zitternd an ihr abstützte, sofort nach dem kleinen Hebel tastend, um sie zu öffnen.

Brennend versenkte sich eine Schweißperle in meinem Auge und nur schwerlich fand meine Hand es, um es zu reiben. Auch die andere legte sich nur unsicher um den Hebel und doch öffnete sich die Tür sofort. Ich zog sie zur Seite, wohl zu stark und kaum war sie einen Spalt geöffnet, da strauchelte ich weiter, an dem Tisch vorbei und zur nächsten und letzten Tür, die mich von meinem Ziel trennte. Meine Arme hoben sich, streckten sich dem von außen erhellten Washi entgegen und auch an dieser Tür stützte ich mich ab. Ich suchte Halt, tastete mich eilig über die dünnen Holzleisten und es war keine Bewegung, kein Geräusch, das mich abrupt erstarren ließ.

Es war ein Erschrecken, ohne dass ich etwas sah. Nur eine Ahnung, die so immens war, dass ich mich nicht täuschen konnte. Mit offenem Mund blieb ich stehen, reglos verharrten meine zitternden Finger am Washi und nur einmal blinzelte ich unter den Strähnen, die im Schweiß meiner Stirn hafteten, bevor ich den Kopf wandte.

Still und durchdringend waren die annähernd schwarzen Augen auf mich gerichtet und ließen den Atem in meiner Brust gefrieren. Dort hinter dem Tisch hatte er seinen Futon ausgebreitet und noch immer lag er auf ihm, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden. Er lag auf dem Rücken, die Decke wärmend über sich gezogen und das Gesicht unausweichlich zu mir gewandt.

Ich spürte einen Schmerz, einen Stich in meiner Herzgegend und sofort erwachte auch der unterdrückte Atem zum alten Leben. Dort stand ich. Bloßgestellt und so nackt, wie ich es ohne Kleidung nie hätte sein können. Er sah mich an und nichts ließ erahnen, was er dachte. Keine Regung seiner Stirn, kein Zucken seiner Lippen, kein Blinzeln, kein Wort und die wenigen Sekunden erschienen wie eine quälende Ewigkeit, bis er mit einem Mal das Interesse zu verlieren schien.

Mit geweiteten Augen verfolgte ich, wie er sich auf die Seite drehte, mir den Rücken kehrte und nach der alten Bequemlichkeit suchte.

Es war ein entsetzlicher Moment und er lag noch nicht einmal still, als ich fluchtartig die Schiebetür aufriss und hinaus in die eiskalte Morgenluft strauchelte. Sofort zerrte ich die Tür hinter mir zu, schottete mich von ihm und seinem entsetzlichen Wissen ab und ächzte laut. Luft. Ich ging wenige Schritte. Es war eine kraftlose Flucht, die an dem nächsten, hölzernen Stützpfeiler endete. Ich streckte ihm die Hand entgegen, fand in ihm eine gute Stütze und sank gegen ihn. Mein Körper. Verkrampft versenkten sich meine Finger im Stoff des Hemdes. Er musste sich beruhigen.

Er war es doch gewohnt. Er kannte den Alb, begegnete ihm so oft.

Wann nahm er es nicht mehr so schwer?

Wann begann er sich gegen die Macht der finsteren Traumgestalt zu wehren?

Ächzend umschlang ich den Pfeiler mit den Armen, ließ mich sinken und zu Boden gehen. Kalt machte der Schweiß in dieser Morgenluft auf sich aufmerksam. Weiß beschlug mein fahriger Atem und noch immer bebend blieb ich hocken und rang nach Ruhe.

Warum war ich so verletzlich, sobald ich die Augen schloss?

Mein Körper schien all seine Kräfte zu verlieren, sobald er der Realität entrann. Diese widerliche Gestalt. Diese widerliche Schwäche. Matt ließ ich den Kopf sinken und presste die Lippen aufeinander.
 

Ich blieb dort sitzen und tat es wie festgenagelt. Es gab in diesen Momenten keinen Grund aufzustehen.

Wohin sollte ich auch gehen?

Es verlangte mir weder nach Essen, noch danach Kanda zu begegnen. Ich hatte mir immer meine einsame Stille gesucht, wenn es mir so ging. Wenn mich die Nacht der Erschöpfung nur nähergebracht hatte. Wenn ich blass und zu keinem einzigen Lachen aufgelegt war. Ich hatte diese Momente, kannte sie an mir.

Und ich zog mich immer zurück.

Verkrampft ballten sich meine Hände zu Fäusten. Um mich herum war es hell geworden und ich saß noch immer an diesen Pfeiler gelehnt, kaum die Kälte wahrnehmend, die mich umgab. Tief in mir war sie soviel stärker, als es der Schnee sein könnte. Tief atmete ich ein und starrte stoisch in den Schnee hinab.

Ich zog mich immer zurück, damit mich niemand so sah!

Nicht Linali, um vor ihrer Sorge sicher zu sein.

Nicht Lavi, um mich vor seinen Fragen zu schützen.

Meine Augenwinkel zuckten erbittert. Gerade vor Kanda war ich immer sicher gewesen. Gerade er hielt sich doch von mir fern. Kapitulierend ließ ich den Kopf gegen das Holz sinken und schluckte bitter. Ich war so müde. Meine Augen gaben nur ein trübes Bild preis und verbittert stellte ich mir die Frage, was ich machen sollte. Was in dieser Nacht geschehen war, war nicht für seine Augen bestimmt gewesen. Was für ein widerwärtiger Unfall, dass ich es selbst war, der sich ihm und seiner Aufmerksamkeit ausgesetzt hatte. War es eine Entschädigung?

Hatte ich es verdient, dass er mein Innerstes sah, weil ich kurz davor seines gesehen hatte?

Nein. Was seine Augen gesehen hatten, war soviel schlimmer.

Allmählich spürte ich, wie taub meine Füße waren. Sie ruhten nackt dort im Schnee und lange starrte ich sie nur an. Der Schmerz tat gut. Er ließ mich vergessen, ließ es mich versuchen. Ich presste die Lippen auf-einander. Vermutlich war Kanda ein weitaus ungefährlicherer Mitwisser als Lavi oder Linali. Er würde kein Wort darüber verlieren. Vermutlich bedeutete ihm der vergangene Anblick weitaus weniger als ich dachte. Er interessierte ihn wahrscheinlich nicht im Geringsten. Er würde es für sich behalten, sich nicht zuständig sehen für fremde Probleme. Ich hatte mich nicht zu sorgen. Überhaupt nicht.

Unter einem zermürbten Ächzen ließ ich den Kopf sinken.

Er schmerzte dennoch, war und blieb nicht akzeptabel.

Wie, fragte ich mich, sollte ich mich ihm gegenüber verhalten?

Wie erbärmlich wäre es, den Weg heiter mit ihm fortzusetzen und so zu tun, als wäre nichts gewesen?

Auch wenn er sich nicht interessierte, würde er doch bemerken, dass ich mich verstellte, verdrängte und verleugnete. Er wüsste es und allein dadurch wäre es erbärmlich genug. Müde senkten sich meine Lider. Matt bewegte sich mein Körper unter einem tiefen Atemzug und abrupt fand er zur alten Erstarrung, als ich hinter mir das Schaben der Tür hörte. Wieder starrte ich zurück in den Schnee. Ich spürte seinen Blick, seine Anwesenheit. Er stand hinter mir und meine Zähne bissen aufeinander.

Er würde doch nicht…

Nein, sicher würde er es nicht ansprechen, denn auf ihn und sein mangelndes Mitgefühl war Verlass.

„Wir müssen los.“
 

-tbc-

8

Vermutlich hätte er mir die Möglichkeit geboten, etwas zu essen aber das einzige, was ich tat, war in die Uniform zu schlüpfen und meine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Wir konnten diesen Ort sofort verlassen und es war nur ein kurzer Wortwechsel mit der Herrin des Ryokan, der uns von unserer gemeinsamen Weiterreise abhielt. Ich überließ es Kanda, stand bereits draußen in den eisigen Temperaturen und machte mich an meinen Ärmeln zu schaffen.

Völlig unnötig, wohl auch zu ruppig und mit viel zu müden Augen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen und so verharrte mein Gesicht in der ernüchterten Mimik und meine Lippen stumm.

Es wäre lächerlich gewesen, würde ich die Kraft daran verschwenden. Ganz ohne Sinn und Verstand.

Es kam unerwartet aber mir stand eine Reise bevor, die ich so auf mich nehmen konnte, wie ich es wollte. Gesprächigkeit hätte es so oder so nicht gegeben. Ebenso wenig wie Aufmerksamkeit oder Fragen seinerseits.

Ich hatte keinen Grund und ebenso schweigend folgte ich ihm kurz darauf. Er kannte den Weg und da ich meiner Position hinter ihm treu blieb, setzte ich auch mein Gesicht keinen Anstrengungen aus.

Finster und sinnierend durchschweiften meine Augen die weiße Umgebung.

Voraussichtlich wären wir den ganzen Tag unterwegs. Auf der Fähre, die uns nach Südkorea brachte. Im Zug, der uns nach China fuhr und auf jedem Weg, den wir zu Fuß hinter uns bringen würden.

Viel Zeit, um miteinander zu reden, doch ebenso um zu schweigen.

Meine verbitterten Gedanken genügten, um den ganzen Weg mit ihnen zu füllen und Kanda war ohnehin nicht redselig. So zogen wir los und als wir die Anlegestelle des Schiffes erreichten, hatte ich mich großzügig zurückfallen lassen. Hinter Kanda betrat ich das Schiff und kaum hatten wir den Steg hinter uns gelassen, führten uns unsere Schritte auseinander. Kanda schien die eisige Luft des Meeres zu bevorzugen und nur kurz spähte ich zu ihm, bevor ich mich in den dunklen Innenraum des Schiffes stahl.

Flatternd folgte mir Timcanpy und dumpf fiel die blecherne Tür hinter mir zurück in das Schloss. Das Ziel hatte ich nicht vor Augen aber wenn ich einfach weiterging, würde es sich mir vermutlich von selbst eröffnen und wirklich, ich erspähte nach wenigen Schritten eine kleine, in der Wand verborgene Bank und nahm sie für mich ein.

Ungehindert ließ ich einem Ächzen freien Lauf, als ich mich auf das durchgesessene Polster sinken ließ und die Beine von mir streckte. Nur beiläufig spürte ich das Gewicht des Golems auf dem Kopf und unter einem weiteren, tiefen Atemzug sank mein Rücken gegen die Wand.

Es lagen einige Stunden vor mir. Eine lange Überfahrt, die ich getrost hier sitzen bleiben und mich etwas erholen konnte. Ich sah keinen Grund hinauszugehen, mich den Augen meines Kameraden auszuliefern und dem Wortschwall der Matrosen, die ich aus Erfahrung als zu gesprächig einschätzte.

Vorsichtig bettete ich den Hinterkopf an der Wand und schloss die Augen.

Inmitten dieser Dunkelheit spürte ich bald das Ablegen des Schiffes und einen temperamentvollen Wellengang. Nicht schlafen, nur ruhen. Ich hatte nicht vor, den zweiten Versuch zu wagen. Die Erinnerungen waren zu frisch, mein nächtliches Schreckgespenst noch zu nahe. Es lauerte und erwartete hingebungsvoll die Kapitulation meiner Kräfte, um mir eine erneute Begegnung zu sein.

Was für eine lächerliche Gefahr Akuma hingegen darstellten.

Ein mattes Grinsen zog an meinen Lippen. Kurz regte ich die verspannten Schultern und streckte die Beine aus.
 

Lange verharrte ich reglos, in ein- und dieselben Gedanken vertieft und in ein- und derselben Entfernung zu einer möglichen Antwort. Wie lange wurde ich schon verfolgt vom Schrecken der Vergangenheit und der Schwere ebenso vergangener Fehler, die durch jede Sühne nicht leichter wurden?

Sie blieben schwer. Meine schwerste Last.

Langsam regte ich die linke Hand und die Finger im robusten Stoff des Handschuhes. Und ich spürte diese Kraft, die Macht, all jenes zu besiegen, das mir begegnete, solange ich die Augen offen hielt und mich in zweifellos wachem Zustand befand. Die Macht, all das zu zerstören, was mir und meinem Glauben gefährlich werden könnte. Und wie jämmerlich versagte ich indessen gegen die Feinde anderer Art, die sich in Gefilden bewegten, die mit der Realität nichts gemein hatten.

Wie schwach ich gegen sie war, so wehrlos wie der kleine Junge von damals. Mit allem überfordert und auf der verzweifelten Suche nach der richtigen Waffe, um sich in jeder Facette sicher zu wissen.

Vermutlich war es mein Schicksal, ohne sie zu leben.

Abwesend betrachtete ich mir die Strukturen der Wand.

Vermutlich war es das wirklich. Ich hielt mich wach und ließ Stunde um Stunde an mir vorbeiziehen, bevor die Bewegungen und Geräusche darauf hinwiesen, dass wir den Boden Südkoreas erreichten. Noch immer windete ich mich in der alten Resignation und erst als wir zwei Stunden später mit dem Zug reisten, kamen mir Gedanken, die mein Befinden zögerlich und zurückhaltend erhellten.

Ich erinnerte mich. Unser Ziel war ein Marshall der angenehmen Sorte und ein Mann, mit dem ich nur gute Erinnerungen verband. Möglicherweise wäre der Einfluss, den er auf mich haben würde, etwas das ich benötigte. Auch Chaoji.

Den Marshall zu sehen, bedeutete auch ihn zu sehen, immerhin waren sie miteinander unterwegs und Chaoji in das verstrickt, was wir alle hinter uns gebracht hatten: Die Ausbildung.

Es waren Momente, in denen sich mein Gesicht etwas erhellte und ich dem Horizont erwartungsvoller entgegenblickte. Ich empfand es als unsagbar angenehm, als mein Sinnieren in angenehmere Gefilde driftete.

Kanda würde seinen Meister wiedersehen und das waren und blieben immer besondere Momente.

Oft hatte ich sie bis zum heutigen Tag nicht zusammen gesehen aber sobald man es tat, löste man sich nur zu einfach von all den Sorgen. Wie gesagt, interessante Momente.

Ich saß gemütlich und blickte durch das Fenster hinaus auf die unendlich erscheinende, weiße Umgebung. Wieder tat ich es lange und irgendwann erreichten wir unser Ziel.
 

Es blieb so still zwischen uns, als wären wir fremde Wanderer, die zufällig dasselbe Ziel besaßen.

Einzig und allein unsere Mäntel schmolzen uns in gewisser Weise zusammen, nein, unsere Gesichter taten es wohl auch. Reglose Mienen, stumme Lippen und Augen, die sich überall aufhielten, nur nicht beim Kameraden.

Man sah es mir vermutlich nicht an aber meine Freude über das bevorstehende Treffen war nicht abgeebbt. Ich setzte Hoffnung in Tiedoll und auch in Chaoji. Dass man die Verbitterung in ihrer Anwesenheit beibehalten konnte, war sehr fraglich. Nur Kanda konnte es aber er hatte viel Zeit zum üben.

Ein kalter Sonnenstrahl erfasste mich, als sich die grauen Wolken flüchtig am Himmel verdünnten und die Sonne einen Spalt fand, um die Welt an sich zu erinnern.

Hart knackte der Schnee unter meinen Stiefeln und bald spähte ich auf und erkannte die kontrastreiche Umgebung. Von dem weißen Untergrund hoben sich die schwarzen Kontraste der Bäume ab, selbst Steine waren hie und da zu erkennen und in nicht weiter Entfernung auch die Umrisse der Stadt, die unser Ziel darstellte.

Bald erreichten wir das Tiefland, die Ebene, auf der sich die Stadt erhob, doch von ihr drifteten meine Augen zur Seite. Es waren Bewegungen, die ich vor uns ausmachte, gar nicht fern und es war auch nicht besonders schwer zu erkennen, dass uns die beiden, die wir suchten, nicht erst in der Stadt erwarteten.

Sie waren hier und unweigerlich richtete ich mich auf. Es tat wirklich gut. Ich hatte nichts anderes erwartet und an meinen Lippen zog der Deut eines Lächelns, als sich die Gestalt, die in permanenter Bewegung blieb, als Chaoji entpuppte. Wie lange war es nur her?

Er war seit Monaten mit Tiedoll unterwegs und kaum hatte er uns bemerkt, da kam er schon auf uns zu, während die andere Gestalt, in einen dicken Mantel gehüllt, auf einem Stein sitzen blieb. Und endlich verstärkte sich mein Lächeln, endlich hatte ich das Gefühl, dass es ehrlich war, als sich Chaojis Stimme erhob. Ebenso ein Arm, der uns ausgelassen winkte.

„Hallo!“, hörte ich ihn über die weite Ebene rufen, bevor er uns entgegenkam. Es wurde ein Wiedersehen, wie ich es mir erhoffte und als er uns erreichte, gab es zumindest zwei, die lächelten.

„Kanda! Allen!“ Er begrüßte uns mit einem strahlenden Gesicht und während Kanda nur die Hand hob und an ihm vorbeizog, hielt ich inne.

„Allen!“ Er war sichtlich gerührt, sichtlich war auch sein Zögern, das ich sofort zunichtemachte, indem ich die Arme hob und die letzte Distanz zwischen uns überwand. Und er fiel mir um den Hals.

Wir waren Kameraden, gemeinsame Streiter und mehr als das, wir waren Freunde und taten uns keinen Zwang an. Seine Umarmung war fest und herzlich und kaum hatten wir uns voneinander gelöst, brach ein wahrer Redeschwall aus ihm heraus.

„Es ist so lange her“, ächzte er und hielt kurz nach Kanda Ausschau.

Ja, bei ihm war es auch lange her aber er zog weiter und auf den Punkt zu, der sich nun vom Stein löste.

„Wie ist es dir ergangen, Chaoji?“, erkundigte ich mich und kurz darauf gingen wir weiter.

„Wir kommen viel herum, sehen viele Länder, sind immer in Bewegung. Es gefällt mir. Genauso habe ich es mir vorgestellt.“ Überzeugt sah er mich an. „Bald werde ich in der Lage sein, euch zu unterstützen. Zwei bis drei Monate, sagt Tiedoll, bis er mich aus seinen Fittichen entlässt.“

„Das freut mich.“ Ich lächelte und genoss es so unsagbar.

„Mich auch.“ Chaoji war Feuer und Flamme und kurz wurde ich auf Kanda aufmerksam.

Er und Tiedoll trafen aufeinander und nach einem liebevollen Klaps gegen die Schulter konnte ich nur erahnen, welche Worte fielen. Uns erreichte Tiedolls Lachen, herzlich breitete er die Arme aus und sofort sah ich Kanda zurückweichen. Einen Schritt, noch einen und als Tiedoll ihm aufmüpfig folgte, erhob sich auch sein Brummen.

„Wie geht es den anderen?“, forderte Chaoji wieder meine Aufmerksamkeit. „Ich freue mich so darauf, alle wiederzusehen.“

„Uns geht es gut“, erwiderte ich und allmählich wurden die Worte, die zwischen Kanda und Tiedoll fielen, immer verständlicher.

„Sie sind peinlich“, hörte ich Kanda sagen und umso lauter erhob sich daraufhin das Lachen des Marshalls.

„Jeder wird sich freuen, wenn du zu uns kommst.“ Ich streifte mir die Kapuze vom Kopf und dann erreichten auch wir den Marshall.

„Allen, grüß dich!“

Dieses herzliche Lächeln. In diesem Moment brauchte ich es zum leben wie den Sauerstoff selbst und erneut konnte ich es ehrlich erwidern, während ich die Hand hob und unerwartet in eine Umarmung geschlossen wurde. Ein kurzer, kräftiger Druck auf meinen Rücken, ein herzlicher Klaps und etwas überrumpelt trat ich anschließend zurück.

„Ich habe viel über dich gehört. Keine Sorge, nur Gutes. Wie erwachsen du geworden bist.“ Er nahm sich Zeit, mich zu mustern. „Und wie groß. Man verändert sich niemals nur innerlich, nicht wahr? Jetzt kommt. Wir sind in einer herrlichen Herberge untergekommen. Ihr müsst das Essen probieren.“

So setzten wir uns in Bewegung. Essen war keine schlechte Idee. In dieser Gesellschaft meinte ich sogar, zu einem gewissen Appetit fähig zu sein.

„Ihr könnt bis morgen bleiben“, verkündete Tiedoll und sofort traf ihn Kandas Aufmerksamkeit.

„Entscheiden Sie das nicht einfach“, sagte er. „Wir haben Wichtigeres zu tun.“

„Keine Sorge, Yu. Es ist bereits alles mit Komui abgesprochen.“

Ächzend rieb sich Kanda die Stirn, doch daraufhin traf ihn nur ein Klaps auf die Schulter. Lachend reihte sich Tiedoll neben ihm ein, während Chaoji mir Gesellschaft leistete und wenige Momente des Schweigens gaben mir die Möglichkeit, die beiden zusammen zu beobachten.

„Ich will doch wissen, was du für Fortschritte gemacht und was du erlebt hast. Ich habe ewig nichts mehr von dir gehört, Yu. Das ist nicht mehr feierlich.“

„Das liegt daran, dass ich Besseres zu tun habe, als Ihnen Bericht zu erstatten. Ich bin beschäftigt und das sollten Sie auch sein. Und hören Sie auf, mich so zu nennen.“

„Für die wichtigen Dinge des Lebens sollte man sich Zeit nehmen.“ Tiedolls Ellbogen traf Kandas Seite. „Ich bin mir sicher, die hattest du. Muss ich dich denn immer nötigen?“

„Keiner zwingt Sie. Sie könnten es einfach lassen.“

Ein enttäuschtes Seufzen, dann das gewohnte Ächzen. Ich spürte, wie sich Chaoji meinen Beobachtungen amüsiert anschloss. Auch zu ihm spähte ich kurz und las die Freude in seinem Gesicht.

Es war ein wahres Schauspiel, das sich vor uns zutrug, wenn auch ein Irritierendes.

Inmitten dieser Kontroverse war eine Vertrautheit zu spüren, wie es sie nicht oft gab und ich war neugierig auf die Stunden, die mir Gelegenheit boten, mir einen Eindruck von diesem Umgang zu machen.

Es gab so viele Fragen, so viele Antworten, bei denen ich mir nicht sicher war und wenn ich meinen Umgang mit Kanda verglich, auch seinen Umgang mit anderen, dann kam diese Frage immer und immer wieder auf mich zurück.

Was war so liebenswert an meinem chronisch missgestimmten und mürrischen Kameraden?

Die Zuneigung, die Tiedoll für ihn empfand, musste starke Wurzeln haben, doch ich würde diese Wurzeln selbst schlagen, wenn ich mir die Antwort selbst auszumalen versuchte.
 

Gemeinsam nahmen wir so den kurzen Weg zur Stadt auf uns. Fast jeder Schritt wurde verziert mit Worten und Eindrücken. Chaoji, Tiedoll, selbst meine Stimme wurde von einem ungewohnten Fleiß gepackt und so wünschte ich, die Zeit mit den beiden würde nie enden.

Ich lächelte, ich lachte und erzählte und wurde dieser Freude einfach nicht müde.

Bald zogen wir durch die Straßen der Stadt und es war kein langer Weg, bis wir die Herberge erreichten und uns aus der Kälte des Winters in die beheizten Innenräume stahlen. Genüsslich ächzte Chaoji auf und schlüpfte aus seinem Mantel, während sich Kanda auf der Schwelle noch den Schnee aus den Stiefeln trat. Er hatte nur ein einziges Mal Unzufriedenheit gezeigt. Jetzt war er anscheinend bereit, die Nacht hier zu verbringen.

Unser erster Weg führte in die hauseigene Gaststätte und allein meine Bestellung sorgte für neue Heiterkeit. Chaoji staunte, Tiedoll schmunzelte und mir gegenüber starrte Kanda unentschlossen auf die Karte. Irgendwann entschied er sich und ich ließ es mir schmecken, während er bald darauf mit den Stäbchen in einem undefinierbaren Berg rührte und damit auch nicht wirklich zufrieden zu sein schien.

„Wie war die Schiffsreise?“

Den Gesprächen wurde kaum ein Abbruch getan aber spannend war meine und Kandas Fahrt nicht. Wir gehörten nicht zu denen, denen das Schwanken etwas ausmachte. Auf dem Schiff hatten wir nicht einmal zu denen gehört, die die Fähigkeit der Sprache besaßen, also gäbe es von nichts zu erzählen außer verbittertem Schweigen. Das war nicht wissenswert, also zuckte ich nur mit den Schultern. Kanda sagte auch nichts. Er starrte immer noch auf sein Essen und neben ihm brach Chaoji in Lachen aus.

„Als wir vor wenigen Wochen das Mittelmehr überquerten“, hob er an und sofort erhob sich das Lachen des Marshalls.

„Ich habe noch nie so ein grünes Gesicht gesehen. Er machte mir Angst.“

„Die hatte ich auch“, pflichtete Chaoji ihm bei und ich betrachtete sie mir nachdenklich.

Wie innig doch der Kontakt zwischen Menschen sein konnte. Wie offen und ehrlich. Es handelte sich um eine Kunst, die ich bis zum heutigen Tag nicht erlernt hatte. Ich könnte sie mir gar nicht leisten.

Zuviel gab es zu verlieren. Zuviel drohte zerstört zu werden.

„Sogar Yu ist einmal schlecht geworden.“ Tiedolls Redseligkeit riss mich aus den Gedanken und Kandas Aufmerksamkeit von dem seltsamen Essen geradlinig zu dem Marshall. „Er hing fast drei Stunden über der Reling. Wie alt warst du da? Dreizehn?“ Er lachte abermals und resigniert starrte Kanda auf seinen Teller zurück. „Meine Güte, das war aber auch ein übles Schiff.“

„Sie bieten im Zug keinen besseren Anblick“, hörte ich Kanda murren.

Er schlug zurück und während Tiedoll seufzte, brach Chaoji in Glucksen aus.

„Sagen Sie bloß, Sie hatten das Problem auch damals schon.“

„Ja.“ Tiedoll hatte kein Problem, solche Dinge zuzugeben, doch ich hatte vorsichtig zu sein, denn ich wäre der erste, auf den Kanda zurückkäme, wenn Lavi ihn demnächst auf vergangene Schifffahrten ansprach.

Bald reichte es mir, den Gesprächen zuzuhören und es mir schmecken zu lassen.

Ich hatte mich nicht groß zu beteiligen, um einen angenehmen Teil der herrschenden Wärme abzubekommen und auch drängen tat man mich nicht. Die gesamten zwei Stunden leistete man mir Gesellschaft und wartete auf mich. Kanda nicht. Er aß die Hälfte seiner Bestellung, schnitt dann eine Grimasse und kam auf die Beine, um sich etwas in der Gegend umzuschauen.

Er schien noch Kraft für einen Erkundungsgang zu haben. Ganz anders als ich.

Gerade war der letzte Teller geleert, da fiel mir die Abenddämmerung vor den Fenstern auf. Die Schifffahrt hatte beinahe den ganzen Tag in Anspruch genommen, die gemeinsamen Stunden mit Tiedoll und Chaoji den Rest und bald darauf verließen wir die Gaststätte und zogen uns in die Räume der Herberge zurück. Sie war bis auf uns unbesucht. Einen kleinen, gemütlichen Aufenthaltsraum mit Kamin und Sesseln im Erdgeschoss konnten wir so für uns einnehmen und wenn es einen gelungenen Abend gab, dann erlebte ich ihn.

Irgendwann hatte ich es in einem der Sessel bequem. Die Wärme strömte mir vom Kaminfeuer entgegen und während ich mich mit Chaoji und Tiedoll austauschte, nippte ich an einer heißen Schokolade.

Ich bekam, was ich brauchte und inmitten der herzlichen Worte und dem ehrlichen Interesse, vergaß ich bald, was in meiner Einsamkeit auf mich lauerte.

Chaoji leistete uns nicht allzu lange Gesellschaft. Den Tag hatten er und Tiedoll mit Trainingseinheiten zugebracht und so verabschiedete er sich müde, als die Finsternis vor den Fenstern lag und Kanda noch immer nicht zurückgekehrt war. Keine Sache, der Tiedoll Aufmerksamkeit oder Sorge zukommen ließ. Wenn jemand Kanda kannte, sagte ich mir, dann war es der Mann, der mir schräg gegenüber saß und einen roten Wein genoss. Nach allem, was ich in den letzten Tagen erlebte und wie ich Kanda erlebte, war die Versuchung groß, Fragen zu stellen. Aber nicht groß genug, denn es war nicht meine Art und wenn es etwas zu wissen gab, war ich vermutlich dazu imstande, es selbst herauszufinden.

Aber Tiedolls Vorsprung war groß.

Wie viel länger musste er Kanda kennen?

Nicht einmal diese Frage kam über meine Lippen, stattdessen nur ungenaue Antworten auf aufrichtige Fragen. Ein weiteres Mal war ich nur damit beschäftigt, das zu sagen, was keine weiteren Fragen hervorrief. So berichtete ich von den Zuständen im Hauptquartier und bezog nichts davon auf mich.

Ich erwähnte die Wissenschaftler und ihr alltägliches Chaos, Komuis eigensinnige Führungsqualitäten und irgendwann ließen die auf mich bezogenen Fragen nach. Tiedoll gab auf. Unauffällig und höflich bemerkte er etwas, was ich stets zu tarnen versuchte und auch bis zum Schluss tat.

Es wurde spät, immer finsterer und irgendwann kam auch ich auf die Beine und verabschiedete mich. Nicht ohne mich für die Zeit zu bedanken, die sich der Marshall für uns nahm und nach einem Austausch von Komplimenten trat ich dann in den Flur und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer in der ersten Etage.

Langsam und schlürfend waren meine Schritte, träge auch die Bewegungen meiner Hand, als ich meinen Bauch kratzte. Gähnend schleppte ich mich nach oben, tastete nach der Klinke der ersten Tür, doch der Anblick des finsteren, einsamen Zimmers ließ mich innehalten.

Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank. Mit wenigen Bildern hatte man versucht, den Raum zu verzieren aber in der Dunkelheit der Nacht verloren die schönsten Motive an ihrer Wirkung.

Ich stand dort, ließ Tim an mir vorbeiflattern und lauschte kurz darauf meinem tiefen Durchatmen.

Da war ich wieder. Unweigerlich drifteten meine Augen zurück zur Treppe.

Von unten schien die angenehme Helligkeit des Erdgeschosses hinauf.

Dort unten war Herzlichkeit, dort unten war Licht und kapitulierend trat ich in meinen dunklen Raum und schloss die Tür. Stille. Nur ein letzter Flügelschlag, mit dem sich Tim neben dem Kopfkissen auf dem Bett niederließ und sich seine eigene Ruhe suchte. Auch ich hatte sie nötig, doch stand nur vor dieser Tür.

So plötzlich war sie wieder da, meine Finsternis, und ich stellte mir die Frage, wann ich ihr verfallen war.

Wann und wo hatte ich die Grenze übertreten, die mich an diesen Punkt führte und auch permanent zu ihm zurück.

Nicht einmal Tim schenkte mir Beachtung. Er ruhte, schaltete ab und ich brauchte so einige Momente, bis ich mich dazu bewegen konnte, es zumindest zu versuchen. Die Matratze war nicht sehr einladend. Der Futon im Ryokan war bequemer gewesen und seufzend ließ ich mich auf die Bettkante sinken und stemmte die Ellbogen auf die Knie. Selbst die Holzmaserung des Bodens versank in der Finsternis und unweigerlich fiel mein Blick auf einen annähernd schwarzen Winkel des Zimmers.

In ihn drang kein Licht. Dort, neben dem Schrank.

Dort lauerte er. In genau diesen Nischen. Nur darauf wartend, dass ich die Augen schloss und mich ihm auslieferte. Trübe schüttelte ich den Kopf, zwang mich aus meinen Stiefeln und anschließend dazu, mich niederzulegen. So faltete ich die Hände auf dem Bauch und starrte zur Decke auf.

Gab es hier eine Kerze? Irgendein Licht?

Ich wurde mir der Tatsache bewusst, dass ich Tiedolls Anwesenheit soviel mehr hätte genießen können, wenn ich ehrlicher wäre, weniger Wert auf Ablenkung legte und den Sicherheitsradius um mich herum verkleinerte. Wann, fragte ich mich wieder, war all das mit mir geschehen?

Wie seltsam wirkte Kanda neben mir, ohne es zu wissen.

So ehrlich bis aufs Blut.

Ich schloss die Augen, mein Körper bewegte sich auf die Seite und durchdacht kehrte ich dem Raum den Rücken. Ihm und all seinen finsteren Nischen.
 

Ich versagte. Ich wusste nicht, wie lange ich wach lag und mir wünschte zu schlafen, doch irgendwann trat ich wieder in den halbdunklen Flur hinaus. In meinem Zimmer hielt mich nichts mehr. Jeder erneute Versuch wäre einer zu viel und dabei spürte ich die Müdigkeit doch so immens. Barfuß trottete ich über die hölzernen Blanken, lautlos auf die Treppe zu und ebenso geräuschlos über die Stufen.

Wo mein Ziel lag, das wusste ich nicht.

Irgendwo, wo es heller war vielleicht. Irgendwo, wo ich mich hinsetzen und zur Ruhe kommen könnte.

Träge rieb ich mir die Augen, als ich das Erdgeschoss erreichte, unterdrückte ein Gähnen und näherte mich dem offenen Durchgang, hinter dem sich der Kamin und die Sessel befanden.

Der angenehme Raum, in dem ich solange gesessen hatte.

„Es ist in Ordnung.“

Abrupt erhob sich eine mir bekannte Stimme und augenblicklich blieb ich stehen.

Kanda. Es war seltsam.

Lag es an meiner Übermüdung, dass er sich anders anhörte?

„Wirklich?“ Tiedoll klang wie immer. Die Wärme, die in seiner Stimme lag, schien bis zu mir in den Flur zu strömen.

„Mm.“ Ein Murmeln, das mit einer Zustimmung gleichzusetzen war.

Ja, er war es und ein irritiertes Zucken durchfuhr meine Mimik, als ich all das realisierte. Es klang so wenig nach ihm und trotzdem wusste ich es sofort einzuordnen. Er war es. Auch seine Stimme war es. Nur so, wie ich sie noch nie gehört hatte. Meine Hände rieben sich aneinander und eine seltsame Unruhe überkam mich. Natürlich. Was machte ich mich lächerlich?

Jede Stimme konnte auch entspannt und ruhig klingen. Weshalb sollte es bei Kanda anders sein?

Ein Grinsen zog an meinen Lippen. Ohne Freude, ohne Verständnis. Und ich blieb stehen.

„Um ehrlich zu sein“, es war Tiedoll, der leise das Wort ergriff, „habe ich mir Sorgen gemacht, als ich dich aus meinen Fittichen entließ.“

„Das mussten Sie nicht.“

„Nein?“

„Mm-mm.“ Es lag keine Verstimmtheit in seinen Worten und ich gestand es mir ein. Entweder war es mir entfallen oder diese Stimme hatte sich in meiner Anwesenheit noch nie in diesem Ausdruck erhoben. In meiner Anwesenheit war er nie so gewesen. Nirgends.

„Du hattest also nicht den Eindruck, dass es zu früh war?“, erkundigte sich Tiedoll.

„Ich habe immer eingesehen, dass es nicht anders ging.“

Stockend zog es meinen Körper zur Seite und zur Wand, gegen die ich mich lehnte.

„Jedenfalls“, Kanda schien tief durchzuatmen, „habe ich Ihnen nie Vorwürfe gemacht.“

„Das beruhigt mich, Yu“, wurde seufzend geantwortet und erfüllt von Verwirrung verengten sich meine Augen.

„Sie denken zu viel nach. Auch damals schon“, erhob sich das Brummen, das mir weitaus bekannter war und schon meldete sich wieder das Lachen des Marshalls.

„Ja, ich werde es mir wohl nie abgewöhnen.“

„Merken Sie es sich, wenn der Zeitpunkt bei Chaoji kommt.“ Ein Sessel knackte, Kanda schien sich zu regen. „Wenn Sie ewig so weitermachen, kriegen Sie nur Probleme.“

„Ja, du hast Recht.“

„Das darf ich hin und wieder.“

„Ach komm, ich habe so oft auf dich gehört.“

„Wovon reden Sie?“, wurde geantwortet. „Sie haben einen der größten Dickköpfe, die es gibt. Auch wenn Sie nicht so aussehen. Ich habe das immer gewusst.“

„Hast du das?“

„Natürlich habe ich das.“

Stockend atmete ich ein, lautlos traf mein Rücken auf die Wand und ich konnte mich nur als verstört bezeichnen, als ich auf die gegenüberliegende Wand starrte.

Wo verbarg Kanda all die Wärme, zu der er in diesen Momenten und Tiedoll gegenüber fähig war?

Man sah es ihm nicht an, man vermutete etwas Derartiges nicht einmal in ihm. Nicht unter dieser rauen und Fassade. Es war mit Überforderung zu vergleichen, die mich immens überkam. Zuviel Erkenntnis binnen zu kurzer Zeit und augenblicklich kam es mir wieder in den Sinn. Die Bilder spielten sich vor meinem geistigen Auge ab, als würde ich sie in den Momenten wirklich vor mir sehen.

Die Berührungen, mit denen Kanda den Stein pflegte. Die Präzision, mit der er die Grabstätte wieder herrichtete und somit etwas tat, das er nimmer zugeben würde.

Es blieb eine Seite, die ich an ihm nicht kannte.

Ebenso wenig wie seine Wertvorstellungen und die Wichtigkeit, die er gewissen Dingen zuordnete. Und jetzt war es diese Wärme, die er für mich nie besessen hatte. Nicht einmal, als ich von der Beraterrolle erfuhr, die er Linali gegenüber einnahm.

Es war etwas Unvorstellbares, das plötzlich und schlagartig feste Formen annahm.

Hatte Linali diese ruhige Stimme in düsteren Augenblicken auch gehört?

Sie kannten sich so lange.

Hätte sie sich ebenfalls gewundert, wenn sie an meiner Stelle hier stehen würde?

Die Oberfläche der hölzernen Wand machte mich darauf aufmerksam, dass meine Beine ihren Dienst versagten und ich mich zu setzen begann. Ich tastete mich hinab, blieb kauern und presste die Lippen aufeinander.

Wie viel Wärme er bekam und zu wie viel Wärme er selbst fähig war. Dabei war ich doch derjenige von uns beiden, der nach außen hin so umgänglich wirkte. War ich selbst so sehr auf meine Worte und Verschlossenheit konzentriert, dass ich die Wärme nicht bemerkte, die mir andere schenkten?

Trübe sank mein Kopf tiefer, bis meine Stirn auf die Knie traf. Weshalb fühlte ich mich hier und jetzt so vernachlässigt und so unfähig dieser vertrauten Wärme gegenüber?

War es wirklich so wenig, das zu mir drang?

Wieder erhob sich das Murmeln. Es hatte es die ganze Zeit getan, nur nicht für meine Ohren.

„Ich bin stolz, Yu“, gestand Tiedoll. „Auf das, was aus dir geworden ist. Du bist ein Mensch, auf den man vertraut.“

Langsam wandte den Kopf auf den Knien und spähte zur Seite.

„Mm.“ Kandas Antwort war nicht sehr aufschlussreich.

„Und vertraust du deinen Kameraden auch?“

Gewisse Fragen hatte ich nie mit Kanda in Verbindung gebracht.

Sie ihm zu stellen, war mir schier unmöglich erschienen. Noch unmöglicher, eine Antwort zu erhalten, die von einer Beleidigung abwich. Hier und jetzt geschah es und ich bemerkte kaum, wie meine Hände einander fassten.

Doch es herrschte Stille.

„Tust du?“, hakte Tiedoll nach und wie wünschte ich mir, Kanda würde nicht antworten. Es war zu viel Wahrheit und Worte, nicht für meine Ohren bestimmt. Zu schwere Worte und zu ehrliche. Kanda erhob die Stimme und ließ meinen Atem stocken.

„Ts.“ Es klang, als würde er grinsen. „Ich fürchte, ich würde jedem von ihnen mein Leben anvertrauen.“

Jedem von ihnen. Jedem?

Ein humorloses Grinsen zog an meinen Lippen, meine Hände packten sich fester.

Sein Leben wäre bei mir in besten Händen, doch ich würde es niemals aussprechen. Nicht einmal einer Vertrauensperson gegenüber. Aber hatte ich überhaupt einen Menschen, dem ich mich so kompromisslos öffnete, wie Kanda es tat?

„Ich muss verrückt sein.“

„Ganz und gar nicht. Es kann nichts Wichtigeres geben, als an seine Kameraden zu glauben.“

„Das ist mindestens das tausendste Mal, dass Sie das sagen.“

„So etwas kann man nicht oft genug sagen“, erwiderte Tiedoll. „Ich bin froh über die Früchte, die meine Erziehung trägt.“

„Sie wollen mich erzogen haben?“

„Auch wenn ich dir die Kunst nie nahebringen konnte.“

Daraufhin erhob sich nur ein Stöhnen.

„Ich bin mir sicher, dass du Begabung hättest, wenn du es nur versuchen würdest. Jedenfalls war ich sehr begeistert von deiner Strichführung, als du damals meine ganze Zeichenmappe verunstaltet hast.“

„Das hatten Sie verdient.“

„Ich habe die Bilder heute noch“, folgte ein leises Geständnis.

„Haben Sie nichts Besseres zu tun?“

Laut und herzlich erhob sich das Lachen des Älteren und wieder knackte der Sessel.

„Das Leben eines Marshalls muss langweilig sein.“

„Weniger, Yu, sehr viel weniger, als du denkst. Nur für kostbare Momente muss man sich Zeit nehmen und sie, wenn möglich, für immer aufbewahren.“

„Fangen Sie nicht schon wieder mit diesen Predigten an.“

„Nervt dich das?“

„Das hat es immer und tun Sie nicht so, als wüssten Sie es nicht. Sie haben schon immer gerne provoziert.“

Das Gespräch war so fließend, wie man es niemals für möglich gehalten hätte.

Ein solcher Wortschwall von meinem stets so stillen Kameraden.

„Ich? Provozieren?“

Beinahe flüchtend lösten sich meine Hände voneinander. Urplötzlich spürte ich das unbändige Verlangen, diesen Ort zu verlassen, mich diesen Worten und Eindrücken zu entziehen und stockend ertastete ich hinter mir die Wand. Ich musste aufstehen.

„Sie haben es noch nie geschafft, im Beisein anderer meinen Nachnamen in den Mund zu nehmen und dabei wissen Sie genau, wie großen Wert ich darauf lege.“

Ich schaffte es die Beine durchzustrecken. An der Wand tastete ich mich höher, hatte mit einem Schwindel zu ringen, als ich stand und wandte mich ab. Zurück zur Treppe. Zurück in mein Zimmer.

Allein diese Gedanken waren es, die mich jetzt noch beherrschten und ungeduldig streckte ich dem Geländer die Hand entgegen.

„Irgendwann schaffe ich es noch“, versprach Tiedoll, als ich um die Ecke schlürfte und die Stufen in Angriff nahm.

„Natürlich.“ Dieses in Sarkasmus getränkte Wort war das Letzte, das mich erreichte, bevor ich die erste Etage betrat. Mein Kopf gab mir das Gefühl, keine weitere Sekunde der Realität verarbeiten zu können.
 

-tbc-

9

Es war die richtige Wahl, sich einfach niederzulegen und all die Gedanken bewusst in einer Kammer zu verschließen. Ich stellte mich taub und blind und bevor ich mich versah, öffnete ich die Augen und hatte die Nacht überstanden. Blinzelnd wandte ich den Kopf auf dem Kissen, spähte vorbei an Timcanpy, der sich flatternd neben meinem Bett bewegte und hin zum Fenster.

Es musste die nahe Morgendämmerung sein und ein Ächzen entrann mir, als ich mich aufsetzte und mir das Gesicht rieb. Sofort ließ sich Tim auf meinem Kopf nieder und schlug dort mit den Flügeln, während ich in den Raum spähte. Der Schlaf kam so unerwartet wie alles in meinem Leben.

Er passte sich an, sozusagen. An die Tatsache, dass es keine Routine gab und mich Träume oft vor meine persönlichen Grenzen stellten. Es war alles eins. Heute hatte mich niemand in den Träumen aufgesucht. Niemand war mir tückisch gefolgt, um sich zu zeigen, sobald ich die Augen schloss und mich von der Realität löste. Glück. Ein müdes Grinsen zog an meinen Lippen. Mehr war es nicht.

Die ruhigen Nächte wurden zu Raritäten, die ich doch nicht zu schätzen wusste, wenn ich die Müdigkeit dennoch spürte. Als wären es nur wenige Augenblicke gewesen und viel zu kurze, um zu neuen Kräften zu finden. Ich schöpfte tiefen Atem und kam auf die Beine. Frische Luft.

Ich mochte die kühlen Brisen des Winters vor allem am Morgen und so suchte ich sie mir, verließ das Zimmer und fand den kleinen Hinterausgang der Herberge. Chaoji schien noch zu schlafen, bei Kanda und Tiedoll war ich mir nicht sicher und als ich nach der Klinke der Tür griff, ließen mich verwirrende Erinnerungen innehalten.

Ich hatte etwas erlebt in der vergangenen Nacht und in einem Rahmen, der eigentlich geheim zu bleiben hatte. Ich war eingedrungen in diese Vertrautheit, in diese Intimität und niemand wusste es.

Sie hinterließen Tatsachen und Wahrheiten, die ich nie vergessen würde.

Träge öffnete ich die Tür, die in den verschneiten Garten der Herberge führte. Sofort blinzelte ich unter der Kälte, atmete die Luft ein, die fast im Hals schmerzte und trat hinaus in das matte Licht der vereinzelten Lampen, die den Rest der Nacht begleiteten.

„Guten Morgen.“ Abrupt ließ mich die bekannte Stimme wach werden und Tiedoll erkennen.

Ich schien nicht der einzige Liebhaber dieser kalten Stunden zu sein. Neben mir saß er auf einer Bank, gehüllt in seinen Mantel und grüßte mich mit einem warmen Lächeln.

Mit demselben, das er Kanda gestern geschenkt hatte?

Ich hatte das Bild nicht vor Augen.

„Guten Morgen.“ Ich schloss die Tür und regte die Schultern. Den Mantel mitzunehmen, wäre kein Fehler gewesen. „Habe ich Sie gestört?“

„Nicht doch. Diese Stunden sind noch schöner, wenn man sie gemeinsam verbringt. Setz dich doch zu mir. Hast du gut geschlafen?“

Auf der Bank war noch Platz und ich zögerte nicht, bevor ich ihm Gesellschaft leistete.

„Warten Sie auf den Sonnenaufgang?“, erkundigte ich mich, während ich mich zurechtrückte und damit schien ich ins Schwarze getroffen zu haben. Irgendwann lernte man den Marshall doch etwas kennen.

„Von hier aus hat man einen herrlichen Ausblick.“ Seine Hand deutete auf die entfernten, schwarzen Umrisse der Berge, hinter denen sich bereits ein kaltes, farbloses Licht erhob. „Ich sitze jeden Morgen hier und genieße es. In wenigen Minuten ist es soweit.“

Seine Hand vergrub sich wieder im Mantel und ich streckte die Beine von mir und suchte mir noch die richtige Bequemlichkeit. Es waren lediglich Kontraste, die mich umgaben. Ein weißer, schneebedeckter Boden, auf dem die schwarzen Umrisse der Steine und Stämme lasteten. Ein farbloses Bild und auch das Hoffnung spendende Licht hinter den Bergen änderte nichts daran, dass es ernüchternd war.

Grau erstreckte sich der Himmel über uns und ich schluckte, als ich auch ihn mit den Augen durchforstete. Die Luft war kühl und rein, doch ich schenkte dem wenig Beachtung, war wieder und immer noch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Und neben mir auch mit der Tatsache, dass ich mich nicht gut fühlte.

Etwas schien nicht zu stimmen. Irgendetwas rief ein dumpfes, ernüchterndes Gefühl in meinem Inneren hervor. Es zu definieren war schwierig aber während ich neben dem Marshall saß, führte ich es auf all das zurück, was mich derzeit bewegte. Die Wärme und Vertrautheit, die Kanda zuteilwurden und die ich nur gedämpft von anderen Menschen wahrnahm.

Irgendetwas hinderte sie daran, auch zu mir zu dringen.

Vermutlich brachen sie sich an der von mir erbauten Blockade, die ich seit langem nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die Worte, die in dem harmonischen Schein des Feuers gefallen waren, selbst sie waren so herzlich, wie ich es wohl nicht zustande gebracht hätte und so liebenswürdig Tiedoll auch mit mir sprach und für wie selbstverständlich er es auch nahm, neben mir zu sitzen, es war doch anders.

Als ich mir sein Gesicht betrachtete, stellte ich mir die Frage, ob es auch gestern so ausgesehen hatte.

Welche Mimik hatte das herzliche Gespräch begleitet?

Wie hatte er Kanda gemustert und was hatte dieser dabei gefühlt?

Kapitulation auf ganzer Strecke und so schloss ich mich wieder den Beobachtungen des Marshalls an.

Ich konnte nicht dringen in die Bande, die den Umgang der beiden miteinander bestimmte.

„Schneit es bei euch auch so unablässig?“, erkundigte sich Tiedoll und riss mich zurück in die Gegenwart, in der ich viel zu still neben ihm saß. „Ich habe es gerne, wenn der Schnee nachts fällt und mich am nächsten Tag mit seinem Glanz überrascht. Der Winter ist etwas Herrliches, nicht wahr?“

„Der Sommer ist auch nicht schlecht“, erwiderte ich.

„Das stimmt.“ Neben mir regte sich der Marshall. „Den letzten Sommer haben Chaoji und ich in Belgien verbracht. Weißt du, was für herrliche Seen es dort gibt?“

„Ich war schon öfter dort“, antwortete ich und Tiedoll stieß ein seltsames Seufzen aus.

Die Reaktion überraschte mich aber ich stellte keine Fragen. Natürlich nicht.

Die ersten Strahlen der Sonne drangen über die finsteren Bergspitzen, fielen direkt zu uns und blendeten unsere Augen. Tief atmete ich ein, faltete die Hände auf dem Bauch und betrachtete mir die kahlen Äste der nahen Bäume. Sie wurden in diesen Monaten so hässlich.

Die Zweige krümmten sich wie Totenfinger auf dem weißen, reinen Untergrund der Umgebung. Sie anzuschauen hatte keine gute Wirkung und abrupt beendete ich die Beobachtung, als neben uns die Tür klickte. Es war Kanda, der zu uns trat und er machte nicht den Anschein, gerade erst aufgestanden zu sein. Es hätte nicht zu ihm gepasst, ganz anders seine Miene, die voll und ganz der Gewohnheit entsprach. Während Tiedoll ihn begrüßte, befasste ich mich nur damit, ihn zu mustern.

Leise schloss er die Tür hinter sich.

„Ich habe gerade mit Komui telefoniert.“

Wandte er sich an mich?

Ja, er sah mich an. So wie er es immer tat, während ich nicht hörte, wovon er sprach. Gerade jetzt, wo ich ihn vor mir sah, fiel es mir auf. So wie ich ihn kannte, erschien es mir völlig abwegig, dass seine Stimme so mild über seine Lippen kommen konnte und sich sein chronisch nachdrückliches Gesicht so entspannte.

„Also was sitzt du da noch?“ Plötzlich wies er mit einer Kopfbewegung zurück ins Haus. „Wir müssen los.“

„Was hast du gesagt?“

Ein Zucken ging durch Kandas Miene, seine Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich und plötzlich sah er aus, als hätte ich ihn beleidigt. Ich hatte nicht zugehört und er war niemand, der etwas zweimal sagte aber bevor sich dieser Schlamassel vollends entwickeln konnte, seufzte Tiedoll.

„Meine Güte, Yu, es kann doch nicht so eilig sein, dass Allen nicht einmal mehr Zeit für ein Frühstück hat.“

Es war unklug von Tiedoll, die Frage so zu formulieren, dass er von Kanda erwartete, Rücksicht auf mich zu nehmen und das war keine Kunst, die dieser gern beherrschte. Wenn überhaupt.

Ebenso keine Kunst, die ich mochte.

„Schon in Ordnung.“

Diese Peinlichkeit konnte man auch umgehen und so machte ich mich daran, auf die Beine zu kommen. Der Weg, der Kanda und mich wer weiß wohin führte, würde sicher die Gelegenheit bieten, sich um den Hunger zu kümmern. Man fand überall etwas, um sich den Magen vollzuschlagen, doch kaum stand ich, da erhob sich dieses Murren.

„Wenn du etwas essen willst, mach es jetzt sofort.“

Die Worte kamen überraschend. Eher für mich als für Tiedoll, denn der gab sein gemütliches Fleckchen mit einem Mal auch auf.

„Lasst uns zusammen frühstücken“, meinte er guter Dinge und Kandas nächstes Brummen klang wie eine Zustimmung. Keine von der begeisterten Sorte aber ich hatte mit weitaus mehr Unzufriedenheit und Kritik gerechnet und sah ihn kurz darauf wieder im Haus verschwinden.

Das war es? Seit wann war er so leicht zu überreden?

„Es gibt doch nichts Besseres als ein gemeinsames Frühstück.“ Somit trat auch Tiedoll zurück in das Haus und obwohl er mich mit sich winkte, blieb ich noch für wenige Momente stehen.

Eine seltsame Situation.

Zu seltsam, vor allem, da ich im Mittelpunkt stand. Ich kam nicht um ein irritiertes Kopfschütteln, bevor ich nach der Klinke griff. Selbstverständlich hatte ich es nicht gern, wenn man Rücksicht auf mich bezog und mich darstellte wie einen Menschen, der sie brauchte.

Es waren Dinge, vor denen ich mich sträubte, nur hier und jetzt gab es eine Sache, die mich durch ihren seltsamen Verlauf von dieser Entwicklung ablenkte. Man nahm Rücksicht auf mich, doch was mir durch den Kopf zog, war die Tatsache, wer Rücksicht nahm.

Ich folgte Tiedoll zur Gaststätte und tat es mechanisch, während mich eine Vermutung eiskalt erwischte. Meine Schritte gerieten ins Stocken, meine Augen verloren Tiedolls Rücken und eine finstere Regung bekam meine Gesichtsmuskeln zu fassen.

Lag es an der letzten Nacht und an dem, was Kanda dort sah?

Machte ich für ihn den Anschein, so gebrechlich zu sein, dass ich nicht ohne Frühstück auf die Beine kam?

Nein, unmöglich.

Welcher Teufel ritt mich nur, dass ich plötzlich Kandas Verhalten von mir abhängig machte?

Wie vermessen. So war ich nicht.
 

Ich versuchte nicht mehr daran zu denken und mich auf das Frühstück zu konzentrieren.

Während Chaoji ein Brötchen mit einem zu stumpfen Messer bearbeitete, stieg vor Tiedoll weißer Dampf aus einer Tasse Kaffee. Vor Kanda dampfte eine Tasse Tee, während er auf seine Bestellung starrte, ohne sich durchringen zu können, sie anzurühren. Ich ließ es mir schmecken.

Obwohl auch ich nicht jede meiner Bestellungen genau zu definieren wusste, aß ich sie einfach und war nicht unzufrieden. Auch Kanda kostete irgendwann, was ihn dazu brachte, sich den Rest des Frühstücks mit seinem Tee zu befassen. Seine Kräfte schienen unerschöpflich und auch wenn er nichts aß, so wusste ich doch, dass ich mich während der folgenden Mission auf seine Stärke verlassen konnte. Kompromisslos. Ich hielt inne und kratzte mit der Gabel über den Rand des Schälchens.

Ich wusste nicht einmal, was für eine Mission es war. Ich hatte nicht zugehört und wahrscheinlich war es meinem Kollegen egal. Das Nachhaken würde zu einem weiteren Niedergang der Stimmung führen aber ich kam wohl nicht drum herum. Ich ging keinen Weg, ohne mein Ziel zu kennen.

So ging das Beisammensein mit Tiedoll und Chaoji zu Ende. Das letzte heitere Gespräch wurde geführt, zum letzten Mal tauschten wir uns aus und da das Innocence schon am gestrigen Tag den Besitzer wechselte, gab es nach dem Frühstück keine Gründe mehr zu bleiben.

Ein letztes Mal betrat ich dieses unangenehme Zimmer und traf die wenigen Vorkehrungen, bevor ich in das Erdgeschoss zurückkehrte. Es roch nach Aufbruch. Chaoji erwartete mich und wir wechselten die letzten Worte, bis Kanda und Tiedoll zu uns stießen. Es machte den Eindruck, als hätten auch sie miteinander gesprochen und welcher Art diese Unterhaltung war, konnte ich mir allmählich vorstellen.

Für Kanda waren es wohl die letzten freundlichen Worte für die nächsten Tage. Sein Pensum war ausgeschöpft und ich würde bekommen, was übrig blieb.

Seine Miene verhieß Unglück aber es tangierte mich nicht, da ich Hoffnungen dieser Art nie hatte. Mich erwartete das Gewohnte, als ich mich von Tiedoll verabschiedete, Chaoji ein letztes Mal umarmte und dann hinter Kanda die Herberge verließ.

Wir gerieten in das Gedränge der Straßen. Mit dicken Mänteln und Schuhen trotzten die Bewohner der Stadt der Kälte. Die eisigen Temperaturen hielten keinen von seiner Arbeit ab und während der Schnee unter den Sohlen der Menschen knirschte, stiegen über ihren Köpfen die weißen Dämpfe der Atemzüge auf. Leises Stimmengewirr begleitete uns auf unserem schweigsamen Weg und oft drifteten meine Augen zur Seite, gelockt von seltsamen Geräuschen. Läden wurden geöffnet, Lieferanten zogen hölzerne, mit Waren beladene Karren durch enge Gassen. Gerüche, Worte.

Ich schenkte einigen Beachtung, während ich die Kapuze mit der Hand sicherte.

Das Wetter war auch heute gnadenlos. Sogar in diesen engen Straßen erreichte der Wind uns schonungslos und suchte sich die kleinsten Ritzen, um durch die Uniform zu dringen.

Wir hielten uns lange auf einer dicht begangenen Straße und bogen dann in eine Gasse. Der Gestank von Abfällen zog uns entgegen, wir hatten uns unter einem Fensterladen zu ducken und nach wenigen Schritten freute ich mich schon auf die weite, weiße Ebene.

Zu gewissen Zeiten nahm ich es lieber mit einer verlassenen Steppe auf als mit Straßen, in denen sich das Leben viel zu hochkonzentriert tummelte. Straßen, in denen mir Blicke begegneten und insgesamt zu viele Eindrücke, obwohl ich mich nach dieser Nacht nicht mehr so müde fühlte.

„Irkutsk.“ Als wir die unberührte, weiße Fläche einer Wiese betraten, meinte ich, Kandas Stimme zu hören. Sie erhob sich abrupt und sofort spähte ich zu ihm.

„Bitte?“ Ich tat gut daran, zu ihm aufzuholen. So fand ich mich neben ihm ein und sah die Kopfbewegung, mit der er geradeaus wies. Ohne mich anzusehen.

„Wir gehen nach Irkutsk.“

Und ich begriff es, glaubte zumindest, es zu tun, so überraschend es auch war. Er erklärte es mir wirklich ein zweites Mal und ich war umso aufmerksamer und dankbar in diesem Interesse.

„Wir gehen dort Gerüchten nach, die unter den Bewohnern der Stadt kursieren.“ Kandas Stimme war wie eh und je aber in diesen Momenten störte ich mich wenig daran. Gerade weil ich es ihm zugetraut hätte, mir den Inhalt der Mission bis zu dem Augenblick zu verschweigen, an dem ihm keine andere Wahl blieb. Hier zwang ihn niemand und das wusste ich zu schätzen.

„Wenn sie stimmen, wurden Akuma in einem abgelegenen Viertel gesichtet.“

Mehr musste nicht gesagt werden und er tat es auch nicht. Er befreite seinen Fuß aus einem versteckten Gewächs und unter einem tiefen Atemzug blickte ich wieder auf das glitzernde, weiße Meer, das wir mit unseren Stiefeln durchschnitten.

„Danke.“ Ich sagte es leise, doch war mir sicher, dass er es hörte. Inmitten des Windes, der uns hier ungehindert erreichte. Er antwortete nicht.

In nicht weiter Ferne erspähte ich die annähernd schwarzen Stämme eines etwas verloren erscheinenden Waldes. Es war nur eine kleine Ansammlung von Bäumen auf dieser Steppe aber ich sah sie schon einmal. Wir gingen den Weg, den wir gekommen waren und geradewegs zur Haltestelle.

Eine schneidige Böe erfasste uns, presste uns die Mäntel flatternd um den Leib und ließ mich die Arme verschränken. Wir überquerten einen Hügel, sahen bald vor uns ein breites, eingeschneites Tiefland und mussten herausfinden, dass in der Nacht nicht wenig Schnee gefallen war.

An manchen Stellen reichte er uns bis zu den Knien und es geschah oft, dass wir innehielten, weil einer von uns sich in den verborgenen Gewächsen verfangen hatte. Auf diese Weise wurde sogar so ein Weg zu einer Belastung. Als auch der Wind weiterhin zunahm, stopfte ich Tim unter meinen Mantel.

Als es bald darauf erneut zu schneien begann, war auch die Sicht sehr eingeschränkt. Fünf Meter, weiter reichten unsere Augen in dem Gestöber nicht aber wir blieben der Richtung treu. So durchquerten wir das Tiefland und es war nicht still zwischen uns, weil uns der drängende Wind ohnehin die Stimme geraubt hätte. Selbst bei bestem Wetter wären wir wohl schweigsam gewesen, weil ich immer noch nachdenklich war und meiner Umgebung bald nicht mehr viel Beachtung schenkte.

Fast blind sanken unsere Füße durch den Schnee, bald gerieten wir in einen wahren Sturm und hatten unsere Augen mit den Händen vor dem Schneegestöber zu schützen.

Angestrengt zog ich den Fuß aus dem Schnee, setzte ihn vor, sank wieder ein und zerrte gleichzeitig am Mantel, der sich irgendwie in meinen Beinen verfangen hatte. Es war beschwerlich und ärgerlich. Wieder befreite ich den Fuß, machte einen weiten Schritt, sank durch die Schneedecke und fand nicht den rechten Halt auf dem Boden. Ich rutschte um ein Stück und starrte sofort hinab, nebenbei nach der Kapuze tastend. Das nächste Mal testete ich den Boden noch aufmerksamer und wieder, ich rutschte zur Seite und tippte mit dem Fuß auf den Untergrund. Ein See, doch in dieser klirrenden Kälte dürfte das Eis unter uns dick genug sein.

So fand ich mich wieder neben Kanda ein und kam nicht umhin, mich umzublicken. Zur einen Seite, zur anderen, doch überall umgab uns nur dieses undurchdringliche Gestöber. In unseren Ohren pfiff der Wind. Alles wirkte normal, doch mein Körper folgte seiner Intuition, als er sich umwandte. Unter unseren Füßen erstreckte sich Wasser, über unseren Köpfen tummelte sich das weiße Nichts und doch wurde ich von einem Moment auf den nächsten unruhig.

Kaum hatte ich mich nach vorn gewandt, da starrte ich schon wieder zur Seite und an Kanda vorbei. Er spähte zu mir, doch von festen Zweifeln konnte ich noch nicht sprechen. Ein Bauchgefühl, mehr war es nicht, also entging ich seinem fragenden Blick, tastete nach Tim und starrte bald schon wieder zu Boden.

Es waren meine Sinne, die mich so handeln ließen. Meine Sinne, die für mich überlebensnotwendig waren und denen ich zu vertrauen hatte.

Etwas stimmte an diesem Ort nicht aber ich könnte es nicht in Worte fassen. Ich musste es jedoch auch nicht. Mein Blick genügte Kanda. Wieder starrten wir zurück und quälten uns noch wenige Schritte, bis wir stehenblieben.

„Ich sehe nichts!“, kam ich einer Frage zuvor und musste schreien, um ihn in dem Sturm zu erreichen. Durch seine Miene fuhr eine misstrauische Regung, bevor er sich abwandte.

Auch ich hasste das Ungewisse und das Gefühl, auf seltsame, unbekannte Art ausgeliefert zu sein.

Hinter uns? Über uns?

Der Wind erschwerte uns jeden Atemzug, die Sicht zog sich weiterhin zu und plötzlich drang Knacken an unsere Ohren.

Unter uns!

Das Eis brach. Wir bewegten uns um einen Schritt, traten nach vorn, nur um auch weiterhin von dem Knacken begleitet zu werden. Es klang wie das Brechen morscher Knochen. Dumpf, allgegenwärtig und unsere Blicke sprachen von ein- und demselben, als sie sich trafen.

Es war unmöglich, dass dieses dicke Eis inmitten eines klirrend kalten Winters brach.

Wir taten noch einen Schritt, die Aufmerksamkeit auf den Boden nagelnd, alarmiert und erwartungsvoll. Mit einem Mal erhob sich das Knacken stärker. Es geschah in unserer Nähe und urplötzlich und kaum hatten unsere Augen nach diesem Punkt gesucht, wurde die Atmosphäre von einem lauten Krachen durchbrochen. Es geschah zu plötzlich und erschrocken fuhr ich herum, als der Boden unter Kandas Füßen schier explodierte.

Donnernd riss es die Eisschollen auseinander, eisig peitschte das Wasser in die Höhe und ihm blieb nicht einmal die Möglichkeit, sich mit einem Sprung zu retten und inmitten des aufstiebenden Eises sah ich seine Gestalt blitzschnell einbrechen. Zu schnell für sein Gewicht, doch nicht zu schnell für mich.

Es war seine Hand, die mir entgegenfuhr und sofort hatte ich sie mit der linken umklammert.

Mit einmal Mal fiel mein Herz aus dem gewohnten Rhythmus, mit einem Mal wurden wir gefordert und als gäbe es keinen Schnee, der mich stoppte, wurde ich selbst unweigerlich zu dem Loch gezogen. Schlitternd rutschte ich über das Eis, doch stemmte mich sofort dagegen.

Ich spürte es. Es war nicht nur Kanda, den ich hielt. Es war ebenso jemand, der von unten an ihm zog und erst als das eisige Wasser bis zu seiner Brust schwappte, fand ich Halt. Ein Ächzen drang an meine Ohren, kalt der Schnee in meinen Mund und kurz war es ein blindes Ringen.

Fest stemmte ich die Füße auf den bislang noch sicheren Boden. Es war weiteres Knacken, das uns umgab, doch gehörte meine Konzentration derzeit nur Kanda und der Kraft, die ich brauchte, um ihn über der Wasseroberfläche zu halten. Jemand schien mit ungeheurer Kraft an ihm zu zerren und kaum dass mein Auge zu reagieren begann, schnellte Kandas Hand zu Mugen. Sein Körper schrammte über die Eisschicht, als man ihn zur Seite zog und mit einem Ruck noch tiefer hinab und mein lautes Keuchen wurde vom Wind verschluckt, als ich meinen Griff verfestigte.

Ich befürchtete, ihm die Hand zu brechen, doch weniger Kraft durfte ich nicht wagen und entgegen dem Zug, der unter Wasser auf ihn einwirkte, schaffte ich es dennoch, ihn wieder höher zu ziehen. Schneidig hatte Mugen bereits die Scheide verlassen und wenn auch matt, deutlich erkannte ich den hellen Schein der Akumaseele. Dort, gar nicht weit unten und genau an der Stelle, zu der Kanda das leuchtende Katana hinab stieß. Es war eine erschreckende Präzision dafür, in welcher Situation er sich befand und mit einem Mal spürte ich, wie er um einiges leichter wurde.

Man ließ von ihm ab und mit einem Ruck zerrte ich ihn aus dem Wasser. Eisig schwappte es über meine Stiefel und kaum dass Kanda halbwegs sicheren Boden unter den Füßen hatte, stemmte er sich in die Höhe. Er war nass von Kopf bis Fuß und kaum hatte er sich dem Loch zugewandt, schoss pfeilschnell ein Schatten ins Freie. Ein Level 3!

Kandas Reflexe waren ihm kaum unterlegen. Kaum entkam die Kreatur einem kraftvollen Hieb, schoss in einem riesigen Sprung gen Himmel und verlor dabei einen Teil ihres Beines. Ächzend blickte ich ihr nach und auch Kanda entrann ein geräuschvoller Atemzug, als sich erneutes, dumpfes Knacken um uns erhob und wir es sofort zu deuten wussten.

Es verging keine Sekunde, da fuhren wir herum und rannten. Fort von dem Ort, an dem uns die Akuma überlegen waren. Ein solcher Schauplatz wäre fatal und ich hoffte, dass sich der See unter uns nicht zu weit erstreckte, als das Eis zu all unseren Seiten in die Höhe geschleudert wurde. Stiebend erreichte uns das eisige Wasser, als sich weitere Level 3 ins Freie kämpften und wir ihnen bald auszuweichen hatten.

Zwei, drei, vier, fünf. Keuchend blickte ich um mich, bekam den linken Handschuh mit den Zähnen zu fassen und riss ihn von meiner Hand. Wir rannten beinahe blind, fanden uns mit einem Mal in einer prekären Lage wieder, in der wir rutschten, schlitterten und uns in dem dichten Schneegestöber zu einem Ufer durchzukämpfen hatten.

Nur knapp gelang uns das Ausweichen, als das Eis direkt vor uns explodierte. Kanda schlitterte zur Seite, dicht rutschte auch ich an dem Loch vorbei und fast spürte ich den kalten Luftzug des Akuma, der neben mir in die Höhe schoss. Wir erreichten uns nicht. Sein Hieb verfehlte mich wie ihn die messerscharfen Klingen meiner Hand. Wir stoben aneinander vorbei und fast ohrenbetäubend brach das Eis auch an all den Stellen, an denen die Akuma wieder hinab kamen.

Der gesamte See brach auf. Das Knarren und dumpfe Dröhnen holte uns ein, zwang uns zu noch größerer Hast und nur knapp gewannen wir den Wettlauf mit den Kreaturen, bevor wir mit einem letzten Sprung das Ufer erreichten. Weich erstreckte sich das Gras unter dem Schnee. Wir sanken ein und waren von nun an endlich bereit zurückzuschlagen. Was für ein Hinterhalt.

Weiß umhüllte mich der Mantel meines Innocence’, ließ mich mit der Umgebung verschmelzen und kaum fuhren Kanda und ich herum, da trafen wir mit dem Feind aufeinander. Nur kurz sah ich Kandas Bewegung. Seine Hand, die sich ins Leere streckte und unter einem gleißenden, blauen Licht ein zweites Schwert umschloss. Schneidig entstand es unter seinem Griff und kaum setzte er sich in Bewegung, stieß auch ich mich ab.

Mit einem Sprung weit hinauf und mein Innocence ließ mich dabei so leicht werden, als wäre ich selbst ein Fragment des Windes, das vernichtend auf die Akuma niederstieß.

Das Leuchten des anderen Innocence ließ mich die Bewegungen der Schwerter erahnen, als ich hinabstürzte, ungebremst auf einen Akuma stieß, der selbst zum Sprung angesetzt hatte. Krachend trafen wir aufeinander und genauso gnadenlos durchstießen die Krallen meiner Hand den schwarzen, dürren Körper, schmetterte ihn hinab zu Boden und mich auf ihn. Sicher stemmte ich die Stiefel auf seinen Leib, als wir aufschlugen und das laute Knacken seines Körpers ließ mich sofort von ihm ablassen. Ein letztes Zucken durchfuhr den Leib, bevor ich die Krallen aus ihm riss, mit einem Sprung zurücksetzte und mich vor dem Angriff des nächsten in Sicherheit brachte.

Es war ein Gefecht ohne Überblick, ohne Koordination.

Der Schnee verstärkte sich, als würde er uns hassen. Er erschwerte uns die Sicht und gestaltete jeden Angriff der Akuma noch überraschender. Sie waren in der Überzahl und Kanda und ich stets mit mehreren Gegnern beladen.

Wirbelnd fuhr ich herum, tauchte unter der heranstürzenden Gestalt eines Akuma hindurch und packte noch in derselben Bewegung mein linkes Handgelenk. Nur eine kurze Berührung, bis ich die Verformung meines Körpers spürte, die Verhärtung meines Armes, bis meine Hand den Schwertgriff umfasste und ich die Waffe aus meiner Schulter riss. Ein gezielter Seitenhieb entgegen eines Schattens, der abrupt aus dem Gestöber auftauchte und krachend wurde auch dieser Körper von der Wucht meines Schwertes erfasst und zur Seite geschmettert.

Wenn die Akuma den Schnee als ihren Vorteil ansahen, waren sie meinem Auge unterlegen. Ich spürte sie, sah sie weitaus eher, als sie mich und kaum versenkte ich die Klinge meines Schwertes in dem nächsten Körper und nagelte ihn an den Boden, da erfassten meine Augen einen weiteren Schatten, der mich unglücklich überraschte. Nur beiläufig stemmte ich den Fuß auf den Kopf des Akuma und zog das Schwert ins Freie. Es war keine dürre Gestalt, deren Schatten sich dort manifestierte.

Es war der klobige runde Körper eines Level 1!

Sofort stieß ich mich ab, sah die Mündungsfeuer inmitten des Schnees aufblitzen und duckte mich unter den ohrenbetäubenden Schüssen. Über meinen Kopf zischten sie hinweg, auch neben mir vorbei und dem Level 1 blieb keine Möglichkeit, erneut zu schießen, da fraß sich meine Klinge durch ihn. Dumpf gingen die beiden Körperhälften in den Schnee nieder und als ich einen Satz zurück machte, stand ich Rücken an Rücken mit Kanda. Leicht trafen wir aufeinander, als sich die Explosionen erhoben.

Weiß beschlugen unsere Atemzüge in der klirrenden Luft, bevor wir auseinanderstoben und kaum hatte ich zwei Schritte getan, da erhob sich schon die nächste Explosion inmitten des Gestöbers.

Wie viele es waren, konnten wir nicht einschätzen, auch nicht, ob es bei den Level 3 blieb oder ob uns noch etwas Schwerwiegenderes erwartete. Wir kämpften uns durch, hatten auf unsere Reflexe zu bauen, mit denen wir abrupten Angriffen aus dem weißen Nichts auswichen und die Augen zu jedem Zeitpunkt überall hatten.

Kraftvoll durchschnitt die Klinge meines Schwertes den Schnee, nur knapp entkam die nächste, schwarze Kreatur dem Hieb und sofort setzte ich ihr nach. Ein Sprung, bis wir erneut aufeinandertrafen und ich mich unter ihrer Klaue hinweg duckte. Dumpf erhob sich mein weißer Mantel unter einer schneidigen Böe, peitschte dem Akuma entgegen und ein kurzer Moment genügte mir, um herumzufahren und ihm einen Arm abzutrennen. Lose schleuderte er davon, hielt den Akuma jedoch nicht vom nächsten Angriff ab und kaum nahm ich neben mir die Bewegung eines weiteren Level 3 wahr, erhob sich das Leuchten der beiden Schwerter.

Kanda erwischte ihn von der Seite und nur kurz hatte ich dem zu Boden gehenden Körper auszuweichen, bevor ich auf meinen Gegner traf, seine Klaue auf das Blatt meines Schwertes treffen ließ und ihn mit einer präzisen Bewegung aus dem Gleichgewicht brachte. Schlitternd rutschte Kanda an mir vorbei, als ich auch diesen Körper mit einem Hieb durchtrennte.

Kandas Haar peitschte gegen meine Schulter und der Akuma, der ihm auf den Fersen war, hatte hektisch meiner Klinge auszuweichen, während Kanda bereits in das Schneegestöber zurücksprang. Angestrengt versuchte ich meinen Atem zu kontrollieren, als ich den Griff des Schwertes sicherer umfasste und dem Akuma mit einem weiten Satz folgte. Strauchelnd bewegte sich die Kreatur nur noch auf einem Bein und fast hatte ich sie erreicht, da stemmte ich abrupt die Fersen in den Schnee und wich zurück.

Mit einem Mal und aus heiterem Himmel war es eine riesige, weiße Hand, die von oben durch das Gestöber drang. Lange Finger, die den Körper des Akuma umschlossen wie Spielzeug und ihn im Boden versenkten. Mit offenem Mund starrte ich nach oben und auch wenn ich es nur undeutlich sah, ich erkannte die weiße, monströse Gestalt, die sich über uns neigte.

Das Innocence des Marshalls!

Ich fuhr herum, sah einen weiteren Schatten durch den Schnee flüchten und setzte mich in Bewegung. Ihn und Chaoji an unserer Seite zu haben, machte jede Sorge zunichte. Mit einem Mal stand es besser und kurz erfassten meine Augen auch Chaojis Gestalt. Mit bloßen Händen warf er sich einem Level 1 entgegen und schickte ihn mit einem kraftvollen Schlag gen Boden. Ich eilte weiter, stets von dem Schatten der weißen Gestalt verfolgt, die über das Schlachtfeld wachte sowie über uns.

Ein runder Schatten neigte sich in meinen Weg, von überall her drangen die dumpfen Schüsse zu mir und diesen einen erwischte ich im Rücken. Ein kraftvoller Schlag riss ihn aus meiner Quere und warm drängte sich der Druck der Explosion in meinen Rücken, als ich einen weiteren Level 3 vor mir erspähte.

Es konnten nicht mehr viele sein. Vermutlich würde es ein kurzer Kampf bleiben und nur knapp entkam mein nächster Gegner meiner Klinge. Er rutschte zur Seite und schon folgten ihm meine Augen, als er in die Höhe sprang. Sofort ging auch ich in die Knie, sofort auf die Verfolgung konzentriert und nur kurz erfassten meine Augen die pfeilschnelle Bewegung eines Schattens, der durch den Schnee stob und mich innerhalb einer Sekunde erfasste. Es war der Körper eines Level 3, der zu mir geschleudert wurde. Mit einer Schnelligkeit, gegen die meine Reflexe verloren.

Nur ein Zucken durchfuhr meine Miene, bevor der Körper in seiner Wucht auf mich traf und mich vom Boden riss. Krampfhaft hielt meine Hand das Schwert umklammert, als ein dumpfes Zucken meinen gesamten Körper durchfuhr und ich durch den Schnee geschleudert wurde. Mein Hals knackte, für wenige Sekunden drang kein Laut mehr an meine Ohren und dann war es mein lautes Ächzen, als die Wucht meines Körpers gestoppt wurde.

Dumpf schlug ich gegen einen steinernen Hügel. Der Aufprall nahm mir den Atem, mit der letzten Wucht schien ich mich zu überschlagen und rutschte über das Gestein hinweg in den Schnee. Als mein Gesicht in das kalte Weiß eintauchte und mein Mund vergeblich nach Luft rang, verlor ich kurz jedes Gefühl für meinen Körper. Mein Gesicht verzog sich vor Schmerz und nur stockend begann ich mich dann zu bewegen, die Hand vom Griff meines Schwertes zu lösen und nach Halt zu suchen. Luft.

Ich schaffte es kaum, das Gesicht aus dem Schnee zu heben und endlich nahm meine Lunge wieder Sauerstoff in sich auf. Ein Röcheln begleitete mein Ringen und sofort atmete ich aus und kam nicht um ein trockenes Husten. Mit einem Mal drang der Krawall des Kampfes wieder zu mir. Ganz in der Nähe entlud sich eine Explosion, als ich benommen in beide Richtungen blinzelte.

Es war Verbitterung, unter der ich mich zu weiteren Bewegung zwang, die Hand in den Schnee stemmte und mich in eine aufrechte Haltung kämpfte. Es ließ sich kaum atmen und verkrampft versenkte ich die Finger im Stoff meiner Uniform. Es fühlte sich an, als wären meine Rippen zertrümmert. Sie knirschten und ächzten unter jeder Bewegung und nur kurz überzeugte ich mich davon, dass sich kein Akuma in meine Nähe verirrt hatte.

Zusammengesunken blieb ich kauern, biss die Zähne zusammen und rang um die alte Kontrolle. Ich hatte sie noch nicht ganz zurück, da tastete ich schon wieder nach meinem Schwert.

Wenigstens meine Beine gehorchten mir, während das Schwert mit einem mal umso schwerer zu sein schien. Ich zog es durch den Schnee zu mir, noch immer bissen meine Zähne aufeinander und entgegen dem Streik meines Körpers, schaffte ich es trotzdem, mich aufzurichten.

Ich stemmte das Schwert in den Schnee und zog mich hinauf.

Es war still. Nur das leise Pfeifen des Windes erreichte mich.

Noch einmal biss ich die Zähne zusammen und nutzte die Abschirmung des Schnees, um erneut nach meinen Rippen zu tasten.

„Geht es euch gut?“ Nur leise erhob sich Tiedolls Stimme. Er war in der Nähe und unter der Gewissheit, dass der Kampf wirklich vorbei war, löste ich die Hand von meinen Rippen und ballte sie zu einer Faust. Natürlich ging es mir gut.

Mein Gesicht zuckte voller Gram und fast argwöhnisch zog ich das Schwert zu mir, setzte es an meine Schulter und ließ es sich zum Arm formen. Noch während meine schwarze Hand aus dem Nichts entstand, versuchte ich mich in einem Schritt. Er wankte, meine Knie waren weich aber das war etwas, das sich unterdrücken ließ.

„Allen?“ Jetzt war es Chaoji, der nach mir rief und ich erlaubte mir ein letztes Keuchen.

Eine kurze Unachtsamkeit. Wie hasste ich mich für diesen Moment, während ich zu Chaoji und Tiedoll stapfte. Ich akzeptierte nicht, dass ich mich von meinem Weg abbringen ließ und als ich kurz darauf drei Gestalten inmitten des Schnees ausmachte, hoffte ich, einen Anschein zu erwecken, der keine Sorgen hervorrief. Mein Körper richtete sich auf und als ich Chaojis Gesicht sah, hob ich nur die Hand.

Es war alles in Ordnung. Natürlich war es so und niemand würde dem widersprechen.

„Willst du wirklich nicht meinen Mantel?“ Während Chaoji mir entgegenkam, musterte Tiedoll die gefrorene Uniform Kandas. Auch mir fiel auf, wie bleich sein Gesicht war und wie blau seine Lippen. Auch seine verspannte Haltung könnte niemandem entgehen, genauso wenig wie seine abgrundtief schlechte Stimmung.

„Allen, alles in Ordnung?“ Chaojis Atem fiel aufgeregt und sobald Kanda Tiedolls Sorgen von sich gewiesen hatte, wandte sich dieser auch mir zu.

„Was für ein Glück, dass wir fast denselben Weg hatten“, meinte er seufzend. „Wir sind noch rechtzeitig gekommen.“

„Wir müssen immer damit rechnen, dass in unserer Nähe etwas passiert“, fügte Chaoji hinzu. Mustern tat er mich nicht. Die Frage schien von selbst beantwortet. Natürlich, denn ich war so wie immer.

„Wir kehren in die Herberge zurück“, entschied Tiedoll daraufhin und bedachte Kanda mit einem Nicken. „Er muss sich aufwärmen und ich werde mich bei Komui melden.“
 

So hielten wir uns nicht viel länger auf dem Schlachtfeld auf. Der letzte Qualm der rauchenden Kadaver der Akuma würde in wenigen Momenten vom schweren Schnee erstickt werden. Die Gegend umgab uns gleißend hell und doch verlassen und wie verlorene, schwarze Punkte bewegten wir uns erneut in diesem weißen Nichts.

Ächzend versuchte Chaoji etwas Ordnung in seine Kleidung zu bringen, während Tiedoll letzte Blicke in die Runde warf. Seine Besorgnis fiel knapp jedoch umso aufmerksamer aus und nach einem kurzen Umherschauen schien er zufrieden und schlug den Rückweg ein. Der feste Schnee knackte unter unseren Stiefeln, haltlos sanken wir ein und taten gut daran, auf den nahen Weg zuzusteuern. In zielstrebigen Schritten zog Kanda an mir vorbei und ich legte größten Wert darauf, ihm schnell genug beizukommen und auch meinen Atem zu beruhigen.

Zu tiefe Luftzüge nahm mein Körper nur schwer auf. Die Rippen schienen sich dagegen zu wehren und im Schutz, den ich als letzter der Gruppe genoss, tastete sich meine Hand über die Stellen, die taub waren. Druck auf sie auszuüben war keine kluge Entscheidung und das kurze Zucken meines Gesichtes ließ sich nicht vermeiden, bevor ich die Hand sinken ließ.

Es konnte nicht schlimm sein. Meine Bewegung wäre nur eingeschränkt, wenn ich diese Einschränkung zuließ. Ich konnte weiter gehen und als würde ich mir diesen Gedanken einverleiben wollen, bis ich selbst fest von ihm überzeugt war, schluckte ich wieder und wieder gegen den Schmerz, der mir bis in den Kopf stieg.

Mein Körper fühlte sich an, als hätte jedes Gelenk einen Schlag abbekommen. Selbst die Schritte brachten meinen Brustkorb zum Knirschen, doch meine Unaufmerksamkeit entschuldigte nicht, einen Kameraden im Stich zu lassen.

Nein, etwas Derartiges hatte ich nicht vor und die Tatsache, dass Kanda mit sich selbst zu tun hatte, ließ mich zuversichtlicher werden. Er hatte es nicht bemerkt. Niemand hatte das. Nun kam es einzig und allein darauf an, wie sehr ich mich selbst im Griff hatte. Es war mir noch nie schwer gefallen, innere Vorgänge auch in genau diesem Inneren zu versiegeln und mich so zu zeigen, wie ich einfach nicht war.

Bisher hatte ich auf die Art und Weise überlebt und mich davor bewahrt, in Rollen zu fallen, die mir nicht gefielen.

Es war kein langer Fußweg, bis wir das Dorf erreichten und in die alte Herberge traten.

Uns erwartete die Wärme im Inneren des Hauses und befreit ächzte Chaoji unter der verlorenen Last der klirrenden Kälte. Auch ich empfand den Moment, als ich die Tür hinter mir ließ, als angenehm und klopfte mir die Stiefel ab, bevor ich den dreien durch den Flur zum kleinen Aufenthaltsraum folgte.

Chaoji schien der unerwartete Kampf angestrengt zu haben und während Tiedoll an dem Raum mit den Sesseln und dem Kamin vorbeizog, um Komui zu kontaktieren, sank er sofort in eines der Polster. Für mich war es nur eine kurze Verlockung und letzten Endes beließ ich es dabei, mich auf eine der breiten Armlehnen zu setzen, die Beine von mir zu strecken und die Arme vor der schmerzenden Brust zu verschränken. Und so warteten wir.

Kanda war schnell versorgt worden. Durch die Fürsorglichkeit der Wirtin hatte er es nun in einer trockenen Hose, mit einer Decke und einer Tasse Tee in einem Sessel bequem. Er saß im Schneidersitz, zog sich die Decke um den Oberkörper und blies über die dampfende Oberfläche seines Tees, während die Uniform in der Nähe des flackernden Kamins hing. Leicht zerzaust und offen schlängelten sich die langen Strähnen seines Haares über seine Schultern. Aber er sah besser aus. Sein Gesicht und seine Lippen hatten wieder eine Farbe, die nicht besorgniserregend war und auch um seine Stimmung stand es etwas besser.

Vermutlich wünschte er sich nur, die Uniform würde schnell trocknen, damit wir uns wieder auf den Weg machen konnten.

Leise tickte die Wanduhr, Kanda nippte an dem Tee und Chaoji seufzte.

„Das ist nicht das erste Mal, dass uns so etwas passiert“, verriet er und es war nur verständlich, denn die größte Sicherheit, in Kämpfe verwickelt zu werden, gab es, wenn man mit einem Marshall unterwegs war. Wie abwechslungsreich ihre Wege waren, ließ sich nur vermuten aber letztlich wurde Chaoji auf diesen Reisen mit genau dem konfrontiert, was er bald jeden Tag erleben würde.

„Beim letzten Mal ist es passiert, als wir China erreichten.“ Er rieb sich die Wange. „Und jetzt wieder. Irgendwie haben wir damit gerechnet, also waren wir aufmerksam.“

Während ich schwieg, zog Kanda an der Decke und vergrub sich in ihr. Was soeben passiert war, hatte uns Zeit gekostet und flüchtig spähte ich zur Uhr.

„Habt ihr es so eilig?“, kommentierte Chaoji meine Regung.

„Wir müssen nach Russland“, antwortete ich und sofort nickte Chaoji.

„Dort war ich erst einmal.“ Sofort begann er davon zu erzählen und ich hätte ihm auch zugehört, hätte ich nicht plötzlich diese unangenehme Aufmerksamkeit gespürt. Kanda musterte mich über die Tasse hinweg.

„Tiedoll und ich waren ins Minsk“, nahm ich Chaojis Erzählung nur noch halbwegs wahr, begegnete Kandas Blick viel eher mit erwartungsvollem Unwissen. Ich wusste nicht, worauf er aus war, warum er jetzt schon wieder so reagierte und es vergingen nur wenige Augenblicke, bevor ich es herausfand.

„Du kannst hingehen, wo du willst“, fiel er Chaoji ins Wort und ließ diesen verstummen, „aber du gehst nicht mit mir nach Russland.“

„Wie bitte?“ Ich befürchtete etwas und erwiderte seine Musterung bitter. Mit verschränkten Armen blieb ich sitzen und bot, da war ich mir sicher, einen gestärkten und neutralen Eindruck. Irritiert spähte Chaoji von einem zum anderen und Kanda zeigte sich herzlich wenig beeindruckt.

„Glaubst du, ich habe Lust, einen Verletzten mitzuschleppen?“

„Einen Verletzten?“

Warum ich mich in diesem Moment als der Erstaunte aufspielte, wusste ich nicht.

Scheinbar war es ohnehin zu spät, ohne dass ich es verstand.

„Du weißt, was ich meine“, sagte er dazu nur und beschäftigte sich wieder mit der Tasse.

„Niemand verlangt von dir, Verantwortung zu übernehmen“, erwiderte ich ohne zu bemerken, dass ich mich wie jemand benahm, der sich durch wenige Worte gekränkt fühlte und ertappt. „Ich trage sie selbst.“

Wir standen in permanentem Blickkontakt. Niemand von uns flüchtete oder gab nach. Im Grunde fiel es mir schwer, nachdem er mir knallhart vor Augen führte, dass jede Anstrengung, etwas zu verbergen, sinnlos war. Er konnte nichts gesehen haben und die Tatsache, dass dem doch so war, stürzte mich nicht nur in Unglauben sondern auch in maßlose Verbitterung. Er versuchte mich in die Rolle zu drängen, vor der ich mich am meisten scheute, sah meine Gesellschaft vielmehr als Gefahr an, die folgende Mission scheitern zu lassen.

Dass er mich durchschaut hatte und dass es ihm so leicht fiel, war ebenso schmerzhaft wie die Wunden, die ihn zu solchen Worten bewegten.

Mit einem Mal saßen wir in dieser beklemmenden Lage, in dieser angespannten Atmosphäre und während Chaojis Augen mich überrascht nach Verletzungen absuchten, löste ich mich von der Armlehne.

„Ich glaube nicht, dass du es bist, der meine Verletzung am besten einschätzen kann.“

„Du kannst es offenbar auch nicht, als muss es jemand übernehmen.“ Sofort und gnadenlos bekam ich die Antwort und in schierer Empörung löste ich die Arme von der Brust und suchte nach Worten. „Du wirst mir keine Hilfe sein. Ich habe keine Zeit und keine Lust, mich um deine Gebrechen zu kümmern, also such dir eine Mission, mit der ich nichts zu tun habe.“

„Du…“, abrupt bissen meine Zähne zusammen. Mit einem Mal war ich wirklich wütend und dabei nur so verletzt und gekränkt. Was das anging, waren wir uns so ähnlich, dass es an Gnadenlosigkeit grenzte!

Er hätte doch genauso reagiert, wenn jemand versucht hätte, ihn zu befürworten!

Ihn zurückzuhalten war ein Unmögliches und jetzt verlangte er von mir, ihm ohne Widerrede zu gehorchen?

Er registrierte meine Wut und meine Abneigung aber es interessierte ihn nicht. Genauso finster erwiderte er meinen Blick. Und es schien alles gesagt zu sein. Er war sicher in seinem Entschluss und genauso starrköpfig wie ich. Mindestens.

Das Knarren der Bodendielen brachte die wuterfüllte Atmosphäre mit einem Mal zum Erliegen und erst als Tiedoll im Durchgang erschien, lösten sich unsere Blicke voneinander. Während Kanda sich dem Marshall zuwandte, versuchte ich meine Verstimmtheit vor ihm zu verbergen und suchte mit einem tiefen Atemzug Entspannung. Und wieder. Das Stechen ließ mich fast zusammenzucken und brachte mich dazu, es zu verdammen. Als wolle es mir vor Augen führen, dass Kanda mit jedem Wort Recht hatte!

„Ich habe mit Komui telefoniert.“ Tiedoll faltete seine Handschuhe und klemmte sie unter den Gürtel. „Er hat entschieden, wie es weitergeht. Chaoji und ich ziehen unserer Wege und Kanda geht nach Russland.“

Die Fassung bröckelte aus meinem Gesicht, während Kanda nicht einmal erstaunt zu sein schien.

Mein Mund regte sich stumm aber ein Wort bekam ich nicht hervor. Auch nicht, als Tiedoll mich erreichte und seine Hand vorsichtig auf meine Schulter traf.

„Komui möchte, dass du zurückkommst und dich auskurierst.“

Das konnte doch nicht wahr sein.

„Du bist wirklich verletzt?“ Chaoji trat an mich heran aber ich nahm ihn gar nicht wahr.

Nicht nur Kanda, auch Tiedoll hatte es bemerkt?

Die Hand des Marshalls rutschte von meiner Schulter. Ich blieb entrüstet stehen und war so bloß gestellt wie selten zuvor. Nur kurz spähte ich zu Chaoji, bevor ich Tiedoll mit Kanda flüstern sah.

Ich fand mich in einer Lage wieder, wie ich sie hasste. Mir waren die Hände gebunden und gegen meinen eigenen Unwillen stand jetzt nicht mehr nur Kandas Contra, nein, es war Komuis Befehl. Nicht zuletzt der des Marshalls. Tatsachen, denen ich nicht widersprechen konnte.

Es gab keine Möglichkeiten, dem Folgenden zu entgehen und letztes Endes senkte ich nur den Kopf und rieb mir den Nacken. Kanda würde also alleine gehen und das in eine andere Richtung als ich. Ich hatte zurückzukehren, abzubrechen, was ich hier begann und ich verlor nicht mehr viele Worte, bevor ich mich wenig später von Tiedoll und Chaoji verabschiedete und Kanda noch immer in diesem Sessel sitzen sah.
 

-tbc-

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Es waren die längsten Stunden meines Lebens, während ich im Abteil des ersten Zuges saß. Die Beine von mir gestreckt, die Augen auf die gegenüberliegende Sitzbank gerichtet, hielt ich die Hand auf die Rippen gebettet. Das Pochen, das sie durch meinen Körper jagten, meinte ich unter den Fingern zu spüren, während der Zug unter mir vibrierte.

Irgendwie war ich schwer.

Seit Kanda mich fortgeschickt hatte, seit ich von dem zielstrebigen Kurs und den Taten abgekommen war. Es war nicht mehr dasselbe, so ganz anders, als wenn ich mit ihm weitergezogen wäre. Zu weiteren Zielen und Taten, die etwas bewegten.

Nur beiläufig vernahm ich die Geräusche Timcanpy’s, der sich neben mir auf der Sitzbank regte, meine Hüfte hin und wieder mit einem seiner Flügel streifte. Leer erstreckte sich vor der Kabine der hölzerne Flur des Zuges. Keine Stimmen, kein Geräusch außer dem permanenten, belastenden und schweren Rattern der Zugräder.

Langsam bewegte ich den Mund und starrte auf einen Weg, der an mir vorbeizog. Und ich tat es düster.

Es war bitter. Selbst der Geschmack auf meiner Zunge, neben der Einsicht, dass Kanda richtig handelte, indem er sich weigerte, seinen Rückhalt jemandem zu überlassen, der sich nicht einmal selbst schützen konnte. Ich nahm es mir übel, dass meine täuschenden Verhaltensmuster für ihn nicht mehr zu sein schienen, als ein Buch, das er nur aufzuschlagen hatte, bevor er direkt und unausweichlich auf sie reagierte.

Ich brauchte keine Zeit, die ich im Hauptquartier verbrachte, um nichts anderes zu tun, als mich zu schonen und auszukurieren. Stehenbleiben. Letzten Endes hieß es genau das. An Ort und Stelle, nicht voranzukommen. Das hieß es für den, der so darauf beharrte, weiterzugehen.

Weshalb hatte ich nicht aufgepasst und Kanda gezwungen, sich der nächsten Mission alleine zu stellen?

Eventuell barg sie Gefahren, die mehr Stärke forderten.

Entgegen seines bevorzugten Einzelganges wäre es doch soviel sicherer gewesen.

Mit bitterer Miene sank ich auf den Polstern ein weiteres Mal in mich zusammen.
 

Es wurden anderthalb Tage, die weiterhin an meiner Kraft zehrten und beschwerliche Wege, die mich dazu brachten, mich wirklich nach dem Hauptquartier zu sehnen. Trotzdem gab es inmitten all meiner Erschöpfung nur eine geringe Erleichterung, als ich die erste Tür passierte, mir meinen Weg durch die steinernen Flure bahnte und den Fahrstuhl erreichte. Ich war am Ziel und meine schlürfenden Schritte stellten mir die Frage, wie ich es überhaupt bis hierher geschafft hatte.

Meine Schultern waren schwer, kaum fand meine Hand zum Schalter und die Wand der Kabine nutzte ich sofort als Stütze.

Der Schmerz schien mich regelrecht zu betäuben, erschwerte mir das Atmen und nur selten wagte ich ein tiefes Luftholen, nur um zusammenzuzucken und mich für den Versuch zu ohrfeigen.

Müde blinzelte ich unter den hellen Lampen eines Behandlungsraumes, als ich durch die nächste Tür trat und sofort zu einer der Behandlungsliegen.

Wie könnte man Kanda beneiden.

Stockend befreite ich mich aus der Uniform.

Ihn hätte ein solcher Schlag nicht hier enden lassen. Man musste sich nicht darüber wundern, dass er der seltenste Besucher des Hauptquartiers war. Die Fähigkeit seines Körpers, mit Wunden umzugehen und seine dubiosen Kraftreserven erlaubten es ihm, wochenlang durch die Welt zu ziehen.

Naserümpfend senkte ich das Gesicht und streifte das Hemd von meinen Schultern.

Eine dunkle, blaue Verfärbung zog sich über meine gesamte rechte Rippenseite und war durchtränkt vom tiefen Rot geplatzter Blutgefäße. Frustriert schöpfte ich tiefen Atem und spürte den Schmerz, als die geübten Finger des Arztes zu tasten begannen.

Drei gebrochene und vier geprellte Rippen, hieß es letztendlich, doch dies waren Verletzungen, die rasch heilen würde. Ich würde dafür Sorge tragen. Als der feste Stoff eines Verbandes um meinen Leib gelegt wurde, war mir der Gedanke an mein Bett gar nicht mehr so zuwider.

„Legen Sie sich hin und schlafen Sie.“ Ein leichter Ruck erfasste mich, als der Arzt den Verband straff zog. „Ich gebe Ihnen etwas gegen die Schmerzen.“

Noch ein Ruck, noch einmal zuckte mein Gesicht und kurz darauf war ich so eingeschnürt, dass ich nur flach atmen konnte. Noch eine Kanüle, die sich in meiner Armbeuge versenkte, ein Schmerzmittel, das in meine Vene strömte und dann rutschte ich von der Liege und tastete nach meiner Kleidung.

„Ich werde Komui Meldung erstatten“, vernahm ich noch die Stimme des Arztes, als ich mich mit der Schulter gegen die Tür drängte und in den Flur trat.

Meine Schritte erhoben sich schlürfend, dahindämmernd spürte ich die Wirkung des Schmerzmittels und sicherheitshalber hielt sich mein Leib stets nahe an der Wand, bereit, sie als Stütze zu nutzen. Flatternd begleitete mich Timcanpy und leise schleifte der Ärmel meiner Uniform auf dem Boden.

Unentwegt zog so die vertraute Umgebung an mir vorbei, bekannte Stimmen, die sich in nahen Gängen verloren und bald erreichte mich auch die kühle Luft des steinernen Treppenhauses.

Dann griff ich nur noch nach der Klinke, ließ die Uniform in der Nähe meines Bettes fallen und mich auf dieses sinken.

Von nun an würde es besser werden. Ein Quäntchen Schlaf, gesunde Ruhe und zuversichtlich blickte ich dem Moment entgegen, an dem ich wieder die Augen öffnete und all das hinter mir hatte.

Hinter den Scheiben meines Fensters lag noch dieser düstere Tag und matt blinzelte ich dieser leblosen, grauen Schicht zu, die sich am Himmel erstreckte. Es war eine einzige, deprimierende Decke aus regungslosen Wolken. Ich konnte mich nicht daran erinnern, die Stiefel loszuwerden, bevor ich die Decke über mich zog und die Augen schloss.
 

Der nächste Morgen spendete mir ein zurückhaltendes Stück Hoffnung. Der Verband war es, den ich zuerst spürte, kurz darauf einen ziehenden Schmerz, doch der Anblick, der sich mir durch das Fenster bot, erlaubte mir den ersten, beinahe befreiten Atemzug.

Es war die gesamte Nacht, die hinter mir lag und als wüsste der Himmel von meiner kleinen, ganz persönlichen Finsternis, erstrahlte er in einem so gleißenden Licht, dass man sich keinen Schnee dazu denken konnte.

Fast sah es aus, als wäre es warm und wohlig dort hinter dem Glas und ich vertiefte diese Betrachtung, schob mich unterdessen aus dem Bett und kam auf die Beine. Wenigstens sie boten mir eine zufriedenstellende Kraft. Auch die Schritte zum Fenster waren so leicht und nur kurz stützte ich meine Rippen mit der Hand, während ich die schwarzen Finger zum Glas hob. Klackend erreichten die Fingernägel die Fläche und als ich mit den Kuppen über sie glitt, spürte ich diese Kälte.

Es war kein Wetter, das dazu einlud, hinauszugehen.

Ich musste mich in Geduld üben und stieß ein Seufzen aus, als ich dem Fenster den Rücken kehrte und Timcanpy auswich. Sein Flattern erhob sich am Fenster, als ich nach meinem Hemd griff und mit dem leicht schmerzenden Arm den Eingang in den Ärmel suchte. Ich hatte es nicht eilig, ließ mir Zeit mit den Knöpfen, zupfte am Saum und tastete nach dem Reißverschluss eines Stiefels. Träge winkte ich dann Tim zu mir, ließ ihn durch den Spalt der Tür schlüpfen und folgte ihm in das Treppenhaus.

Selbst dort war es kalt und gähnend rieb ich mir den Steiß, bevor ich mich auf den Weg machte. Zu meinem Frühstück und einfach an einen Ort, an dem sich immer etwas abspielte. An dem ich nicht alleine war und ebenso sicher vor einer fragwürdigen Stille.

Und natürlich war der Speisesaal auch wirklich gut besucht. Schon im Flur hörte ich die Geräusche und kurz darauf bot sich mir das gewohnte Bild. Die Finder waren wie immer zahlreich. Überall scharten sich die beigen Mäntel zu kleinen Gruppen und die Luft war erfüllt von Gesprächen, Lachen und dem Klirren des Geschirrs und unweigerlich suchten meine Augen nach anderen Besuchern.

Hie und da versteckte sich der weiße Kittel eines Wissenschaftlers in der Menge, doch letztendlich erspähte ich einen Gast, auf den ich zurückkommen würde.

So erreichte ich die Theke und fand zu meinem ersten Lächeln, als Jerry vor mir stand und sich zu einem Plausch verleiten ließ. Meistens war ich es, der keine Zeit hatte.

„Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich dir!“ Seine Freude war jeden Tag dieselbe und ich hoffte, dass er mir etwas davon abgab. Seufzend ließ er sich auf den Tresen sinken und stemmte das Kinn in die Hand.

„Wie geht es dir?“, fragte er dann und die Tatsache, wie ergriffen er war, ließ mich das Schlimmste ahnen.

Misstrauisch verzog ich die Brauen.

„Gut.“

„Ich habe schon davon gehört. Und du siehst wirklich etwas blass aus.“ Vor mir wurde mit den Händen gestikuliert und es war wirklich schwierig, nicht die Augen zu verleiern. „Die Pause wird dir gut tun.“

Wovon redete er? Hatte mir so etwas jemals gut getan?

Irgendwie nahm meine Stimmung hier und jetzt einen Abstieg. Ich war wohl auffällig still, wohl auch so auffällig verstimmt, dass Jerry seine Chance sofort beim Schopf ergriff.

„Keine Sorge“, ächzte er. „Ich werde mich um dich kümmern, dir die köstlichsten Gerichte zaubern und dafür sorgen, dass zumindest deine Geschmacksknospen frohlocken!“

Er war Feuer und Flamme und jetzt passierte es. Ich sank unter einem dumpfen Stöhnen vornüber und landete auf dem Tresen. Mein Kopf wurde getätschelt.

„Du armer Junge.“ Jerry klang, als wäre er den Tränen nahe. „Wenn ich irgendetwas für dich tun kann…“

„Du könntest mir ein Frühstück machen“, murrte ich. „Bring mir Süßes. Ich werde mich so vollfressen, dass ich nichts mehr merke.“

„Wenn es dem Frust hilft, Schätzchen.“ Sofort eilte Jerry zur Küche. „Gedulde dich kurz, für dich bin ich ein geölter Blitz!“

Träge winkte ich ihm und kurz darauf kehrte ich der Theke den Rücken, um zu überprüfen, ob mein potenzieller Gesprächspartner noch da war. Wenn ich über den kommenden Tag nachdachte, kam ich bisher nur auf den Gedanken, dass ich ihn in Gesellschaft verbringen wollte.

Ich würde mich unter Leute mischen, vielleicht auch irgendwo mit anpacken.

Jerry gab sich wirklich Mühe und auf den beiden Tabletts, die er mir dann brachte, hätten ebenso gut fünf Kilo Zucker lagern können. Es wäre dasselbe aber genau das wollte ich jetzt und fand die nächste Ernüchterung schon in dem Moment, als ich die beiden Tabletts hochstemmte.

Irgendwie hatten sich die Schmerzen ausgebreitet. Ich schaffte es mit zusammengebissenen Zähnen, trug das Gewicht und leistete, wie geplant, einer Frau Gesellschaft, die in einem kargen Joghurt rührte. Miranda.

Erst als ich auf der anderen Seite des Tisches auftauchte, blickte sie auf und ihr Gesicht brachte mir sofort die Befürchtung, dass ich hier keine Aufheiterung erleben würde. Ich hatte sie schon lange nicht mehr so bleich und müde erlebt. Sie sah aus, als wäre sie gerade von einer Mission gekommen.

„Guten Morgen“, grüßte ich sie und stieg über die Bank.

„Oh.“ Ihr Lächeln misslang ordentlich. „Ist es denn schon Morgen?“ Trübe wanderten ihre Augen zu den Fenstern und ich musterte sie Stirnrunzelnd. „Ich glaube, ich habe jedes Zeitgefühl verloren.“

„Schwere Mission?“

„Erinnere mich nicht.“ Fast leblos sackte ihr Oberkörper hinab. Die Ringe unter ihren Augen wurden noch dunkler und dann drang ein gedrungenes Schluchzen an meine Ohren. „Ich dachte, Hinlegen wäre eine gute Idee aber dann lag ich in diesem herrlichen Bett und mein Magen knurrte. Ich habe so lange nichts mehr gegessen und jetzt bin ich fast zu müde dafür. Was soll ich nur tun?“

Unentschlossen griff ich nach dem Glas Mangosaft und wurde dabei das ungute Gefühl nicht los, dass das Einzige, was hier auf mich einwirken würde, eine finstere, depressive Wolke war. Sie gehörte Miranda, war aber groß genug, um über den ganzen Tisch bis zu mir zu reichen.

„Warum trinkst du keinen Kaffee?“

„Ich weiß es nicht.“ Miranda starrte mich entrüstet an. „Ich weiß gar nichts mehr! Nur dass dieses Brötchen so lecker aussieht. Was soll ich machen? Ich könnte es mitnehmen.“

„Könntest du“, stimmte ich zu und griff nach den Croissants.

„Könnte ich?“ Sie presste die Lippen zusammen, die Entscheidung schien ihr schwer zu fallen aber dann griff sie doch nach dem Brötchen, ließ den Löffel im Joghurt untergehen und quälte sich auf die Beine.

„Ich muss jetzt gehen“, verabschiedete sie sich. „Hoffentlich schaffe ich es bis in mein Zimmer.“

„Bestimmt.“ Bestärkend nickte ich ihr zu, verfolgte, wie sie sich die Bank entlang schob und strauchelnd in den Gang zwischen den Tischen einbog.

„Oh Gott, oh Gott“, hörte ich sie noch jammern, bevor sie verschwand.

Resigniert kaute ich. Da saß ich nun wieder, ohne Gesprächspartner oder sonderlich gute Laune.
 

Nach dem Frühstück landete ich bei den Wissenschaftlern.

Lust, jemandem eine Hilfe zu sein, hatte ich nicht und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass man es mir auch nicht erlaubt hätte. Ich suchte mir nur etwas Gesellschaft und Menschen, die auch den Mund aufbekamen, wenn sie müde waren und bei denen genug los war, um mich abzulenken.

Den gestrigen Schlag hatte ich noch immer nicht überwunden und damit meinte ich nicht die Verletzung. Was darauf folgte, war viel schmerzhafter gewesen und der mangelhafte Schlaf trug auch noch dazu bei. Seit Japan schlief ich nicht besonders gut. Zu kurz und zu unruhig, um richtig erholt zu sein. Irgendwie spielten sich alle Zufälle gegenseitig zu und mich in die Hände von sehr unerfreulichen Situationen.

Kaum hatte ich die Abteilung betreten und mir einen Platz gesucht, erhielt ich die erste Aufmerksamkeit unangenehmer Art. Jonny war es, der mit einem Stapel aus Akten zu mir trat.

„Wie geht’s?“, wollte er wissen und wurde den Stapel auf dem Schreibtisch los, auf dem ich saß.

Ich antwortete nicht, denn es war nicht nötig, dass man noch mit Fragen auf meiner Problematik herumritt.

„Du bist etwas blass, kann das sein?“

„Es geht mir gut“, sagte ich nur und zwang mich zu einem Lächeln.

Die Hauptaufgabe bestand immer darin, weiteren Fragen vorzubeugen.

„Jonny!“ Von der anderen Seite des Raumes wurde er gerufen und ich weinte ihm nicht nach, als er davoneilte. Unter einem Seufzen zog ich die Füße auf die Arbeitsfläche, setzte mich in den Schneidersitz und regte die Schultern. Meinen Haaren fehlte jede Ordnung und in den nächsten Minuten war ich nur damit beschäftigt, an den Strähnen zu zupfen und irgendwie mit den Händen durchzufahren.

Eigentlich genügte es mir, einfach nur hier zu sein. Man musste nicht einmal viel mit mir sprechen, damit ich in den Genuss von Ablenkung kam. Außerdem war Tim bei mir. Nachdem er mich ein paar Mal umflatterte, bekam ich seinen Schweif zu fassen, zog ihn zu mir und bewegte seinen runden Körper zwischen meinen Händen.

Tim war toll. Überall konnte man drücken und ziehen, nur irgendwann schnappte er nach meinem Daumen und behielt die Oberhand in diesem Kampf, weil ich wieder abgelenkt wurde. Mit seiner Tasse war Komui aus seinem Büro getreten.

Er schien nichts auf dem Herzen zu haben, sah sich zwischen den arbeitenden Wissenschaftlern um und kam dann zu mir. Also ließ ich Tim knabbern und blickte auf. Wenigstens war ich jetzt nicht der einzige, der blass war. Komuis Gesicht verriet, dass er die Nacht mit allem möglichen gefüllt hatte, außer mit Schlaf. Aber das hielt ihn nicht davon ab, gesprächig zu sein.

Seufzend lehnte er sich neben mich an die Tischkante, nahm noch einen Schluck und sorgte dafür, dass der Aktenstapel nicht zu Boden ging. Er rettete ihn gerade noch mit der Hand, bevor er sich an mich wandte.

„Grüß dich, Allen. Bekommen wir uns auch mal wieder zu Gesicht“, freute er sich und wieder wurde ich von Kopf bis Fuß gemustert. „Meine Güte, du sollst gestern gar nicht gut ausgesehen haben. Geht es dir heute besser?“

Ich versuchte mich wieder in einem Lächeln.

„Der Arzt meinte, du bräuchtest drei bis vier Tage Ruhe.“

Zermürbt lugte ich zu Komui, doch dieser schien den Ernst der Sache im Gegensatz zu mir überhaupt nicht zu begreifen. Er lachte, erwischte meine Schulter mit der Hand und schenkte meinem Seufzen wenig Beachtung.

„Heißt, wir können in den nächsten Tagen Spaß haben, nicht wahr? Du warst in letzter Zeit so selten hier.“

Das stimmte aber das traf auch auf alle anderen zu. In der letzten Zeit erreichten uns die Missionen in Hülle und Fülle. Auch ein Grund, weshalb ich die vier Tage nicht akzeptieren konnte.

„Vier Tage brauche ich niemals, um mich auszukurieren“, fand ich endlich zur Sprache zurück und wieder nippte Komui an der Tasse. „Du kannst schon früher mit mir rechnen.“

„Überlassen wir die Entscheidung den Ärzten, ja?“ Ein herzlicher Blick traf mich. „Mach dir einfach eine schöne Zeit. Lavi kommt in zwei Stunden. Da kannst du dich also nicht beklagen.“

Ich verzog das Gesicht und verfolgte, wie Tim immer noch an meinem schwarzen Daumen kaute.

War das so gut? Ich kannte Lavi. Vermutlich hatte ich mich auf so einiges einzurichten.

„Hey!“ Plötzlich schien Komui etwas einzufallen. Mit strahlendem Gesicht wandte er sich mir zu. „Wie war es bei Tiedoll? Ich erfahre immer viel zu wenig. Hat sich Kanda gefreut? Wie geht es Chaoji?“

„Eh.“ Etwas unentschlossen hob ich den Arm und ließ Tim baumeln. „Chaoji hat sich auf jeden Fall gefreut. Tiedoll geht es auch gut und…“

Der letzte Punkt war so eine Sache.

„Na ja“, sagte ich also. „Kanda war wie immer.“

Unter einem amüsierten Kopfschütteln starrte Komui in seine Tasse.

„Komui?“ Zerzaust lehnte sich River aus seinem Stuhl und fuchtelte mit wenigen Unterlagen. „Könntest du dir das kurz anschauen?“

„Also dann.“ Komui schenkte mir ein letztes Lächeln, tätschelte meine Schulter und machte sich auf den Weg. Von ihm spähte ich zu Tim zurück, schüttelte die Hand, in die er sich verbissen hatte und wurde ihn doch nicht los.

„Allen?“ Plötzlich stand Jonny wieder vor mir. Mitgebracht hatte er diesmal nichts aber er wirkte sehr enthusiastisch. „Hast du kurz Zeit?“

„Wofür?“

„Deine Winteruniform“, verkündete er stolz. „Sie ist fertig!“
 

„Du musst sie anprobieren.“ Er war immer noch Feuer und Flamme, als ich ihm durch die Gänge folgte. „Jerry ist auch stolz auf dieses Werk! Ich muss sehen, wie sie an dir aussieht und ob alles stimmt.“

Das war eine Sache, über die ich mich wirklich freute, denn das Wetter machte den Eindruck, als würde es in den nächsten Wochen noch kälter werden, also kam mir diese Uniform sehr gelegen.

Ich folgte Jonny in einen Raum, in dem große Geschäftigkeit herrschte. Es wurde genäht, Materialen gesäubert und repariert. Die meisten Leute waren mit den Mänteln der Finder beschäftigt, in einer Ecke wurden die tragbaren Telefone überprüft und Jonny zog mich in einen kleinen Nebenraum. Dieser war überfüllt mit Schränken, nur an einer Wand da hingen die Uniformen. Es waren nicht viele und Johnny wurde rasch fündig. Während er sie vom Bügel zog, wurde ich auf eine andere aufmerksam, die noch auf ihren Besitzer wartete.

Von der Größe und vom Schnitt her, konnte sie nur Kanda gehören. Säuberlich schimmerte das Wappen auf dem schwarzen, robusten Stoff. Deutlich hoben sich auch die dünnen Ketten von den roten Säumen ab und wieder einmal reichte die Uniform bis knapp unter die Knie. Aber was mich am meisten interessierte, war ein schwarzer Schal. Ein wirklich schönes Stück mit roter Kordel.

Kanda hatte sich einen Schal bestellt und ich runzelte die Stirn.

Wieso war ich nicht auf diese Idee gekommen?

„So.“ Jonny war fertig. „Die Uniform ist leicht gefüttert und aus einem Stoff, der die Körperwärme nicht nach außen lässt. Außerdem ist er robust und fast so feuerresistent wie wasserundurchlässig. Du kriegst natürlich auch wärmere Stiefel.“

Während ich an der Uniform zupfte, begann Jonny schon zu drängeln, also löste ich all die Schnallen und Knöpfe und schlüpfte hinein. Unter Jonnys begeisterten Augen regte ich dann die Schultern und streckte die Arme. Maßgeschneiderte Arbeiten waren toll und er freute sich mindestens doppelt so sehr wie ich.

„Wie gefällt sie dir?“, musste er am Ende der Anprobe wissen und lächelnd tastete ich wieder nach den Schnallen.

„Sehr gut.“

„Das höre ich gern. Ich werde Jerry sagen, wie zufrieden du bist.“

Somit schlüpfte ich wieder aus der Uniform, stieg auch aus den Stiefeln und versenkte die Füße in den Hausschuhen. War das also auch abgehakt.

Mein nächster Weg führte mich vorerst zurück in mein Zimmer, wo ich die Uniform auf den nächsten Stuhl warf und die Stiefel unter den Tisch schob. Viel länger musste ich nicht bleiben. Ich sah keinen Grund, das stille Zimmer der amüsanten Gesellschaft der Wissenschaftler vorzuziehen und so saß ich keine fünf Minuten später auf einem Stuhl inmitten des alten Chaos’. Zumindest hatte ich eine Aufgabe gefunden. Ich schrieb den Missionsbericht von Japan, wenn auch viel zu langsam und lustlos.

Crowley hatte wohl keine Zeit dafür gehabt und Kanda war unterwegs und so starrte ich inmitten des Trubels auf das weiße Blatt. Zwei Sätze standen schon da aber bevor mir noch etwas einfiel, begann ich den Kuli mit den Zähnen zu bearbeiten. Diese Mission war so kurz und erfolgreich gewesen, dass es nicht viel zu schreiben gab. Wirklich begabt war ich mit der Schrift auch nicht. Während Miranda ihr Herz in ihren Missionsberichten ausschüttete und Crowley seine Schriften mit lyrischer Wortgewandtheit zierte, beließ ich es dabei, sachlich zu bleiben. Vermutlich waren meine Berichte keine fesselnde Lektüre.

Ich knabberte noch immer an dem Kuli und blickte auf.

Um mich herum herrschte der Normalzustand.

Die Wissenschaftler konnten sich kaum zwischen Pause und Arbeit entscheiden und während River mit feuriger Glut zugange war, lag Jonny wieder auf seinem Tisch und schlief. Rokujugo schwebte an den Regalen entlang und sortierte. Vermutlich würden anschließend wieder so einige Unterlagen fehlen.

Unter einem tiefen Atemzug spähte ich zum Blatt zurück und verfolgte stoisch, wie Timcanpy an einer der Ecken knabberte. Nur kurz, bevor ich ihn zurückschob. Er ließ von dem Blatt ab und knabberte am Kuli aber da war jetzt dieses Eselsohr.

Ging das so?

Seufzend ließ ich Tim knabbern, fischte mir einen anderen Kuli aus einer Box und wandte mich wieder der Arbeit zu. Anderthalb Tage, länger hatte es nicht gedauert und so sah ich den Bericht nach weiteren vier Sätzen als beendet an. Seufzend ließ ich mich im Stuhl tiefer rutschen.

Ich mochte dieses Geschreibe nicht. Das war nichts Ganzes und nichts Halbes und in jeder anderen Lage wäre es auch Zeitverschwendung. Nur jetzt nicht, denn ich hatte nichts Besseres zu tun.

Ich blieb noch etwas sitzen, bevor ich Komui einen Besuch abstattete. Das Eselsohr wurde entschuldigt, Berichte von dieser immensen Länge war er auch von mir gewöhnt und so war er zufrieden, als ich wieder verschwand. Sobald das erledigt war, saß ich wieder da und beobachtete den Zeiger einer Uhr.

Es war so langweilig. Gerade heute waren die Wissenschaftler so in ihre Arbeit vertieft, dass ich niemanden für ein Gespräch gewinnen konnte. Jonny wachte irgendwann auf aber dann rannte auch er herum. Ich wurde nicht wirklich unterhalten und irgendwann döste ich etwas vor mich hin.

Die Müdigkeit musste mich wirklich einholen, denn für eine Weile lag ich auf dem Schreibtisch und schlief. Aber das war in Ordnung, denn irgendeiner schlief hier immer. Erst als eine Hand an mir rüttelte, kam ich zu mir. Verschlafen blinzelte ich, setzte zu einem Gähnen an und ließ Tim von meinem Kopf rutschen, als ich das Gesicht wandte.

„Hallo!“ Grinsend neigte sich mir ein Rotschopf entgegen. Ich hatte mehr als eine Stunde geschlafen und jetzt war Lavi da. „Mensch, Allen, wie kannst du hier schlafen?“

Träge rieb ich mir die Augen.

„Du machst Sachen.“ Seufzend verschränkte er die Arme, schob sich neben mir auf den Schreibtisch. „Ich habe davon gehört und so richtig gut siehst du wirklich nicht aus.“

Gähnend kratzte ich mir den Bauch und den festen Verband.

Da war es. Alles, was ich befürchtete.

„Und du?“, erwiderte ich. „Wie war deine Mission?“

Sofort erhellte sich Lavis Gesicht. Seine Aufmerksamkeit wurde umgepolt und kurz darauf lachte er.

Bei ihm war es leicht und dennoch blieb es anstrengend, weil es bei ihm so viele Worte waren, denen ich aus dem Weg zu gehen hatte.

„Die war in Ordnung“, begann er da auch schon zu erzählen. „Ich hab nur drei Tage gebraucht, obwohl eine Woche vorgesehen war. Allen, es gibt sie noch.“ Verspielt nahm er mich in Augenschein. „Die glücklichen Zufälle.“

Ehrlich? Wo waren dann meine?

„Ich habe Miranda getroffen“, verriet er. „In Paris. Ist sie schon da?“

„Ja.“ Träge streckte ich die Beine unter den Tisch, schlüpfte aus den Hausschuhen und juckte mich mit den Zehen an der Wade. „Sah erschöpft aus.“

„Glaube ich. Und du? Wie ist das mit dir passiert? Du warst doch mit Yu unterwegs. Hat er dich angegriffen?“

Stirnrunzelnd spähte ich zu ihm. Ich war nicht nur müde, ich war auch viel zu schweigsam und kurz angebunden. Die letzte Zeit war ernüchternd und auch die Alpträume verfolgten mich bis in den wachen Zustand. Ich war nicht gesprächig, wenn es um mich ging. Heute noch weniger als sonst.

„Hey, wollen wir zusammen Mittag essen?“ Genau wie ich spähte er zur Uhr. „Schon um zwei, meine Güte.“ Flink rutschte er vom Tisch. „Jetzt komm schon. Ich habe nur zwei Stunden, bevor ich wieder weg muss. Lass uns die Zeit nutzen und ein bisschen quatschen.“

Es war eine seltsame Lage.

Mir stand nicht der Sinn danach, jetzt essen zu gehen aber wie, fragte ich mich, würde es auf ihn wirken, wenn ich von Appetitlosigkeit sprach? Was für ein Sturm aus weiteren Fragen würde dieses Verhalten heraufbeschwören?

Ich zögerte nicht, bevor ich zustimmte und so betraten wir den Speisesaal.

Er war immer noch gut besucht und sofort mischte sich Lavis Stimme unter das allgemeine Gemurmel.

„Du weißt schon, lange schwarze Haare aber ich glaube, sie war keine echte Französin.“ Er lachte und ich hörte nicht zu. „Du hättest sie sehen müssen, diese braunen Augen. Und sie hat mich angelächelt. Ist es nicht toll, wenn verschiedene Sprachen keine Hürden sind?“

Seufzend erreichte er den Tresen und flüchtig strich meine Hand über den festen Verband.

„Ja“, murmelte ich dann aber das schien ein richtiges Wort zu sein, denn Lavi meinte immer noch, ich würde ihm zuhören. Erst als Jerry uns Gesellschaft leistete, kehrte ich wieder etwas in die Realität zurück.

„Ich weiß nicht, Allen.“ Als wir die Tabletts auf einem Tisch abstellten, runzelte Lavi die Stirn. „Du verhältst dich seltsam.“

„Was?“ Mein überraschtes Gesicht musste glaubhaft wirken und seufzend ließ er sich auf die Bank sinken, tastete nach dem Besteck.

„Du hast doch schlechte Laune, kann das sein?“

„Ich?“ Das Lächeln kostete mich Kraft aber auch das schien er mir abzukaufen. „Unsinn, ich denke nach.“

„Worüber?“

Genau das meinte ich. Lavi gegenüber hatte ich mich unentwegt zu erklären. Neugier war keine schlechte Angewohnheit, nur mir gegenüber war sie mehr als übel und das Spiel, das ich hier an den Tag legte, auf Dauer zu anstrengend.

„Über dieses und jenes“, antwortete ich nur und zuckte mit den Schultern. Dann begann ich mir einen Überblick zu verschaffen und rückte an den Schälchen und Tellern, auf deren Inhalt ich keine Lust hatte.

„Du denkst doch nicht immer noch über die Besprechung nach, oder?“

„Besprechung?“ Damit konnte ich nichts anfangen und mir gegenüber wurde mit der Gabel gestikuliert.

„Die vor fünf Tagen.“

Nein, über die grübelte ich schon lange nicht mehr.

„Oder, warte.“ Plötzlich hielt Lavi inne. „War unser japanisches Unikat wieder eklig?“

„Nicht mehr als sonst.“

Kopfschüttelnd begann Lavi zu essen. Aber er grinste und ließ mich kurz in Ruhe.

Es war tatsächlich Kanda, an den ich dachte und wieder war es mit einer seltsamen Einsicht zu vergleichen, die mich sofort überzeugte und mich deshalb umso überraschender traf. So blickte ich auf und betrachtete mir Lavi und seinen Mund, der auch während des Kauens kaum reglos blieb. Gerade zu Zeitpunkten, in denen es mir nicht gut ging, hätte ich Kanda lieber um mich als ihn.

Das Desinteresse des Japaners war soviel angenehmer als Lavis unerschöpflicher Wissensdurst.

Kanda fragte nicht, handelte nicht anders und passte sich nicht an. Das einzige, was er tat, war, mir eine Distanz zu bieten, die mir recht war. Fast glaubte ich dadurch, dass er die Menschen besser verstand als mein rothaariger Kollege.

„Glaubst du das auch?“, wandte sich Lavi plötzlich an mich und ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Die Sekunden, in denen ich ihn nur anstarrte, stellten sich als Fehler heraus.

„Also echt“, ächzte er und rammte die Gabel in seinen Braten. „Du hörst mir gar nicht zu. Was ist los mit dir? Da macht man sich ja Sorgen.“

„Du machst dir immer zu viele Sorgen“, erwiderte ich. „Auch um Linali.“

„Ist sie da?“ Kauend sah er sich um, während er nach seinem Saft griff.

„Ich habe sie noch nicht gesehen.“ Etwas lustlos versenkte ich einen Löffel im Joghurt, ließ ihn auch dort und begann in einem Eintopf zu rühren. „Ist wahrscheinlich unterwegs.“

„Dann sehe ich sie und die anderen wohl erst später. Yu ist auch weg?“

„In Russland.“

Genau da, wo ich auch gerne wäre. Ich durfte nicht daran denken. Gerade hier und jetzt nicht, wo es sofort bemerkt würde, wenn meine Gesichtsmuskulatur tiefer sackte.

„Was soll’s.“ Lavi zuckte mit den Schultern. „Ich muss dann eh los. Soll mich mit dem Panda treffen.“

Jeder ging auf Mission. Wie schön.

Tief durchatmend überwand ich mich und begann zu essen.
 

Die beiden Stunden, in denen mir Lavi Gesellschaft leistete, waren schnell vorbei. Eigentlich hatten wir nichts getan, außer zu essen und dann eine Runde durch das Hauptquartier zu drehen. Mühsam war es bis zum letzten Augenblick. Die gesamte Zeit über hatte ich ihn abzulenken und mich selbst auch.

Der eigenen depressiven Stimmung wurde man sich erst richtig bewusst, wenn man von Leuten umgeben war, denen so eine Heiterkeit entströmte wie Lavi.

Als er ging, war ich erleichtert und ermüdet durch die permanente Gesprächigkeit verbrachte ich die Stunden bis zum Abend in meinem Zimmer. Ich warf mich auf mein Bett und spürte das Pulsieren unter dem Verband. In den Schlaf fand ich nicht und letzten Endes kehrte ich doch zu den Wissenschaftlern zurück. In der Zwischenzeit waren sie sicher bereit, mich helfen zu lassen und mir damit Ablenkung zu verschaffen.
 

Irgendwann sahen diese Ziffern alle gleich aus und als ich zu dem noch bevorstehenden Stapel lugte, da bereute ich es. Ich rümpfte die Nase und starrte finster auf die winzigen Häuflein, die von meiner lustlosen Arbeit zeugten und kurz darauf zu den Wissenschaftlern.

Überall raschelten Blätter, quietschten Stühle und mittendrin schüttete sich River den Kaffee in den Hals. Träge tastete ich nach dem nächsten Blatt aber als ich es mir so betrachtete, entschloss ich mich, schon fertig zu sein. Also warf ich die Blätter auf den Stapel zurück und ließ mich ächzend tiefer in den Stuhl rutschen. Neben mir tickte eine Wanduhr und führte mir vor Augen, dass ich schon seit zwei Stunden hier saß und in dieser Zeit erstaunlich wenig vollbracht hatte.

Inmitten des hektischen Stimmengewirrs streckte ich die Arme, gähnte und rieb mir die Augen.

„Hat jemand die Akte Nr. 7 gesehen?“, wandte sich River an die gesamte Abteilung und erhielt ein wirsches Raunen als Antwort. „Mein Gott!“

„Rokujugo hat doch gestern aufgeräumt.“ Angestrengt kämpfte sich Jonny in die Höhe. Gerade hatte er noch halb auf seinem Schreibtisch gelegen und sofort traf Rokujugo gebündelte Aufmerksamkeit.

„Wenn ich diese Akte aufgeräumt hätte, dann wäre sie jetzt dort, wo sie hingehört“, brachte er berechtigte Zweifel an und wieder folgte daraufhin nur das Stöhnen und Murren. Unauffällig mischte sich das Läuten eines Telefons unter die Geräuschkulisse. Es war eine spannende Abwechslung, dem Geräusch mit den Augen zu folgen und den Störenfried auf Rivers Schreibtisch zu finden.

Was war ich müde.

„Könntest du noch mal schauen?“ River war immer noch mit der Akte beschäftigt und ergeben schwebte Rokujugo zu einem Regal. „Immerhin muss sie ja irgendwo sein!“

Das Läuten erhob sich immer noch und endlich machte River Anstalten, nach dem Hörer zu greifen. Er fluchte noch, als er ihn abhob, nebenbei schon nach einem Kuli Ausschau haltend.

„Wenham“, ächzte er und wurde nicht fündig.

Träge sank mein Kinn auf die gekreuzten Arme. So verfolgte ich das rege Treiben und war einer der ersten, die Rivers Arm in die Höhe schnellen sahen.

„Ruhe!“ Abrupt und laut erhob sich seine Stimme und nur das Rascheln eines zu Boden sinkenden Blattes war noch zu hören, als River auf die Beine kam. „Wie bitte? Sprechen Sie langsamer… was?“

Ein Zucken durchfuhr sein Gesicht, plötzliche Totenstille war eingetreten und er lauschte nicht mehr lange in den Hörer, bevor er hastig nach dem Telefon tastete. „Ich stelle Sie durch!“

Geräuschvoll landete der Hörer auf der Gabel und kaum, dass er seinen Platz gefunden hatte, eilte River zur Tür des Abteilungsleiters.

„Was ist los?“ Stockend erwachte Jonny zum Leben. River war schon an der Tür und riss sie auf.

„Auf Ulan Ude wird ein Großangriff verübt!“

Mit einem Mal kehrte Leben in den Raum zurück. Akten wurden auf die Schreibtische zurückgeworfen, alles stehen und liegengelassen. Hörer wurden von den Telefonen gerissen, jeder rannte sich in die Quere und in dieser plötzlichen Geräuschkulisse richtete auch ich mich auf.

Ulan Ude.

Tim rutschte von meiner Schulter, als ich stockend auf die Beine kam.

Eine Stadt in Russland.

Mein Ellbogen streifte den Stapel aus Papieren, bevor ich den Wissenschaftlern zu Komuis Büro folgte.

Komui sah bleich aus, während er in den Hörer lauschte. Seine Hand hielt einen Kuli umklammert. Nahe an seinem Schreibtisch standen die Wissenschaftler und gnadenlos bahnte ich mir einen Weg zwischen ihren Körpern, drängte zur Seite und mich in die erste Reihe.

„Wie bitte?“ Ungläubig starrte Komui zu River, seine Hand gab den Kuli frei. „Nur Kanda?“

„Bringt die Missionsmappen!“, wandte sich River an die Wissenschaftler und schon stoben sie auseinander.

Eine fahrige Handbewegung Komuis trieb sie zu Eile an und ich bemerkte erst jetzt, dass mein Mund offen stand. Ein Großangriff. Die Schulter eines vorbeieilenden Wissenschaftlers streifte mich und ließ mich zur Seite straucheln.

Und die einzige Verteidigung bestand aus Kanda.

Ich rang nach Luft und nahm das immense Gewirr um mich herum kurz nicht mehr wahr. Dumpf wurden vereinzelte Mappen auf das Sofa hinter mir geworfen. Wissenschaftler rissen sie auf und begannen wild zu blättern.

„Irgendjemand muss doch in der Nähe sein!“, hörte ich River fauchen.

Ulan Ude lag auf dem Weg nach Irkutsk, wenn ich mich nicht irrte. Das konnte nur bedeuten, dass Kanda Prioritäten gesetzt und sich zur Verteidigung der Stadt abkommandiert hatte.

„Wie viele?“, keuchte Komui vor mir entsetzt in den Hörer und hinter mir sprang River auf.

„Jonny!“ Er brüllte durch den Raum. „Versuch Marie zu erreichen! Er ist in der Mongolei!“

Sofort wurden die anderen Telefone in Beschlag genommen. Komuis Hand ging auf die Armlehne nieder und seine Finger umklammerten diese verkrampft.

„Unterstützt ihn mit allen Mitteln!“, befahl er. „Bleibt in seiner Nähe und haltet ihm den Rücken frei, verstanden?“

Das Leben kehrte in mich zurück und kaum versah ich mich, da gingen meine Hände auf den Schreibtisch nieder.

„Komui!“ Aufgebracht beugte ich mich nach vorn. „Schick mich!“

Es war nur ein hektischer, abweisender Wink, mit dem er mir antwortete.

„Komui!“

Was trieb mich an? Es waren so viele Emotionen, die mich überkamen und so handeln ließen.

Schuldgefühle, die mich zernagten, durch die ich mich abgrundtief verdammte und auch meine Wunden, die von Unachtsamkeit herrührten! Ich wäre bei ihm, stünde an seiner Seite und wäre ihm eine weitaus bessere Hilfe als alle Finder zusammen!

Was für ein Selbstmord, sich einem Meer aus Akuma alleine entgegenzustellen!

Das sah ihm so ähnlich!

„Komui!“ Wieder erhob sich meine Stimme und abrupt löste er den Hörer vom Ohr. „Ich gehe!“

„Allen, hör auf! Für den Weg bräuchtest du mindestens zwei Tage!“

„Ich beeile mich!“, keuchte ich.

Ohne dass ich es bemerkte, verfiel ich diesem Flehen und der Ansicht, dass meine Eile etwas ändern würde. Es wäre sinnlos aber in diesen Momenten war ich weit von Einsicht entfernt. Im selben Augenblick verlor ich Komuis Aufmerksamkeit. Hastig lehnte er sich zur Seite und starrte an mir vorbei.

„Linali!“, rief er River zu. „Sie dürfte noch in Kirensk sein!“

Sofort eilte River zu einem freien Telefon und erst jetzt löste ich die Augen von Komui und kapitulierte.

Es hatte keinen Sinn. Die Enttäuschung mir gegenüber war bodenlos und als mich ein weiterer Wissenschaftler anrempelte, wandte ich mich um und starrte auf die kopflose Hektik. Hinter mir lauschte Komui wieder in den Hörer.

„Ulan Ude!“, ächzte Jonny in einen anderen. „Allerhöchste Priorität, Marie! Du musst Kanda unterstützen!“ Daraufhin schienen nur wenige Worte zu folgen, denn Jonny rammte den Hörer bereits zurück auf die Gabel und rieb sich nervös das Gesicht. „Er wird es erst in den Morgenstunden schaffen!“, hörte ich ihn jammern und auf der anderen Seite schnappte River nach Luft.

„Du bist schon auf dem Rückweg?“ Er schien Linali erreicht zu haben, doch alles, was ich hörte, machte die Sache nicht einfacher. „Ja, sofort umkehren! Wann kannst du da sein?“

Ein zitternder Atemzug kam über meine Lippen. Dem nächsten Wissenschaftler wich ich aus. Mein Steiß erreichte den Schreibtisch und nutzte diesen als Stütze, als River die Antwort erhielt.

„Morgen früh? Ja, trotzdem. Bitte sofort!“

„Macht eine Durchsage!“, meldete sich Komui hinter mir zu Wort und ließ die Wissenschaftler aufblicken. „An jeden, der unterwegs ist! Vielleicht ist doch noch jemand in der Nähe!“

„Tiedoll!“ Mit einem Mal fuhr ich in die Höhe und in derselben Bewegung zu Komui herum. Was für ein Hoffnungsschimmer und auch Komui schien bis jetzt nicht daran gedacht zu haben, denn seine Miene entgleiste und seine Hand schnellte sofort zurück zum Telefon. „Er und Chaoji sind möglicherweise noch in China!“

Vielleicht war ich zumindest eine winzige Hilfe und das Herz schlug spürbar in meiner Brust, als Komui angespannt in den Hörer lauschte. Kanda hatte für die Reise mehr als einen Tag benötigt, doch die Hoffnung keimte in mir, dass Tiedoll und Chaojis Weg sie vielleicht näher an den Ort des Geschehens herangeführt haben könnte. Alles, was wir brauchten, war ein glücklicher Zufall!

Ich hielt den Atem an, als der Anruf entgegengenommen zu werden schien.

„Tiedoll, wo sind Sie?“ Komui kam sofort zum Wesentlichen. „Später, ich bitte Sie! Sind Sie in der Nähe des Baikalsees?“ Er lauschte und ich wollte meinen Augen nicht trauen, als er unter einem Ächzen in sich zusammensank. „Nordkorea“, flüsterte er und unter einem Zischen stemmte ich mich in die Höhe.

Das konnte doch nicht wahr sein!

„Nein, nein.“ Unruhig kratzte sich Komui im Schopf. Das war ein Reinfall, denn jetzt war er genötigt, dem ohnehin stets besorgten Marshall von den Neuigkeiten zu berichten. Er versuchte es zu umgehen, scheiterte jedoch an dem Vorhaben und kurz darauf meinte ich, Tiedolls Stimme bis zu mir zu hören.

Unterdessen waren auch alle anderen Telefone in Benutzung. Überall wurde gewählt und getippt und bald darauf lehnte ich nur wieder am Schreibtisch.

Nach diesem kurzen Hoffen und dem sofortigen Fehlschlag fiel mein Atem in der alten Aufgebrachtheit. Die Wissenschaftler machten sich noch Hoffnung, dass ein Exorzist von den vorgegebenen Wegen abgekommen war und zur Verfügung stand.

Es war möglich aber nur einen kleinen Deut mehr als unmöglich.

Meine Finger schlossen sich um die Schreibtischkante. Ich spürte, wie sich mein Gesicht verzerrte und bald starrte ich nur noch zu Boden und war der einzige, reglose Punkt in diesem Raum.

Miranda schlief noch und würde es nicht eher schaffen als ich. Lavi war schon vor einer ganzen Weile nach Amerika aufgebrochen. Crowley trieb sich in Griechenland herum und Sokaro und Cloud waren scheinbar so weit entfernt, dass man nicht einmal versuchte, an sie heranzukommen.

Wen wollten sie also erreichen?

Es war die erste wirklich missliche Lage, in die ich seit einiger Zeit geriet. Im Allgemeinen wusste ich mich vor solchen Vorfällen zu schützen, war im Grunde immer bereit und nützlich und das einzige, was ich diesmal tat, war eine Stunde später auf der Armlehne des Sofas zu sitzen.

Ich saß zusammengesunken, genauso finster wie vor einer Stunde und immer noch inmitten der Aufregung. Ich konnte hier nicht fort, legte es darauf an, nahe an der Quelle zu sein, um jede Nachricht als einer der ersten zu hören. Tim steckte seit einiger Zeit zwischen meinen Waden. Er konnte sich regen wie er wollte, meine Aufmerksamkeit gehörte jeder Stimme, die sich um mich herum erhob und allem, was geschah.

Jetzt waren sie damit beschäftigt, alle Finder nach Russland zu schicken, die in der Nähe waren aber es könnten tausende sein, sie konnten mich nicht ersetzen! Ich hasste die Tatsachen und ich hasste den Fakt, dass es bei Marie und Linali blieb und somit auch dabei, dass Kanda bis zum Morgengrauen durchzuhalten hatte, als einziges Ziel einer ganzen Schar.

Dumpf traf meine Stirn auf meine Knie.

Dieser Vollidiot.

Dass gerade derjenige auf diesen Ort traf, der sich blind in jedes Gefecht warf und sich wenig um Rückendeckung und Verstärkung scherte! Er war immer darauf aus, die Sachen in die eigene Hand zu nehmen. Wie schön. Das hatte er jetzt.

„Allen.“ Es war Komuis Stimme, die mich inmitten des Trubels erreichte. Ich hörte sie aber reagieren wollte ich nicht. Die Erlaubnis würde nicht kommen, also konnte er die Worte für sich behalten und mich meinem Gram überlassen. Ich ließ ihn warten, bevor ich mich aufrichtete und zermürbt die Ellbogen auf die Knie stemmte. Nur kurz lugte ich zu ihm und sah ein Lächeln, das kläglich in der Funktion, mich aufzubauen, scheiterte.

„Kanda schafft es.“

Resigniert starrte ich auf meine Knie zurück.

„Wenn es brenzlig wird, wird er sich schon in Sicherheit bringen. Vertrau ihm.“

Ich nickte aber meinte es nicht so, tat es viel eher, um Komui von weiteren Worten abzuhalten.

Auf Kandas Stärke hatte ich immer vertraut. Sie war ebenso wahnsinnig immens wie sein Selbstvertrauen.

Ich blieb sitzen und lange Zeit ebbte der Trubel um mich herum nicht ab und selbst, wenn es still und reglos um mich wäre, ich blieb in der Nähe des Telefons. Jeder kommende Anruf könnte fatal sein und so schmerzhaft diese Konfrontation auch wäre, ich wollte sie mir antun, um mich zu bestrafen, mir die Folgen meiner Verletzung vor Augen zu führen und um mich von nun an noch vorsichtiger zu verhalten.

Irgendwann ließ ich von meinen Fingern ab, rutschte von der Armlehne auf das Sitzpolster und zupfte absent an den Nähten meiner Hose.

Knapp achtzig Finder hatte man aufgetrieben, wie ich eine Stunde später erfuhr, doch es war keine Nachricht, die mich beruhigte.

Ich wollte die schlimmsten Ausgänge dieses Vorfalles nicht in Betracht ziehen, nicht daran denken, dass die Möglichkeit bestand, einen wichtigen Mitstreiter zu verlieren. Und nicht nur das.

Wie höhnisch und widerlich wäre das Schicksal, alles in dem Moment enden zu lassen, in dem ich Kanda gerade erst richtig kennenzulernen glaubte. Nach mehr als einem Jahr. Ich hatte nicht all die neuen, interessanten Seiten an ihm erlebt, um sie zu den Erinnerungen zu legen. Sie waren so wichtig und heilig, dass sie weiterhin existieren mussten. Genau wie er.

Irgendwann machte ein Wissenschaftler mit einem Tablett die Runde und so leistete mir kurz darauf eine Limonade Gesellschaft. Durst hatte ich nicht. Eher nutzte ich die Gelegenheit, an dem Glas zu piepeln.

Wozu hatte ich den Entschluss getroffen, ihm gegenüber aufmerksamer zu sein?

Weshalb sonst hatte ich dieses außergewöhnliche Interesse an ihm zugelassen?

Hoffentlich, kam es mir in den Sinn, war unsere Rivalität groß genug, dass er es nicht akzeptierte, früher zu sterben als ich. Wie würde es seinen Stolz verletzen. Ja, hoffentlich dachte er daran, wie jämmerlich das wäre.

„Marie hat den Zug noch bekommen“, hörte ich River in meinem Rücken murmeln. Schon kehrte auch Komui mit einem Kaffee zurück. „Er schätzt, Ulan Ude gegen fünf Uhr morgens zu erreichen.“

Resigniert starrte ich zu einer Uhr. Sieben Stunden.

Auch Komui schien etwas Besseres erwartet zu haben. Erschöpft nippte er an der Tasse.

„Und Linali“, dass River einen tiefen Atemzug dazwischen legte, war nicht aufbauend. „Wie es aussieht, schafft sie es nicht vor acht Uhr.“
 

Irgendwann war es tiefe Nacht und ich war und blieb einer der wenigen, die Komui noch Gesellschaft leisteten. Zwei Telefone waren noch besetzt. Die Wissenschaftler versuchten zu erreichen, was noch zu erreichen war und ich verließ das Sofa nur, um mir die Füße etwas zu vertreten.

Während Komui müde an dem wer weiß wievielten Kaffee nippte, ging ich im Meer der Blätter spazieren, trat nach vereinzelten Eselsohren und lauschte dem Rascheln, das meine Schritte begleitete. Die Hände in den Hosentaschen hielt ich das Gesicht gesenkt und blickte nur auf, wenn sich eines der Telefone meldete.

Die letzte Nachricht hatten wir vor eineinhalb Stunden erhalten und sehr aufbauend war nichts an ihr gewesen.

Kanda war vor den Augen der Finder verschwunden, hatte sich zu einem anderen Teil der Stadt durchgekämpft. Das einzig Beruhigende daran war nur, dass die Zeichen noch auf den anhaltenden Kampf hinwiesen. Kanda war noch zugange.

Er lebte.

Als ich wieder auf dem Sofa saß und Komuis Schreibtisch verlassen vor mir stand, wagte ich den erneuten Blick zur Uhr.

Noch fünf Stunden. Hoffentlich wurde Marie nicht aufgehalten.

Ächzend ließ ich mich tiefer rutschen und lagerte die Waden auf der Armlehne. Meine Augen gaben sich damit zufrieden, sich die hohe Decke des Raumes zu betrachten, doch bald lenkten sie sich auf den zerzausten Schopf Jonnys, der sich über das Sofa neigte. Kurz musterte er mich schweigend, ebenso schweigend starrte ich zurück und dann seufzte er.

„Willst du dich nicht hinlegen oder etwas essen?“, erkundigte er sich. „Ich verspreche, ich sage dir sofort Bescheid, wenn Neuigkeiten kommen.“

Ich schüttelte den Kopf aber damit gab sich Jonny nicht zufrieden.

„Dann geh wenigstens frische Luft schnappen. Du siehst furchtbar aus.“

Natürlich tat ich das aber längst nicht so furchtbar wie diese Situation. Zugegeben, ich war müde und nach einer Zeit der Langeweile und der Ruhe setzte mir dieser Zustand zu.

„Du, Allen“, Jonny stemmte sich auf die Lehne und legte den Kopf schief. „Du kannst nichts daran ändern. Was in Russland passiert, würde auch passieren, wenn du kurz aufstehst.“

„Eigentlich finde ich es hier ganz bequem“, murmelte ich und über mir rang sich Jonny zu einem Lächeln durch.

„Du glaubst doch nicht, dass Kanda sich durch so etwas fertig machen lässt, oder? Und stell dir sein Gesicht vor, wenn er wüsste, dass wir uns Sorgen um ihn machen. Er würde sich doch gekränkt fühlen.“

Jetzt kam ich nicht um ein mattes Grinsen.

Da war etwas dran.

„Wir bekommen bestimmt etwas zu hören, wenn er später davon erfährt.“

Er sprach, als wäre Kanda so gut wie hier. Als wäre seine Rückkehr eines der sichersten Dinge.

Leider war es nicht so aber wenn ich Jonny so zuhörte, würde ich mir liebend gern jede Beleidigung auf mich nehmen und jede üble Verwünschung. Alles, was aus Kandas Mund kam, wenn er von unserer erbärmlichen Sorge erfuhr. Ich würde mich niedermachen lassen, wenn er es nur übernahm und die nötige Kraft dafür mit Nachhause brachte.

Nach wenigen weiteren Minuten begann ich mich doch zu regen.

Meine Muskeln waren verspannt aber nach einem ausgiebigen Strecken ging es wieder und letzten Endes befolgte ich Johnnys Rat. Ich konnte mir einreden, was ich wollte. Für den Verlauf in Russland war es egal, wo ich mich befand und so rang ich mich dazu durch, Komuis Büro vorerst zu verlassen.
 

-tbc-

11

Resigniert ging ich meiner Wege. Einfach kreuz und quer durch das Hauptquartier und ich meinte, meine Gedanken im Griff zu haben aber das hatte ich so gesehen noch nie. Wenn sie sich nicht auf Kanda richteten, dann auf andere Thematiken und von ihnen musste es viele geben, denn als ich irgendwann stehenblieb und aufblickte, wusste ich weder, wo ich war, noch wie lange mich meine Beine getragen hatten.

Hinter einem nahen Fenster lag die finstere Nacht, leise umflatterte mich Timcanpy und kaum hatte er sich auf meinem Kopf niedergelassen, spähte ich um mich. Ein Flur. Ich drehte mich zur anderen Seite, erspähte eine Treppe und setzte mich wieder in Bewegung. Das Laufen tat gut und irgendwann wurde die Umgebung wieder vertrauter. Ich blieb im Treppenhaus stehen.

Es war die richtige Etage und von meiner Tür blickte ich unweigerlich zu jener anderen.

Sie lag meinem Raum fast gegenüber, doch verbarg derzeit niemanden hinter sich.

Und ich kam nicht um ein müdes Lächeln, bevor ich in meinem Raum verschwand und mich dazu zwang, mich hinzulegen. Schlaf war in dieser Lage ohnehin das Beste, um die Zeit zu überwinden.
 

Ich schlief, wenn auch nicht lange.

Gerade war ich zu mir gekommen, da richtete ich mich auch schon auf. Ein Gähnen stieg in mir empor und beiläufig erwischte ich Tim, der sich von der Matratze erhob, mit dem Ellbogen, bevor ich mir das Gesicht rieb. Mein Mund schmeckte fade, das Haar stand mir zu berge und großzügig half ich etwas nach, indem ich mich ausgiebig kratzte. Wieder erhob sich der Golem in die Luft und stoisch hob ich die Hand zu einem stummen Morgengruß.

Da war er also, der neue Tag.

Müde blinzelnd blieb ich sitzen, rollte mit den Schultern und grübelte, weshalb mir dieser Tag so wichtig erschien. Ich presste die Lippen aufeinander, verspielt verbiss sich Tim im Stoff der Decke und abwesend stellte ich mich einem kurzen Kräftemessen. Er zog, ich zog und dann fiel es mir ein. Sofort ließ ich die Decke los und kam auf die Beine. Eilig zog ich ein Hemd hervor, wand mich unterdessen schon aus dem alten und sah mich nach meinen Schuhen um. Ich war wach und ich hatte es eilig.

Die Antworten auf meine Fragen warteten. In der Wissenschaftsabteilung. Bei Komui.

Ich musste sofort dorthin.

Was sagte mir meine Intuition?

Unter der kühlen Luft des Treppenhauses atmete ich tief durch.

Wenn das Schicksal der Hoffnung die Dramatik vorzog, spürte man es bisweilen. Schon wenn man die Augen öffnete, gab es Befürchtungen, die der Wahrnehmung nicht entgingen, die so pessimistisch waren und sich letzten Endes doch leider nur als Realismus entpuppten. Gegen diese Tatsachen anzukämpfen war erbärmlich. Eilig bog ich um eine Ecke.

In gewissen Lagen war Hoffnung nicht viel mehr als Verzweiflung und das Streben nach dem Sieg eine Ausflucht, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Eine einzige Erfahrung war es, die bis heute einen bitteren Geschmack hinterließ. Bis heute so spürbar. Bis heute so präsent, doch die abgrundtief finsteren Vorahnungen, die mich einst zu Suman führten, begleiteten mich hier und jetzt nicht.

Ich hatte nicht das Gefühl, diesen Weg besser nicht zu gehen und meine Schritte verlangsamten sich nicht. Ich erreichte die große Tür, griff nach der Klinke und der Anblick, der sich mir bot, hob eine immense Last von meinen Schultern.

Es war das gewohnte Seufzen und Stöhnen, das mir entgegen zog, die Folgen einer durchgearbeiteten Nacht. Vermutlich hatte jeder viel zu tun gehabt, doch es blieb bei dieser Erschöpfung, neben der weder Stille noch bedrückte Mienen das Bild beherrschten. Jonny schnarchte, Rokujugo schwebte von Regal zu Regal und River schwenkte den Kaffee in seiner Tasse, während ein wahrer Redeschwall über ihn hereinbrach. Er kam von Komui, der neben ihm am Tisch lehnte.

Es war alles in Ordnung. Neben der Tinte zahlreicher Kopien roch es hier auch nach Erfolg.

„Einen schönen Morgen wünsche ich dir.“ Komuis verzerrte, todernste Miene hatte die alte Entspannung inne, als er mich begrüßte. Seine Lippen konnten wieder lächeln, während ich näher trat.

„Erzähl.“

Für Floskeln blieb keine Zeit.

„Es ist gut ausgegangen.“ Jetzt stieß er doch ein Seufzen aus, bettete die Hand auf meiner Schulter und führte mich mit sich. Wir schlenderten zu seinem Büro. „Linali und Marie waren pünktlich. Gott sei Dank. Das Gefecht endete gegen acht Uhr.“

Vor einer Stunde.

„Und wie geht es allen?“

Ebenso gut hätte ich die Frage auf Kanda beziehen können, denn nur ihn hatte dieser Kampf nicht wenige Stunden sondern länger als eine ganze Nacht gedauert.

„Linali geht es gut.“ Lächelnd stemmte sich Komui gegen die Tür. „Sie hat etwas Rauch geschluckt aber sie meinte, es wäre in Ordnung, also musst du dir keine Sorgen machen.“

Stirnrunzelnd folgte ich Komui durch das Meer der Unterlagen.

„Sie hat sich beeilt und war eine halbe Stunde früher da. Und dann hat sie sich gut geschlagen.“ Beiläufig wurde die Tasse auf dem Tisch abgestellt und resigniert blieb ich neben dem Sofa stehen. „Wie es nicht anders von ihr zu erwarten war. Immerhin ist sie mein Fleisch und Blut.“

„Mm-mm“, murrend nickte ich.

„Sie ist mit Marie noch vor Ort.“ Komui sank hinter den Schreibtisch. „Wir hatten Glück.“

Somit rückte er an den Unterlagen und schaffte so auch nicht viel mehr Ordnung. Auch an der Tasse wurde gedreht und nach wenigen Momenten des Schweigens beschloss ich, mich nach Kandas Vorbild zu richten und seiner speziellen Form der Kommunikation, die mir schwerfiel - direkte Fragen.

„Was ist mit Kanda?“, tat ich es dennoch und auf der anderen Seite des Schreibtisches wurde eine Grimasse gezogen.

„Wäre seine Vernunft doch ebenso groß wie sein Eifer“, antwortete er letztendlich. „Er hätte sich vor Ort erholt und sich anschließend der alten Mission gewidmet. Dass ich ihn zurückrief, gefiel ihm wenig. Was ist nur mit ihm los?“

Endlich wusste ich, was ich wissen wollte.

Er kehrte also zurück.

Es blieb bei wenigen weiteren Worten, bevor ich Komuis Büro verließ und mich mit Tim auf den Weg zum Frühstück machte. In der gestrigen Nacht hätte ich nicht gewagt, einen so glimpflichen Ausgang zu erwarten. Er hatte in viel zu weiter Ferne gelegen, doch nun blieben das Gefecht und die damit verbundene Aufgebrachtheit nur Erinnerungen.

Die Hände in den Hosentaschen durchstreifte ich die Gänge und lauschte dem leisen Hallen meiner Schritte.

Was war dieses Gefühl?

Wie konnte ich definieren, was mich beschäftigte?

Etwas regte sich in mir, weder unangenehm noch lästig.

Was war es?

Ich blieb stehen. Das Ziel lag neben mir aber während Tim sich bereits an der Klinke zu schaffen machte, stand ich nur dort.

Erleichterung?

Selbstverständlich, aber war es nur das?

Ein Kopfschütteln überkam mich. Es war mehr, weitaus mehr, und als ich mich der Tür zuwandte, fand ich endlich das passende Wort.

Stolz.

Ich verfolgte Tims erfolglosen Kampf. Ich war stolz auf meinen Kameraden, der nach drei Missionen noch genug Kraft besaß, einen zehnstündigen Kampf fast im Alleingang zu entscheiden.

Was war das nur für ein Teufel?

Er hatte den Sieg errungen und das einzige, was ich tat, war wie ein Tölpel an ihm zu zweifeln. Als hätten die Gefechte, die ich gemeinsam mit ihm schlug, nie existiert. Ich wusste doch, wie stark er war.

Vermutlich war meine vergangene Sorge nicht viel mehr als blanker Egoismus, aus Furcht vor einem Verlust.

Möglicherweise hatte ich nie um ihn Angst gehabt sondern vielmehr um mich selbst.

Ich ließ ihn nicht gehen.

Nicht nachdem ich diesen Riss in seiner Barriere fand.
 

Trödelnd erreichte ich die Theke. Die Tür zur Küche war geschlossen und so spähte ich zurück und in die Halle. Sie war gut besucht zu dieser Stunde und auch die Gesprächigkeit der Hungrigen war heute enorm. Vermutlich war mein Thema auch ihr Thema. Gewisse Dinge sprachen sich hier schnell herum.

So wandte ich mich ab, hob den Fuß auf die Zehen und drehte ihn gedankenverloren. Die Tür der Küche regte sich nicht und so stemmte ich das Kinn in die Handfläche und spähte Tim nach. Er flatterte zu jener Tür, als wäre er es, der Hunger hatte aber als er das Ziel erreichte, tat sich auch nicht viel.

„Jerry.“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Murmeln. Mein Fuß begann über den steinernen Boden zu scharren. „Jerry.“

Ich hatte Hunger. Die Lage war so ernst wie jeden Morgen auch.

Lauter rufen wollte ich nicht, also hoffte ich auf Tim und als dieser nach weiteren Momenten in die Klinke biss, da bewegte sich die Tür endlich. Mit einem Mal wurde sie aufgerissen, Tim fortkatapultiert und dann sah ich einen jungen Hilfskoch näher straucheln. In der einen Hand hielt er einen Kochlöffel, die andere wischte er hastig an der Schürze ab und wie nervös wirkte er, als er auf der anderen Seite der Theke zum Stehen kam.

„Guten Morgen!“, ächzte er. „Was darf ich Ihnen bringen?“

Stirnrunzelnd lehnte ich mich zur Seite und spähte an ihm vorbei.

„Wo ist Jerry?“

„Jerry. Äh.“ Er kratzte sich am Kopf. Aus der Küche glaubte ich aufgebrachte Stimmen zu hören. „Er macht Besorgungen in der Stadt. Er hat uns kurz das Feld überlassen.“

Das schien wirklich ein schweres Feld zu sein.

„Na dann.“ Kapitulierend rappelte ich mich auf. „Ich möchte fünf Croissants mit Erdbeermarmelade, ein paar Rühreier, Vanille-Pudding, Mango-Saft, Pfannkuchen, Himbeerjoghurt, Kuchen...? Ja, irgendeinen Kuchen. Zwei Brötchen mit Pflaumenmus, Schokoladenmüsli und Windbeutel. So viele, wie ihr da habt.“ Die waren wirklich lecker. „Und Kakao. Ach, anstatt der Rühreier doch lieber zwei Omelettes aber ohne Basilikum. Habt ihr noch die süßen Cornflakes?“

„Eh“, brachte der junge Mann hervor, bevor ich abwinkte.

„Gut, keine Cornflakes. Aber noch die Müsli-Riegel. Vier davon und zum Schluss…“ Ich verengte die Augen, rieb mir das Kinn und grübelte. „Lasagne.“

Der Mund meines Gegenübers öffnete und schloss sich. Ich erwartete, dass er sich in die Küche zurückzog aber er blieb stehen. Erwartungsvoll hob ich die Augenbrauen und nach wenigen Sekunden brach er in fahriges Lachen aus.

„Also Pfannkuchen und… eh… Müsli?“

„Schoko-Müsli“, verbesserte ich.

„Okay… ähm…“, plötzlich begann er sich umzuschauen. Der Kochlöffel fand seinen Platz auf dem Tresen und so begann er seine Hosentaschen abzutasten. Was er suchte, erfuhr ich nicht sofort aber meine Gesichtsmuskeln zog es nach unten, als er einen Notizblock zückte und die Suche, wahrscheinlich nach einem Stift, hektisch fortsetzte. „Einen Moment.“

Seufzend machte ich es mir wieder bequem und verfolgte den Kampf, bis er fündig wurde und zu kritzeln begann.

„Fünf Croissants.“ Ich fing von vorne an. „Erdbeermarmelade.“

„Moment.“ Wieder kratzte er sich den Kopf. „Der Stift tut’s nicht mehr. Ich gehe schnell einen Neuen holen.“

Träge ließ Tim die Flügel über meine Ohren hängen und so wie sie hing auch ich kurz darauf dort. Erst jetzt fiel mir Jerrys unglaubliches Gedächtnis auf. Hoffentlich kam er schnell zurück. Der Jungkoch tat es und zückte den neuen Stift.

„Also vier Croissants mit Marmelade und…“

„Fünf“, unterbrach ich ihn.

„Natürlich, also fünf mit Marmelade.“

„Erdbeermarmelade. Vanille-Pudding und Mango-Saft.”

„Moment.“ Er kam nicht nach und naserümpfend lugte ich zur Seite, bis sich seine Stimme erhob.

„Saft.“

„Mangosaft, Pfannkuchen, Himbeerjoghurt, Kuchen.“ Müde verfolgte ich, wie er kritzelte. „Zwei Brötchen mit Pflaumenmus, Schokoladenmüsli und Windbeutel.“

„Eh.“ Eilig kratzte er sich mit dem Stift die Nase. „Wie viele Brötchen?“

Ich schöpfte tiefen Atem.

Heute war es schwer. Gerade in Momenten wie diesen bemerkte ich, wie wenig ich geschlafen hatte und neigte dazu, niederträchtig zu werden. Irgendwie passierte es dann auch.

„Sagte ich doch“, murrte ich und der junge Mann schluckte.

„Drei?“

„Ich sagte ‚zwei’.“

Hastig strich er durch. „Okay, zwei Brötchen.“

„Gib mir zwei Doppelte.“

„Mit… äh… Apfelmus?“ Keuchend blickte er auf.

Dumpf traf meine Stirn auf das Holz. Ich befürchtete, allmählich wirklich genervt zu sein und was er als nächstes auf den Zettel schrieb, interessierte mich herzlich wenig.

„Und dann“, seine Stimme drang kaum noch zu mir, „Milch?“

„Kakao.“

„In Ordnung. Und dazu“, in seinem Kopf arbeitete es, während er auf den Zettel starrte und die Lippen zu einem schmalen Strich presste, „Nudeln?“

Unter einem Ächzen sank ich wieder auf den Tresen zurück. „Keine Nudeln.“

„Hatten Sie das nicht gesagt?“

„Orientiere dich an meinem Widerspruch.“ Murrend rieb ich mir die Augen. „Kollege, du hast es hier mit Hungrigen zu tun. Ist dir heute schon jemand an dieser Theke gestorben?“

„Wie bitte?“ Er verstand es nicht.

„Moin“, erhob sich da plötzlich eine bekannte Stimme und als ich mich aufrichtete, schleppte sich River das letzte Stück und suchte Halt auf der Theke. Mit ihm schien es zu Ende zu gehen und kaum dass er mich erreichte, war mein Gesicht wieder entspannt. Kurz lächelte ich ihm zu.

„Fünf Donuts“, wandte ich mich dann erneut an den Koch und hektisch wurde notiert. „Vier Müsli-Riegel und Lasagne.“

Der junge Kerl kniff die Augen zusammen aber er kam hinterher und wirkte erleichtert, bevor er kehrt machte und zur Küche zurück rannte. Ernüchtert sah River ihm nach, während ich ihm winkte.

„Danke.“

„Ich spüre meine Beine nicht mehr.“ Stockend regte sich River neben mir auf der Theke und beiläufig nickte ich, die Küchentür stets im Blick behaltend.

„Ich glaube, ich sterbe“, wurde da weitergeächzt. „Aber diesmal wirklich.“
 

Wir verbrachten schöne Momente miteinander, bevor ein anderer ebenso überforderter Hilfskoch meine Bestellung aus der Küche schleppte. Es schien alles da zu sein aber irgendwie sah es aus wie lieblos zusammengeschmissen. Es fehlte Jerrys Liebe, in der er alles so zurechtrückte, dass die Augen getrost mitessen konnten.

Während River seine karge Bestellung nuschelte, zog ich mich an einen der Tisch zurück. Gewartet hatte ich heute so lange wie noch nie und deshalb hoffte ich, dass das Essen dafür besonders gut schmeckte. Der Mango-Saft war lecker und schnell ausgetrunken, der Pudding etwas fade und spätestens als ich die Lasagne kostete, fror ich ein, schöpfte tiefen Atem und schluckte den Happen letztendlich mit viel Mut. Was für ein Start in den neuen Tag.

Mürrisch schob ich die Lasagne bei Seite, versenkte die Gabel im Kuchen und sah ihn trocken auseinander bröckeln. Die Windbeutel waren gut aber der Himbeerjoghurt schmeckte nicht nach Himbeere und nachdem sich einige andere Sachen auch als Zumutung entpuppt hatten, brachte ich das Ganze kommentarlos zurück und verließ den Speisesaal.

Mit welchen sinnlosen Tätigkeiten ich den Tag füllen würde, wusste ich noch nicht.

Mein Zimmer war wie immer wenig verführerisch und so betrat ich wieder die Wissenschaftsabteilung, wo ich sofort von Johnny geschnappt wurde. Ich bekam doch etwas zu tun. Etwas, worauf ich keine Lust hatte aber es war mir lieber, als wieder Stunde um Stunde dort zu sitzen und nichts zu tun.
 

So machte mich auf den Weg in die Stadt.

Ich endete als Kurier. Nachdem mich Johnny überredete, ein bestelltes Buch abzuholen, hatte es auch noch andere gegeben, die mich mit Aufgaben beluden und so sah ich einigen Erledigungen entgegen.

Es war eisig kalt und der Weg zur Stadt lang, doch die Stadt bot möglicherweise die Gelegenheit, etwas heiterer zu werden.

Bald erreichte ich mein Ziel und tauchte mit übergestreifter Kapuze in die Menschenmassen. Die Besorgungen würden genug Zeit kosten und so bahnte ich mir meinen Weg zielstrebig zu jener Buchhandlung. Ich fiel kaum auf, bewegte mich in der Masse und tat es unauffällig.

Das Gesicht zumeist leicht gesenkt, den Sitz der Kapuze mit der Hand überprüfend und nur kurz spähte ich in beide Richtungen, bevor ich mich durch die Tür der Buchhandlung schob.

Es war ein älterer Laden und sofort zog mir der für Bücher typische Geruch entgegen. Zwischen den hohen Regalen bewegten sich Menschen, in einer Ecke wurde gelesen, die Fächer durchstöbert und ich zog an all dem vorbei und trat an den Tresen. Eine ältere Frau blickte von einigen Unterlagen auf, musterte mich innig und wurde rechtzeitig von dem Zettel abgelenkt, den ich ihr mit einem knappen Lächeln reichte. Nickend nahm sie ihn entgegen und verschwand in den hinteren Räumen des Geschäftes.

Hier war alles in Bewegung. Die Welt war so hektisch und ich blieb so reglos, als wäre ich kein Teil dieser Gesellschaft, sondern viel mehr ein Punkt, um den sich alles drehte und am Ende doch gar nichts.

Langsam hob ich die Schultern, ließ sie sinken und hielt nach der Frau Ausschau. Sie schien länger zu brauchen und so versenkte ich die Hand unter der Kapuze, um mich zu jucken. Vor mir lagen uninteressante Broschüren und abrupt lösten sich meine Augen von ihnen, als ich neben mir eine weitere Regung ausmachte. Etwas hatte meine Beine gestreift und schweigend musterte ich diesen kleinen Jungen, der neben mir stehen geblieben war. Er interessierte sich für das raschelnde Papier kleiner Hefte und betastete es begeistert.

Wie schön musste es sein, wenn die Welt so voller Geheimnisse war.

Ich löste die Augen nicht von diesem Kind, betrachtete es abwesend und ohne zu blinzeln. Von dem Papier wanderte die kleine Hand zu einer Wollmütze. Etwas zerzaust ragten die Strähnen des brünetten Haars unter ihr hervor, während die Augen des Jungen mit jedem Augenblick der Erkundung größer wurden.

„Quience.“ Nur leise erhob sich eine Stimme in meinem Rücken. Ich nahm sie kaum wahr, doch der Junge reagierte. Es fiel ihm schwer, sich zu lösen, doch er wandte sich um und mit ihm tat auch ich es. Kaum erblickte ich diesen Mann, der nahe der Tür auf den Jungen wartete, da eilte dieser schon an mir vorbei, folgte dem Wink seines Vaters und still verfolgte ich die Bewegung der großen Hand, die sich auf die Mütze bettete und dem Jungen ein leises Lachen entlockte.

Nur einmal blinzelte ich, bewegte die Hände in den Hosentaschen und geschwind nahm der Mann seinen Sohn auf den Arm. Er hielt ihn sicher, gab ihm Schutz, gab ihm Geborgenheit, während er mit ihm auf die Straße trat.

Leise meldete sich das Glöckchen, als sich die Tür hinter ihnen schloss.

„… ung…?“

Noch immer starrte ich auf den Punkt, an dem die Masse die beiden verschluckte. Meine Hände waren so nervös wie zuvor, regten sich unablässig, ballten sich zu Fäusten und entspannten sich.

„Verzeihung?“ Erst jetzt drang die Stimme zu mir und als ich mich umdrehte, stand da die Verkäuferin, die mir die Bestellung reichte. Nach einem kurzen Zögern nahm ich sie entgegen. Was war das?

Ein Comic.

„Stimmt etwas nicht?“, erkundigte sich die Verkäuferin da schon, doch ich schüttelte den Kopf, hob verabschiedend das Heft und verließ den Laden. Zurück in das Getümmel.

Meine Stimmung würde sich bessern. Ganz bestimmt. Irgendwann.

Ich legte wenig Wert darauf, den Menschen auszuweichen, war nicht aufmerksam genug, um ihnen Beachtung zu schenken, sah nur die Schuhe, die an mir vorbeizogen und hüllte mich tiefer in den Mantel, während Schultern mich leicht streiften.

Ich wollte mich nicht verkriechen, mir war nur kalt.

Schon suchte meine Hand in der Hosentasche nach dem nächsten Zettel.

Noch eine Bestellung für einen Wissenschaftler und fürs erste interessierte ich mich nur für die Adresse. So blickte ich zum Straßenschild auf und verschaffte mir Orientierung. In der klirrenden Kälte zog ich die Nase hoch und schob mich an einem Straßenstand vorbei.

Es war voll. Ich war in den Mittagstumult geraten und hielt mich irgendwann nahe den Häuserwänden. Eine Straße, noch eine, und endlich sah ich das Schild des richtigen Ladens und stahl mich abermals aus der Kälte. Es war ein kleiner, staubiger Laden für Büroartikel, in dem wenig Betrieb herrschte. Die hölzernen Vitrinen hatten bisher wenig Interessenten angelockt und hinter der Kasse saß nur eine alte Frau, die aussah, als würde sie schlafen.

Leise schloss sich die Tür hinter mir, während ich mich umblickte. Es roch nach Tinte und allerlei anderem, was ich nicht definieren konnte. Ist tastete nach meiner Kapuze und streifte sie von meinem Schopf, während ich mich der Kasse näherte.

Es gab dicke, in Leder eingebundene Mappen und Schreibwaren. Wenn die Auswahl auch nicht groß war, etwas hatte dieser Laden an sich. Ich nahm kaum wahr, wie sich die Tür hinter mir erneut öffnete, betrachtete mir eine Schatulle und streckte gerade die Hand nach ihr aus, als ich von einer Schulter schroff zur Seite gedrängt wurde.

„Beweg dich, Opa!“ Stöhnend zog ein junger Mann an mir vorbei, trat zur Kasse und riss die Frau mit seinem Temperament aus dem Halbschlaf. Die Schatulle war nicht mehr interessant, meine Augen folgten nur diesem Mann.

„Wie, Sie haben das nicht!“ Ächzend raufte er sich die Haare, während die alte Frau mit den Schultern zuckte. „Wo kriege ich das denn sonst her?“

„Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“

Langsam tastete ich in meiner Hosentasche nach dem Zettel und näherte mich der Kasse.

Ein kühler Schauer überkam mich, doch es blieb ein kurzer Moment, bevor ich die Fassung wieder erlangte.

Es war alles in Ordnung.

Abermals tief durchatmend trat ich neben den Mann, der die Hände auf den Tresen niedergehen und die Verkäuferin zusammenzucken ließ.

„Das ist der dritte Laden, in dem ich bin!“, erregte er sich, als ich neben ihm stehenblieb, gemächlich den Zettel auseinanderfaltend. „Ich habe keine Lust, noch alle anderen Läden abzuklappern und, hey!“ Beiläufig streckte sich mir sein Arm in die Quere. „Drängle dich nicht vor!“

Ich betrachtete mir seinen Arm, betrachtete mir auch sein Handgelenk und nachdem die alte Frau noch einmal mit den Schultern zuckte, erhielt ich die volle Aufmerksamkeit des Mannes.

„Ich sagte, du sollst dich nicht…“

So wie er sich zu mir wandte, so blickte ich auf und mit einem Mal verstummte er. Unsere Augen trafen aufeinander, still hielt ich seinem Blick stand und um meine Laune stand es beileibe nicht zum Besten. Ein irritiertes Zucken fuhr durch seine Mimik, während ich das Braun seiner Augen erforschte und den Zettel zwischen den Fingern wendete.

Kaum bewegten sich seine Lippen unentschlossen, da taxierte ich ihn schärfer und sah ihn um einen Schritt zurückweichen. Noch ein Schritt, bis er sich aus meinem Blickwinkel schob und es war eine wüste Beleidigung, unter der er letztendlich den Laden verließ.

Während die alte Frau dem unangenehmen Gast nachblickte, reichte ich ihr den Zettel. Diesmal war es ein Federhalter, den ich an mich nahm und ein weiteres Mal auf die Straße hinauszutreten, fiel mir diesmal nicht mehr so leicht.
 

Wer rechnete damit, dass ein Einkauf solche Wendungen nahm?

Wenn schon der Verlauf einer Mission selten dem Plan entsprach, könnte sich nicht zumindest an diesem Tag alles so entwickeln, wie ich es erwartet, oder doch eher hoffte?

Dass ich ungestört Erledigungen machte und mich dabei mit jedem Schritt entspannte, weil es nichts gab, das meiner angeschlagenen Laune gefährlich werden könnte.

Meine Miene war finster und meine Lippen versiegelt.

Auch im nächsten Laden beließ ich es dabei, wortlos das kleine Paket an mich zu nehmen und mich wieder dem Getümmel auszuliefern. Und stetig nahm ich wahr, was ich sonst durch Gewohnheit vergaß.

Blicke und Aufmerksamkeit. So tief ich die Kapuze auch in mein Gesicht zog, es blieben Gesten und Mimiken, deren Ursprung ich auf mich bezog.

Wie tückisch waren die wenigen Stunden Schlaf. Sie verleiteten zu Übermut.

Als mich keine Stunde später der eisige Wind auf der offenen Straße erfasste, trat ich in ein Gasthaus. Nach dem unzumutbaren Frühstück verlangte mein Magen nach Versorgung und den wenigen Gästen den Rücken kehrend, schob ich mich auf einen Hocker an der Theke. Kurz den Schnee vom Mantel geschüttelt und schon streifte ich mir die Kapuze vom Kopf und entdeckte Tim auf dem Hocker neben mir.

Es war eine füllige Frau, die kurz darauf zu mir trat, währenddessen ein Glas abtrocknend.

„Na“, sagte sie, „du siehst aber durchgefroren aus.“

Ich wusste, dass es in manchen Gaststätten Brauch war, Gerede als Vorspeise zu servieren, nur stand mir nicht der Sinn danach, also versuchte ich den Keim in einer beiläufigen Kopfbewegung zu ersticken.

„Machen Sie mir bitte ein paar Sandwichs.“

Mehr musste man nicht sagen, doch die Frau seufzte nur und schrubbte weiter an dem Glas.

Verstohlen behielt ich sie im Blick.

„Du kommst nicht von hier, oder? Sonst wüsstest du, dass diese Gaststätte das beste Gordon Bleu macht und würdest es sofort kosten. Wie wär’s? Sandwichs bekommst du doch überall.“

„Dann geben Sie mir Gordon Bleu.“

Es war der Weg des geringsten Widerstandes aber sie stand noch immer dort und putzte.

„Das ist eine gute Wahl“, freute sie sich und griff nach dem nächsten Glas. „Du wirst nicht enttäuscht sein. Aber weißt du was?“

Stoisch schüttelte ich den Kopf. Die Sachen, die ich derzeit wusste, wollte sie sicher nicht hören.

„Wir haben gerade ein Angebot. Wenn du zwei Gordon Bleus bestellst, bekommst du das Zweite zum halben Preis.“

„Geben Sie mir acht.“

„Oh.“ Endlich hielt sie inne. Das Glas wurde sinken gelassen. „Soviel kannst du essen?“

Unweigerlich erinnerte mich diese Szene an das Trauerspiel im Speisesaal.

Heute an Essen zu gelangen, war so unsagbar schwer.

„Du siehst gar nicht aus, als würdest du wirklich soviel essen können.“

Ich schöpfte tiefen Atem und rieb mir den Mund. Hier und heute hatte ich nicht zu heucheln und nichts vorzugeben, was ich nicht war. Hier war ich mit all meinen Launen und Abneigungen, ohne gute Miene zum bösen Spiel.

Sie verzog skeptisch das Gesicht.

„Ziemlich mager, wenn du mich fragst. Weißt du?“ Heimlichtuerisch lehnte sie sich zu mir und ich mich um ein Stück zurück. „Wir haben einen Stammgast, der hat einmal zehn Stück gegessen. Er hält den Rekord. Aber im Gegensatz zu dir sah er auch so aus. Ziemlich dick.“ Sie sprach weiter und nach wenigen Sekunden spähte ich zur Seite. Würde Kanda hier sitzen, wäre die Frau längst still und bei der Arbeit. Bei ihm wäre es nicht so weit gekommen, doch meine Verstimmtheit wurde wohl zu sehr von Schweigsamkeit begleitet, als dass ich dasselbe Resultat erzielen könnte.

„Das müsstest du dir mal anschauen.“ Sie redete immer noch.

„Würden Sie sich um meine Bestellung kümmern?“, unterbrach ich sie.

„Oh, natürlich.“ Ihr Lächeln führte mir vor Augen, wie sanft sich meine Stimme trotzdem noch anhören musste. Meine Bitterkeit schien weder offensichtlich noch ernstzunehmend und still ertrug ich weitere inhaltslose Worte, bevor sie sich zur Küche bewegte und sich kümmerte.

Den Ellbogen auf die Theke und das Kinn in die Handfläche gestemmt, sah ich sie verschwinden. Tim gesellte sich zu mir, fand seine Bequemlichkeit auf meiner Schulter und sein Interesse an meinen Haaren. Resigniert und reglos ließ ich ihn an meinen Strähnen rupfen. Die Wirtin kehrte bald zurück aber glücklicherweise fand sie einen anderen Gast, der sich ihr Geplapper anhören wollte und einen wichtigen Teil beisteuerte.

Ich fand es in Ordnung, ungestört auf mein Essen zu warten. Ich hatte Zeit, denn es war nur noch ein Weg, der vor mir lag. Von der Theke spähte ich zu den Tischen, spähte weiter zur Tür und kam mit einem Mal nicht umher, die Augen zu verdrehen und mich abzuwenden. Zwei Männer betraten die Gaststätte und nicht nur ihre Mäntel kannte ich. Auch eines der beiden Gesichter. Zwei Finder hatten sich vor der Kälte zurückgezogen und natürlich dauerte es nicht lange, bis ich gesichtet wurde.

„Oh, Walker, ich grüße Sie.“ Neben mir blieben sie stehen und gaben sich mit einer wortlosen Handgeste zufrieden. Mit einem von ihnen hatte ich vor nicht allzu langer Zeit eine beschwerliche Mission bestritten. Und ich hatte ihn gern.

Eigentlich.

„Wir haben uns ja lange nicht gesehen.“

Ich rieb mir die Mundwinkel und lugte zu den beiden.

„Das ist Allen Walker“, wandte sich der eine an den anderen, mir Unbekannten. „Von dem ich dir erzählte.“

„Wirklich?“ Der Zweite staunte und meine Hand wanderte zur Wange und rieb sie. „Die Zusammenarbeit mit Ihnen wurde in höchsten Tönen gelobt. Es ist schön, dass es auch so freundliche Exorzisten gibt. Hoffentlich kann ich Ihnen auch einmal auf einer Mission behilflich sein.“

Um Gottes Willen.

Der alte, kühle Schauer überkam mich und ließ mich kurz die Augen schließen.

Das hatte man also von seiner Freundlichkeit.

„Wie geht es Ihnen?“

„Es ist kalt und ich bin müde, habe Hunger und will nicht reden.“

Neben mir herrschte Schweigen, als ich mich wieder zur Theke wandte.

„Macht´s gut.“

Beirrt wechselten die beiden Blicke. Ihnen fehlten die Worte und hoffentlich fielen sie ihnen auch nicht mehr ein. Kurz darauf erhob sich neben mir ein Räuspern.

„Na gut“, sagte der mir bekannte Finder, während der andere den Freundlichsten aller Exorzisten verwirrt anstarrte. „Dann gehen wir mal und machen uns wieder an die Arbeit.“

Nicht einmal zu einem Winken war ich imstande, bevor sich die beiden zurückzogen.

Ich bemerkte kaum, wie finster mein Gesicht geworden war und wie zusammengesunken meine Haltung. Erst die Wortkargheit, die die Wirtin an den Tag legte, als sie mein Essen brachte, ließ mich meinen Anblick vermuten.

Es ging bergab.

Jetzt überfiel mich die seltene Sehnsucht nach meinem Zimmer, nach meiner Stille und meiner Einsamkeit.

Dann hatte ich meine Bestellung vor mir.

Sie war gekommen, mein Appetit vergangen aber ich griff trotzdem nach dem Besteck. Ich würde essen, den letzten Laden aufsuchen und dann eilig aus dieser Stadt verschwinden. Letzten Endes aß ich auf. Es schmeckte zu gut, um weggeworfen zu werden, doch brachte mich in weitere Probleme, als ich der Wirtin den leeren Teller zuschob. Meine abschreckende Aura schien nicht mehr intensiv genug, denn sie weitete die Augen.

„Da schau her!“, ächzte sie und stemmte die Hände in die Hüften. „Das hätte ich ja nicht gedacht! Und dann noch so schnell!“

Ich begann bereits in den Taschen des Mantels zu suchen, doch ging leer aus. Naserümpfend griff ich also nach einer Serviette, fand auch einen Stift und begann zu schreiben.

„Ich glaube, du könntest den Spitzenreiter herausfordern. Wenn du mal nicht sogar elf Gordon Bleus schaffst! Ich verstehe gar nicht, wie ihr das macht. Vor allem bei dir! Wo geht das ganze Essen nur hi…“

„Schicken Sie die Rechnung dahin“, unterbrach ich sie und schob ihr die Serviette zu. Sie starrte auf die Schrift, während ich vom Hocker rutschte, um weiterem Gerede zu entgehen.

„Dahin?“ Irritiert schüttelte sie den Kopf, als ich auf die Beine kam und mir Tim von der Schulter zog.
 

Der alte, eisige Wind peitschte mir sofort entgegen und ließ Tim davontreiben. Ich zog den Stoff meines Mantels enger und fixierte die Kapuze mit der Hand. Inmitten des dichten Schneegestöbers war das nächste Straßenschild kaum zu erkennen.

Wohin musste ich jetzt? Wo war der Zettel?

Wieder begann ich zu suchen, wieder ächzte ich und spätestens jetzt bereute ich es, die Botenrolle übernommen zu haben.

Es war ein altes Uhrengeschäft, das ich nach kurzer Orientierungslosigkeit sowie Suche betrat. Die letzte Station und ich konnte es nicht eilig genug haben, mit diesem Ausflug abzuschließen. Hierher hatte mich Komui geschickt, denn mein Engagement hatte sich rasch herumgesprochen.

Jetzt nur kein weiteres Herauszögern, bloß kein weiteres Gespräch aber der Mann hinter der Theke sah nicht aus, als könnte er diese Wünsche befolgen. Eine dicke Hornbrille saß auf seiner Nase und er rückte an ihr, als ich ihm den Zettel reichte. Besser zu sehen schien er durch die Brille nicht, denn in den nächsten Momenten starrte er auf den Zettel, als hätte er Hieroglyphen vor sich.

Sein Gesicht verzog sich zu zahlreichen Ausdrücken, während meines immer länger wurde.

Resigniert stand ich dort und saugte an meinen Zähnen.

„Ähm.“ Er kratzte sich am Kopf, sah zu mir auf. „Die Bestellung. Ist die ganz sicher von hier?“

„Keine Ahnung.“

„Mm, da müsste ich mal kurz nachfragen.“ Der Zettel wurde abgelegt und die Gangart des Mannes war genauso träge wie seine Redensart. Er bewegte sich wie in Zeitlupe in die hinteren Räume.

Gleich, sagte ich mir, gleich war es soweit. Gleich könnte ich gehen. Verschwinden. Und das sagte ich mir noch eine ganze Weile, bis der Mann zurückkehrte, wieder auf den Zettel starrte und nachdachte. Unruhig verlagerte ich das Gewicht von einem Bein auf das andere und presste die Lippen aufeinander.

„Ja, doch“, murmelte der Mann dann endlich. „Jetzt erkenne ich es. Einen Moment.“

Es kam selten vor, dass ich so wenig Geduld hatte, so gereizt war und jedes Wort hinter den Lippen verschloss in der Befürchtung, jedes von ihnen könnte sich als unfein entpuppen. Die Tatsache, dass ich einige Minuten warten gelassen wurde, änderte daran nicht viel und kaum kam der Mann zurück und kaum machte er Anstalten, mir eine kleine Schatulle zu reichen, da nahm ich sie ihm aus der Hand und verließ den Laden.

Irgendetwas hatte er mir noch zugenuschelt, doch meine Ohren vertrugen nichts mehr und auch mit der überfüllten Straße wollte und konnte ich es von jetzt an nicht mehr aufnehmen. Eine nahe Gasse war es, die mich lockte und so verließ ich die Straße und stahl mich in den schmalen Gang.

Im Grunde war ich nur umhergelaufen und dennoch fühlte ich mich so endlos marode.

Die Augen auf den Boden gerichtet, schob ich mich an Mülltonnen vorbei und stieg über undefinierbare Schrottteile.

Jetzt war mir sogar Müll lieber als menschliche Gesichter und so hielt ich mich weiterhin in den Gassen, ging meinen Weg versteckt und ließ auf diese Weise fast die gesamte Stadt hinter mir.

Nur vereinzelte Flocken begleiteten mich, nur wenige Geräusche neben dem Knacken des Schnees.

Tim flog voraus, leicht taumelnd in den Böen und kurz beobachtete ich ihn, bevor ich auf die Gestalt eines Mannes aufmerksam wurde, der mir entgegen kam.

Noch jemand, der sich von den Straßen fernhielt.

Wieder wich ich einigen Mülltonnen aus.

Es waren nur noch wenige Schritte, die mich von dem Mann trennten. Kurz regte ich die Finger in den Handschuhen, überprüfte ihren Sitz und beiläufig blickte ich auf, als die Gestalt des Mannes mich erreichte. Mit einem Mal fielen seine Schritte aus dem Rhythmus, verfielen einer gewissen Hektik und nur kurz registrierte ich seine Hand, die eilig unter seinem alten, abgenutzten Mantel verschwand. Eine rasche Bewegung und wie kalt blitzte die Klinge eines Messers auf, das er plötzlich hervorzog.

„Gib mir dein…!“ Abrupt verstummte er, als meine Finger seine Hand zu fassen bekamen.

Mein rechter Arm reagierte sofort, war meiner Wahrnehmung weit voraus, als er den Mann zur Seite zog, ihm das Gleichgewicht entriss und ihn gegen die nahe Mauer lenkte. Stolpernd prallte der Mann gegen das Gestein, bevor ich an ihm vorbeizog und es war nur ein kurzes Ächzen, das an meine Ohren drang.

Wenn etwas kam, kam es geballt und müde tastete ich wieder nach meinem Handschuh. So schnell wie dieser Moment kam, so schnell hatte ich mit ihm abgeschlossen, doch das dumpfe Geräusch, das sich daraufhin hinter mir erhob, ließ mich innehalten. Flatternd erreichte mich Tim, als ich mich umdrehte.

Bewusstlos war der Mann zusammengebrochen und während ich mir seinen reglosen Körper betrachtete, entspannte sich mein Gesicht. Nur die Bewegungen seines Bauches zeugten davon, dass er noch am Leben war und lange betrachtete ich ihn mir, bevor ich zu meiner Hand spähte.

War ich wirklich so missmutig?

Mein Körper hatte reagiert und das mit einer Kraft, die ich nicht angewendet hätte, wäre ich in diesen Momenten bei Verstand gewesen. Es war nicht meine Art. Ganz sicher nicht, auch wenn ich in jedem Mensch nicht unbedingt einen Freund sah.

War mein Frust so groß, dass ich ihn auf andere zu lenken hatte, um mich zu entladen?

Wie tief hatte mich dieser Tag sinken lassen?

Er, zog es mir dabei durch den Kopf, er musste enden.
 

-tbc-

12

„Endlich!“ Begeistert starrte Jonny auf sein Heft.

Auch Komui war zufrieden und beseufzte die kleine Schatulle und presste sie an sich.

„Oh, Linali wird sich freuen!“ Wieder seufzte er und nahm mich liebevoll in Augenschein. „Wie schön, dass du sowieso in die Stadt wolltest.“

Resigniert starrte ich ihn an und schob mich auf den Schreibtisch.

„Weißt du, wie lange ich auf den warten musste?“ Johnny war den Tränen nahe, als er mir den Comic unter die Nase hielt.

„Nein.“

„Ich bin dir so dankbar, Allen. Wer weiß, wann ich die Gelegenheit bekommen hätte, ihn selbst abzuholen.“

Wie schön, dass man es zu würdigen wusste. Was mich anging, ich wollte in mein Bett und Rivers Beispiel folgen, der es diesmal wirklich geschafft zu haben schien. Dass er fehlte, war selten und umso verdrießlicher waren die Blicke der übrigen Wissenschaftler, während Johnny nur Augen für sein Heft hatte.

Als sich Tim auf meinem Kopf niederließ, wurde ich leicht hinab gedrängt.

Früher war es einfacher gewesen. Jetzt war er recht schwer.

„Wisst ihr, ob Jerry wieder da ist?“

Nur kurz konnte sich Jonny losreißen. Er war schon an der Folie zugange, rupfte und zerrte an ihr.

„Weiß nicht. War er denn weg?“

„Wann bist du das letzte Mal hier rausgekommen?“, fragte ich und er begann zu grübeln.

Der Comic wurde sinken gelassen, das lockige Haar gekratzt.

„Jetzt, wo du es sagst.“

„Jerry kommt später“, meldete sich da ein anderer Wissenschaftler und mit großen Augen lehnte ich mich an Jonny vorbei.

„Vielleicht erst morgen früh. Das sagte er zumindest.“

Es war eine Hiobsbotschaft, denn das Letzte, was ich brauchte, war eine weitere Begegnung mit dem Hilfskoch. Die Gordon Bleus mussten also reichen, denn es stand fest, dass ich heute niemandem mehr zuzumuten war.

„Und?“ Komui hatte sich beruhigt. „Hast du dir ein paar schöne Stunden gemacht?“

Er bemerkte mein Zögern und richtete sich enttäuscht auf.

„Ich dachte, du würdest die Gelegenheit nutzen. Endlich mal frei, endlich mal Zeit. Du weißt schon.“

Ja, ich wusste es.

Vor allem, dass es hochprozentiges Salz war, das er mit jedem seiner Worte gnadenlos in meine offene Wunde streute. Ich musste nur die Stirn runzeln, nicht etwa antworten, damit er von mir abließ und sich zu einem Tablett mit Kaffee schlich. Zertreten sah ich ihm nach.

„Meine Güte, Allen“, seufzte er noch, als er nach der Kanne griff. „Ich habe es nur gut gemeint.“

Ich war nicht begeistert und hörte ihm kaum noch zu, als er sich an der Kanne zu schaffen machte und dauernd den Kopf schüttelte. Mürrisch verfolgte ich, wie er sich Kaffee einschenkte.

„Du hättest dir soviel Gutes tun können. Ich dachte, ich müsste es dir nicht sagen, damit du es begreifst.“

Das sagte er jetzt aber am Ende hätte er bei den Rechnungen doch wieder nur gejammert.

Kaum drang in meine Wahrnehmung, wie sich die Geräusche um mich herum mit einem Mal legten und die Wissenschaftler von ihren Arbeiten abließen. Kopien wurden sinken gelassen, Füller hielten inne und mehr und mehr Augen drifteten zur Tür, während ich meine nur verdrehte.

Unter einem beherzten Schluck wandte sich Komui um, doch an mir schweiften seine Augen geradewegs vorbei und spätestens als sich sein Gesicht erhellte, wurde auch ich aufmerksam.

Meine Augen fanden diesen einen Punkt, hielten an ihm fest und kaum spürte ich die völlige Entspannung, die mich überkam.

Auch die mürrische Mimik schien geradewegs aus meinem Gesicht zu bröckeln.

Nur schwerlich gelang es dem jungen Mann, die Tür hinter sich zu schließen.

Seine verschmutzten Finger schlossen sich müde um die Klinke.

Kanda.

Noch immer stand mein Mund offen und ich ertappte mich dabei, wie ich seine vor Mattigkeit zusammengesunkene Haltung analysierte, nach möglichen Verletzungen suchte, ihn mir einfach betrachtete. Die Uniform hatte einiges abbekommen. Der Mantel dagegen schien gleich abhanden gekommen zu sein. Der Zopf saß schief. Entkräftete Hände mussten ihn gebunden haben, ohne auf die Strähnen zu achten, die sich noch völliger Freiheit erfreuten.

Mir bot sich ein Bild völliger Erschöpfung. Müde Schritte, gesenkte Schultern und auch das Gesicht war zu bleich für seine Verhältnisse.

Nur selten hatte ich ihn so gesehen und nur beiläufig bemerkte ich die Regung meiner Mimik.

Es waren meine Lippen, meine Mundwinkel, die kurz vor einem Lächeln zuckten.

Mein Körper richtete sich auf, als er an mir vorbeizog, der Umgebung keine Beachtung schenkend und erst als sich aus der Richtung der Wissenschaftler ein gar feierliches Klatschen erhob, da wandte er das Gesicht und abrupt verstummte der Applause. Eilig wandten sich die Wissenschaftler ihren Arbeiten zu und ein verhaltenes Räuspern erhob sich in der schnell zurückgekehrten Stille, kaum dass Kanda Komui erreichte.

Was geschah nur in diesen Momenten?

Ich fühlte mich gut, seit er den Raum betrat.

So ehrlich lächelte ich selten.

„Willkommen.“ Komuis Lächeln war so aufrichtig wie immer. „Wie schön, dass du eifrig Nachhause geeilt bist.“

Somit ging seine Hand auf Kandas Schulter nieder. Sie tat es lobend und stolz und wurde sofort zurückgezogen, als sich der Körper des Japaners erschreckend neigte. Antworten tat Kanda mit einem Murmeln, das nicht verständlich zu mir drang.

„Geht es dir gut?“ Keine Sekunde ließ Komui ihn aus den Augen und wie irritiert verfolgte er die einzige Reaktion, die Kanda erbrachte. Sein Kopf senkte sich, flüchtig verzog sich seine Miene und letztendlich bestand seine Antwort nur aus einem Gähnen, das er nur annähernd hinter der Hand verbarg.

Mein Lächeln vertiefte sich haltlos, während Komui eine Grimasse schnitt.

„Gut gut.“ Vorsichtig tätschelte er seine Schulter erneut. „Du gehst jetzt schlafen. Ich will dich erst wieder sehen, wenn du dich erholt hast. Verstanden?“

Es schien, als würde Kanda nicken und dann wandte er sich ab. Amüsiert winkte Komui und auch Jonny blickte ihm lächelnd nach.

Ich nutzte jede Gelegenheit, verfolgte die müden Schritte, die Kanda zur Tür zurückführten und neigte mich ihm nach, als er in den Flur trat. Gerne hätte ich ihn mir noch länger betrachtet, um die Tatsache in mir zu verfestigen, dass er wirklich zurückgekommen war.

Von nun an verbarg seine Tür keinen verlassenen Raum mehr und nachdem er verschwunden war, lächelte ich noch immer.

„Ja!“ Feierlich reckte Komui die Tasse in die Höhe, als er sein Büro erreichte. „So sind sie, meine Exorzisten! Genau so und nicht anders!“ Ich hörte ihn lachen, bevor er verschwand und selbst der Comic verlor Jonnys Interesse weiterhin. Er klemmte unter seinem Arm und als ich zu ihm spähte, präsentierte sich mir ein breites Grinsen.

‚Habe ich es dir nicht gesagt?’ Fast hörte ich seine Stimme in meinem Kopf und gab mich geschlagen.

Ja, das hatte er, doch ich hatte nichts dagegen tun können. Es war einfach über mich gekommen.

So abrupt und unerklärlich wie die Heiterkeit, als er mir unter die Augen trat.

Hier schloss sich ein unendlich finsteres Kapitel und während sich das alltägliche Stimmengewirr wieder erhob, rutschte ich vom Tisch.

„Gehst du schlafen?“, erkundigte sich Jonny.

„Ja, bis morgen.“

„Bis morgen.“ Heiter winkte er und machte sich wieder an der Folie des Comics zu schaffen. „Schlaf gut.“

Befreit atmete ich durch, sicherte den Mantel auf meiner Schulter und trottete zur Tür.

Schlafen. Ja, vermutlich würde ich das wirklich.

Von nun an wurden die Tage wieder heller.

Ich spürte es.

Es war, als wäre eine Dürreperiode vorbeigegangen. Nach zwielichtigen Tagen und tückischen Nächten begab ich mich ins Bett und wälzte mich nur kurz in diversen Gedanken, bevor mein Bewusstsein kapitulierte und ich so lange schlief, bis die Morgensonne in mein Zimmer fiel. Hinter mir lag eine Nacht, wie ich sie mir stets ersehnte.

Ich stahl mich geschickt durch die finsteren Stunden und kam während des Frühstückes in den Genuss der alten, vertrauten Gesellschaft. Dass Jerry an diesem Morgen aus der Küche stürmte, war schon ein Grund zur Freude. Auch sein geschultes Nicken, mit dem er meine Bestellung in seinem Kopf speicherte und nach wenigen herzlichen Worten in die Küche zurückeilte.

Er schien zu funktionieren, dieser kleine Teil meines Lebens.
 

„Fantastisch.“ Ungläubig rührte Lavi in seinem Joghurt. „Was tut Jerry da nur immer rein?“

„Ist das Erdbeer-Joghurt?“ Neugierig lehnte sich Linali zu ihm. Sie war erst vor wenigen Stunden angekommen und dennoch guter Dinge. Wenn sie müde war, so war es ihr nicht anzusehen.

„Himbeere“, verbesserte Lavi. „Willst du kosten?“

Sofort zückte sie ihren Löffel und nur kurz ließ ich vom Croissant ab, um zu meinem Banknachbarn zu spähen.

Nebenbei hörte ich Linalis entzücktes Seufzen.

„Wirklich lecker.“

„Ja, nicht?“

„Wie sehr habe ich den Kaffee vermisst.“ In scheinbar schwermütige Erinnerungen vertieft starrte Miranda auf die schwarze Oberfläche ihres Gebräus. „Der Kaffee, den ich auf Reisen getrunken habe… es war furchtbar.“

Weiß stieg der Dampf aus einer anderen Tasse. Bookman gab sich wie so oft mit einem Tee zufrieden. Schweigend saß er neben Lavi, während ich das Croissant in meinen Kakao tunkte und nebenbei nach einem Muffin tastete.

So viele waren zurückgekommen. So viele waren wieder hier und sorgten dafür, dass meine Einsamkeit ihr Ende fand. Diese gemeinsamen Mahlzeiten waren mir teuer, unbezahlbar wichtig. Vor allem in den Momenten, in denen ich mich ihnen gewachsen fühlte.

„Ich bin so hungrig.“ Linali hatte sich noch einen zweiten Löffel des Joghurts stibitzt. Jetzt versenkte sie das Messer in ihrem Brötchen. „In Ulan Ude stand kein Laden mehr. Könnt ihr euch das vorstellen?“

„Es muss wirklich übel gewesen sein“, nuschelte Lavi neben ihr und ein Seufzen zeugte davon, dass sich Miranda wieder dem Kaffee hingab. Was mich anbelangte, ich war aufmerksam geworden.

„Haben die Nachforschungen schon etwas ergeben?“, erkundigte ich mich, mit meinem Löffel in Linalis Richtung gestikulierend. „So ein Großangriff passiert nicht einfach so.“

Kurz war Linali noch an ihrem Brötchen zugange.

„Ich weiß nicht.“ Schulterzuckend griff sie nach der Marmelade. „Marie ist da geblieben, um sich der Sache anzunehmen.“

„Ergibt alles keinen Sinn“, bemerkte Lavi in dem Moment nachdenklich. „Irgendwie verstehe ich nichts von dem, was in letzter Zeit passiert ist.“

Von ihm blickte ich zu Bookman und sah ihn weiterhin nur gedankenvoll schweigen, als ginge ihm bereits etwas durch den Kopf, das noch nicht für unsere Ohren bestimmt war.

„Ulan Ude wurde dem Erdboden gleichgemacht.“ Linali schmierte ihr Brötchen. „Das habe ich in all den Jahren nur selten gesehen. Als hätten die Akuma nach etwas gesucht, bei dem die Häuser nur im Weg waren.“

„So oder so“, mischte sich Lavi wieder ein. „Man hätte nichts Besseres tun können, als ihnen ein Strich durch die Rechnung zu machen. Um was für eine Rechnung es sich da auch immer handelt. Es schadet nie.“

Wieder pustete Bookman über den Tee, setzte die Tasse an die Lippen und nippte.

„Waren die Verluste sehr groß?“, erkundigte sich Miranda und noch während Linalis Gesicht von Kummer befallen wurde, ging die Kaffeetasse auf den Tisch nieder. „Ich hätte da sein müssen.“ Von sich selbst enttäuscht sank Miranda in sich zusammen.

„Na na na.“ Verhalten lachte Lavi auf. „Mach dich nicht fertig. Wir wären alle gerne da gewesen.“

Was er nicht sagte.

Ich kümmerte mich wieder um mein Frühstück.

„Wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten“, sein nächstes Lachen war alles andere als reserviert, „dann wäre unserem guten Yu nicht so der Hintern versohlt worden.“

„Lavi.“ Linali seufzte, Miranda ächzte und auch ich war nicht wirklich seiner Meinung.

Wer hatte wem den Hintern versohlt?

Bookman hatte innegehalten und der Blick, der Lavi traf, zeugte davon, dass er sich in Situationen wie diesen etwas geistreichere Kommentare von seinem Schützling wünschte.

„Als Marie und ich aufgetaucht sind, gab es kaum noch etwas zu tun.“ Kopfschüttelnd hob Linali das Brötchen zum Mund. „Es ist eine Leistung, die man Kanda hoch anrechnen muss.“

„Vor allem, weil man noch nicht weiß, worauf der Feind wirklich aus war“, meldete sich Miranda zu Wort. „Vielleicht war die Verteidigung dieser Stadt wichtiger, als wir bisher ahnen.“

„Sehr gut möglich“, pflichtete Linali ihr bei und Lavi begann wieder seinen Joghurt zu löffeln.

„Dieser Kerl“, murmelte er dabei grinsend. „Das sieht ihm so ähnlich. Muss sich immer hervorheben. Auch ohne Rückendeckung. Dieser Idiot kann froh sein, dass er in einem Stück zurückgekommen ist.“

„Mein Bruder gibt mir die Mission, zu der er nicht mehr kam“, sagte Linali kauend.

„Was? Wirklich?“ Lavi war sichtlich enttäuscht. „Heißt das, du musst bald wieder los?“

„Heute Abend.“

„Wie ärgerlich.“ Schon wurde eine Grimasse gezogen und endlich erwachte Bookman zum Leben.

„Die Arbeit als Exorzist wäre schön, wenn es die Missionen nicht gäbe“, murmelte er und runzelte die Stirn. „Nicht wahr?“

„Das sagte ich nicht“, murrte Lavi und sank unter einem Stöhnen in sich zusammen. „In letzter Zeit ist es nur so hektisch. Ich glaube, ich lasse mir die Rippen auch bald brechen.“

Ich hielt inne und bewegte den Windbeutel zwischen den Fingern. Lässig wurde in meine Richtung gestikuliert.

„Freizeit ist so schwer zu kriegen. Allen hat den Dreh raus.“

„Sag doch so etwas nicht.“ Ein mitfühlender Blick traf mich aus Linalis Richtung und schweigend versenkte ich den Windbeutel im Mund. „Du solltest es zu schätzen wissen, unverletzt zu sein.“

„Ich meine ja nur.“ Lavis Lamento ging in die nächste Runde. „Ein paar Beispiele. Miranda habe ich drei Wochen lang nicht gesehen, Crowley schon seit fast einem Monat nicht und Yu… fragt erst gar nicht.“

Hatten wir nicht vor.

Tief durchatmend griff ich nach meinem Saft.

„Dauernd bin ich nur mit dem Opa unterwe… au!“ Nach einem abrupten Zusammenzucken verschwand Lavis Hand unter dem Tisch, um das Bein zu reiben. Unbeteiligt nippte Bookman wieder an seinem Tee und Linali kam nicht um ein Schmunzeln.

„Er hat schon Recht“, machte Miranda wieder auf sich aufmerksam. „In letzter Zeit passiert soviel. Ulan Ude ist nur ein weiteres Beispiel.“

Ich hörte ihr kaum zu. Noch immer haftete meine Aufmerksamkeit auf Lavi.

„Wo finde ich die Urlaubs-Anträge?“ Müde sackte Miranda in sich zusammen und Linali legte den Kopf schief.

„Was für Anträge?“

„Oje.“ In einem plötzlichen Anfall von Panik rieb sich Miranda das Gesicht. „Was wird nur aus mir?“

„Warum bittest du meinen Bruder nicht einfach darum?“, versuchte Linali zu helfen aber wirklich fruchten tat es nicht.

„Was denkst du, wie oft ich das schon getan habe?“, kam die verzweifelte Antwort. „Das einzige, was er mir anbot, war eine Umarmung, durch die ich sofort neue Kraft bekommen würde.“

Verlegen rollte Linali mit den Augen.

Woher, fragte ich mich unterdessen, nahm Lavi diese Fähigkeiten.

Während das Frühstück genauso heiter und gesprächig fortgesetzt wurde, suchte ich nach der Antwort. Es war so einfach, Worte zu überdenken, bevor man sie aussprach aber vermutlich hatte ich kein Recht, mich darüber aufzuregen, denn letztlich wäre es genauso leicht, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen und ihm zu sagen, dass ich ihm die Brüche jederzeit abgeben würde und mit ihnen die wunderbare Freizeit. Aber ich tat es nicht.

Ich zeigte weder meinen Verdruss, noch ließ ich mich soweit durchschauen, dass man auch ohne meine Worte darauf schließen könnte.
 

Die Gelegenheit, soviel Gesellschaft zu bekommen, war selten und dennoch etwas, das ich nicht endlos nutzen wollte. Linali hätte ich weiter gerne um mich gehabt, wohl auch Miranda, nur die Gegenwart Bookmans hätte mich nervös gemacht. Seine Augen waren zu aufmerksam und ich tat immer gut daran, mich seinem durchdringenden Blick nie zu lange auszuliefern. Erst recht nicht in Momenten, in denen sich hinter meiner entspannten Fassade wirklich etwas verbarg, für das es sich lohnen würde, genauer hinzuschauen.

Also gab ich vor, ein Ziel zu haben, sobald ich mit dem Essen fertig war.

Linali hatte auch eines. Es war ihr Bett, während Miranda nach ihrem Kaffee schon auf dem Sprung zur nächsten Mission war. Auch Lavi und Bookman würden bald gehen, doch nicht schnell genug. Ich gab dem Rotschopf nicht die Gelegenheit, Fragen zu stellen und machte mich am Ende doch nur auf den Weg in die Wissenschaftsabteilung.

Dort gab es eigentlich immer etwas zu tun und endlich ließ man mich auch helfen.

Den ganzen Vormittag über sorgte ich in den Bücherregalen für Ordnung, überprüfte Bestandslisten und nahm es nicht so eng, wenn hie und da etwas fehlte. Häkchen und Kreuze waren schnell gesetzt und lange Zeit brachte ich damit zu, auf die Bücher zu starren und so zu tun, als würde ich mir über sie Gedanken machen. In der Wissenschaftsabteilung für Ordnung zu sorgen, war im Grunde sinnlos.

Es brauchte nur eine Erschütterung, nur einen Knall aus fragwürdigen Laboratorien Komuis und schon würden wieder alle Bücher auf dem Boden liegen. Bevor man sich dann darüber aufregte, machte man sich doch besser gar nicht erst die Mühe.

In den frühen Mittagsstunden nahm ich mir vor, Jerry einen Besuch abzustatten und mir ein ordentliches Essen zu gönnen.

Es war das erste Mal an diesem Tag, dass ich es eilig hatte, eine Aufgabe zu erfüllen oder dass ich überhaupt eine erfüllte.
 

Diesmal fand ich mich völlig ungestört über meinem Essen wieder. Ich musste niemandem zuhören, musste nicht reden, ließ es mir schmecken und nahm mir eine Menge Zeit, bevor ich in die Wissenschaftsabteilung und zu meinem fragwürdigen Fleiß zurückkehrte.

Zu tun gab es dort immer noch viel und kaum waren die Nachmittagsstunden angebrochen, leistete mir Lavi Gesellschaft.

Seine Anwesenheit war angenehm, wenn wir beide unsere Sinne auf etwas anderes zu lenken hatten und so blieb es bei Floskeln und irgendeinem Gerede, mit dem man sich die Zeit vertrieb. Er half auch etwas, räumte Bücher kreuz und quer durch den Saal und nahm sich irgendwann der Liste an, an der ich durch Faulheit gescheitert war.

Ihm war scheinbar langweilig. Er blieb bis zum nächsten Tag und zugegeben, ich fragte mich, was für einen Sinn seine Freizeit hatte, wenn er sie doch nur damit füllte, stöhnend umherzulaufen und Orte zu suchen, an denen man anpacken konnte.

Mit Dokumenten kannte er sich jedenfalls aus. Auch den Überblick fand er weitaus schneller und ich kam kaum hinterher, so schnell wie er die Bücher fand, die Listen abhakte und zum nächsten Regal schlenderte.

River war wieder aufgetaucht, so wach und enthusiastisch, wie man es nur selten erlebte. Seine Entschlossenheit sorgte für eine gewisse Hektik, unter der Johnny stöhnte. Die anderen Wissenschaftler ächzen im Papierkrieg und erst als Linali Kaffee brachte, wurde eine erleichterte Pause eingelegt.

Ich mochte diesen Tag.

Obwohl er so finster begann, wendete sich das Geschehen in den letzten Stunden zu angenehmen Augenblicken. Ich wurde nicht genötigt, etwas zu tun oder zu sagen. Es schien in Ordnung, dass ich einfach nur da war aber am Ende flossen die Worte zwischen Linali, Lavi und mir doch in Strömen.

Wir wussten, dass wir diese Tage zu schätzen hatten und wenn ich es einmal vergaß, wurde ich recht bald wieder daran erinnert. Die Gesellschaft würde schneller abnehmen, als ich es mir wünschte und das erste Mal seit langem begegnete ich all den Menschen mit einem ehrlichen Lächeln und einem klaren Lachen.

Vergessen waren die Dinge, die mich sonst frustrierten. All das verblasste, während sich die müde Atmosphäre der Wissenschaftsabteilung verwandelte. Von Arbeit war zumindest bei Lavi, Linali und mir bald nichts mehr zu sehen. Das überließen wir den anderen und machten uns in den frühen Abendstunden gemeinsam auf den Weg zum Essen.
 

Wir schlenderten gemütlich, noch immer in Gespräche vertieft und saßen wenig später vor unserem Abendbrot. Allmählich wurde es dann auch ruhiger zwischen uns. Lavi hatte seinen Mund den ganzen Tag über nicht im Zaum halten können. Wenn es möglich war, sich müde zu reden, saß das beste Beispiel mir gegenüber. Er rührte in einem Milchreis, während Linali eine Suppe löffelte und auch ich befasste mich mit meinen Tellern, Schälchen und Gläsern.

Ich entschied mich, nach dem Abendessen gleich schlafen zu gehen. Keine schlechte Strategie, wie mir auffiel, als ich in einem Steak stocherte. Auf diese Weise käme der nächste Tag schneller und so auch die nächste Mission. Als wäre mein Körper meiner Meinung, brach das eine oder andere Gähnen über mich herein. Lavi schloss sich mir an.

„Warum merke ich immer zu spät, dass ich hätte schlafen sollen?“ Er rieb sich die Stirn. „Soviel wie heute habe ich noch nie geholfen.“

„Ich fand es schön“, erwiderte Linali. „Wir haben so selten Zeit, etwas zusammen zu machen. Ich habe diesen Tag genossen.“

„Bist du nicht zu müde, um jetzt auf Mission zu gehen?“ Lavi machte sich wie immer Sorgen und ich schob mich unauffällig in die Position des schweigsamen Beobachters.

„Ich habe schon darauf geachtet, dass ich mich nicht übernehme“, beruhigte Linali den Rothaarigen. „Außerdem steht mir eine so lange Reise bevor, dass ich auch noch genug Zeit zum schlafen hätte.“

„Na dann.“ Seufzend begann Lavi wieder in seinem Milchreis zu rühren. „Dann pass auf dich auf und komm heil zurück.“

„Mach dir da mal keine Sorgen.“

„Das sagst du so leicht. Yu kriegt mitunter die härtesten Missionen. Eine von ihm zu übernehmen, ist keine einfache Sache.“

„Es ist nur ein Erkundungsgang“, bemerkte Linali Stirnrunzelnd und als hätte ich es geahnt, gestikulierte Lavi mit seinem Löffel.

„Das sind die Schlimmsten von allen“, sagte er. „Was bei diesen Erkundungsgängen manchmal herauskommt, ist nicht ohne.“

Kopfschüttelnd griff ich nach dem Saft. Missionen nach Schwierigkeitsgrad einzuordnen, schaffte nur er. Als könne man ahnen, was auf einen zukam. Wir allen waren schon mehr als einmal überrascht worden.

„Warum schüttelst du den Kopf?“

„Hm?“ Abrupt blickte ich auf und traf auf Linalis fragenden Blick. Ebenso fragend erwiderte ich ihn, während ich mich ohrfeigen wollte. Ich musste mich nicht wundern, wenn mir andauernd unangenehme Fragen gestellt wurden. Dieses Kopfschütteln hätte nicht sein müssen und so kreiste ich mit den Augen und grübelte. Mir kam etwas in den Sinn und sofort sprach ich es aus.

„Ich frage mich nur, wie lange Kanda noch schlafen will.“

Sofort grinste Lavi. Linali lächelte und auch ich freute mich. Die Aufmerksamkeit wurde umgelenkt und so konnte ich ungestört weiter essen, während sich die beiden auf diesen Punkt stürzten.

„Es stimmt schon“, meinte Linali und bewegte den Löffel in der Brühe. „So lange schlafen zu können, ist eine Gabe.“

„Wird wohl viel Kraft aufzutanken haben, um liebreizend wie immer zu sein.“ Mit verschmitzt verengtem Auge sah Lavi mich an. „Das muss doch anstrengend sein.“

Dazu brauchte ich nur mit den Schultern zu zucken und sofort wandten sich die beiden aneinander.

„Ich habe gehört, das soll seine vierte Mission gewesen sein“, murmelte Lavi und ließ den Brei vom Löffel tropfen. „Komui ist gnadenlos.“

„Wenn Kanda müde ist, würde er es doch sagen“, erwiderte Linali sofort. „Mein Bruder würde ihn nie losschicken, wenn er erschöpft wäre.“

Ebenso wenig wie Kanda diese Erschöpfung zugeben würde oder noch weniger?

Nur kurz blickte ich auf, bevor ich eine Schale mit Apfelmus zu mir zog.

„Ach, Allen.“ Schon wandte sich Lavi wieder an mich. „Wie war es eigentlich in Japan? Du warst doch auch mit Crowley dort, nicht?“

Ich nickte nur.

Ja, Japan.

Wie war es dort gewesen?

Wenn ich meine Gedanken zu dieser vergangenen Mission in Worte fassen würde, wäre ich wohl dazu imstande, stundenlang zu philosophieren.

„Es ging schnell“, sagte ich dann nur. „Es wurde nicht wirklich gefährlich.“

„Ihr sollt das Innocence aus einem Grab geholt haben.“ Dazu schnitt Lavi eine Grimasse und Stirnrunzelnd hielt ich inne. Woher wusste er das jetzt schon wieder?

„Auf solche Missionen kann ich verzichten.“ Der Rotschopf erschauderte offensichtlich.

Linali gab ein leises Seufzen dazu. „Ich hätte dabei kein gutes Gefühl.“

„Ich auch nicht. Ist doch gruselig.“

„Ich meinte die Totenruhe“, empörte sich Linali aber Lavi zuckte nur mit den Schultern.

Seufzend begann Linali wieder zu löffeln. Die darauffolgende Stille war kurz. Lavi schien der Appetit vergangen zu sein. Seine Nase rümpfte sich, er grübelte und kurz darauf grinste er schon wieder.

„Yu ist schon der Richtige für diese bösen Grab-aufbrech-Sachen.“ Er nahm mich verschmitzt in Augenschein. „Er ist so entzückend gnadenlos.“

Ich hob die Brauen und ließ die Gabel sinken. Gerade war sie noch auf dem Weg zum Mund gewesen.

„So traurig es auch ist“, fügte Linali hinzu. „Durch so etwas darf man sich nicht aufhalten lassen.“

„Als ob Yu so etwas aufhalten würde.“

Ein leichtes Schmunzeln umspielte meine Mundwinkel, vertiefte sich bis meine grinsenden Lippen nach der Gabel schnappten. Es tat so gut.

„Warum grinst du?“, fragte Lavi sofort und kurz erwiderte ich den fragenden Blick.

Ich tat es überlegen, ohne dass er es wusste.

Dieses Geheimnis gehörte mir. Unter keinen Umständen würde ich es über die Lippen bringen.

Es war mir zu heilig.

„Okinawa war schön“, erwiderte ich so nur, schmunzelte weiter und dachte an ganz andere Dinge. „Und japanisches Essen ist auch ziemlich gut.“

„Japanische Frauen sind toll.“ Lavis Auge wurde groß und ohne, dass Linali irgendwie darauf reagiert hätte, fuhr er zu ihr herum. „Ich meine damit nicht, dass andere Frauen nicht toll sind!“, verbesserte er sich und als ich die dunkle Wolke dieser Peinlichkeit deutlich roch, legte Linali nur den Kopf schief.

„Wie bitte? Ich habe gerade nicht zugehört. Tut mir Leid.“

„Ach.“ Unter einem nervösen Lachen kratzte sich Lavi im Schopf. „Schon gut.“

So wurde dieses Gespräch weitergeführt, bis der Moment des Abschiedes kam. Seufzend erhob sich Linali, stieg über die Bank und nahm ihre leere Suppenschale an sich. Lächelnd blickte sie in die Runde und ich kauend auf.

„Ich mache mich auf den Weg“, verkündete sie und grinsend winkte Lavi.

„Du schaffst das!“

„Ich gebe mein Bestes.“ Sie griff auch nach dem Besteck. „Wir sehen uns in ein paar Tagen.“

„Alles klar!“ Lavis Daumen reckte sich und auch ich schenkte ihr ein Lächeln.

„Viel Glück.“

„Danke. Macht’s gut.“ Somit machte sie sich auf den Weg und während ich weiter aß, blickte Lavi ihr nach.

„Russland“, murrte er, als er sich mir wieder zuwandte. „Dort muss es doch eisig kalt sein.“

„Genauso kalt wie in den meisten Gebieten der Erde“, murmelte ich und rührte in einem Pudding. „Die neue Uniform wird langsam unerlässlich.“

„Da sagst du was.“ Der Löffel kratzte über den Boden der Schale. Der Milchreis war alle und seufzend griff Lavi nach seinem Glas. „Sag mal, ist meine Uniform immer die einzige, bei der die Schulternähte kratzen?“

„Scheint so.“

Kopfschüttelnd leerte er das Glas, atmete tief durch und machte sich ebenfalls daran, auf die Beine zu kommen. „Na dann, Allen. Ich werde mir noch ein paar Stunden Schlaf ergattern. Habe einiges nachzuholen.“

„Tu das.“ In das Essen vertieft winkte ich ihm mit der Gabel und lange hörte ich noch sein Seufzen, bevor er den Saal verließ.

Ich leerte die letzten Schüsseln, befreite den letzten Teller von seiner Last und machte mich dann daran, mein Geschirr zurückzubringen. Flink rutschten meine Hände in die Hosentaschen, bequem wandte ich mich ab und kam kaum zum zweiten Schritt, als sich hinter mir eine Stimme erhob.

„Allen Schätzchen, warte!“ Es war Jerry, der aus der Küche stürmte.

Er winkte mich zurück zur Theke und kaum hatte ich sie erreicht, da musterte er mich mit flehenden Augen.

„Allen“, seufzte er wieder. „Du würdest mir doch einen Gefallen tun, oder?“

Als ich nickte, winkte er mich mit einem Anflug von Heimlichtuerei noch näher.

Das gefiel mir und schon steckten wir die Köpfe zusammen.

„In den späten Mittagsstunden war Kanda hier“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand.

„Sieh an.“

„Es war furchtbar und seine Schönheit fast dahin. Kaum saß er am Tisch, da wäre er fast eingeschlafen und mit dem Gesicht in die Nudeln gefallen. Es hätte ihm nicht gestanden.“

Ich hob die Brauen und sah ihn verschmitzt grinsen.

Wie schade. Hätte ich mich nicht all dem Fleiß hingegeben, hätte ich es vielleicht gesehen. Es wäre ein weiterer ungewohnter Anblick gewesen, den ich in die fast leere und neue Schublade hätte stecken können. In das Fach, in dem alles landete, was ich seit kurzem mit Kanda erlebte.

„Ich habe ihn zurück ins Bett geschickt und ihm versprochen, ihm eine Kleinigkeit zu bringen. Das Problem ist, dass ich soviel zu tun habe.“ Plötzlich ließ sich Jerry zurückrutschen, begann zu seufzen und zu jammern. „In der Küche ist die Hölle los. Da ist man einmal für wenige Stunden weg und schon geht alles drunter und drüber!“

Das hatte ich mitbekommen.

Stirnrunzelnd stemmte ich mich auf die Ellbogen und verfolgte, wie Jerry die Hände über dem Kopf zusammenschlug.

„Ich habe kaum Zeit, Kanda einen Besuch abzustatten aber noch mehr Angst davor, mein erstes Ehrenwort zu brechen. Und stell dir vor, nicht einmal die Finder haben Zeit. Alle sind heute so beschäftigt. Was ist nur los mit dieser Welt?“

Ich begegnete ihm mit einem knappen Grinsen.

Jerry wunderte sich doch nicht wirklich darüber.

Nein. Kurz darauf grinste auch er.

„Wie sieht‘s aus? Traust du dich in die Höhle des Löwen?“

Seit geraumer Zeit musste man mich nicht mehr zu Kontakt mit Kanda zwingen. Es hatte sich zu einem Ding entwickelt, das ich jederzeit freiwillig auf mich nahm, um den scheinbar rüden Charakter des Japaners weiterhin zu erforschen.

Dennoch hatte ich vorsichtig zu sein, also täuschte ich ein Grübeln vor.

Gerade von mir erwartete wohl keiner, dass ich sofort und heiter zustimmte. Ich hatte mir Zeit zu lassen und während ich mir den Moment, in welchem ich vor jener Tür stand, bereits ausmalte, verfolgte Jerry jede meiner Regungen angespannt. Und ich grübelte weiter und stieß unterdessen ein Seufzen aus, um die Sache glaubwürdiger zu gestalten.

Ich hatte noch nie an jener Tür geklopft, noch nie vor ihr gestanden.

Und ich mochte diese Zufälle, die mich immer wieder zu ihm führten.

„Sagen wir, ich mache es, wenn“, ich rieb mein Kinn und erwiderte Jerrys Blick lauernd, „ich morgen früh Schoko-Donuts kriege?“

„Alles was du willst, Schätzchen! So viele du magst!“

„Kriege ich zwanzig?“

„Du kriegst auch dreißig!“

„Wer soll denn soviel essen?“ Kritisch stieß ich mich vom Tresen ab. „Was soll ich ihm bringen?“

„Einen Moment!“ Schon stürzte Jerry in die Küche zurück. „Ich werde es sofort fertig machen!“

„Keine Eile.“ Behaglich verschränkte ich die Arme und ergab mich einem Gähnen.

Ich konnte warten und die Donuts waren mir sicher.

Genau wie die Tatsache, dass ich Kanda heute noch zu Gesicht bekommen würde.

Irgendwie fehlte er schon. Der Tag war ohne seine Anwesenheit einfach anders gewesen.

Es wurde Zeit, dass er endlich wieder auf die Beine kam.
 

-tbc-

13

Nur wenige Minuten später war ich auf dem Weg. Auf dem Unterarm ein Tablett und den würzigen Geruch der Nudeln in der Nase, zog ich durch die Gänge und hatte dabei auch auf den Becher zu achten. In ihm war nur Wasser aber unter meinem anderen Arm klemmte noch ein Fläschchen Tee.

Der Gang zu jener Tür - schon er war ungewohnt.

Kurz darauf erreichte ich auch schon das Ziel, rückte das Tablett auf meinem Unterarm zurecht, raffte die Flasche höher und hob die Hand. Ich klopfte an und ich tat es laut, bevor ich die Wangen aufblähte. Flüchtig spähte ich nach links, spähte nach rechts und bald zurück zur Tür. Ich war geduldig und wartete lange, konzentriert lauschend, doch es tat sich nichts, also klopfte ich erneut. Diesmal lauter und energischer, um sicherzugehen.

Wenn er das nicht hörte, dann war er tot und hatte er es gehört, dann war er sauer.

Wieder wartete ich und lauschte und bald darauf kratzte wirklich die Türklinke und dann wurde mir geöffnet.

Nur langsam und genauso erschien dann auch Kanda vor mir.

Sein Gesicht zeugte davon, dass er gerade noch schlief. Außerdem auch davon, dass er mich nicht erwartete und sein anhaltend schlummernder Kopf ihm die Auffassungsgabe versagte.

Erwartet hätte ich mich auch nicht und anstatt auf das Tablett aufmerksam zu werden, gab er sich damit zufrieden, mich anzustarren und seine mangelnde Begeisterung über diese Störung zum Ausdruck zu bringen. Erst als ich mit einem Nicken auf mein Mitbringsel wies, begriff er es. Seine dunklen Augen senkten sich zum Tablett, während seine Hand müde den Weg zum Bauch fand und den Stoff des schlichten Hemdes kratzte.

„Mit besten Grüßen von Jerry.“

Es war ein angenehmer Moment. Nicht zuletzt, weil sein Zustand ihm jedes beleidigende Wort verbot. Trotz meiner aufopferungsvollen Art wäre er bestimmt dazu imstande gewesen aber er war nicht einmal zu einem Brummen imstande und öffnete die Tür weiter, als ich ihm das Tablett reichte.

Er trat einen Schritt in den Gang und kaum spürte ich, wie das Gewicht von meinem Arm gehoben wurde, da wurden meine Augen von dem kleinen Spalt gelockt.

Dort, direkt neben ihm und geradlinig erblickte ich sein Zimmer.

In der Abenddämmerung lag es deutlich vor mir, doch es blieben nur wenige Augenblicke.

Meine Wissbegier durfte nicht auffällig sein und beiläufig reichte ich ihm auch die Flasche.

Es war ein Schrank, den ich sah. Ein verschiedenfarbiges, wenn auch leicht kaputtes Fenster und einen schlichten Tisch. Nur zwei Sekunden blieben mir, um auch eine Lotusblüte zu erkennen. Dort, hinter dem sauberen Glas einer kunstvollen Sanduhr und kaum hatte sie mein Interesse geweckt, da trat Kanda schon zurück. Das Tablett auf die Hüfte gestützt, zog er die Tür mit der Schulter herum. Sie neigte sich in mein Blickfeld und gerade gelang es mir noch, zu winken, bevor er hinter der Tür verschwand und sie in ihr Schloss zurückdrängte.

Schon stand ich wieder alleine dort.

Tief atmete ich ein, ließ mich von dem Geräusch der Flügelschläge locken und spähte zur Seite. Tim schien es eilig zu haben. Er bewegte sich schon vor meiner Tür und ein letztes Mal blickte ich zu der anderen, bevor ich mich abwandte.

Ich ertappte mich bei Grübeleien, als ich in mein Zimmer trat und gedankenverloren aus den Schuhen schlüpfte.

Diese Blüte. Kandas Raum hatte etwas karg gewirkt, und umso seltsamer war die Anwesenheit dieses Lotus’.

Dieser Raum passte zu Kanda, denn er wirkte wie sein Charakter.

Nüchtern, geradlinig und ordentlich. Nur diese Blüte versteckte sich wie eine verborgene Facette seiner Persönlichkeit.

Ein außergewöhnlich schöner Punkt inmitten dieser rationalen Umgebung.

Wirklich interessant.

Kopfschüttelnd sank ich in mein Bett, tastete nach der Decke und streifte sie über mich.

Die düsteren Befürchtungen hielten sich fern. Die vergangenen Nächte hatten mir gut getan.

Das nicht zu unterschätzende Gewicht Timcanpy’s verlagerte sich kurz darauf auf meinen Bauch. Allmählich war er etwas zu schwer dafür und so drehte ich mich auf die Seite und ließ ihn hinab rutschen.

Der Tag, der hinter mir lag, hatte schlecht begonnen und gut geendet.

Es gab sie noch, die Wendungen, auf die ich nicht mehr zu hoffen wagte.

Um mich herum herrschte Stille und wie genoss ich sie. Schwer neigte sich die Müdigkeit über mich und ich ergab mich einem Gähnen, bevor ich die Decke höher streifte. Ein letztes Mal bewegte ich mich, zog die Arme an meinen Leib und dann wurde es dunkel.

Schwer wallte die Finsternis um mich. Dumpf offenbarte sie sich in ihrem stickigen Gewicht. Schwerer als jede Last, undurchsichtiger als der düsterste Schacht. Trübe betrachtete ich mir die tiefen Schatten.

Es war schön hier, in meiner heilen Welt.

Hier gab es nichts und wie spürte ich die Wärme zu meinen Füßen, in jeder Faser meines Körpers, als durchflutete sie mich.

Trunken bewegte ich mich in meiner Welt, einem nicht existierenden Pfad folgend, ohne Ziel und Sinn.

Kein Weg zu meinen Füßen, kein Himmel über mir, auch kein weit entfernter Horizont, dem ich entgegen strebte.

Nur niemals stehenbleiben.

Taub und blind entfernte ich mich so von meinem Ausgangspunkt. Keinen anderen schien es zu geben und doch unzählige von ihnen, die weiterführten und viel versprachen.

‚Hier gibt es nichts’, sagte ich mir.

Nichts, das schmerzte. Nichts, das bekämpft werden musste.

Langsam hob ich die Arme, streckte sie von mir und durchstreifte mit den Händen das Nichts.

Wie leicht fühlte ich mich in diesen Augenblicken, bis mich geradewegs aus dem Nichts eine Brise erreichte.

Ein kühler Luftzug, unter dem ich blinzelte.

Woher kam er?

Wie hatte er mich gefunden?

In meinem Nichts konnte nichts auferstehen und nichts leben und doch erreichte er mich abermals und wie der Hauch eines nahen Sommers. Kühl, wie der letzte Bote des Winters und doch duftend wie die Blumen, die sich durch die dünne, zurückbleibende Eisschicht kämpften. Kitzelnd streiften die Strähnen meine Stirn und leise knirschte es unter meinen Füßen, als ich mich umdrehte. Der Luftströmung folgend, die sich diesmal gegen meinen Rücken drängte.

Nur kurz blickte ich in das horizontlose Bild, achtete kaum auf das weitere Knirschen unter meinen Füßen.

Ich spürte Unebenheiten unter meinen Fußsohlen. Bislang war der Boden eben gewesen, ohne jeden Makel, glatt und angenehm. Nicht so wie dieses Mal, doch ich dachte nicht daran, den Blick zu senken. Dachte nicht daran, zu überprüfen, woran es keinen Zweifel gab.

Es war wie immer, denn es war noch nie anders gewesen. Und doch erfasste mich dieser Windhauch erneut, umspielte mich und summte in meinen Ohren.

Was war das für ein Ton?

Langsam legte ich den Kopf schief, setzte mich in Bewegung, folgte dem Summen des Windes in eine mir unbekannte Richtung.

Das Knirschen begleitete jeden meiner bedächtigen Schritte, während ich die Hände in dem Zug bewegte, der sich zu einem permanenten, leichten Wind zu entwickeln schien. Seltsam. Wie kalt er war und wie er mich frösteln ließ.

Hier in meiner Welt hatte ich mich nie an etwas gestört und umso aufmerksamer erforschten meine Augen das Nichts.

Etwas schien aus ihm zu mir zu dringen, mich zu erreichen und nur beiläufig drang in meine verschwommene Wahrnehmung, wie sich das Knirschen unter meinen Füßen verstärkte. Es klang hohl, trocken, und leicht sank mein Fuß bei dem nächsten Schritt in den Untergrund. Der Boden schien nachzugeben, doch gegensätzlich ging ich nur schneller, als befände ich mich auf einer Verfolgung, um etwas zu sehen, das sich nicht greifen ließ, das nicht vorhanden war und auch gar nicht vorhanden sein konnte.

Ich schrieb die Gesetze dieser Welt.

Sie gehörte mir.

Sie wurde durch meinen Willen geformt und umso bedrohlicher war der Wind, der mir mit jedem Schritt mächtiger entgegen stieß, mich fernzuhalten schien.

Was geschah hier?

Meine Schritte wurden schneller, knirschend sanken meine Füße ein und ich spürte, wie sich mein Atem vertiefte. Gierig nahm ich die Luft in mir auf, labte ich mich an ihr, während ich blinzelte, den Kopf wendete, bald die rechte Hand hob und sie der Finsternis entgegenstreckte. Etwas stimmte nicht mit der Kälte. Auch mit dem Weg.

Etwas rief mich, lechzte nach meiner Beachtung. Es schien der pure Instinkt, der mich lenkte und abrupt hielt ich inne, als mein Fuß noch tiefer sank und spitze Kanten einen seltsamen Schmerz in ihm hervorriefen. Ein letztes Mal schöpfte ich tiefen Atem, bevor ich den Blick zum Boden senkte.

Es war dunkel zu meinen Füßen, so undurchsichtig und eine leichte Bewegung genügte, um es erneut knirschen und knacken zu lassen. Langsam bewegte sich meine rechte Hand in mein Blickfeld. Sie neigte sich gen Boden, ihre Finger streckten sich ihm entgegen und langsam ging ich in die Knie, um zu ertasten, was sich vor meinen Augen verbarg.

Stetig umspielte mich noch immer dieser Wind, als ich den Arm streckte und auf eine bizarre, raue Fläche traf. Trocken, hart, und vorsichtig tastete ich mich weiter, spürte Risse im Untergrund, eine Wölbung, in der ich die Finger versenkte. Meine Augen verengten sich, drifteten zur Seite, doch völlig blind, was den Boden anbelangte. Wäre es doch heller.

Abrupt hielt ich inne.

Ich war doch der Herr über diese Welt.

Sie war so ruhig, wie ich wollte. So weit, wie ich wollte.

So hell, wie ich wollte.

Und augenblicklich brach gleißend das Licht aus dem Boden und blendete meine Augen.

Kein Trug.

Vorsichtig blinzelte ich, bereit, mich dem Bild zu stellen und starrte auf meine Finger, die sich in den Augenhöhlen eines Totenkopfes versenkt hatten.

Das fahrige Ringen nach Atem drang an meine Ohren, als ich herum schnellte und mit geweiteten Augen auf das Meer aus Gebeinen und Skeletten starrte, das sich zu meinen Füßen erstreckte. So unendlich weit. Die blanken Rippen ragten bis zum finsteren Horizont in die Höhe und erstickt erhob sich mein Ächzen, als ich die Hand von jenem Schädel löste.

So übereilt, so überstürzt, dass mein Fuß durch die Schädeldecke eines weiteren Kopfes brach. Knirschend gab der Knochen nach, haltlos sank ich tiefer und raschelnd bewegten sich die Gebeine unter den stolpernden Schritten, unter denen ich zurückwich und doch nur hinein in weitere Knochen.

Umso eisiger erfasste mich auch jener kalte Wind und wie hektisch bettete ich die Hände auf den Ohren und schloss die Augen.

Es war nicht die Wirklichkeit!

Nichts, was ich hier sah, war wirklich!

Der Wind verstärkte sich. Lauter und lauter dröhnte er in meinen Ohren und gellend trug er eine Stimme zu mir und tief in mich hinein. Einen Schrei, so laut, so stimmlos und doch so bekannt, dass ich mit einem Mal in die Höhe fuhr und in das pechschwarze Nichts starrte, das sich über mir erstreckte.

Ich achtete kaum noch auf das Knirschen und Knacken.

Ebenso wenig auf die Schmerzen, als sich splitternde Knochen in meine Füße bohrten.

Linali!

Sie hatte meinen Namen geschrien!

Wo war sie?

Gehetzt rang ich nach Luft, um zu antworten, sie zu rufen, sie zu finden, doch so sehr ich auch den Atem hervor presste, kein Laut kam über meine Lippen. Schmerzhaft raste der Puls in meinem Kopf. Ich spürte jeden Schlag meines Herzens und fuhr unter dem ohrenbetäubenden Schall einer weiteren Stimme zur anderen Seite herum. So laut.

Lavi! Crowley! Sie alle!

Blind setzte ich mich in Bewegung, begann zu rennen, gehetzt und röchelnd einfach drauf los.

Wo waren sie?!

Sie brauchten mich.

Jeder Schmerz, jeder Knochensplitter, der sich durch meine Haut bohrte, hielt mich nicht auf und kopflos rannte ich weiter, versuchte zu rufen und erschauderte unter meinen stummen Schreien.

Sie hörten mich nicht!

Woher sollten sie wissen, dass ich kam?!

Ich war auf dem Weg zu ihnen!

Und fortwährend erhob es sich weiterhin - ihr Flehen, Klagen, ihre Schmerzensschreie.

Sie starben!

Starben irgendwo an einem Ort, an den ich nicht gelangen konnte!

Sengend heiß spürte ich den Schweiß auf meinem Gesicht, die feurige Hitze meines Körpers, die sich gegen die eisige Kälte des Windes zur Wehr setzte.

Stechend lebte ein abrupter Gedanke in meinem Kopf auf.

Ich war mächtig! Ich besaß Macht.

Mein Arm besaß sie.

Mein Arm würde sie retten und sofort ballte ich die linke Hand zur Faust. Mein Wille erfasste das Gefühl des Innocence’, augenblicklich ließ ich es erwachen und der nächste, laute Schrei brach aus mir heraus, als ich den Arm nach vorne riss.

Ich würde die Finsternis zerreißen, würde meine Kameraden retten! Mit diesem Arm!

Und vor Entsetzen vereiste der Atem in meiner Lunge, als ich die rosige Haut erblickte, die diesen Arm überzog.

Es war eine menschliche Hand, die sich machtlos streckte. Ich begann zu stolpern, bis ins Tiefste fassungslos und ungebremst sank mein Fuß bei dem nächsten Schritt in den Untergrund. Es riss mich hinab, riss mich zu Boden und schmerzhaft traf mein Kopf auf einen festen Widerstand.

Laut schallte mein trockenes Ächzen und Röcheln wider, als ich mich benommen räkelte, mich wand und krümmte. Es war ein Moment, der mich taub werden ließ, den eisigen Wind aus meiner Wahrnehmung riss, die Schmerzen meiner Füße erstickte und den ersten Atemzug, den ich imstande war, in mir aufzunehmen, presste ich unter einem gellenden Schrei wieder hervor.

Sofort riss ich auch die Augen auf, zitternd fanden meine Hände Halt und abrupt fuhr ich in die Höhe, doch meinen geweiteten Augen bot sich nur ein bekanntes Fenster, hinter dem die Sonne aufging. Ächzend fuhr ich herum und starrte auf das Bett, das sich neben mir erhob.

Ich war zu Boden gestürzt, kauerte inmitten meines Zimmers und fühlte mich doch nicht, als wäre ich wirklich hier.

Ich zitterte.

Der fieberhafte Atem in meiner Lunge und ein aufkeimender Druck in meinem Hals ließen mich unter einem trockenen Husten in mich zusammensinken. Ich hustete, röchelte, spürte, wie sich mein Hals verengte und währenddessen nur gedämpft das peinigende Pochen meiner Rippen. Alles in mir quälte sich, alles in mir krampfte und wie dumpf ging kurz darauf meine linke Hand auf den Boden nieder.

Mit zusammengebissenen Zähnen hob ich den Kopf.

Ich musste es sehen! Ich musste mir sicher sein, doch es war eine pechschwarze Hand, die sich auf den steinernen Boden stemmte. Ein verfluchter Arm, ein mächtiger Arm!

War ich zurück?

War es vorbei?

Hektisch zog ich die Nase hoch, presste die Lippen aufeinander und zwinkerte unter den Strähnen, die im Schweiß meiner Stirn hafteten. Das Flattern des Golems drang kaum zu mir, als ich mich stockend und ungeschickt zu regen begann.

Es war die Realität. Sie musste es sein.
 

Matt tastete sich meine Hand an der Wand entlang und ungelenk folgten ihr meine Schritte.

Ich konnte mich nicht verstellen, ich dachte nicht einmal daran und bisher umgab mich das Hauptquartier still und leblos. Keine Augen, keine Aufmerksamkeit und erschöpft quälte ich mich Schritt um Schritt, quälte mich weiter und von Gang zu Gang.

Meine Knie waren so weich, mein Gesicht eiskalt und nass. Ich war noch immer benommen, nicht ich selbst und doch das Sinnbild meines bodenlosen, finsteren Abgrundes.

Verbittert presste ich die Lippen aufeinander und schob mich um eine Ecke. Dort.

Meine Augen weiteten sich, als sie das Ziel erspähten. Ich streckte die Hand, strauchelte dieser Tür entgegen, riss sie auf und schob mich hastig an ihr vorbei.

Die Duschen.

Meine Augen suchten nach ihnen, suchten nach dem kleinen Durchgang, der vom Bad aus zu ihnen führte und unter einem Stich in meiner Herzgegend versagte mein Atem.

Den Spiegeln zugewandt saß er dort im Schneidersitz auf einem Hocker und seine dunklen Augen waren so aufmerksam, so durchdringend auf mich gerichtet, dass sich das Schicksal spätestens zu diesem Zeitpunkt als erbarmungsloser Tyrann offenbarte.

Kanda.

Er sah mich an. Nur wenige Momente länger als er es sonst tat, während Jonny hinter ihm stand und eine Schere zwischen den Fingern bewegte. Eine der langen, schwarzen Strähnen lag bereits in seiner Hand und seine Mimik offenbarte so eine angespannte Konzentration, dass mich seine Aufmerksamkeit nur kurz streifte. Beiläufig und viel zu oberflächlich, um ihn innehalten zu lassen.

Noch immer war ich zu keiner Regung imstande. Die Bewegung, in der er die Schere zum kurzen Gruß hob, lief wie in Zeitlupe vor meinen geweiteten Augen ab.

„Einen wunderschönen guten Morgen.“

Kaum erreichte mich Johnnys Stimme, denn noch immer waren diese Augen auf mich gerichtet. Weitere Augenblicke. Wahrscheinlich nur wenige, bevor sich Kanda wieder den Spiegeln zuwandte.

„Wehe, du schneidest zu viel ab“, erhob sich seine Stimme und ich nutzte den Moment, in dem sich der Wissenschaftler nervös die Lippen leckte. Fast fliehend bewegte ich mich an den beiden vorbei und nur andeutungsweise bemerkte ich, wie Jonny erneut zu mir spähte, bevor ich im Duschraum verschwand.

„So früh so in Eile“, hörte ich dann sein Seufzen. „Er legt viel Wert auf Körperpflege.“

„Ich lege viel Wert darauf, dass du dich auf meine Haare konzentrierst.“

„Keine Sorge.“ Wieder seufzte Jonny. „Was soll man schon falsch machen bei den Spitzen?“

„Das will ich nicht herausfinden.“

Die Duschen.

Sehnsüchtig blickte ich ihnen entgegen, wand mich schon auf dem Weg zu einer von ihnen aus meinem Hemd. Nur schwerlich war mein Atem zu unterdrücken, ebenso schwer taten sich meine Finger, den Knopf der Hose zu ertasten und dann rutschte auch sie zu Boden. Eilig bekam ich den Wasserhahn zu fassen und riss ihn herum und wie ächzte ich unter dem kalten Wasser, das auf mich niederprasselte.

Es war der nötige Schock, der mich endgültig in die Realität finden ließ.

Ich spürte ihn wieder - meinen Körper.

Von dem Hahn sank meine Hand gegen die Fliesen der Wand. Auch die andere bettete sich auf ihnen und dumpf folgte meine Stirn. Es tat so gut, es tat so weh, doch es half.

Jeden Zentimeter meiner Haut nahm ich wahr und weiterhin lehnte ich nur an der Wand, bis das Wasser wärmer wurde, noch wärmer, und heiß. Dann tastete ich mich hinab und kauerte kurz darauf auf den Fliesen, zog die Knie zu mir und umschloss meine Beine mit den Armen.

Der warme Wasserdampf stieg mir stickig entgegen, entlockte mir ein Husten, unter dem ich die Stirn auf die Knie sinken ließ.

Der Alp.

Nicht immer begegnete er mir in seiner wahren Gestalt. Nicht immer versuchte er mich mit seinem Leib zu erdrücken, sondern vielmehr mit schaurigen Bildern, die mir vor Augen führten, was meine Seele am meisten fürchtete. Als würde er mich besser kennen, als ich es selbst tat.

Er wusste, was er mir zu zeigen hatte.

Wie ich ihn hasste, wie ich ihn verachtete.

Weiterhin hockte ich reglos dort, zusammengesunken dem Prasseln und Rauschen des Wassers zuhörend. Doch nicht nur diese Laute drangen an meine Ohren. Auch andere, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte.

„Das sind nicht die Spitzen.“

Es war Kandas Stimme, die das Gefühl der Wirklichkeit vertiefte und mir gut tat.

Zu wissen, dass er in der Nähe war, war wie ein Rettungsseil, nach dem ich sofort griff.

Langsam drehte ich den Kopf und bettete die Wange auf den Knien, um mir das Zuhören zu erleichtern. Mit geschlossenen Augen lauschte ich und genoss das Kribbeln, das sich unter dem Wasserschauer über meinen Rücken zog.

„Was sind denn 'nur die Spitzen'?“ Jonny klang irritiert. „Ein bisschen was muss ich schon wegschneiden. Mehr als beim letzten Mal wird es nicht und da warst du zufrieden. Bitte nicht so zappeln.“

„Ich zapple nicht.“

„Vertrau mir doch einfach.“ Ein Seufzen schallte in den Waschräumen. „Ich mache es schon richtig. Warte, ich zeige es dir.“ Eine kurze Stille folgte, das Rauschen gewann die Oberhand und konzentriert nahm ich das baldige Brummen wahr. „Soviel?“

„Mm.“

„Na also.“
 

Es wurde besser.

Meine Muskeln schienen sich zu lockern, mein Atem sich zu legen und irgendwann kauerte ich dort und war nur noch erschöpft.

Mein Mund wollte nicht sprechen, meine Augen nicht sehen und ich hatte nicht einmal bemerkt, wie die Stimmen im Nebenraum verstummten.

Es herrschte Stille und kaum wurde ich mir dieser Tatsache bewusst, da erhoben sich Schritte und brachten mich dazu, die Lider zu heben. Ich hatte vorsichtig zu sein. Vor allem jetzt und in meinem Zustand, der nicht für jede Augen bestimmt war.

Jemand betrat den Raum, doch mein Körper reagierte nicht auf ihn, zwang sich keine Haltung auf, kein trügerisches Zeichen von Stärke.

Das Erscheinen jenes jungen Mannes alarmierte ihn nicht und zermürbt verharrte ich in meiner kleinen, unauffälligen Haltung, als Kanda die hölzernen Bänke erreichte. Das Werk schien vollbracht und so verfolgte ich, wie er aus seinen Schuhen schlüpfte und sich das Hemd über den Kopf streifte.

Er kehrte mir den Rücken.

Vermutlich hatte er mir nicht einmal einen Blick geschickt und auch weiterhin existierte keine Aufmerksamkeit.

Während er zu einer der Duschen ging, fuhr er sich durch das Haar, zog es sich über die Schulter, zupfte hier und dort und betätigte kurz darauf den Hahn.

Was war es, fragte ich mich, als er das Gesicht in den Strahl hob.

Was brachte mich dazu, mich hier und jetzt so zu zeigen, wie ich war?

Ich könnte aufstehen und meine letzten Kräfte einsetzen, um jemand zu sein, der nur duschte und sich säuberte.

Doch ich tat es nicht. Was hielt die Entrüstung von mir fern?

In Japan, als ich mich ihm auslieferte, war sie so gegenwärtig gewesen.

Ich hatte mich gescholten, mich gehasst für meine Fahrlässigkeit. Es wäre mir so wichtig gewesen, seinen Augen zu entfliehen und es nicht soweit kommen zu lassen.

Und was immer Kanda dachte, ich hätte mir eingeredet, seine Gedanken in andere Gefilde lenken zu können und ihm erst gar keinen Grund zu geben, sie auf mich zu richten. Wenn er es denn überhaupt tat.

Doch ich blieb kauern, zusammengesunken und matt, und das in seiner Anwesenheit.

Es machte mir nichts aus. Es kostete mich jedenfalls keine Überwindung.

Möglicherweise hatte ich vor ihm kapituliert, möglicherweise eingesehen, dass er der verlässlichste Mitwisser war, den es geben könnte. Verlässlich durch sein Desinteresse.

Die Geschehnisse würden niemals zur Sprache kommen.

Gedankenverloren waren meine Augen noch immer auf ihn gerichtet.

Meine Wange hatte sich neu gebettet, als wolle ich noch länger in dieser Haltung verharren.

Breite Rinnsale bahnten sich ihren Weg über seine Schulterblätter, rannen über seinen Rücken und seine Beine hinab. Er bewegte den Kopf im prasselnden Strahl, beiläufig tastete sich eine Hand zum Nacken, fand ihn und rieb ihn ausgiebig.

Trübe verfolgte ich jede seiner Bewegungen und war doch längst nicht so teilnahmslos, wie ich wirkte.

Nur selten hatte ich die Zeit beziehungsweise den Antrieb besessen, ihn mir genauer zu betrachten. Es hatte keine Gründe gegeben, kaum Gelegenheiten. Stets war zu viel anderes in mir vorgegangen. Die Konfrontation mit mir selbst hatte es mir verwehrt, mir dieser Tatsache bewusst zu werden, doch hier und jetzt tat ich es und während er sich die Haare wusch, vertiefte ich mich sorgfältig in seinen Rücken und seine Oberarme. Meine Augen begannen ihn abzutasten, jeden Zentimeter seiner Haut.

Konnte es sein?

Meine Augen drifteten zu seinen Beinen.

Seine Haut wirkte so unangetastet, so rein, als hätte es nie eine Verwundung gegeben und doch war er so oft verletzt worden.

In all der Zeit, in der wir miteinander arbeiteten, in der wir dieselben Wege gingen und uns in dieselben Gefechte stürzten.

Wie oft sah ich sein Blut, wie oft war er zusammengebrochen durch Wunden, die letztendlich verschwanden, als hätten sie nie existiert.

Ich senkte die Lider, als das Wasser die Seife an ihm hinab rinnen ließ und er sich das Gesicht wusch.

Langsam drifteten meine Augen zu meinen Beinen. Ich war übersät von Narben, denn meine Wunden vergingen nicht.

Vorsichtig strich ich über meine Oberschenkel. Selbst unter meinen Fingern spürte ich das Narbengewebe. All das gehörte zu mir, all das gehörte zu meiner Geschichte.

Unter einem tiefen Durchatmen schloss ich die Arme wieder fester um die Knie.

Noch immer prasselte das Wasser auf meinen Rücken und es war ein seltsames Empfinden, das mich lenkte und mich zurück zu Kanda führte. Er rieb sich die Unterarme, bewegte die Hände in der Seife und war so vertieft, als wäre ich nicht anwesend.

Doch ich war es und die Grübeleien, die in mir aufstiegen, irritierten mich selbst.

Mit einem Mal war es gekommen – das Verlangen, mit ihm zu sprechen.

Einfach das eine oder andere Worte zu wechseln und seine Stimme zu hören. Ich hatte das Gefühl, als gäbe es in mir noch immer etwas, das erwachen musste.

Ich verfolgte, wie er sich wusch, sich pflegte, doch wusste nicht, was ich sagen sollte. Nicht einmal die unwichtigsten Worte fielen mir ein. Dabei war es nicht schwer, eine Reaktion von ihm zu bekommen, wenn es auch nur die für ihn typischen Bemerkungen waren. Selbst sie würden mir helfen.

Aber ich schwieg.

Und war es denn wirklich seine bissige Stimme, die ich hören wollte?

War es nicht vielleicht doch eine andere?

Lächerlich.

Weshalb sollte er so mit mir sprechen und warum zur Hölle ging ich davon aus, dass hier und jetzt der Augenblick gekommen war, in welchem ich zum ersten Mal ein ruhiges, sachliches Gespräch mit ihm führen könnte!

So etwas hatte es zwischen uns noch nie gegeben. Nur Besprechungen, bei denen er genauso strikt und kurz angebunden war wie bei den Worten, mit denen er die Planung begleitete. Es gab nur die Fixierung auf die Arbeit und daneben die Foppereien, mit denen wir uns den Tag versüßten. Nicht einmal das gab er mir und nach wenigen Momenten griff er nach einem Handtuch und kehrte zu der hölzernen Bank zurück. Die Aufmerksamkeit blieb einseitig, die Gelegenheit war vorbei.

Meine Augen blieben auf den Boden gerichtet und bevor ich mich versah, hockte ich wieder alleine dort.
 

Es brauchte seine Zeit, bis ich mich dazu durchringen konnte aufzustehen. Es war mit einer enormen Überwindung verbunden, denn im Grunde fühlte ich mich auf den Fliesen sicher. Wenn ich nur dort saß und der zurückgekehrten Stille in den Baderäumen zuhörte, könnte nichts passieren, sagte ich mir.

Doch die nächsten Besucher kamen. Finder, Wissenschaftler.

Ich hörte ihre Stimmen in den Umkleideräumen und noch bevor der erste den Duschraum betrat, verließ ich ihn. Mit gesenktem Kopf, flink und unauffällig wie ein Schatten, der sich über eine Fassade flüchtete. Keine Konversation, kein Wort, nur ein Nicken hatte ich für höfliche Grüße übrig und es verging keine lange Zeit, da war ich angekleidet und auf dem Weg in den Speiseraum.

Durch die schwere Tür. Meine Lippen schwiegen, meine Augen tasteten sich über den Boden und für weitere Morgengrüße hatte ich nicht vielmehr übrig, als eine trübe Geste. Es war so laut um mich herum, so belebt und umso haltloser schien ich geradewegs in diesem Meer aus Heiterkeit und Lebenslust zu versinken.

Wie in einem tückischen Moor, das aus der Ferne für sicheren Boden gehalten wurde.
 

-tbc-

14

„Wie versprochen!“ Kaum erreichte ich den Tresen, da erreichte ihn auch Jerry und das mit einem Tablett, das schon länger auf mich gewartet zu haben schien.

Von seinem sonnigen Gesicht blickte ich zu all den Schoko-Donuts und war in den ersten Momenten unentschlossen, wie ich zu reagieren hatte. Jerry hatte daran gedacht aber als ich Luft holte und mich zu einem Lächeln zwang, bemerkte ich, dass mir jeder Appetit fehlte.

„Koste diese Donuts“, sagte er berauscht, „und du wirst nicht nur die Schokolade sondern auch meine Liebe schmecken!“ „Danke.“

Dieser Situation entkommen. Auf etwas anderes war ich nicht aus und so versuchte ich das Treffen abzukürzen, indem ich das Tablett an mich nahm. Jerrys Euphorie war ich nicht gewachsen. Seine Welt war soviel heller als meine.

„Ach, bevor ich es vergesse!“ Sofort hielt ich inne und sah Jerry grinsen. „Ich soll dir etwas von Kanda ausrichten.“

Stirnrunzelnd blickte ich auf.

Seit geraumer Zeit machten mich gewisse Schlagworte aufmerksam und wie liebevoll erwiderte Jerry meinen Blick.

„Er sagte, es hätte vorzüglich geschmeckt und ist dir sehr dankbar, dass du diesen Weg auf dich genommen hast.“

Meine Miene entspannte sich und dann stand ich dort und starrte den Koch an. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Warum meinst du, solche Witze machen zu müssen?“, erkundigte ich mich.

Ich befürchtete, wie jemand auszusehen, der Aufheiterung brauchte. Jerrys Aufmerksamkeit hatte ich nur selten so intensiv eingeschätzt aber das Lachen, in das der Mann daraufhin ausbrach, verschaffte mir Beruhigung. Es war nur ein Witz am Rande gewesen. Eine Bemerkung, die man einfach aussprach und sich nicht viel dabei dachte.

„Klingt doch gut, oder?“ Nur schwer schaffte Jerry es, sich unter dem Lachen aufzurichten. Er hielt sich den Bauch, während ich zur Seite spähte. „Wer weiß, vielleicht passiert es eines Tages? Wäre nur angebracht.“

Das, was hier geschah, war alles andere als angebracht aber mir gelang noch ein knappes Lächeln, bevor wir uns voneinander abwandten. Ich war schnell darüber hinweg, kurz darauf nämlich schon viel zu sehr darauf fixiert, mir einen abgelegenen Platz zu suchen. Es minderte die Gefahr, dass sich jemand direkt neben mich setzte.

Nur kurz lugte ich zu den Donuts, als ich bequem saß, rückte an einem von ihnen und griff dann doch nur nach dem Saft. Die Donuts waren frisch. Deutlich zog mir dieser Duft in die Nase aber nichts an mir war bereit, sich so einfach locken zu lassen. So ließ ich mir Zeit, nippte und trank in so kleinen Schlucken, dass ich eine Weile damit zubringen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Als ich dann doch nach einem Donut griff, drifteten meine Gedanken haltlos zu den finstersten Stunden dieser Nacht zurück.

Es geschah wieder und wieder. Ein widerlicher Verlauf, der keinen Wert darauf legte, ob ich ihm gewachsen war.

Manchmal war ich so ausgeliefert, wie ich es auf dem Schlachtfeld nie sein könnte. Würde es einen Ausweg geben, einen Umweg, einfach einen Pfad, der mich am größten Leid vorbeiführte, ich hätte ihn längst gefunden. Meine Augen waren nicht nur aufmerksam, sie waren verzweifelt und ebenso ungläubig auf die Tatsache gerichtet, dass ich mich wohl damit abzufinden hatte. Vermutlich gehörte es einfach zu mir.

Ich musste nicht in Licht gehüllt sein, um lange Schatten zu werfen.

„Guten Morgen!“ Eine heitere Stimme riss mich aus meinen tiefschwarzen Gedanken, ließ mich blinzeln und die Umwelt erkennen. Ein Klaps traf meine Schulter und ich spürte den seltsamen Anflug eines Erschreckens, als ich Lavi erkannte.

Grinsend wurde er sein Tablett auf dem Tisch los und schob sich mir gegenüber auf die Bank, während ich ihn noch anstarrte und nicht wusste, wie verheerend dieser Zufall wirklich war.

„Hast du es schon gesehen?“ Heiter begann er Ordnung auf sein Tablett zu bringen. „Heute Nacht hat es gar nicht geschneit. Es sieht sogar fast so aus, als wäre eine Menge Schnee weggeschmolzen. Und weißt du, was das heißt?“ Er sah mich an und ich schüttelte den Kopf. „Wir kriegen Frühling, Allen.“

Fast erwartungsvoll behielt er mich in Augenschein und verfolgte, wie ich den Donut zwischen den Fingern bewegte. Auch nach beiden Seiten spähte ich, nur flüchtig und wohl auf der Suche nach einer Rettungsleine.

„Mm.“ Letztlich nickte ich nur zu seinen Worten und pflückte den Donut auseinander. „Scheint wohl so.“

Weiterhin nickend wandte ich mich meinem Donut zu und gab mich als jemand aus, der zu hungrig war, um gleichzeitig gesprächig zu sein. Lavi antwortete nicht und so versenkte ich das erste Stück im Mund und versuchte meine Frustration auch weiterhin zu verbergen. Auf der anderen Seite des Tisches knackte ein frisches Brötchen. Ein Messer traf auf den Teller und kurz darauf meinte ich, ein tiefes Durchatmen zu hören.

„Allen.“ Dieses eine Wort ließ mich kurz erstarren.

„Mm?“ Angespannt versenkten sich meine Finger im weichen Gebäck und ein weiteres Seufzen mir gegenüber verfestigte nur den ernsten Klang, dem seine Stimme mit einem Mal verfallen war.

„Es hat die ganze Nacht geschneit und wir haben Mitte Dezember. Wo soll da der Frühling sein?“

Meine Lippen pressten sich aufeinander und als ich aufblickte, war das grüne Auge mit so einer Geradlinigkeit auf mich gerichtet, als wolle es sich geradewegs durch meine Fassade bohren. Bis in mein Inneres, das in diesen Momenten so aufgewühlt war wie eine Beute, die ein Raubtier witterte und doch keine Höhle fand.

„Ich habe noch nicht aus dem Fenster geschaut“, sagte ich dann nur und achtete darauf, mich nicht zu sehr zu verteidigen. Es sollte nicht den Anschein erwecken, als fühle ich mich ertappt. Es war nur ein Gespräch am Rande. Es hatte nicht viel zu bedeuten.

Nicht, wenn ich nicht so tat.

Doch während ich weiterrupfte und kaute, ließ Lavi nicht von mir ab. Ich spürte seinen Blick und die Stille hielt nicht lange an. In einer beunruhigenden Bewegung wurde er das Brötchen auf dem Teller los, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. Er verschärfte seine Beobachtung und ich war reichlich genervt, als ich mich aufrichtete und der Konfrontation stellte. „Glaubst du, mir fällt es nicht auf?“ Er wies mit einem Nicken auf mich. „Du bist seit einiger Zeit nicht mehr bei uns.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Irritiert lächelte ich und wie verfluchte ich ihn innerlich.

Hier und jetzt befand ich mich in der Situation, die schrecklich genug war, um ebenso gut meinen Alpträumen zu entspringen. Die Aufmerksamkeit eines Bookman, der stets zu viel sah. Wie hätte ich vorsichtig genug sein können?

Wie hätte ich bemerken sollen, dass er, während er lachte und mit Linali sprach, über Sinne verfügte, die sich in so ganz andere Richtungen lenkten!

Stirnrunzelnd regte er das Kinn in der Hand, blickte zum Tisch und wirkte dabei fast verdrossen.

„Ehrlich“, raunte er dann und zuckend versenkten sich meine Finger tiefer im Donut. „Hast du dich mal angeschaut? Du bist blass, siehst aus, als hättest du seit Nächten nicht mehr richtig geschlafen. Du bist völlig neben der Spur.“

Als würde er geradewegs auf dem Grund meiner Seele spazieren gehen.

Aber es ging ihn nichts an.

Ohne meine Erlaubnis hatte er sich dort nicht zu bewegen.

Permanent blieben meine Finger am Donut zugange sowie meine Miene gelöst und mein Lächeln unerschütterlich. Und dann zuckte ich mit den Schultern.

„Ich bin sehr spät eingeschlafen. Tim war aufgeregt und hat mich wohl angesteckt.“

„Und kommt das öfter vor?“ Die nächste Frage folgte so schnell wie gnadenlos und unter einem Seufzen begann ich auf meinem Tablett zu tasten.

„Es ist nur so, dass…“ Meine Stimme versiegte, als meine blind geführte Hand auf den Becher traf und ihn zur Seite und vom Tisch wischte. Es war nicht gerade wenig Saft in ihm gewesen und bestürzt folgten ihm meine Augen.

Sie folgten seinem Sturz gen Boden und blieben an zwei Füßen hängen, die mit einem Mal im Mangosaft badeten. Jemand war neben mir im Gang stehengeblieben und während ich zur Seite gebeugt blieb und die Augen ungläubig nach unten gerichtet, verhielt sich auch Lavi still.

Langsam regten sich die Zehen in der Feuchtigkeit. Die Füße steckten in bequemen Schlappen und nur stockend blickte ich auf und erkannte eine schwarze Hose. Mein Mund öffnete sich, ohne dass ich wusste, was es zu sagen gab. Ich musste nicht mehr sehen, um zu wissen, wie sehr sich meine ohnehin prekäre Lage mit einem Mal weit mehr verschlimmert hatte.

Plötzlich war mir nach einem Lachen zumute. Dem, was folgen würde, war ich nicht gewachsen.

Kanda betrachtete sich das Malheur. Er sagte nichts, bewegte nur die Zehen in der klebrigen Feuchtigkeit und kaum legte sich seine Stirn kraus, verbarg ich die Augen hinter der Hand. Zusammengesunken blieb ich sitzen und schüttelte nur den Kopf. Es war unglaublich und es brauchte ein tiefes Durchatmen, bis ich den Mut fand, ihn anzuschauen.

„Es tut mir leid.“ Ich brachte es einfach über die Lippen, denn es war die Wahrheit. Wieder schüttelte ich den Kopf, ernüchtert von mir selbst. „Wirklich. Das war keine Absicht.“

Fast glaubte ich, Lavis Nervosität zu spüren. Dabei hatte er doch nichts mit alledem zu tun.

Es ging nur um mich und die Tatsache, dass ich jede Umsicht verlor. So etwas hatte nicht zu passieren. Jedenfalls nicht bei Kanda. Ein Brummen läutete den Untergang ein.

„Lass das nicht nochmal vorkommen.“

Sofort nickte ich, wollte jeder Konfrontation aus dem Weg gehen und wartete auf die Fortsetzung. Doch plötzlich setzte sich Kanda in Bewegung und nur zögerlich blickte ich auf. Er ging und der Rest der Fassung bröckelte geradewegs aus meinem Gesicht. Er kehrte einfach zur Tür zurück, schüttelte einen Fuß, befreite ihn von wenigen Tropfen und dann verschwand er.

Am Tisch herrschte Stille. Der Rothaarige bewegte sich nicht und auch ich brauchte einen Augenblick, um mir der Tatsache bewusst zu werden, wie versessen ich auf jene Tür starrte. Er starrte immer noch an mir vorbei, als ich unter einem Räuspern nach dem nächsten Donut griff.

Konnte es sein?

Und wenn dem so war, könnte ich es annehmen?

In letzter Zeit passierten so viele ungewohnte Dinge, dass mein Verstand sich überfordert fühlte.

„Sag mal…“ Als ich aufspähte, lehnte sich Lavi über den Tisch und schirmte den Mund mit der Hand ab, als folge ein waschechtes Geheimnis. Ich interessierte mich im Grunde nicht für die kommenden Worte, sondern nur dafür, dass jede Ernsthaftigkeit aus seinem Gesicht gewichen war.

„Ihr habt doch irgendeine Abmachung getroffen, oder?“

„Was meinst du?“, erwiderte ich. Dieses Gerede war mir lieber, als das an Gnadenlosigkeit grenzende Verhör.

„Was ich damit meine?“ Unter einer Grimasse lehnte er sich zurück, betrachtete mich skeptisch, ja, annähernd frustriert. „Erinnerst du dich daran, als mir der Kuchen vom Teller gerutscht ist und er rein trat? Erinnerst du dich, was da los war?“

Natürlich erinnerte ich mich, denn ich war dabei gewesen, aber mein Nicken war nicht nötig, denn er verfiel seiner alten Gesprächigkeit.

„Einem bösartigeren Dämon bin ich nie begegnet“, murrte er. „Es war auch nicht so, als wäre es ein ganzes Stück gewesen. Vielleicht waren seine Schuhe neu? Verdammt, warum geht er mir an die Gurgel und dir einfach aus dem Weg?“

Ja, weshalb?

Ich aß noch einen Happen und dann lugte ich erneut zu dem Becher. Er lag noch immer dort, also hob ich ihn auf. Und ich war so nachdenklich, dass Lavi eigentlich Selbstgespräche führte.

„Seid ihr wieder eine Einheit? Oder hast du seine Schwachstelle gefunden?“, wollte er wissen. „Irgendeine peinliche Schrulligkeit? Hast du versprochen, es niemandem zu sagen, wenn er sich benimmt?“

„Ich habe gar nichts gemacht“, murmelte ich nur und stöhnend sank Lavi in sich zusammen.

„Das glaubt mir Crowley nie.“

Immerfort erhob sich seine Stimme und ebenso rasch verdrängte ich sie aus meiner Wahrnehmung. Es waren Tatsachen, die sich mir hier boten. Verhaltensweisen, die weitaus durchschaubarer waren, als sie wirkten. Ich verstand und wusste nicht, wie ich dabei fühlte. Kanda hatte mich gesehen und das im wahrsten Sinne des Wortes. Keine Maske, keine Schauspielkunst.

Schon zum zweiten Mal. Ich schwankte und stolperte und er wusste es. Was soeben geschah, war ein Versehen, das im Irrgarten seines Charakters auf eine seltsame Nachsicht traf.

Ich blickte zu den hohen Fenstern und bewegte die Schokolade im Mund, ohne sie zu schmecken.

Stand es wirklich so schlimm um unsere Verbindung?

Irgendwann kam er zurück. Ich bemerkte ihn, als er unseren Tisch hinter sich ließ und einen nicht unerheblichen Bogen machte, als würde er weitere Desaster erwarten aber das einzige Desaster saß mir gegenüber. Lavis witzig gemeinten Worte und die Erzählungen von Dingen, die mich nicht interessierten, wurden allmählich schlimmer als die vergangene Befragung und so kam mir diese Abwechslung, in welcher ich Kanda nachblickte, sehr gelegen. Den Ellbogen auf den Tisch gestemmt, bewegte ich den nächsten Donut am Mund und spähte an Lavi vorbei.

Kanda bewegte sich so entspannt wie zuvor. In bequemen Hausschuhen erreichte er die Theke und kurz darauf erhob sich schon das berauschte Seufzen Jerrys.

„Da bist du ja wieder!“, hörte ich ihn jauchzen und verfolgte all das ganz genau.

Kandas Reaktion ließ nicht auf Wut schließen. Nicht einmal die geringste Gereiztheit formte die Geste, in der er die Hand zum Nacken hob und diesen rieb. Während Jerry wieder dem Seufzen verfiel, lugte ich kurz zu Lavi.

Was mich anging, ich war gereizt, ohne Saft über die Füße geschüttet bekommen zu haben. Ich war es allmählich wirklich und resigniert schob ich den Donut in den Mund und biss ab. Es wurde zur Zerreißprobe und zahllose Momente, in denen ich mir die Frage stellte, welches Defizit mich dieser Situation auslieferte.

Weshalb ich nicht zugab, müde zu sein und Lavi bat, seinem Mund den Fleiß zu nehmen. Es war doch normal, schlechte Tage zu haben. Ich hätte mich nicht zu rechtfertigen, doch ich schwieg, schluckte, biss die Zähne zusammen und spähte zu Kanda, als würde mir sein Anblick helfen.

Er war weit entfernt, kehrte uns den Rücken und letztendlich war es der Zufall, der mich rettete.

„Was? Schon so spät?“ Abrupt und verwirrt starrte Lavi zur Uhr. „Wo ist die Zeit geblieben? Ich muss los!“

Mit einem Mal wurde ich aufmerksam und verfolgte, wie er das Brötchen auf den Teller zurückwarf.

„Jetzt bin ich kaum zum essen gekommen.“

Das wäre er, hätte er die Klappe gehalten.

Ich hob die Brauen und eine schwere Last fiel von meinen Schultern, als er wirklich auf die Beine kam.

Er griff nach seinem Tablett und schickte mir ein Grinsen.

„Na dann, tut mir Leid. Ich werde mich mal auf die Socken machen.“

„Pass auf dich auf“, verabschiedete ich mich und schon setzte er sich in Bewegung.

„Du auch.“

Ich sah ihm nach, als er zum Tresen eilte und kaum war er außer Hörweite, sank ich erleichtert in mich zusammen.

Wie genoss ich die zurückgekehrte Stille und das letzte Lächeln, das ich Lavi auf seinem Weg nach draußen schickte, zeugte vielmehr von Entlastung als von Sympathie.

Von nun an zwang ich mich nicht mehr dazu, rasch zu essen. Mir blieb jede Zeit und viel von ihr verging nicht, bevor ich aufblickte und Kandas Rücken abermals studierte. Abwesend erkundeten meine Fingerkuppen die Oberfläche des Tisches. Mit einem Mal fühlte ich mich so entlastet und frei, als folgte ich einem neu entdecken Interesse inmitten dieses freien Tages.

Durfte ich es behaupten? Es für mich annehmen und akzeptieren?

Die Offensichtlichkeit brachte mir die Erlaubnis und die Sicherheit, dass mich meine Wahrnehmung diesmal nicht täuschte. Er verschonte mich, als ich den Becher über seinen Füßen verschüttete. Er nahm Rücksicht. Abrupt hielten meine Finger inne und perplex spürte ich, wie ein Großteil der Schwere, die bislang in meiner Brust herrschte, verblasste.

Mein Atem, der durch die Vorkommnisse der Nacht so gedämpft fiel und so angespannt, erhob sich nun so leicht, so unbeschwert, wie ich es an diesem Tag nicht mehr erwartete. Meine Augen lösten sich von Kanda und abermals atmete ich tief ein, tief aus und entspannte meine Schultern.

Was war das für ein seltsames Gefühl?

Meine Wahrnehmung geriet beinahe in Verwirrung über diesen jähen Wechsel meines Befindens.

Wie könnte ich es nennen?

Ich fühlte mich gedrängt, all das mit nur einem Wort für mich festzulegen und nach einem weiteren, genüsslichen Durchatmen zuckten meine Mundwinkel zu einem Lächeln.

Meine Lippen trugen diesen milden Ausdruck mit aller Aufrichtigkeit und bald schüttelte ich den Kopf, überfordert und doch behaglich.

Ich erinnerte mich, wie wir uns begegneten, früh am Morgen und in den Duschen und wie irritiert stellte ich mir die Frage, weshalb ich es nicht schon dort begriff. Kurz bevor ich in den Duschen verschwand, als ich flüchtete und das vielmehr vor der Aufmerksamkeit Jonnys, war es nicht Kanda gewesen, der diesen sofort aufforderte, sich auf ihn zu konzentrieren?

Hatte er Jonny nicht abgelenkt, bevor er mir gegenüber zu aufmerksam wurde?

Ungläubig vertiefte sich mein Lächeln. Wenn auch zittrig.

Ich verstand und ich akzeptierte. Wie um alles in der Welt konnte ich davon ausgehen, dass es um mich und Kanda übel stand?

Er war soviel wohltätiger als ich, doch stets in einem Rahmen, in welchem er es jederzeit dementieren könnte.

Er war so vorsichtig mit seiner Humanität, hielt sie versteckt und wie glaubhaft könnte er alles abstreiten. Es blieben keine Beweise. Nur zweideutige Taten, zu denen er niemals stehen müsste. Was für eine Vorbeugung. Auf Dank würde er so abweisend und verständnislos reagieren, dass man selbst an der eigenen Auslegung zweifeln würde.

Er erwartete nichts und umso ehrlicher und selbstloser wurde dadurch sein Handeln. Allmählich sah es so aus, als wäre von uns beiden ich der einzige Unmensch. Der, von dem man es am wenigsten erwartete, während er lächelnd und friedlich neben dem finstersten Gesicht aller Zeiten stand. Was für eine Tücke.

Nichts war, wie es schien.

Langsam hob ich die Hand, bettete sie auf meiner Brust und spürte das ruhige Schlagen meines Herzens. Es widersprach der Realität. Meine Unfähigkeit, Schonung und Hilfe anzunehmen und sie für mich zu akzeptieren, wenn man sie mir offensichtlich zukommen ließ, war so kompatibel, dass es fast erschreckend war. Wie genoss ich Kandas versteckte Aufmerksamkeit und Unterstützung. So wie er alles abstritt, könnte auch ich tun, als nähme ich all das nicht wahr.

Sein Beistand war meiner Eigenart so angepasst, dass ich mich hier und jetzt zum ersten Mal am Punkt vermutete, diese Geschenke annehmen zu können. Es war ein neuartiges Gefühl, das mich so unbeschwert sein ließ, dass dieser Tag sofort heller wurde.

Ich fühlte mich so wohl in seiner Anwesenheit. Und ich aß, genoss die Ruhe, die mich dabei umgab und der letzte Donut klemmte zwischen meinen Lippen, als ich mich von der Bank erhob. Ich war fertig, gesättigt und gestärkt. Bereit für den Tag, könnte man meinen und wie wenig hätte ich es nach dieser Nacht erwartet. Wie sehr hatte ich mich darauf eingerichtet, meinen Kampf noch länger führen zu müssen, mit meinen Erinnerungen und dem Zittern meiner Hände zu ringen.

Doch völlig ruhig hielten sie jetzt das Tablett und zum ersten Mal an diesem Tag begegnete ich Jerry mit einem befreiten Lächeln.

„Wie hat es geschmeckt?“

„Unwirklich delikat.“ Den letzten Donut zwischen den Fingern wendend, lehnte ich mich an die Theke. „Aber was soll ich sagen, Jerry? Bei dir kann man nichts anderes erwarten.“

„Ach, hör doch auf.“ Jerry drohte rot zu werden. „So viel Lob ertrage ich doch nicht.“

„Soll ich weitermachen?“

„Ich bitte darum.“

„Das Gebäck war so weich, dass es mir im Mund zerschmolzen ist und diese Schokolade. Wie machst du das nur? Das war doch keine normale Schokolade.“

„Nicht?“ Jerry grinste bis über beide Ohren. „Was war es sonst?“

„Ehrlich, keine Ahnung.“ Ich weitete die Augen. „Vielleicht irgendetwas Glitzerndes aus dem Feenland, das kleine Lichtgeschöpfe mit Zauberstaub bestreut haben. Irgend so ein Kram eben.“

Jerry brach in Lachen aus und ungezwungen schloss ich mich ihm an, lachte so klar und heiter wie lange nicht mehr. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung und als ich den Kopf wandte, erkannte ich Kanda. Soeben hatte er uns erreicht, wurde das Tablett los und rückte augenblicklich in Jerrys Mittelpunkt.

„Und?“ Lieblich nahm er Kanda in Augenschein. „Wie hat es dem Herrn geschmeckt?“

„Du hast es so gemacht wie immer.“ Kanda runzelte die Stirn, während Jerry mir einen verschmitzten Blick sendete.

„Was ist mit dem Zauberstaub?“, erkundigte er sich dann und wie aufmerksam musterte ich Kanda.

Viel gab es nicht zu sehen, denn sein Gesicht entspannte sich und letztendlich reagierte er demonstrativ überhaupt nicht. Unseren Blödsinn begriff er spätestens in diesem Moment und natürlich spendete er kein Wort an Feenländer oder glitzernde Sachen. Die Atmosphäre erfror für einen Moment und so blieb meinen Augen genug Gelegenheit, sich unauffällig auf das Armband zu richten, das Kandas linkes Handgelenk zierte. Seit dem Tag, an dem wir uns kennen lernten. Es gehörte zu ihm und wie vertieft verfolgte ich die knappe Regung seiner Finger. Unserer Albernheit zum Trotz leistete er uns weiterhin Gesellschaft und wie grenzenlos genoss ich diese Momente.

„Habe ich das richtig mitbekommen?“, wandte sich Jerry kurz darauf erneut an ihn. „Du sollst den ganzen Tag frei haben.“

Ich hob die Brauen. Wie mildtätig Komui doch war. Kandas Brummen klang wie eine Zustimmung und unweigerlich erkannte ich die Art der Antwort wieder. Anders hatte auch ich nicht reagiert, wenn man mich darauf ansprach.

Doch Kanda wirkte fast wie jemand, der diese Tatsache akzeptierte.

Die letzte Zeit hatte ihn gefordert und als ich wieder um ein Stück aus meiner Gedankenwelt auftauchte, stemmte er die Hände in die Hüften. Ohne dass ich es meinen Augen auftrug, drifteten sie zu dem tiefen, lockeren Dutt, zu dem er sein Haar gebunden hatte.

„Zu etwas Wichtigerem“, erhob er mit einem Mal die Stimme und nicht nur Jerry zelebrierte diese Seltenheit mit überraschter Aufmerksamkeit. „Als ich aus Russland kam, war ich hier und wollte etwas essen.“

„Bitte? Gleich danach?“ Jerry schnitt eine Grimasse. „Wie hast du es bis hierher geschafft?“

„Spielt keine Rolle“, erwiderte Kanda und störte sich herzlich wenig an meinem Starren. „Was hingegen eine Rolle spielt, ist das, was passieren wird, wenn mir noch einmal so eine Vertretung unter die Augen kommt. Bei der ersten überflüssigen Frage werde ich ihm Kochmütze in den Mund stopfen.“

Unter einem unwillkürlichen Lachen ließ ich den Kopf sinken. Jerry seufzte schuldbewusst, doch Kanda war noch nicht fertig.

„Du musst nicht fort, um Zutaten zu kaufen“, klärte er Jerry auf. „Selbst ein kompletter Idiot kann einen Zettel lesen. Du hättest jeden Schwachkopf schicken können, der hier faul herumlungert. Den hier zum Beispiel.“

Eine Handbewegung wies in meine Richtung und perplex richtete ich mich auf. Es überraschte mich, dass er mich einbezog, doch unangenehm war es keinesfalls, denn mir stand der Sinn danach, mit ihm zu sprechen. Auf welche Art auch immer.

„Ich habe doch keine Ahnung von Zutaten“, sagte ich. „Ich will sie nur essen.“

„Du willst immer nur alles essen.“ Wie genussvoll seufzte meine Seele, als er sich an mich wandte.

Als er meinen Blick erwiderte und Jerry den Zuschauerposten einnahm.

„Gott bewahre, dass du kennst, was du in dich stopfst. Deine Welt ist erstaunlich flach, Bohnenstange.“

„Allen.“ Meine Gesichtszüge zog es tiefer. „Wie viel Zeit hattest du jetzt zum Üben?“

„Weniger als du denkst aber natürlich ist es schwer, die Spanne einzuschätzen, wenn man seine Tage damit zubringt, als nutzloser Teil der Gesellschaft herumzuschmarotzen.“

Mit einer Grimasse versuchte ich diesen unerwarteten, absolut perfekten Schlag zu verdauen, doch er ließ mir keine Gelegenheit.

Im Grunde waren Worte dieser Art der einzige Dank, den ich ihm entgegenbringen konnte und den er auch bereit war anzunehmen. Ich befürchtete, ihn allmählich zu begreifen.

„Lass es uns großzügig 'Glück' nennen, dass es damals nicht deinen Kopf getroffen hat. Knochen brauchen kein Denkvermögen, um zu heilen, und was du noch an Verstand besitzt, lässt dich essen, schlafen und atmen. Wir bleiben also beim Standard.“

Er sprach es aus.

Ganz beiläufig erwähnte er eine Sache, die mir die letzten Tage erschwert hatte, doch ich spürte keine Wut.

Als wäre er der einzige, der das Recht hatte, den Fuß in dieses Gebiet zu setzen. Ganz im Gegensatz zu Lavi und all den anderen.

„Nenn es Glück, dass es überhaupt passiert ist“, antwortete ich letztendlich. „Stell dir vor, wir wären zusammen nach Russland gegangen. Es wäre schwer gewesen, sich während des Kampfes zu verstecken. Aus jeder Ecke hätte ich dich gekratzt, unter jeder Brücke vorgezogen, egal wie sehr du bettelst und weinst. Dein Heldentum hätte mit Zeugen nicht funktioniert.“ Hochnäsig gestikulierte ich mit dem Donut. „Und gegen wie viele Akuma hast du nochmal gekämpft? Behaupten kannst du alles, nachdem du die ganze Nacht jammernd vor einem einzigen davongelaufen bist.“

Seine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Durchatmen, während er die Arme verschränkte, doch diesmal ließ ich ihn nicht zu Wort kommen. „Letzten Endes bist du eh nur neidisch, weil ich Urlaub hatte, als du es noch mit Russlands sympathischer Tundra aufnehmen musstest. Du hast dir doch keinen Schnupfen geholt, oder? Hat der kalte Wind deine Haut rau gemacht?“

„Wirklich genutzt hast du den Urlaub scheinbar nicht.“ Plötzlich richtete sich sein Zeigefinger auf mein Hemd. „Die Knopfübungen wurden jedenfalls vernachlässigt.“

Mist, es stimmte.

Mein Hemd saß schief und unter einer Grimasse tastete ich nach dem Schlamassel.

„Das Leben ist voller Prüfungen, Bohnenstange. Gerade mit einem beschränkten Horizont sollte man nicht mit der Schwierigsten anfangen, also heb dir die Knöpfe für später auf.“

„Was bist du? Experte für beschränkte Horizonte?“

„Ihr seid wirklich süß, wenn ihr streitet“, mischte sich da Jerry ein, „aber die beiden hinter euch fallen schon vom Fleisch und das kann ich mir als Koch nicht anschauen.“

Erst jetzt wurde ich auf die beiden Wissenschaftler aufmerksam. Mit einem Mal rückten sie in meine Wahrnehmung und tatsächlich sahen sie recht hungrig aus. Ich erkannte ein verhaltenes Lächeln, während sich Kanda bereits fügte. Die Geste seiner Hand war nur zu erahnen, da wandte er sich schon ab und auch ich musste mich lösen. Es war schön gewesen, umso schöner durch die Seltenheit und Kürze. Ich schmunzelte, als ich mich von der Theke löste und mich daran machte, es Kanda gleichzutun.

„Mach's gut, Jerry.“ Heiter winkte ich ihm und ebenso heiter winkte er zurück, bevor auch ich ihm den Rücken kehrte.

Wohin ich wollte, dass wusste ich noch nicht, doch welcher Ort es auch immer werden würde, ich war gewappnet.

Dennoch hatte ich aufzupassen und mich von Übermut fernzuhalten. Dieser vergangene, wertvolle Moment und die Stimmung, die ich aus ihm zog, hielten noch an, doch unerschöpflich war nichts.

So stand ich dann im Flur und wurde auf etwas aufmerksam, das so prägnant war, dass es mir schon eher hätte auffallen müssen. Ich senkte das Gesicht. Abermals fanden meine Augen zu dem Hemd und dann zupfte ich wieder. Dass ich es jetzt richtig geknöpft hatte, machte nicht viel wett. Ich trug dasselbe Hemd, das mich in der Nacht kleidete und man roch es.

Auch Tim begleitete mich nicht und so hatte ich zwei Gründe, mein Zimmer anzusteuern.
 

Es war der letzte freie Tag. Schon morgen lockte eine Mission, lockte der Alltag, den ich derzeit so dringend brauchte wie die Luft zum atmen. Wie unzufrieden wäre ich selbst mit dieser verbleibenden Zeit gewesen und bestimmt auf dem Weg zum Arzt, um mich verstohlen vor diesen letzten Stunden zu bewahren. Ich hätte es so eilig gehabt, doch jetzt dachten meine Beine nicht daran, mich zur Krankenstation zu führen. Es war ein Gedanke, der sich in meinem Kopf einnistete, ohne dass ich nach ihm zu suchen hatte. Nicht nur ich war hier. Kanda war es auch.

Mir blieb die Möglichkeit der Begegnung, Zeit mit ihm zu verbringen und somit diesem neuen, bizarren, doch umso stärkeren Drang zu folgen. Er hatte mich gelockt mit diesem Moment im Speiseraum und auch wenn es keine weiteren Worte waren, auf die ich hoffen konnte, weniger würde mir auch reichen. Es genügte, ihn einfach in der Nähe zu wissen und so begann ich sie erneut zu suchen.

Wohin er gegangen war, das wusste ich nicht und so dreist es auch war, ein Finder kam mir gelegen und die Frage problemlos über meine Lippen.

Hatte man ihn gesehen? Nein? Wie schade.

Aber ich meinte es ernst.

Spätestens am nächsten Morgen würden wir wieder ausschwärmen und niemand konnte sagen, wann man sich wiedersah.

Blieb er unversehrt? Blieb ich es? Die Zukunft war für uns so undurchsichtig, dass ich dem Zufall kein Vertrauen mehr schenkte.

Ich begegnete auf meinem Spaziergang so einigen Findern. Menschen, die ich fragte und die antworteten.
 

Leise öffnete ich die unscheinbare Tür. Es war die Bibliothek, zu der mich eine positive Antwort führte und als ich in diesen großen Saal trat, erwartete mich eine schummrige, friedliche Atmosphäre. Der fensterlose Ort wurde von mehreren Kerzen sowie Wandlampen erhellt und war kaum besucht. Nur der Bibliothekar saß hinter seiner Theke und blätterte in einem Buch. Zwischen den hohen Regalen herrschte Stille. Nur in einer Ecke saßen zwei Finder an einem Tisch. Es war eine wohlige Stimmung. Ein Ort, den man aufsuchte, um sich zurückzuziehen.

Ich ließ den Bibliothekar hinter mir. Nur kurz blickte er auf, erkannte mich und es blieb bei einem stillen Zunicken, bevor ich in die Gänge zwischen den Regalen eintauchte und mich umzusehen begann. Mir stand der Sinn danach, in einem der Werke zu blättern. Wenn auch gedankenverloren, es war und blieb eine Ablenkung und ein Entrücken aus der Realität, die ich derzeit als so bedrohlich und unsicher empfand.

Doch sie würde es schwer haben, mich hier zu finden.

Hier würde ich mich verstecken sowie in Kandas Schatten.

Ich hatte ihn längst erfasst.

Nur kurz, bevor ich in den nächsten Gang trat und sich meine Augen weiter über die Buchrücken tasteten. Meine Aufmerksamkeit war flüchtig gewesen, so beiläufig, als bedeute es mir nicht viel, ihn hier zu treffen. So mochte es aussehen. Während dieses Seitenblickes war soviel mehr in mir geschehen, als es den Anschein hatte und sofort lenkte sich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Suche. Was interessierte mich? Vermutlich hatte ich mich so oft mit mir selbst zu befassen, dass ich gewisse Dinge verlernte.

Was ich hier tat, war kein Job, keine Tätigkeit, es war ein Leben, das Zeit schluckte.

Ich blieb stehen. Meine Augen waren an einem Buch hängen geblieben und kurz darauf streckte ich mich auch schon in die Höhe und griff danach. Durch seine goldene Verzierung war es mir aufgefallen, nicht weniger durch den Titel und so bettete ich es auf dem Unterarm und schlug es auf.

Leise erhoben sich Tims Flügelschläge in der annähernden Stille des Ortes und als ich zu blättern begann, legte sich schon der bekannte Druck auf meinen Kopf. Kurz balancierte er sich aus, bevor er es gemütlich hatte. Ich brauchte nur einen kurzen Überblick, blätterte vor, blätterte zurück. Damit würde ich mich beschäftigen. Wieder ging ich leise und näherte mich ihm. Das Buch unter den Arm, hielt ich mit der anderen Hand Timcanpy. Ich konnte mir Besseres vorstellen, als ihm die Gelegenheit zu bieten, sich zu Kanda zu verfliegen, wollte ihn nicht stören und ebenso wenig, dass seine Augen mich erfassten.

Ich erreichte einen Sessel. Schräg hinter Kanda postiert, lag er außerhalb seines Blickwinkels und so war es mir lieb, denn es blieb nur einem überlassen, den anderen zu betrachten und so wollte ich ihn. Genauso und in dieser Haltung. Es war ein Bild, an dem sich meine Augen ergötzten wie eine trockene Kehle am Wasser.

Vergleichbar mit einem Bann, der mich für sich einnahm und mich blind nach der Armlehne des Sessels tasten ließ. Die nackten Füße auf das Polster gezogen und die Beine angewinkelt, hielt er ein Buch auf den Oberschenkeln und war darin vertieft. Die Fingerkuppen seiner Hand.

Abwesend streiften sie die Kanten der Blätter, bearbeiteten sie, folgten ihrem Verlauf und zupften, während sein Gesicht zur Schrift gesenkt blieb. Er offenbarte sich mir so unverfälscht, so neutral. Nichts in diesem Umfeld schien zu stören, nichts seine Unzufriedenheit heraufzubeschwören und nur kurz konnte ich mich dazu durchringen, die Aufmerksamkeit von ihm zu lösen. Ich hatte aufzupassen, schob mich auf den Sessel und befreite meine Füße von den Schuhen. Vor wenigen Momenten hatte mich der Inhalt des Buches so verlockt aber hier und jetzt fand ich die Prioritäten verdreht vor.

Wissbegier pendelte in unerhebliche Gebiete, meinen Augen war es noch nicht einmal gelungen, den Titel erneut zu erfassen. Alles an mir war so fixiert auf etwas anderes und ich dachte mir nicht viel dabei. Wie könnte man es nennen? Gemächlich lösten sich seine Finger von den Kanten des Papiers, fanden zu seinen Lippen.

Man könnte meinen, ich entwickelte mich zu einem Spezialisten, was ein gewisses Gebiet anbelangte.

Neue Seiten seines Verhaltens, seines Handelns. Hier und jetzt bot sich mir ein weiteres dieser Beispiele und ich nahm an dieser Schule teil wie der wissbegierigste Lehrling aller Zeiten. Es war nicht lange her, dass ich daran gezweifelt hätte, ihn in solch einer konzentrierten Lage vorzufinden, so vertieft in eine solche Beschäftigung.

Nur das Buch, mehr schien für ihn nicht zu existieren.

Was waren das nur für Aspekte? Existierten sie erst jetzt, weil ich früher nicht nach ihnen suchte?

War meine Umsicht so mangelhaft gewesen, meine Aufmerksamkeit ihm gegenüber so gedämpft?

Dabei war er so interessant.

Kurz rückte er sich zurecht und mit einem tiefen Atemzug suchte ich mir den Rückweg in die Realität.

Ich hielt doch auch ein Buch in den Händen. Ich überflog die wenigen Zeilen, die sich über die erste Seite zogen. Was mich hierher und zu ihm führte, war vorrangig die Sehnsucht nach Entspannung und Ruhe. Als wäre er vor Erschöpfung schwer, sank mein Körper gegen die Rückenlehne. In der Stille tickte eine nahe Uhr und nur leise nahm ich irgendwann das Rascheln wahr, als mein Zeitgenosse umblätterte. Wie hätte ich mich vor einiger Zeit für den Gedanken verhöhnt. Dass es möglich wäre, mich in seiner Gegenwart so wohl zu fühlen, wie kaum in einer anderen und nach ihr zu trachten wie ein Falter, der blind taumelnd nach dem Licht suchte. Seine Verhaltensweisen zu respektieren, als wäre ich ihnen nie mit Unverständnis begegnet.

Mich von seinen Facetten überraschen zu lassen, als hätte ich all das längst hinter seiner stets unzufrieden erscheinenden Miene vermutet.

Man könnte meinen, er tat mir gut.

Immerzu betasteten meine Finger dieses Papier, den Umschlag aus Leder. Sie tasteten sich über die Strukturen, zupften an den Seiten und irgendwann schloss ich die Augen und atmete tief durch. Dieser Ort war richtig und lange tat ich nichts anderes, als dem Ticken zu lauschen und darauf zu warten, dass sich das Rascheln in meiner Nähe erhob. Dass er umblätterte.

Wie schnell verlor ich das Gefühl Timcanpys neben mir. Wie rasch verloren auch meine Finger das Interesse an dem Buch und in einer seltsamen Bereitschaft spürte ich die Schwere meines Kopfes.

Schlief ich ein? War das der richtige Ort dafür? Fürchtete ich den Schlaf nicht? Misstraute ich ihm nicht?

In letzter Zeit war es fatal gewesen, sich ihm hinzugeben, doch wie eine seltsame Bestärkung erhob sich das Rascheln des Papiers erneut. Als wolle es mich daran erinnern, dass ich nicht alleine hier saß und dass die Augen, die mich hier und jetzt erreichten, mich auch sehen durften. Waren die Zufälle, an denen ich nichts ändern konnte, zu Akzeptanz geworden? Zur Freiheit, die ich mir ihm gegenüber schenkte? Und wenn ich auch von den alten Teufeln heimgesucht wurde und meinem finstersten Freund, wenn ich auch schweißgebadet in die Höhe fuhr und diese dunklen Augen zu mir fanden, es wäre nicht schlimm.

Es konnte geschehen.

Matt sank mein Gesicht zur Seite, nur kurz regten sich meine Beine und unter einem letzten, tiefen Durchatmen verlor ich das Gefühl des Buches unter meinen Fingern, des Polsters unter meinem Körper und das Empfinden für die Realität. Eingehüllt in dem Ticken der Uhr und dem Rascheln verlor ich mich in einem tiefen, ruhigen Schlaf.
 

Wie lange ich schlief und wie tief ich in dieser Abwesenheit versank entglitt meiner Wahrnehmung, die selbst nur stockend zu altem Leben erwachte. Irgendwann spürte ich diese Berührung im Gesicht, diesen Druck auf meiner Wange und kaum hatte ich mich geregt, auch die unbequeme Lage, in der sich mein Körper befand.

Das Ticken der Uhr. Es schien so weitentfernt, als ich die Miene verzog, noch gefangen im warmen Halbdunkel die Finger bewegte. Sie regten sich im Freien und kaum zuckten meine Zehen, da rutschte der gesamte Fuß vom Polster und entzog mir den letzten, fragwürdigen Halt.

Ich rutschte tiefer, mein Nacken knackte und als ich die Augen öffnete, stand die Umgebung beinahe Kopf. Die Regale der Bibliothek offenbarten sich mir schief, fast waagerecht und ich benötigte so einige Momente, bis ich mir der Tatsache bewusst wurde, wie zusammengerutscht ich in diesem Sessel kauerte. Mein Kopf ruhte auf der Armlehne, schummrig erkannte ich auf dem Boden das Buch und es kostete mich nicht viel Überwindung, mich zu bewegen.

Die Haltung war unkomfortabel, fast gefährlich für die Wirbelsäule und als wäre diese genau meiner Meinung, knackte und schmerzte sie, als ich mir mit den Händen ungeschickt Halt suchte und mich in die Höhe stemmte. Das Haar glitt mir in die Augen und träge strich ich es zurück. Dabei entgingen mir nicht die Knitterfalten, die das Polster auf meiner Wange hinterlassen hatte. Benommen rieb ich mir die Stelle. Es war wirklich passiert.

So schnell hatte mich der Schlaf zu fassen bekommen, so abrupt wachte ich auf und es schien, als hätte sich dem Alb nicht die Gelegenheit geboten, zutage zu treten. Fast fiel es mir schwer, es zu realisieren und während ich meine Gedanken ordnete, wandte sich mein Leib zur Seite. Mein Blick suchte nach einem Punkt, auf dem meine Aufmerksamkeit solange geruht hatte, dass mir diese Richtung vertraut war, doch es war nur ein leerer Sessel, der sich mir bot.

Ich kauerte alleine hier und spähte nach einem irritierten Stirnrunzeln zur Uhr.

Wie lange hatte ich geschlafen? Vier Stunden.

Gähnend schob ich Tim von mir. Er umflatterte mich, als wolle er mich zu Eile antreiben, doch heute gab es nichts, wofür ich mich beeilen müsste. Unter einem matten Kopfschütteln schob ich mich vom Polster und tastete auf dem Boden nach dem Buch. Irgendwie saß meine Kleidung schief, als ich auf die Beine kam, den einen Hausschuh verlor ich kurz darauf und zerzaust und müde tastete ich mit dem Fuß nach ihm und schlüpfte hinein.

Die guten Dinge des Lebens erreichten einen offensichtlich nur, wenn man sie nicht erwartete. Bald streckte ich mich hinauf und verstaute das Buch am alten Platz. Es war in den späten Mittagsstunden aber Hunger spürte ich nicht. Ich musste erst einmal wach werden und so trat ich in den steinernen Flur hinaus, trottete und schlenderte, rieb mir das Gesicht, fuhr mir durch das Haar und begrüßte jede Ecke, die ich erreichte, mit einem Gähnen. Mein Körper schien dem Schlaf nachzutrauern, mich geradewegs dazu aufzufordern, die Wohltat fortzusetzen. Später vielleicht, nur nicht jetzt.

Das Glück war mir noch nie hold genug, um mich zweimal zu umgarnen. So erst recht nicht zweimal hintereinander. Ich hatte nicht gierig zu werden. Nach einem kleinen Abstecher in die Baderäume schien ich wieder vollständig an der Realität teilzunehmen. Meine Sinne erwachten, meine Augen boten mir ein klares Bild und in behagliches Recken und Strecken vertieft, ging ich einfach geradeaus. Ein zielloser Spaziergänger fand immer seinen Ort.

Durch das Treppenhaus, hinein in den nächsten Gang, um eine Ecke, um eine Zweite und gerade schlich ich mich an einer gewissen Tür vorbei, da lockten Geräusche meine Aufmerksamkeit. Es schien Stimmengewirr zu sein und sofort zog es mich zur Seite und an das massive Holz. Es war ungewohnt laut auf der Seite dieses Flügels. Im Speisesaal schien etwas los zu sein und ich lauschte nur kurz, bevor weitere Laute mich dazu zwangen, nachzuschauen.

Alles, was sich im Speisesaal abspielte, interessierte mich und so streckte ich den Kopf in die Halle.

Flatternd drängte sich Tim über mir durch den Spalt. Alle Bänke sowie Tische waren durch die fleißigen Hände so einiger Finder zur Seite und an die Wände geräumt worden.

Nur vereinzelte waren zurückgeblieben und in einen Halbkreis geschoben. Im Treiben aus Helfern verteilte Jerry Instruktionen. Eine Festlichkeit. Irritiert spähte ich zu den Findern, die auf hohe Leitern gestiegen waren. Sie lehnten an zwei gegenüberliegenden Mauern und dort oben schienen sie mit kleinen Haken beschäftigt zu sein. Ein Banner.

Schlendernd trat ich näher, hörte nun auch die Stimmen der Köche, die hinter der geöffneten Küchentür in allem Fleiß arbeiteten, irgendwas vorbereiteten. Ein neuer Kollege? Ich blieb stehen und juckte mir den Bauch.

Das wäre mir zu Ohren gekommen.

Dann vielleicht ein Geburtstag?

Während Tim mich umflatterte, verfolgte ich grüblerisch, wie die Finder an den Tischdecken zupften, sie zurechtrückten und sich dabei allerlei Mühe gaben. Vermutlich wüsste ich Bescheid, wenn ich selbst mehr Wert auf Dinge solcher Art legen würde.

In meiner Welt reichte es zu wissen, wann man selbst um ein Jahr alterte und so kam es dazu, dass ich planlos dort stand. „Allen!“ Winkend kämpfte sich Jerry durch das Meer der Helfer und lächelnd winkte ich zurück. „Bist du hier, um zu helfen?“ Keuchend erreichte mich der Mann und mein unentschlossenes Stirnrunzeln entging ihm, da er sofort und gerührt seufzte.

„Das finde ich aber nett von dir.“

„So bin ich.“ Es konnte wohl nicht schaden und so blieb ich friedlich neben ihm stehen, das Treiben verfolgend und mir immer noch die alte Frage stellend. Neben mir wurden die Hände in die Hüften gestemmt.

„Wir haben noch drei Stunden!“

Bis was passierte?

Voller Begeisterung fanden seine Augen zu mir. „Glaubst du, er wird sich freuen?“

Wer denn?

Ich nickte und hielt nach dem Banner Ausschau. Wenn sie es jetzt hochzogen, das wäre praktisch. Aber es war nur eine große Rolle Papier, die von zwei Findern herangeschleppt wurde. Ich verengte die Augen und starrte auf dieses Ding.

Ein herzlicher Klaps traf meine Schulter.

„Nun denn, mein herzallerliebster Helfer. Ich zeige dir, was es zu tun gibt.“

Zu tun gab es eine ganze Menge. Ich wusste nicht, für wen ich schuftete aber vermutlich machte ich nichts falsch, wenn ich Einsatz zeigte. Es war ein Berg aus Tellern, den ich zuerst aus der Küche trug.

Vielleicht Lavi?

Nein, wenn ich mich recht erinnerte, feierten wir seinen Geburtstag erst vor kurzem. Ganz würdevoll in einem Zug, kurz nach einer anstrengenden Mission und nicht weit entfernt von der nächsten. Kurz gerieten meine Schritte ins Stocken und schon befreite ich mich von der Last und postierte den Tellerberg auf der Tischdecke.

Doch nicht etwa Kanda?

Seinen Geburtstag konnte sich vermutlich kaum einer merken. Immerhin hatte es zu diesem Anlass noch nie eine solche Feier gegeben, denn an jenen Tagen war er stets und sehr zufällig auf langen Missionen.

Wieder wurde ich auf die Papierrolle aufmerksam. Sie lag jetzt in einer Ecke und offenbarte mir das Geheimnis immer noch nicht. Bookman legte auch wenig Wert auf so etwas.

Ach, es blieben zu viele Möglichkeiten und so vertiefte ich mich wieder in meine Arbeit. Ich kehrte in die Küche zurück und zu weiteren Bergen aus Geschirr und Besteck, die in die Halle geschleppt werden mussten. In der Küche war genauso viel los wie im Saal. Es war laut, eng und hektisch und somit nicht gerade der perfekte Ort für mich. Meine Geduld sowie meine Nerven schienen aufgetankt zu sein nach der Bibliothek und all der Ruhe und Entspannung, die ich dort fand.

Übermütig zu werden, wäre also eine gefährliche Sache. Gerade jetzt, wo ich von der anstehenden Feier erfahren hatte. Es würde so einige Leckereien geben. Bequem klemmte ich mir einen Besteckkasten unter den Arm, griff noch nach der einen oder anderen Kelle und machte mich wieder auf meinen gewohnten Weg. Immer wieder schaute ich nach dem Banner, schaute auch nach den Findern und hoffte, der Fleiß, der mir fehlte, würde sie zu fassen bekommen, auf dass sie sich sputeten.

Lahm schob ich den Besteckkasten auf eine der Tafeln, rückte ihn zur einen Seite, rückte ihn zurück und kratzte mir den Steiß.

Wann kamen die Platten und Häppchen?

Die Köche waren immer noch so eilig am schuften und langsam sah es wirklich so aus, als entstünden die Ergebnisse. Die erste Platte wurde aus der Küche geschleppt und mit einem Mal tauchten auch Blumengestecke auf. Vasen wurden aneinandergereiht, die einen oder anderen Blumen ein letztes Mal gestutzt und während ich dort am Tisch lehnte und Däumchen drehte, nahm alles um mich herum Gestalt an. Es wurde festlich, Platten mit kalten Häppchen reihten sich bald darauf auf dem Tisch und mit jedem Geruch, der mir in die Nase stieg, wurde ich aufmerksamer und wacher.

Mein Appetit war zurück und verstohlen betrachtete ich mir das Meer aus Leckereien, bevor ich in die Küche zurückkehrte. Diesmal war es ein Tablett mit Gläsern, das ich auf der Hand balancierte, als ich mir meinen Weg durch die Masse suchte und die Finder ausweichen ließ. Wie oft ich den Weg gegangen war, das wusste ich nicht mehr aber als ich neben Jerry stehenblieb und noch ein Tablett auf dem Tisch loswurde, beschloss ich, eine Pause einzulegen.

Seufzend besah er sich die Früchte seiner Arbeit und rückte an einzelnen Platten, während ich mich gähnend neben ihm streckte.

„Wunderbar“, bezeugte er seine Zufriedenheit. „Genauso habe ich es mir vorgestellt. Ist es nicht herrlich?“

„Oh ja.“ Beiläufig nickte ich, als mir eine spezielle Platte auffiel. Ich vertrat mir die Beine, plante Übles. „Da wird er sich freuen.“

„Er hat heute Nacht seine Mission beendet und wurde schon zurückgerufen. Bestimmt ist er bald hier. Wir müssen uns sputen.“

Meinetwegen konnten sich alle sputen, mir reichte es.

Plötzlich schnappte Jerry nach Luft und eilte davon.

„Ich bitte Sie!“, hörte ich ihn rufen, als er in der Masse verschwand. „Sie dürfen noch nicht naschen!“

„Aber es sieht so lecker aus!“ Es war Komui, der ebenso energisch antwortete, irgendwo im Gedränge. „Ich muss doch auch mal was essen. Sehen Sie mich an! Ich bin schön völlig abgemagert!“

Die Augen wieder auf jene Platte richtend, stahl ich mich einen Schritt zur Seite, noch einen und nach einem kurzen Prüfen meiner Umgebung einen weiteren.

„Dann gehen Sie in die Küche und lassen Sie sich etwas kochen!“

„Ich kann nicht so lange warten! Sie sind Schuld! Wieso richten Sie das auch so anschaulich her?“

Jetzt oder nie.

Mit unauffälliger Beiläufigkeit bekam ich das Tablett zu fassen, zog es vom Tisch, sobald ich hinter diesen getreten war. Mir die Lippen leckend verschwand ich, hockte ich mich hin, setzte das Tablett auf meine Oberschenkel und machte mich an die Arbeit. Fisch-Häppchen.

Die hätte er verstecken sollen.

Ich hatte meine Ruhe, während ich zwischen Tisch und Mauer hockte und kaute.

Was stellte sich Komui auch so ungeschickt an?

Ich griff nach dem Nächsten, kaute noch und verschlang es trotzdem. Da warteten auch noch Shrimps auf mich und kurz lutschte ich an meinen Fingern, befreite sie von der Marinade und machte gleich darauf wieder von ihnen Gebrauch. Die große Eingangstür wurde stetig geöffnet und geschlossen. Helfer kamen, Helfer gingen und dann zog das laute Rascheln des Banners meine Aufmerksamkeit auf sich.

Fleißig zerrten ein paar Finder an der Leine und mit einem Mal entfaltete sich das Papier und wurde in die Höhe gezogen.

Mit großen Augen blickte ich auf und tastete kauend nach dem nächsten Häppchen.

Crowley war der Glückliche. Da schau her.

Oh, was war das denn?

Neugierig beäugte ich eines der Häppchen, die ich im Mund hatte. Das war ja göttlich. Viel war nicht mehr übrig und ich tat gut daran, den Rest auch noch zu vernichten. Endlich zeigte ich wahren Fleiß und nur beiläufig zog ich Tim am Schweif zu mir, als er sich flatternd über meinem Kopf bewegte. Behaglich kaute ich weiter, spähte zur Seite, spähte zur Tür und bald darauf verlangsamten sich die Bewegungen meines Mundes.

Ich stockte und richtete mich, als Kanda die Halle betrat.

Dass er auftauchte, hatte ich nicht erwartet, doch ich musste zugeben, dass mich etwas anderes viel mehr verblüffte. Es war die Tatsache, dass es seinem Gesicht an jeglichem überraschten Ausdruck fehlte, als sich ihm der Speiseraum in so völlig anderer Form offenbarte. Wie musste ich bei diesem Anblick dreingeschaut haben aber Kanda reagierte so ganz anders und wie so oft in letzter Zeit legte ich immensen Wert darauf, sein Verhalten zu analysieren. Seine Schritte, die nicht innehielten, als er sich einen Weg durch vereinzelte Finder bahnte.

Er hatte es auf einen der Tische abgesehen und letztendlich nur auf eine Flasche Wasser.

Ich hatte mich gereckt, ihm nachgeblickt und während ich nach dem letzten Häppchen tastete, befiel mich ein gruseliger Gedanke. Stirnrunzelnd verfolgte ich, wie er den Deckel vom Flaschenhals löste und sich einen Schluck gönnte. Entweder ihm waren diese Vorbereitungen heute nicht zum ersten Mal begegnet, oder…

Seit geraumer Zeit befasste ich mich auch mit unmöglich erscheinenden Eventualitäten. Sinnierend tastete ich mit den Lippen nach dem letzten Häppchen, schob es mir in den Mund.

War es denkbar, dass ich unter uns beiden der einzige war, der nichts von den Geburtstagen anderer wusste?

War er es vielleicht, der all das nicht vergaß, obgleich es für ihn nicht von Bedeutung sein konnte?

Er ließ sich nicht einmal blicken. Bei keiner Feierlichkeit, doch das schloss nicht aus, dass er davon wusste. So plötzlich, wie er kam, so plötzlich ging er wieder. Das Fläschchen baumelte an seiner Hand und natürlich verfolgte ich, wie er nach draußen verschwand. Er hatte andere Ziele. Bei ihm ging man nicht davon aus, dass er behilflich sein wollte. Seufzend schob ich das leere Tablett unter den Tisch. Noch kurz an der Tischdecke gezupft, die Schandtat getarnt und mit einem Mal tauchte ich wieder ein in das Meer aus Hektik und Lautstärke.
 

-tbc-

15

Als die Feier am Abend begann, kämpfte ich fast permanent damit, mein Gähnen zu unterdrücken.

Trotz meines vorherigen Einsatzes war mir der pompöse Überraschungsmoment entgangen. Ich hatte mich zurückgezogen, war meiner Wege gegangen, hatte nichts getan und davon viel. Durch Träumereien war die Zeit in den Hintergrund gerückt, doch wie Crowleys Reaktion ausgesehen hatte, konnte ich mir vorstellen. Vermutlich so wie jedes Jahr. Bestimmt hatte es Tränen gegeben und kaum erreichte ich die Feier, da hörte ich ihn aus der Menge heraus.

Wie sehr er all das zu schätzen wusste und wie überrascht er war, dass es auch dieses Jahr eine Überraschung gab. Er war stets so ehrlich verblüfft, als rechnete er damit, dass es vergessen wurde.

In diesem Jahr war es nicht der Fall und nur kurz erfassten meine Augen ihn, bevor ich abbog und mich zu den Tafeln stahl. Es war Zeit für das Abendessen. Die Teller waren mir zu klein, also langte ich nach einer leeren Platte und begann sie zu füllen.

Das beladene Tablett auf dem Unterarm, bahnte ich mir dann meinen Weg durch die Masse.

Ich wollte Crowley gratulieren und ihm vielleicht auch sagen, wie fleißig ich geholfen hatte.

„Allen!“

Schon von weitem wurde ich erkannt. Aufgeregt reckte sich ein Arm in die Höhe und lächelnd fand ich mich bei der Gruppe ein. Komui, River, Johnny, Rokujugo und mitten drin das verheulte Gesicht Crowleys. Er begrüßte mich mit einem Seufzen, schien selbst von meiner Anwesenheit so gerührt. Eine komische Sache, denn jede Mission hätte ich dieser Feier vorgezogen aber das musste er nicht wissen.

„Alles Gute zum Geburtstag.“ Ich lächelte, raffte das Tablett höher und liebevoll wurde meine Schulter getätschelt. Neben mir nippte Komui an seinem Champagner.

„Es ist wunderschön geworden!“ Crowley zog die Nase hoch, gestikulierte mit seinem Rotwein. „Und es sind so viele da. Einfach herrlich.“

Wenn ich mich nicht irrte, waren Kanda und ich die einzigen Exorzisten, die hier herumlungerten.

Wirklich lang war die Gästeliste nicht und die restlichen Mitarbeiter, die sich hier nach allen Regeln der Kunst bedienten, hatten vermutlich nur beiläufig aufgefangen, um wen es sich handelte. Aber Crowley war zufrieden und das war die Hauptsache. Beschäftigt fischte ich den nächsten Shrimp von der Platte und wurde gleichzeitig auf einen Donut aufmerksam.

„Heute lassen wir es uns gut gehen“, verkündete Komui. Wieder nippte er an seinem Glas und kurz darauf seufzte er. „Wäre doch meine Linali hier.“

Skeptisch lugte ich zu ihm. Wie selbstlos von ihm.

„Es ist schon in Ordnung!“ Crowley verstand das falsch. „Ich verstehe, warum es nicht ging aber glaub mir, Komui, diese Feier ist mehr als ich mir zu träumen gewagt hätte.“

Gemächlich kaute ich, hatte mir schon den Donut geschnappt. Dafür hatte Komui nur ein weiteres Seufzen übrig. Noch schnell einen Schluck gegen den Frust und schon spähte er um sich.

„Ich habe Hunger“, bemerkte er nebenbei und kurz wurde er auch auf meine Platte aufmerksam. Er lugte zu ihr, bevor ich mich abwandte und sie aus seinem Blickfeld rettete. Daran sollte er gar nicht erst denken. Von der Platte spähte er zur Seite und plötzlich hoben sich seine Brauen.

„Na, sieh mal einer an“, stieß er ungläubig aus und lehnte sich zur Seite, um an dem einen oder anderen vorbei zu spähen. „Das glaube ich ja nicht. Kanda!“

Mit einem Mal begann er zu winken, augenblicklich schlossen sich die anderen seiner Beobachtung an und ich war einer der Schnellsten. Tatsache. Er bewegte sich durch die Menge, hielt inne und starrte, während Komui noch immer winkte.

„Willst du den Geburtstag mitfeiern?“

Ein irritiertes Stirnrunzeln folgte als Reaktion.

„Was für einen Geburtstag?“, hörte ich dann Kandas Stimme. „Ich will nur ein Wasser.“

Schon wandte er sich ab und zog weiter.

Crowley schmunzelte, Jonny grinste und Komui seufzte schon wieder.

„Wie dumm, davon auszugehen. Dabei weiß ich doch, wie schüchtern er ist.“

Die Worte drangen kaum zu mir, denn ich sah Kanda nach, bis er in der Masse verschwand.

Es war amüsant, wie sehr ich davon ausging, dass er von der Feier wusste sowie von ihrem wahren Grund. Fehlschlag. Schmunzelnd wandte ich mich wieder der Gruppe zu.

Es hätte auch nicht zu ihm gepasst.

„Ich hole mir was zu essen“, entschuldigte sich Komui und hob das leere Glas. „Bin gleich zurück. Geht nicht weg.“

Kauend sah ich ihm nach.

„Und?“, wandte sich Johnny indessen an Crowley. „Wie fühlt es sich an, ein weiteres Jahr auf dem Buckel zu haben?“

„Wie soll es sich anfühlen?“ Das verwirrte Crowley. „Ich fühle mich nicht anders als sonst.“

„Wie schnell die Zeit doch vergeht“, wunderte sich River, schnappte nach dem Strohhalm und saugte an seinem Milchshake. „An den letzten Geburtstag von dir kann ich mich noch genau erinnern.“

„Auch an den von unserem Allen“, wies Johnny mit einem Nicken auf mich und ich zuckte nur mit den Schultern und verstaute das letzte Stück des Donuts im Mund. Lachen erhob sich in der Runde.

Ja, daran erinnerte sich wahrscheinlich jeder.

„Wie oft mussten wir den verschieben, weil du auf Mission immer wieder neue Aufgaben gefunden hast?“

„Zweimal?“, grübelte ich und tastete nach vereinzelten Erdbeeren. „Dreimal?“

„Die Köche waren fix und fertig“, lachte Johnny. „Immerhin mussten sie dreimal ein Festessen zubereiten.“

„Hättet ihr es mir gesagt, wäre ich zurückgekommen“, warf ich ein, denn im Nachhinein konnte man das immer behaupten.

„Das ist nicht der Sinn einer Überraschungsfeier.“

„Wenigstens heute haben wir es hinbekommen.“ Zufrieden bewegte River den Strohhalm zwischen den Lippen und sofort verfiel Crowley der alten Sentimentalität.

„Es ist wunderschön.“

Genügsam kaute ich auf der nächsten Erdbeere.
 

Ich blieb nur solange, bis meine Platte leer war. Die Gruppe war immer noch so gesprächig aber für mich gab es etwas Wichtigeres. Ein Fläschchen Limonade war das Letzte, was ich mir stibitzte, bevor ich mich verabschiedete. Zeit gelassen hatte ich mir genug und umso zielstrebiger war ich so zu meinem für heute vorerst letzten Ziel unterwegs.

Sowie dieser Tag endete, so endete auch mein quälerisches Ausharren und mein Warten auf den Moment, an dem man mir die für mich wichtigste Erlaubnis gab. Ich war auf dem Weg in den Krankenflügel und während jeden Schrittes voller Erwartungen.

Wie es um meine Verletzung stand, war nebensächlich. Ich war bereit.

Vielleicht noch eine Stunde, vielleicht noch eine Nacht.

Ich glaubte zu spüren, wie nahe mein Aufbruch war, wie nahe meine Zufriedenheit.

Das Fläschchen baumelte zwischen meinen Fingern, flatternd begleitete mich Tim.

Er hatte vermutlich auch nichts dagegen. In seiner Langeweile neigte er zu irritierenden Verhaltensweisen. Ich musste meine Pause beenden, bevor ich es ihm gleichtat.

Meine Schritte wurden rascher und noch bevor ich die Tür zum Krankenflügel öffnete, da stieg mir schon dieser unangenehme Geruch in die Nase. Desinfektionsmittel. Ebenso andere Gerüche, die ich mir nicht erklären konnte geschweige denn wollte. Ich war nie gerne dort gewesen.

Kurz darauf bot sich mir dieser lange Flur, an welchem sich Türen aneinanderreihten.

Behandlungsräume, Patientenzimmer. Hier war alles zu finden und schlendernd zog ich an einem Bett vorbei, welches seinen seltsamen Platz außerhalb gefunden hatte. Auch kleine, mit Medikamenten und anderen Utensilien beladene Wägen schob ich mir aus dem Weg und begann mich nach der richtigen Tür umzuschauen. Durch eine von ihnen drang ein Husten, ein leises Rascheln ertönte hinter einer anderen und kurz meinte ich auch die Stimme einer Krankenschwester zu hören.

Eine andere offenstehende Tür lockte mich kurz darauf und sofort trat ich an sie heran.

„Hallo?“ Ich lehnte mich hindurch, geradewegs in den dahinterliegenden Raum, doch es waren lediglich drei leere Behandlungsliegen, die sich meinen Augen boten. Ich lehnte mich weiter, als ich auf eine dünne, weiße Trennwand aufmerksam wurde. „Jemand hier?“

Doch keine Antwort, kein Geräusch und Stirnrunzelnd schob ich mich zurück.

Wenn ich mich nicht irrte, hatte ich den einen oder anderen Arzt auf Crowleys Feier gesehen.

Hoffentlich gab es hier überhaupt noch jemanden, der meinen Freibrief unterzeichnete.

Ich blähte die Wangen auf, gedankenverloren schoben sich meine Finger zum Bund der Hose und so trat ich zurück, wandte mich um und erstarrte. Ein Stich schien geradewegs von meinem Herzen aus durch meinen gesamten Leib zu zucken. Bis in meine Fingerspitzen, die sich schwer damit taten, den Hals des Fläschchens nicht entgleiten zu lassen.

Plötzlich stand er vor mir. So nahe, dass nicht mehr viel gefehlt hätte.

Im letzten Moment hatte auch er innegehalten, seine Schritte hatten ihn zur Seite geführt, an mir vorbei und in eine Sicherheit, in die ich nicht hineinreichte. Ich hatte nicht mit damit gerechnet und es war allein ein flüchtiger Moment, eine nur zu erahnende Sekunde, in welchem ich seine Augen erfasste.

„Geh mir aus dem Weg.“ Er hatte es eilig und so erstarrt mein Körper auch war, es trieb ihn zurück und gegen den Türrahmen, als sich Kanda an mir vorbei schob und in den Raum spähte.

Eine Brise folgte ihm. Sauber, frisch. Ein dezenter Duft von Seife. So flüchtig, so fragil, und doch schien mich dieser Hauch so immens einzuhüllen, dass ich nichts tat, wonach die Situation verlangte.

Aus dem Weg gehen, einen Schritt zurück, irgendwohin. Doch ich blieb stehen.

Es schien meiner Kontrolle zu entrinnen. Einfach alles und wie zielstrebig war währenddessen der Weg meiner Augen. Er führte mich über seinen Hals, tiefer und endete am Saum seines Hemdes. Nur ein Moment, bis ich mich losriss. Es war, als hielte jeder neue Tag Facetten bereit, die es galt, an ihm zu entdecken.

Was mich letztlich in die Realität zurückstraucheln ließ, war sein Brummen, als er in dem Behandlungszimmer nicht viel mehr entdeckte, als ich. Ein dünner Atemzug strömte aus meinem Körper, als Kanda abermals an mir vorbei trat und zurück in den Gang.

Noch immer den Türrahmen im Rücken, harrte ich aus in der Haltung, in der keine Entspannung zu finden war. Nur leise erhoben sich seine Schritte. Sie entfernten sich, ich blickte ihnen nicht nach und vernahm das Klicken einer Tür, die ohne Zurückhaltung geöffnet wurde.

„Gibt es hier noch jemanden, der seine Arbeit tut?“, erhob sich seine Stimme und endlich folgten meine Augen ihrem Laut. In einen anderen Raum hatte er sich gebeugt und offenbar jemanden gefunden.

Ein Räuspern folgte auf seine Frage.

„Worum geht es denn?“

„Darum, dass ich einen Arzt suche. Sie sehen nicht aus, als wären Sie einer.“

Es fiel mir schwer, mich wach zu blinzeln aus diesem seltsamen Zustand, zurück zu gelangen in die Wirklichkeit und es brauchte einen tiefen Atemzug. Noch einen und dann hob sich meine Hand kurz zur Brust und wurde Zeuge dessen, das ich bislang nur vermutete.

Mein Herz schlug so dumpf, als hätte ich meinen Leib zu Höchstleistungen getrieben.

Es blieb eine Empfindung, die sich wiederholte und ich stand noch immer nur dort, während sich die Stimmen gar nicht weit entfernt erhoben. Kandas Art, jemanden zu finden, war so viel effektiver als meine. Vermutlich machte ich keinen Fehler, wenn ich hier stehenblieb und von seiner Art profitierte.

Und wirklich, durch ihn kam die Sache ins Rollen und als er wieder im Flur erschien, hatte er wirklich einen Arzt im Schlepptau.

Für ihn, selbstverständlich.

Seine Fürsorge hatte Grenzen, doch es dauerte nicht lange, bis auch für mich jemand gefunden wurde.

Gemeinsam traten Kanda und ich so in jenes Untersuchungszimmer und während mein Arzt sich diversen Schubläden zuwandte, machte ich mich an meinem Hemd zu schaffen. Schnell einen Knopf aus dem Loch gedreht und kaum hatte ich mir den Stoff über den Kopf gestreift, da erhob sich die Stimme des anderen Arztes.

„Krämpfe in der Wade, sagten Sie?“

Ich spähte zu einer der anderen Liegen und verfolgte, wie Kanda sich auf sie schob. Flink war er aus den Schuhen geschlüpft und beiläufig warf ich mein Hemd auf meine Liege, tastete hinterrücks nach der Kante und setzte mich.

„Wie ich hörte, waren Sie in langwierige Kämpfe verstrickt und schliefen anschließend sehr lange. Vielleicht haben Sie nach dieser massiven Anstrengung einfach nur zu wenig getrunken?“ Der Arzt ließ sich neben der Liege nieder und Kanda machte sich lang.

„Sorgen Sie nur dafür, dass es nicht wieder vorkommt.“ Er rückte er sich zurecht, streifte das Hosenbein hinauf und entblößte die Wade. „Ich muss los.“

Noch heute Abend führten unsere Wege also wieder auseinander.

Wir brachen auf. Leider nicht gemeinsam.

Kanda schob einen Arm unter den Kopf und betrachtete sich die Decke, während geschulte Hände sein Bein abtasteten, bewegten und dehnten. Ich beobachtete es, bis mein Arzt mein Blickfeld störte. Er zog einen Hocker näher und wie aufmerksam musterte ich seine Mimik, als er mich in Augenschein nahm. Äußerlich war kaum noch etwas zu erkennen. Die Hämatome waren beinahe verblasst.

„Sagen Sie, wenn es schmerzt“, murmelte er und während er meine Rippen betastete und er tat es eine ganze Weile, ohne dass ich kommentierte. „Hier?“ Er drückte mit der flachen Hand und ich schüttelte den Kopf.

Natürlich tat es weh, doch der Schmerz dieses Arrests war stärker.

Wäre ich ehrlich, bestand im besten Fall die Gefahr, dass Komui mich auf Missionen schickte, die mich schonen sollten. Einfache Angelegenheiten, bei dem keine Kämpfe erwartet wurden. Mühselige, nervige Recherchen und somit genau das, was ich verhindern wollte. Kühl spürte ich kurz darauf das Stethoskop auf meiner Haut, dann atmete ich tief und beflissen und sah ein vielversprechendes Nicken.

„Sie können aufbrechen.“

Was für herrliche Worte. Es fiel mir schwer, ein Grinsen zu unterbinden und während der Arzt zu den Schubfächern zurücktrottete, griff ich bereits nach meinem Hemd. Den Weg zu Komui würde ich so schnell hinter mich bringen wie noch nie zuvor. Flink schlüpfte ich in den Stoff und rutschte von der Liege.

„Geben Sie in nächster Zeit nur Obacht auf Ihre Rippen. Die Brüche sind noch nicht vollständig verheilt“, wandte sich der Arzt noch an mich, als ich bereits auf dem Weg zur Tür war. „Die nächste Heilung würde mehr Zeit in Anspruch nehmen.“

„In Ordnung.“

Es war mir so egal, ich wollte nur noch weg. Ich öffnete die Tür, wieder drang mir dieser seltsame Geruch entgegen und als Tim an mir vorbeiflatterte, so aufgeregt, als wüsste er von der bevorstehenden Mission, da drehte ich mich um und sah Kanda noch immer dort liegen.

„Kanda.“

Er wandte das Gesicht zu mir und sah mich heiter winken.

„Pass auf dich auf.“

Seine Stirn runzelte sich verständnislos. Damit hatte er nicht gerechnet.

„So etwas höre ich mir von einem zwölfjährigen Invaliden nicht an“, bekam ich letztendlich zur Antwort. „Geh und lass dir irgendwas brechen.“

Ach, wie herrlich.

Vergnügt verließ ich das Zimmer.
 

Da war sie, diese herrliche, schwarze Mappe und sofort ließ ich mich mit ihr auf dem Sofa nieder. Komui hatte sich von der Feier losreißen können. Eine Leistung, die mir zugute kam und mich nahe an die nächste Mission heranführte. Ich öffnete die Mappe, während er an dem Champagner nippte, den er hatte mitgehen lassen.

„Diese Mission ist wichtig“, erklärte er, als er das Glas sinken ließ und bereits in die Schrift vertieft, nickte ich. Es war auch eine kleine Karte, die ich mir betrachtete. Der Weg führte mich diesmal nach Belgien. Wieder einmal.

„Es handelt sich um eines unserer Lager in Mons.“

Die Lager dienten zur Ausrüstung und Genesung vorbeikommender Exorzisten. Ein Ort, an dem man sich erholen und schlafen konnte. Wie eine Etappe, die man mit dem Erreichen des Lagers hinter sich brachte.

„Was stimmt mit diesem Lager nicht?“, erkundigte ich mich und Komui lehnte sich zurück.

„Seit etwa zwei Monaten hat dieses Lager seinen Zweck verloren. Exorzisten, die sich dort eine Ruhepause gegönnt haben, gerieten in einen großangelegten Hinterhalt, kurz nachdem sie das Lager verließen.“

Stirnrunzelnd blickte ich auf und sah ein ernstes Gesicht.

„Vor zwei Wochen geriet auch Linali in Gefahr. Nicht einmal einen Kilometer vom Lager entfernt. Bis zu 4 Level-3-Akuma lauerten den einzelnen Exorzisten auf, wodurch wir uns die Frage stellen, weshalb die Akuma von den Wegen der Exorzisten erfahren und das tun sie, weil sie in der geplanten Richtung lauern.“

„Du vermutest einen Verräter unter den Leuten.“ Ich sprach aus, was ich dachte und sofort nickte Komui.

„Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte. In diesem Lager gibt es von Findern, über Köchen bis zu Ärzten jeden, der in Kontakt zu dem Grafen stehen und ihm Informationen zuspielen könnte. Deine Aufgabe ist es, zu recherchieren und, wenn es sich wirklich um einen Verräter handelt, dich um diesen zu kümmern.“

„In Ordnung.“ Somit schloss ich die Mappe und kam auf die Beine. Tim flatterte bereits zur Tür. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“

„Viel Glück.“ Mir wurde gewinkt und kurz hob auch ich die Hand, bevor ich mich abwandte und meinem Golem folgte. „Pass auf dich auf.“

Als ich durch die Wissenschaftsabteilung schlenderte, kam ich nicht um ein Seufzen und bewegte die Mappe auf der Schulter. Es zog mich nach draußen. So stark, so verlockend, dass ich mich sputete, mein Zimmer zu erreichen.

Genüsslich streifte ich mir die Winteruniform über. Sie war bequem, saß perfekt und fürsorglich schloss ich die einzelnen Schnallen, rückte den Gürtel zurecht und stieg in die warmen Stiefel. Kurz darauf verließ ich schon das Zimmer, tat es endlich wieder für längere Zeit und die Mappe unter dem Arm trat ich dann hinaus in die Eiseskälte der Nacht.

Die untätige Zeit, die hinter mir lag, erschien so endlos und selbst der Anblick des Bahnhofes, den ich nach einem längeren Marsch erreichte, erwärmte mir das Herz. Dieser Ort war wie ein alter Freund. Kein sonderlich schöner oder warmer aber ich war nicht wählerisch und gesellte mich sofort zu dem Fahrplan. Ich würde fließend vorankommen, nicht lange warten müssen und das Umsteigen blieb bei einem einzigen Mal. Sechs Stunden und ich wäre am Ziel.

Mein Auftauchen würde überraschend sein, nicht vorgesehen, nicht geplant. Niemand würde darüber informiert sein und vermutlich brachte mir das mehr als nur einen Vorteil.
 

-tbc-

16

Eisig blies der Wind auf der riesigen Steppe Belgiens. Es war eine reine, kalte Natur, die mich auf dem letzten Stück des Weges begleitete. Leichter Schnee fiel, wurde von den Böen in ein einziges Gewirr gestürzt und erschwerte mir die Sicht. Es war schwierig, an der Richtung festzuhalten, doch weit entfernte Umrisse eines Berges erleichterten mir die Sache.

Tief in den Mantel gehüllt und Tim unter dem robusten Stoff verbergend, stieg ich durch das gefrorene, mit Schnee belastete Gras. Wild flatterte mein Mantel in dem Wind und nicht selten schirmte ich die Augen mit der Hand ab, um mich nach jenen Berghängen umzusehen. Der Schnee machte die Nacht etwas heller.

Es musste bereits in den Morgenstunden sein. Als ich den Bahnhof Belgiens verließ, schlug die Uhr eins und seitdem war nicht viel Zeit vergangen. Aufmerksam festigte ich die Kapuze mit der Hand, schob mich an einem kahlen Gebüsch vorbei und sah ein Meer aus ebenso kahlen Bäumen vor mir.

Als ich den Wald erreichte, verstummte das Pfeifen des Windes in meinen Ohren.

Wie schwarze Schatten umgaben mich die Bäume, als ich meinem Ziel näher kam.

Ein Verräter, also. Jemand, der meine Welt bedrohte. Meine Kameraden. Der sie auslieferte und sich selbst in Sicherheit wiegte. Es war eine der Missionen, die mich lockten. Eine Gelegenheit, meine persönliche Gerechtigkeit auszuleben und Exempel zu statuieren. Wer so etwas tat, blieb nicht dauerhaft in Sicherheit. Vor allem nicht, wenn ich auftauchte.

Aufmerksam umging ich eine tückische Wurzel, schob mich unter einem Ast vorbei und streife die Kapuze tiefer in mein Gesicht. Unter meinem Mantel regte sich Tim, sanft streiften seine Flügel meinen Körper und flüchtig spähte ich zur Seite und zum Meer aus Stämmen und kargen Ästen.

Schwarze Gebilde, die aus dem weißen Boden ragten und zwei Gestalten dennoch nicht vor meinen Augen verbargen. Sie folgten mir. Nicht sehr lange, noch nicht sehr weit, doch fühlten sich während der gesamten Zeit sicher vor meiner Aufmerksamkeit.

Sie stellten sich nicht dumm an, waren vorsichtig, doch bestenfalls sicher vor den Augen eines gedankenlosen Menschen.

Ich zog weiter und spürte unter den Sohlen meiner Stiefel bald das Eis eines Weihers. Er lag verborgen unter dem Schnee und ich versuchte ihn mit den Augen zu erhaschen, senkte das Gesicht und lauschte währenddessen dem leisen Knacken, das sich mit einem Mal rasch näherte.

„Stehenbleiben!“ Abrupt erhob sich eine nachdrückliche Stimme hinter mir. „Wer bist du?!“

Forsch stellte man mir diese Frage und ich schöpfte tiefen Atem, tastete nach meiner Kapuze und streifte sie von meinem Schopf. Gleichsam wie ich mich umdrehte und die beiden Finder mit einem Lächeln grüßte. Augenblicklich verlor sich die Strenge aus ihren Gesichtern. Ihre Brauen hoben sich voll Verwunderung und grüßend winkte ich ihnen.
 

Genüsslich verdrehte ich die Augen und seufzte unter dem herrlichen Kakao. Vor mir auf dem Tisch reihten sich schon die einen oder anderen Speisen und guter Laune leistete man mir Gesellschaft.

„Schmeckt er Ihnen?“ Mit großen Augen neigte sich ein Koch aus der Menge und sofort nickte ich.

Fast so gut wie der von Jerry. Ich nahm noch einen Schluck, wurde die Tasse los und zog einen Tiegel mit Würzfleisch zu mir. Behaglich begann ich zu essen, während sich mehr und mehr Finder um mich sammelten. Es waren etwa zwanzig, die hier stationiert waren. Neben wenigen Köchen, Ärzten und Mechanikern. Sehr viele waren es also nicht aber die, die es zu mir zog, hielten sich mit Fragen nicht zurück.

„Wie geht es Komui?“, erkundigte sich ein junger Finder, der mir direkt gegenübersaß.

„Ich war seit einem Jahr nicht mehr im Hauptquartier“, sagte ein älterer. „Hat sich dort viel verändert?“

Nur beiläufig schüttelte ich den Kopf.

„Eigentlich gar nichts.“ Wieder versenkte ich die Gabel im leckeren Allerlei. „Und Komui geht es auch gut.“

So gut, wie es ihm eben gehen konnte.

„Wie kommt es, dass Sie uns besuchen?“, folgte schon die nächste Frage und nur kurz lugte ich zu dem Finder, der grinste.

„Wir haben uns nur gewundert, weil wir nichts davon wussten“, gab ein anderer zu. „Nicht, dass wir uns nicht freuen.“

„Ach.“ Schulterzuckend schob ich den leeren Tiegel von mir und hielt nach dem nächsten Ausschau. „Ich war nur in der Nähe und dachte, ich schau spontan vorbei. Ich muss auch bald wieder los.“

„Sie verlassen uns schon wieder, Walker?“ Ein weiterer Finder drängte sich durch die kleine Gruppe. Er sah nicht begeistert aus.

„Sie sind ein angenehmer Gast“, freute sich der Koch, der hinter mir stand, als müsse er mit Adleraugen über meine Reaktionen auf das Essen achten. „Und, wenn ich das sagen darf, ein sehr guter Esser.“

Lachen erhob sich in der Runde und gelöst lächelte ich mit.

Annähernd alle Finder hatte es an meinen Tisch gezogen und während sie lachten und ich es mir schmecken ließ, stellte ich mir nur eine Frage: Wo versteckte sich der Bastard?
 

Als sich der Trubel legte und jeder Teller von seiner Last befreit war, begann ich mir das Lager zu betrachten, spazierte durch das riesige Zelt und irgendwann blieb ich stehen und blickte zum höchsten Punkt des Gebäudes auf. Die dicken Planen knisterten unter dem eisigen Wind, der sich von außen gegen sie drängte, doch hier im Innenraum war es behaglich warm.

Ich war schon in so einigen Lagern gewesen, hatte Kräfte getankt, ordentlich gegessen, geschlafen und mich für weitere Wege vorbereitet. Es waren Zeiten, die mir positiv in Erinnerungen geblieben waren und ich hatte das Gefühl, dieses Lager, hier in Belgien, würde später nicht zu ihnen zählen.

Ich war nicht auf der Durchreise, war auch nicht spontan hier und während ich mir die Einrichtung betrachtete, grübelte ich über den besten Plan.

Ich hatte nicht vor, diese Mission in die Länge zu ziehen. Im Grunde war sie zu simpel, um sich lange mit ihr zu befassen und es dauerte nicht lange, bis ich auf die richtige Spur kam. Ein durch und durch sicheres Vorhaben, das ich auf die Morgendämmerung verlegte.

Mit meinem Besuch würde es enden.

Die Gefahren, die meinen Kollegen nach Verlassen dieses Lagers ausgesetzt waren sowie das falsche Spiel, das man mit ihnen trieb. Geheuchelte Freundlichkeit. Es gab den einen, möglicherweise auch noch den anderen, dessen Lächeln und dessen Freundlichkeit nicht der Wahrheit entsprachen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich ihm auf die Schliche kam und er sich wünschte, nie geboren worden zu sein.

Langsamen Schrittes betrat ich einen hinteren und leicht abgelegenen Teil des Zeltes. Ein Lagerraum, in dem ich das zu finden hoffte, was ich benötigte.

An langen Regalen trottete ich vorbei. Die Augen auf die Aufschriften an Kisten und anderen Behältern gerichtet und es dauerte nicht lange, bis ich stehenblieb und mich zu einer Kiste hinauf streckte. Ich zog sie hervor, löste die Verriegelung und besah mir zufrieden die große Anzahl Golems, die hier auf ihren Einsatz wartete. Sie würden mir behilflich sein. Mehr brauchte ich nicht und letzten Endes nahm ich neun von ihnen an mich.
 

Letztlich fand ich meine Ruhe in einem der Betten und in einer abgeschotteten Ecke, umgeben von Stille. Nur das Rascheln des schweren Stoffes, der sich immerfort unter dem Wind bewegte.

Der weitere Verlauf der Mission stand fest. Ich nahm mir nur diese eine Pause und sie würde nicht lange andauern, bevor ich den Plan in die Tat umsetzte. Tims Schweif streifte meinen Arm und tief durchatmend umfasste ich seinen knolligen Körper mit beiden Händen und hob ihn vor mein Gesicht.

„Du bist dick geworden“, sagte ich und er öffnete das Maul. „Bestimmt, weil du mir immer die Hälfte weg frisst. Irgendwann wirst du platzen.“ Mit großen Augen sah ich ihn an und ihn mit den Flügeln schlagen, als wolle er diese Warnung zurückgeben. „Ich platze nicht, wenn du darauf hinaus willst. Für mich ist es in Ordnung, soviel zu essen. Bei dir bringt es nur den Stromkreis durcheinander.“ Energisch schloss sich sein Maul um meinen Daumen. „Werd nicht frech.“

„Walker?“, erhob sich da eine Stimme und ich erkannte einen jungen Finder. Mit einem scheuen Lächeln trat er zu mir. „Störe ich Sie?“

Beiläufig bewegte ich den Golem auf der Decke und gleichzeitig fragte ich mich, woher ich das Gesicht kannte.

„Nein.“ Ich knautschte Tim ein letztes Mal und entließ ihn zurück in die Freiheit. Sofort flatterte er in die Höhe und ich nahm kaum wahr, wie er sich in meinem Knie verbiss. Es musste das Wetter sein, das sich so negativ auf seine Stimmung auswirkte. Leise trat der Finder näher.

„Erinnern Sie sich? Ich war etwa zwei Wochen mit Ihnen in Russland.“

Jetzt, wo er es sagte. Es war die Mission, auf die jene Besprechung folgte. Seitdem war viel passiert aber erinnern tat ich mich sehr gut daran.

„Ach ja.“ Ich grübelte. „Johnson war der Name, nicht?“

„Ja, genau!“ Sein Gesicht erstrahlte. Er freute sich, dass es mir nicht entfallen war. „Ich wäre gerne weiter mit euch Exorzisten auf Reisen gegangen, wurde aber hierher versetzt.“

„Nicht besonders reizend“, murmelte ich. „Ist ganz schön kalt hier.“

„Da sagen Sie etwas Wahres.“ Lachend kratzte er sich im kurzen Schopf und nachdenklich presste ich die Lippen aufeinander. „Wie geht es Ihnen? Sie sehen sehr erholt aus.“

„Wirklich nötig hatte ich die Pause nicht“, erwiderte ich. „Mir war nur nach ein bisschen Wärme.“

„Sie brechen bald wieder auf?“

„In zwei bis drei Stunden.“ Träge machte ich mich lang und verstaute die Arme unter dem Kopf. „Je nachdem wie das Wetter ist. Ich gehe Richtung Tournai. Kennst du die Stadt?“

„Tournai?“ Nachdenklich rieb er sich das Kinn. „Der Name sagt mir etwas aber ich war noch nie dort.“

„Viel gibt es da auch nicht zu sehen“, sagte ich und begann mir das Dach des Zeltes zu betrachten. „Aber ich muss dorthin. Da kann man nichts machen.“

„Schätze nicht, nein.“ Wieder lachte er. „Ich würde trotzdem gerne...“

„Johnson?“

Plötzlich wurde er gerufen und wandte sich um. Er spähte zum Durchgang und ich zu ihm. Nur flüchtig und es dauerte nur wenige Momente, bis der leitende Finder erschien und ihn mit sich winken wollte. Als er mich sah, hielt er inne.

„Haben Sie etwas mit Johnson zu besprechen?“, wollte er wissen aber das war nicht der Fall. Er konnte ihn mitnehmen und kaum hatte er sich verabschiedet, da kam ich auf die Beine.
 

„Wohin führt Sie der Weg?“ Als ich dabei war, mir noch einen Kakao zu besorgen, leistete mir ein weiterer Finder Gesellschaft.

„Ich muss nach Ronse“, antwortete ich und sofort nickte er.

„Da war ich erst vor kurzem. Eine schöne Stadt.“

„Ja.“ Da konnte ich nur zustimmen und sofort ging das Interesse an dem Gespräch verloren, als ich die dampfende Tasse sah, die der Koch mir servierte. Mein Gesicht erhellte sich. „Vielen Dank.“

„Nicht der Rede wert.“ Stolz übergab der Mann mir die Tasse. „Scheuen Sie sich nicht, mit Wünschen auf mich zuzukommen.“

Geschmeichelt nickte ich, hielt die Nase in den Dampf und schlenderte davon. Vorbei an vereinzelten Tischen, auch an vereinzelten Hungrigen und es war einer, auf den ich im Vorübergehen aufmerksam wurde. Er saß alleine dort und ich schlenderte noch ein paar Schritte, bevor ich inne hielt. Ich runzelte die Stirn, ließ die Tasse sinken und kaum hatte ich mich zu ihm umgedreht, da war er auch schon auf mich aufmerksam geworden. Er hob die Brauen und ich den Zeigefinger.

„Nach Halle ging es noch mal wo entlang?“

„Nach Halle?“ Er richtete sich auf und unter einem Seufzen ließ ich die Hand sinken.

„Meine Orientierung war schon mal besser.“

„Das ist doch kein Problem.“ Sofort winkte er ab und verschaffte sich einen knappen überblick. Er spähte nach links, nach rechts und es dauerte gar nicht lange, da wies er in eine Richtung.

„Nordost.“

„Wirklich?“, erkundigte ich mich aber er war sich sicher und so ging ich weiter.

Ich hatte noch viel zu tun.
 

„Warst du schon einmal in Nivelles?“ Beiläufig stellte ich diese Frage an einen Finder, als ich den Vorraum des Zeltes erreichte. Er war an einem Karton mit Unterlagen zugange, blickte nun auf.

„Nivelles?“

„Dort muss ich hin.“ Genüsslich nippte ich an der Tasse. „Ist es eine schöne Stadt?“

„Da bin ich mir nicht sicher“, musste der Finder zugeben und ließ kurz von seiner Arbeit ab. „Ich bin seit einem halben Jahr hier stationiert und war davor auch nicht viel unterwegs.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein.“

„Ich werde es sowieso bald herausfinden.“ Ich winkte. „Trotzdem danke.“

Verlegen winkte er zurück und kaum war ich weitergezogen, erhob sich schon wieder das Rascheln der unzähligen Blätter hinter mir.
 

„Sie müssen nach Charleroi?“ Der leitende Finder blickte von seinen Unterlagen auf und wieder nippte ich an der Tasse. Dieser Kakao war einfach herrlich.

„Mm.“ Ich wendete das heiße Getränk im Mund. „Haben Sie zufällig eine Karte?“

„Eine Karte.“ Nachdenklich sah er sich um. „Im Lagerraum ist gerade jemand mit Ordnen beschäftigt. Wenn Sie ihn fragen würden. Er kann Ihnen sicher weiterhelfen.“

„Danke.“ Verabschiedend hob ich die Tasse, verließ die Ecke des Zeltes und trödelte zu der anderen. Wo der Lagerraum war, das wusste ich und wirklich, da war ein Finder zugange und sofort fragte ich ihn.

„Eine Karte, auf der Philippeville verzeichnet ist?“

„Genau, ich bin mir nicht sicher, den Weg dorthin ohne Karte zu finden.“ Mit einem Nicken wies ich zur Wand des Zeltes. „Gerade in diesem Schneegestöber ist es schwer, den Überblick zu bewahren.“

„Das stimmt.“ Gerne ließ der Finder von seiner Arbeit ab und kaum versah ich mich, da wühlte er schon in den einzelnen Regalen. Er suchte und rückte, bis er fündig wurde und kurz darauf hatte ich meine Karte.

Es lief alles nach Plan.

Im Verlauf der nächsten Stunde tat ich nichts anderes als umherzuwandern, den Findern Gesellschaft zu leisten und letztendlich doch nur die potentiellen Verräter auszuspionieren. Ich lachte mit ihnen, scherzte, log und heuchelte, während ich den vereinzelten die Namen verschiedener Städte unter die Nase rieb. Gewisse Richtungsangaben, die ich verteilte, jeden in einem anderen Glauben belassend. Mal kehrte ich nach Frankreich zurück, mal blieb ich in Belgien. Norden, Süden, Osten, Westen.

Mein Weg führte überall hin und ich spürte, wie diese Bewegung in meinen Plan einfloss. Es war alles festgelegt.

Schon während der Reise hatte sich mir die Möglichkeit offenbart, diese Mission in kürzester Zeit zu erledigen. Sie wirkte schwerer als sie war. Offiziell kam der Zeitpunkt meiner Weiterreise näher. Bleiben tat eine Stunde, an die ich mich zu halten hatte. Genug der Gesellschaft, genug der Vorarbeit. Ich zog mich in eine unauffällige Ecke zurück, um die letzten Vorkehrungen zu treffen. Reglos lagen die schwarzen Golems vor mir. Im Schneidersitz hatte ich hinter einer Plane Schutz gefunden und machte mich mit einem winzigen Schraubenzieher an den Kommunikationshilfen zu schaffen. Die Stimmen der Finder und des übrigen Personals drangen zu mir, jedoch nicht in meine Wahrnehmung, während ich die Lippen aufeinander presste, konzentriert die Augen verengte und die kleine Klappe des ersten Golems öffnete.

Wenn man es einmal verstanden hatte, dann war die Technik nicht schwer zu durchschauen.

Es war nicht das Gebiet, in dem ich groß auf mich aufmerksam machte, doch mein Wissen genügte den Zwecken der Mission und einen nach dem anderen Golem schaltete ich von den automatischen Einstellungen in die Manuelle, lokalisierte einen Ort und speicherte ihn in ihrem Bewegungszentrum.

Sie würden dort sein, wo ich sie benötigte und mir zutragen, was sich an jenen Orten abspielte.

In einem unauffälligen Beutel schmuggelte ich sie anschließend hinaus und machte mich selbst bereit für den Aufbruch. Es wirkte ernstzunehmend und so schlüpfte ich in die Uniform und streifte mir den Mantel über die Schultern. Ich brach auf und nahm mir nur kurz Zeit, mich von Findern zu verabschieden, die zu diesem Zeitpunkt Kontakt zu mir suchten.

Ich schüttelte Hände, lächelte, wünschte ihnen alles Gute und nahm dankend den Proviant des Koches entgegen. Und ich lag zufriedenstellend im Zeitplan, als ich hinaus in die klirrende Kälte trat und hinter weit entfernten Bergspitzen den Sonnenaufgang vermutete. Es dämmerte bereits und ein mögliches Schneegestöber blieb aus, als wolle mich selbst die Natur in meinem Plan unterstützen.

Nach einem letzten Wink setzte ich mich in Bewegung. Hart knackte der Schnee unter meinen Stiefeln. Mit jedem Schritt sank ich ein, jeder Schritt war beschwerlich, doch meine Sinne konnten sich nicht darauf richten. Sie lasteten viel eher auf der Tatsache, dass ich mich in die geplante Richtung bewegte.

Gen Norden.

Hin und wieder drehte ich mich um, sah das Zelt in seiner Größe abnehmen, immer mehr Distanz zwischen mir und jenem Lager und es war eine kleine Baumgruppe, die ich noch hinter mir ließ, bevor ich stehenblieb und den Beutel mit den Golems ins Freie zog.

Ich gab es zu, ich war gespannt und einen nach dem anderen holte ich hervor, aktivierte ihn und ließ ihn in die programmierte Richtung flattern. Ich sah ihnen nach und kaum waren die schwarzen Punkte im weißen Nichts der Steppe verblasst, ließ ich Timcanpy einen Kanal zu jedem von ihnen öffnen. Meine folgenden Schritte tat ich leise und aufmerksam.

Entweder ich wäre derjenige, der unerwartet auf den Feind traf oder dieser Zufall richtete sich gegen einen der Golem. Treffen würde es letzten Endes jemanden und im Grunde wünschte ich, ich wäre derjenige. Es würde mir die Sache erleichtern, doch vermutlich war solch ein Glück nicht auf meiner Seite. Das war es selten und ich hatte nicht das Gefühl, heute wäre einer dieser besonderen Tage.

Ich stapfte weiter, mein Ziel lag auf dem Weg und keine halbe Stunde später durchquerte ich einen Wald. Hinter den kahlen Stämmen und Ästen erwartete mich eine weite, übersichtliche Flur und es war ein steinerner Vorsprung, den ich nutzte, um mich nieder zu kauern. Durch ein karges Gebüsch gelang mir die freie Sicht auf die Steppe.

Würde sich dort auch nur etwas bewegen, sei es noch so gut getarnt, es wäre nichts, das meinem Auge entging. Tim hielt sich neben mir. Noch immer hielt er den Kontakt zu den anderen Golems, die sich im Gegensatz zu mir weiterbewegten.

Nun hatte ich zu warten.

Tief atmete ich durch, weiß beschlug mein Atem in der klirrenden Luft und irgendwann versenkte ich die Hand unter der Kapuze des Mantels und kratzte meinen Schopf. Hier und jetzt war es kein Problem, die Aufmerksamkeit abschweifen zu lassen und kaum gab ich mir diese Erlaubnis, da driftete ich auch schon zurück zu den letzten Tagen, die ich im Hauptquartier verbrachte.

Mein Blick auf die weiße Ebene begann zu verschwimmen und nur ungern gab ich mich der Erinnerung an jene Alpträume hin. Es war seltsam. Zu manchen Zeiten blieb ich frei von Erlebnissen dieser Art. Zu gegebenen Zeiten schlief ich tief und ungestört, um am nächsten Morgen die Augen zu öffnen und mich wohl zu fühlen. Zeiten, in denen mir der Schlaf das brachte, was er versprach. Ohne finstere Überraschungen, Schweiß und das Zittern meines Körpers. Zu manchen Zeiten reihten sich jedoch diese Erlebnisse aneinander wie eine endlose Kette, die von vorn begann, sobald man ihr Ende erreichte. Etwas Derartiges war es wohl, das hinter mir lag und plötzlich stellte ich mir die Frage, wie ich mich dieser drückenden Enge entledigt hatte.

Es war zuweilen schwierig, in die Realität zurückzukehren und ihr treu zu bleiben, sich zu erholen und jenen Alb zu vergessen. Oft schleppte ich mich über lange Strecken, bevor ich das erlebte, was man als den Alltag bezeichnete.

Vorletzte Nacht, erinnerte ich mich, war es geschehen, doch nun kauerte ich hier und tat es so ruhig, als wären die letzten Tage und Wochen friedlich vergangen. Eine seltene Begebenheit, die mich mit vielen Fragen belud. Ich kannte mich doch. Ich kannte die Kraft, die ich aufzubringen hatte, hatte mich stets selbst therapiert, doch diesmal war es anders gewesen und ich spürte den Deut eines Schmunzelns, als meine Gedanken unaufhaltsam zu jenem Kameraden drifteten.

Meine Lippen verzogen sich deutlicher, verstohlen senkten sich meine Lider und kurz darauf rieb ich mir das Kinn.

Er.

Vermutlich hatte er weitaus mehr getan, als ich zu jenen Zeitpunkten bewusst wahrgenommen hatte. Vermutlich war er fleißiger gewesen, als es den Anschein machte. Es war im Speiseraum passiert und wie leicht fühlte ich mich, als ich seine Rücksichtnahme realisierte. Es war eine Schwere, die von mir genommen wurde, je öfter er mir begegnete und eine verheerende Wirkung, die er allmählich auf mich hatte.

Er ahnte ja nicht, wie versteckt meine Aufmerksamkeit auf seine versteckte Aufmerksamkeit reagierte oder was ich im Schilde führte und dachte, während er sich im Hauptquartier bewegte und das oft unter meinem verstohlenen Blick. Er ahnte nicht, wie ich von ihm dachte, wie ich ihn erkundete und erforschte. Wie eine finstere Höhle, die immense Schätze barg. Selbstsüchtig durch und durch.

Bislang hatte ich ihm nichts zurückgegeben, hatte kaum auf seine Handlung reagiert, mich kaum von der Wärme locken lassen, die verborgen von ihm zu mir drang. Doch ich war kurz davor, zu einem Falter zu werden, der ohnmächtig seinem Licht entgegen taumelte. Er ahnte ja nicht, was er auslöste und wie interessant war für mich dieses Spiel. Er war darin verwickelt worden, ohne es zu bemerken, doch nicht schuldlos.

Abrupt riss ich mich ein Rauschen aus meiner Abwesenheit. Sofort kehrte ich in die Realität zurück, bekam Tims Schweif zu fassen und zog ihn zu mir. Einer der Golem war ausgeschaltet worden und es brauchte nur einen kurzen Blick in Tims Hologramm, bis ich wusste, an welchem der insgesamt zehn Orte es geschehen war.

Ich hob die Brauen, starrte weitere Augenblicke in jenes flackernde Bild und ließ Tim wieder fliegen.

Es war interessant.

Die anderen Golems waren unbeschadet auf dem Weg zu ihrem Ziel und grinsend kam ich auf die Beine. Mein Plan trug Früchte und mit einem Wink ließ ich Tim den Kontakt zu den Golem beenden. Ich wusste, was ich wissen wollte und so wandte ich mich dem kahlen Wald zu, den ich vor kurzer Zeit durchquerte.

Ich kehrte um.

„Tim!“ Kurz winkte ich meinen Golem mit mir, bevor ich zu laufen begann, dauerhaft und schnell. Das permanente Knacken des Schnees begleitete meine Schritte, flatternd tat es auch Tim und während mein Atem weiß vor mir beschlug, durchdachte ich die weiteren Schritte meines Planes.

Auf wen ich zuzukommen hatte, das wusste ich jetzt.

Naiv und unvorsichtig hatte sich mir der Verräter ausgeliefert.
 

„Was ist passiert?“

Man wunderte sich, als ich den Eingang des Zeltes passierte und in den warmen Innenraum trat. Rasch fiel mein Atem, auch mein Haar war in einem zerzausten Zustand und während der leitende Finder mich bestürzt musterte, stützte ich mich auf die Knie und rang nach Luft.

„Ich wurde angegriffen“, brachte ich hervor und richtete mich schwerfällig auf.

Aus der Richtung mehrerer Finder, die zu mir getreten waren, vernahm ich Stöhnen.

„Das kann doch nicht sein!“, erboste sich einer von ihnen. „Das ist jetzt schon zum vierten Mal passiert!“

Ächzend wischte ich mir eine dünne Schneeschicht von den Schultern, bekam meine Handschuhe mit den Zähnen zu fassen und streifte sie von meiner Haut.

„Bei keiner unserer Patrouille sind wir auf den Feind gestoßen“, wunderte sich ein anderer Finder und ein Raunen ging durch die Reihen der anderen. „Mit diesen Zufällen stimmt doch etwas nicht!“

Genau das war der Fall, aber im Grunde konnten sie beruhigt sein, denn das Problem war fast gelöst.

„Sind Sie verletzt?“, erkundigte sich der leitende Finder und sah mich den Kopf schütteln.

„Ich bin nur hier, um mich aufzuwärmen. Verzeichnet den Vorfall in euren Unterlagen. Was mich angeht, ich mache mich bald wieder auf den Weg.“

Stirnrunzelnd und mürrisch zog sich der leitende Finder zurück und nur kurz blickte ich ihm nach, bevor ich mir einen Weg durch die noch immer wartenden Finder bahnte. Ich hatte es wieder auf den Koch abgesehen und es vergingen nur wenige Momente, da saß ich mit dem nächsten, heißen Kakao auf einer Bank und wurde von neugierigen Findern umringt.

„Wie viele waren es diesmal?“, erkundigte sich einer von ihnen. „Bisher tauchten sie immer in großer Zahl auf aber die Exorzisten kamen meistens trotzdem unverletzt davon.“

Wie viele, das wusste ich nicht aber glücklicherweise mischte sich der Nächste ein, bevor ich eine Antwort erbringen konnte.

„Miranda hat es einmal erwischt“, erinnerte sich ein Älterer und kratzte sich die Kapuze. „Gerade bei ihr hätte es wirklich schiefgehen können.“

Ich ließ die Tasse sinken, blickte auf und ein leichtes Stechen in der Brust ließ mich meinen abrupten Frust spüren.

Man hatte sogar Hand an Miranda gelegt? Sie war keine Kämpferin.

Ich runzelte die Stirn und entspannte mich bei einem tiefen Durchatmen. Mit jeder Erzählung, die man mir zutrug, hatte ich es eiliger, die Mission zu beenden und für Ruhe in Belgien zu sorgen.

„Du“, wies ich mit der Tasse auf einen der Finder. „Hast du nicht erwähnt, niederländisch zu sprechen?“

„Ja.“ Sofort nickte der Mann. „Wieso fragen Sie?“

„Weil mich mein Weg bald in die Niederlande führt“, log ich. „Ich nehme dich mit.“

„Wie Sie wünschen.“ Er erklärte sich bereit und mein Blick driftete zu einem Älteren.

„Und du warst lange in den Niederlanden stationiert? Heißt, du kennst dich dort aus?“

„Ja.“

„Dann trifft es auch auf dich zu. Ich brauche jemanden, der sich dort zurecht findet.“

„Wenn der Leiter des Lagers nichts dagegen hat?“

Das würde er nicht. Zufrieden nippte ich an meinem Kakao und begann zu grübeln.

„Kennt sich hier jemand mit Rohstoffen aus?“ Erwartungsvoll spähte ich über den Rand der Tasse in die Runde und verfolgte, wie die Blicke zu einem Blonden drifteten. Schneller, als sich dieser selbst daran zu erinnern schien und die Hand hob.

„Dann hätte ich die drei, die ich brauche. Wir machen uns nachher auf den Weg nach Eindhoven.“ Ich blies über die dampfende Oberfläche des Kakaos, ließ die Tasse nach einem weiteren Schluck sinken und kam auf die Beine. „Ich bin beim leitenden Finder.“
 

Ich bekam, was ich wollte. Bald darauf wartete ich am Ausgang des Zeltes auf die drei Finder. Sie hatten sich in wärmende Mäntel gehüllt, trugen ihre Ausrüstung und zufrieden nickte ich ihnen zu, bevor ich die Plane zur Seite strich und ein weiteres Mal hinaustrat. Der Schnee fiel wieder, doch nicht zu dicht. Bis zu den fernen Berghängen konnte man problemlos blicken und kurz sah ich Tim nach, der sich in die Höhe erhob und in den Windböen flatterte.

So zogen wir los und lange Zeit ließ ich sie hinter mir, überließ sie ihren eigenen Gesprächen und vertiefte mich selbst in meine Gedankenwelt. Ich neigte dazu, bereits über diese Mission hinaus zu planen und mir die Frage zu stellen, was folgen würde, sobald ich diese hier erfolgreich hinter mir hatte.

Alles, das uns bevorstand, war undurchsichtig. Jede Mission stellte am Ende eine Überraschung dar und so begann ich mich von den Gedanken zu distanzieren. Es brachte nichts außer Distanz zu dem Hier und Jetzt und es dauerte nicht lange, da trat ein, was meinen Erwartungen entsprach.

Es war ein weiterer dieser kahlen Wälder, die wir soeben hinter uns gelassen hatten, kaum zwei Kilometer von jenem Lager entfernt. Erwarten tat uns eine Landschaft voller Hügel und Gebüschen. Kahl und unscheinbar ragten sie aus dem weißen Boden.

Ein weißer Frieden, doch ich wusste, wie sehr er täuschte.

Meine Schritte verlangsamten sich und bequem ließ ich mich zu den Findern zurückfallen.

„Wie lange warst du in den Niederlanden stationiert?“, wandte ich mich an den Älteren.

Ich verwickelte die drei in Gespräche. Es war eine Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben und außerdem war es mir wichtig, mehr über den einen zu erfahren. Ich stellte Fragen, erhielt Antworten und im Verlauf der nächsten Augenblicke kam es auch zu sinnlosen Unterhaltungen. Wir sprachen über Gott und die Welt, über alles und nichts und permanent hielt ich dabei Timcanpy im Blick.

Leise begleitete uns das Knacken des Schnees. Ebenso gedämpft pfiff auch der Wind in meinen Ohren und es verging keine lange Zeit, bis Tim dort oben am Himmel zu hektischem Leben erwachte und kaum flatterte er zu mir hinab, verlangsamte ich meine Schritte.

Heiter wurden die Gespräche in meinem Rücken fortgesetzt und während Tim mich umflatterte, blickte ich um mich, doch sah nichts.

Näherten sie sich?

Ich bewegte die linke Hand im robusten Handschuh, beiläufig streifte ich mir auch die Kapuze vom Kopf und allmählich ließ der Wortschwall hinter mir auch nach. Ich schenkte den Findern keine Beachtung, bewegte mich langsam und erwartungsvoll und blickte bald zu einem Hügel, hinter welchem sich dichte, weiße Wolken erhoben. Aufgestobener Schnee. Ich blieb stehen.

„Was ist los?“ Unruhig wandte sich der Jüngste an mich und ruhig biss ich nach dem linken Handschuh und zog den Stoff von meiner Haut.

„Walker?“ Auch dem Älteren war nicht mehr wohl zumute. „Was passiert hier?“, fragte er fast stimmlos und gemeinsam wandten sie die Köpfe. Ihre Augen weiteten sich, mit einem Mal verstummte jeder Laut und so blickten wir zu den monströsen Körpern einiger Level-1, die hinter einem entfernten Hügel hervor drifteten.

Das Knacken hinter mir zeugte davon, dass die Finder zurückwichen. Nur Level-1?

Langsam klemmte ich den Handschuh unter meinen Gürtel. Mein Auge reagierte längst und offenbarte mir die farblosen Schatten der verlorenen Seelen im Treiben der Schneeflocken.

Stirnrunzelnd wandte ich mich ab und betrachtete mir die Umgebung. Niemand schickte Level-1 für einen ernstgemeinten Angriff. Erst recht nicht, wenn es sich um mich handelte.

„Walker?“, erreichte mich abermals ein angsterfülltes Flüstern und mit einem Wink ließ ich die Finder weiter zurücktreten.

„Versteckt euch.“

Sofort hörte ich ihre Schritte, als sie sich in Sicherheit brachten und sich doch nicht zu weit entfernten. Sie schienen Vertrauen in mich zu setzen, während sich der Feind näherte. Doch die Level-1 waren es nicht, denen ich Beachtung schenkte. Eher war ich noch immer damit beschäftigt, die Umgebung zu mustern. Bei diesen Gegnern konnte es nicht bleiben und beiläufig aktivierte ich mein Innocence.

Schneidig bildeten sich die Krallen meiner Hand aus dem Nichts. Ein kühles Gefühl durchflutete meinen Arm, zeugte von jener Veränderung und wich einer kraftvollen Wärme, unter der ich die Hand bewegte.

Kurz darauf kam der richtige Moment, sich den Level-1 doch zuzuwenden und nachdenklich verfolgte ich, wie sich knackend die Kanonen zu mir drehten. Sie wechselten die Richtung, richteten sich auf mich und es war ein einzelner, ohrenbetäubender Schuss, der den Anfang machte.

Grell flammte das Mündungsfeuer vor dem weißen Hintergrund auf, zischend bewegte sich jenes Geschoß auf mich zu und rasch neigte ich den Kopf zur Seite und spürte das Pfeifen des Geschosses nahe meinem Ohr. ´Kaum war es dumpf in einem Schneebedeckten Hügel eingeschlagen, ging ich in die Knie und starrte in die verzerrten, reglosen Gesichter der Akuma.

Ein Klicken zeugte davon, dass weitere Schüsse folgen würden. Gleichmäßig bewegten sie sich auf mich zu, gingen zum Angriff über und das einzige, was ich tat, war den Arm zur Seite zu reißen. Mit einem Mal entlud sich ein Teil meiner Kraft, dumpf breitete sich die Schockwelle meines Schlages aus und kein Geschoss fand die Zeit, aus den Kanonen zu preschen, da erhoben sich vor mir heftige Explosionen. Jeden der Körper zerriss es. Der verzerrten Gesichter zersprengten sich in alle Richtungen, doch ich war längst dabei, die Aufmerksamkeit zurück auf die Umgebung zu lenken.

Ein Instinkt, der sich auszahlte, denn rauschend erhob sich der Schnee unter einer pfeilschnellen Bewegung, die mich fast erreicht hatte. Etwas verbarg sich im Boden und sofort ging ich in die Knie und sprang. Während der Wind um meine Ohren peitschte, spähte ich hinab und sah diese weiße Explosion des Schnees. Er stob auseinander, als ein Akuma aus dem Boden stieß. Ein Level-3.

Ihre Stärke ließ sich nicht einschätzen und augenblicklich schlug ich die rechte Hand um das linke Handgelenk. Ein kurzer Griff, bis ich schon die Härte des Schwertknaufes spürte und bevor mich der Akuma erreichte, zog ich bereits das Schwert ins Freie und richtete es gegen den Hieb seiner riesigen Pranke. Von Stacheln und Krallen besetzt, traf sie unter einem dumpfen Laut auf die Klinge und kaum stürzten wir gen Boden, da schmetterte ich die Kreatur schon hinab und kaum schlug sie auf dem Boden auf, versenkte sich meine Klinge in ihrem Körper. Sie riss sie auseinander und mit einem dumpfen, knackenden Geräusch, als ich auf dem Schwertknauf aufkam und die Klinge noch tiefer drängte.

Es ging rasch, doch mit einem Mal drangen Schreie an meine Ohren.

Die Schreie der Finder, die ankündigten, dass es nicht mehr bei diesen Gegnern blieb.

Ich fuhr herum, sprang von meinem Schwert und riss die Klinge ins Freie.

Weitere Level 1 waren es, die sich im Schutz meines Rückens genähert hatten und ächzend flohen die drei Finder vor den Schüssen, die ihr Versteck hinter einem Hügel in die Luft jagten.

„Walker!“ Es war der Ältere, der nach mir schrie und ein flüchtiges Stechen in der Herzgegend begleitete den Anblick, auf den er mich mit heftigen Winken aufmerksam machte. Eine weitere Spur unter dem Schnee, die sich diesmal jemand anderen zum Ziel genommen hatte. Ein weiterer Level 3?

So rannte ich los, rannte durch den Schnee sowie die Finder vor jener pfeilschnellen Spur davon.

Sie war schnell, doch kaum erreichte sie die Finder, tat auch ich es. Die Klaue, die aus dem Schnee schoss und sich geradewegs nach dem Älteren ausstreckte, löste ich mit einem Hieb vom Körper und kaum schlug der Arm im Schnee auf, da preschte der Akuma ins Freie. Ich schlitterte weiter, schlitterte an ihm vorbei und nur beiläufig bemerkte ich, dass der Schatten mir nicht folgte. Abermals verfolgte er die Finder.

Ich fuhr herum, während sie um ihr Leben rannten, bis einer von ihnen stolperte. Es war der Jüngste, der stürzte und im Schnee aufschlug und nur einen Augenblick später erreichte mich ein gellender Schrei.

Der Akuma erreichte ihn, ging aus der Höhe auf ihn nieder und mit einem Mal wurde es still.

Der Atem rauschte in meinen Ohren, auch das Krachen der Knochen schien mich zu erreichen, bevor ich die letzten Meter hinter mir ließ und ausholte.

Kaum hatte der Akuma zum nächsten Sprung angesetzt, riss meine Klinge ihn in zwei Stücke, durchschnitt seinen Körper, schleuderte den oberen Teil weit zur Seite, während der untere regungslos auf die übel zugerichtete Leiche des Finders niederging.

Weiterer Schnee wurde aufgewirbelt und keuchend richtete ich mich auf. Meine Aufmerksamkeit galt dabei nicht dem Toten, vielmehr schnellte sie zur Seite. Ich blickte mich um, suchte nach weiteren Gegnern und sah doch nur dieses weiße Nichts, vereinzelt verfinstert durch die brennenden Überreste.

Langsam wandte ich mich den beiden Findern zu. Schwer atmend und ächzend hockten sie im Schnee, zitterten und bebten, während ihre geweiteten Augen auf den mit Blut durchtränkten Boden gerichtet waren. So senkte auch ich den Kopf und blickte hinab und zu meinen Stiefeln, die im roten Schnee standen.
 

Langsam ließ ich mich nieder und zog das Telefon zu mir. Mein Körper war entspannt und unter einem tiefen Atemzug wählte ich diese Nummer und legte den Hörer an das Ohr. Sofort erhob sich das Rufsignal und bedächtig begannen meine Finger die Kante des Tisches zu bearbeiten. Der Belag löste sich bereits und ich begann an ihm zu zupfen. Tim hatte es auf meinem Schoß bequem und als das Rufsignal endete, ließ ich von der Tischkante ab und bettete die Hand auf Tims Körper.

„Komui“, erhob sich die vertraute Stimme und bequem begann ich Tim auf meinem Schoß zu bewegen, ihn unter der Hand von einer Seite zur anderen zu rollen.

„Ich bin’s, Allen. Die Mission ist beendet.“ Als Tim mich beißen wollte, ließ ich von ihm ab und kreuzte die Beine. „Wie die anderen wurde ich auch in Gefechte verwickelt, habe sie aber unversehrt überstanden.“

„Das höre ich gern.“ Komui seufzte. Im Hintergrund raschelten Unterlagen.

„Ich war mit drei Findern unterwegs“, fuhr ich fort. „Leider verlor ich einen von ihnen während des Kampfes.“ Ich senkte die Lider, presste die Lippen aufeinander und das Rascheln in der Leitung verstummte.

Verluste fasste Komui nicht leichtfertig auf. Jeder verlorene Finder ging ihm an die Substanz, doch es war ein Schmunzeln, zu dem sich meine Lippen verzogen. Eine Mimik, die sich schnell in ein Grinsen steigerte.

„Es war der Broker.“

„Ist das so?“ Ich meinte, sein tiefes Durchatmen zu vernehmen.

„Ich danke dir. Das heißt, das belgische Lager stellt keine Gefahr mehr dar. Dann kann ich meine Exorzisten also endlich wieder dorthin schicken.“

Ich nickte und zupfte weiter an einer der Kordeln. „Wie geht es für mich weiter? Soll ich zurückkommen?“

„Moment.“ Ich hörte ein Schubfach, im Hintergrund plötzlich auch Rivers Stimme. Sie murmelten sich etwas zu. „Nein“, meldete sich Komui dann wieder. „Ich bitte dich, von dort aus gleich zur nächsten Mission aufzubrechen.“

Sofort richtete ich mich auf und drängte Tim von meinem Schoß.

„Worum geht es?“

„Ich schicke dich als Verstärkung“, erhielt ich zur Antwort. „Kanda ist in Amsterdam, ebenfalls auf einer Broker-Mission, bei der wir von Anfang an Komplikationen erwartet haben.“

Ich richtete mich auf.

„Wir vermuteten einen Verräter in den Kreisen des Brokers, der Kandas Tarnung auffliegen lassen könnte und mit dem Gefühl, dass genau das in absehbarer Zeit passiert, hat er Verstärkung angefordert. Du bist am nahesten.“

„Verstanden.“ Ich nickte und nahm kaum bewusst wahr, wie sich meine Lippen zu einem Schmunzeln verzogen. So bereitwillig war ich einer Mission mit Kanda nur selten begegnet. Es war eine Reaktion, die Komui nicht sah, die er nicht ahnte. Waren es damals noch Wochen gewesen, die ich getrennt von ihm verbrachte und mir auch nichts daraus machte, war es diesmal etwas mehr als ein Tag, den ich als spürbare Trennung empfand.

„Mach dich bitte sofort auf den Weg. Der leitende Finder weiß Bescheid und wird dir den genauen Ort auf einer Karte markieren.“ Eine Pause zeugte davon, dass Komui wieder an der Kaffeetasse hing. „Bitte beeil dich. Ich weiß nicht, in was für einer Lage Kanda steckt.“

„Ich werde mich sputen“, versprach ich. „Vor morgen werde ich es aber nicht schaffen.“

„Bis dahin vertrauen wir auf ihn“, antwortete Komui. „Es wird schon gut sein, nur leider kann ich dir nicht sagen, was dich dort erwartet. Also sei vorsichtig und melde dich rechtzeitig, wenn ihr Verstärkung benötigt. Sobald die Mission beendet ist, kommt ihr beiden erst einmal zurück.“

„Verstanden.“

Der Gedanke, das erste Mal seit langem direkt mit Kanda zusammenzuarbeiten spornte mich nicht weniger an als die Wichtigkeit, die ich seiner Unversehrtheit zuschrieb.

In was für einer Lage er auch steckte, ich war unterwegs.
 

Keine Zeit für einen weiteren Kakao, keine Zeit für einen Plausch mit den Findern. Es vergingen nur wenige Momente, bis ich mich endgültig verabschiedete und mich auf den erneuten Weg zu jener Haltestelle machte.

Möglicherweise zählte jede Minute, jeder Zug, den ich bekam oder verpasste. Wie Komui sagte, eine unbekannte Lage und so durchstreifte ich die weißen Gefilde eilig und erreichte die Haltestelle rasch. Den Zug hatte ich schon von weitem erblickt. Er war in Richtung der Haltestelle unterwegs und es war ein Sprint, mit dem ich ihm beikam. Kurz bevor er anfuhr, schwang ich mich auf eine der Stufen, riss die Tür auf und schob mich in das warme Innere.

Es waren nur wenige Reisende, die überrascht aufblickten, die mich und Timcanpy musterten, während ich mich auf die Suche nach einem leeren Abteil machte. Dann ließ ich mich auf die Bank sinken und beruhigte meinen Atem. Die körperliche Anstrengung ging Hand in Hand mit einer nicht zu erstickenden Vorfreude. Es wurde allmählich Zeit für seine finstere Miene. Zeit für unser nächstes Treffen.

Ich fühlte mich so sehr dazu hingezogen, als lägen Monate zwischen dem Augenblick, als wir uns zuletzt sahen. Eine seltsame Form der Abhängigkeit, könnte man meinen. Sei es doch so, es war mir gleich.

Alles in mir blieb behaglich und so streckte ich die Beine von mir und faltete die Hände auf dem Bauch.
 

-tbc-

17

Die Niederlande begrüßten mich mit eisiger, frischer Morgenluft, als ich aus dem kleinen Bahnhof Amsterdams trat.

Wieder einmal war der Mantel von Nöten und erneut hüllte ich mich in ihn ein, während meine Schritte eilig in eine bestimmte Richtung führten. Meine Hände suchten bereits. Sie tasteten die Taschen der Uniform ab, wurden fündig und durch den weißen Dunst, in den sich mein warmer Atem verwandelte, blickte ich auf jene Karte, die mir der leitende Finder des belgischen Lagers vorbereitet hatte. Eine Karte, die die Stadt zeigte. Auch ein deutliches, rotes Kreuz, das über ein scheinbar größeres Gebäude gezogen war.

Möglicherweise eine Lagerhalle.

Nach plagenden und unsicheren Stunden, hatte ich es nun umso eiliger. Ich wusste nicht, was gerade in jenem Gebäude geschah und bahnte mir meinen Weg durch die Straßen. Zu dieser frühen Stunde, kurz nach der Morgendämmerung, traf ich nur auf wenige Menschen. Zeitungshändler, die mir nachspähten. Vereinzelte, die es in der Kälte ebenso eilig hatten. Nur wenige, unter denen ich in meiner Hektik auffiel.

Es war ein langer Weg, der mich erwartete, mehrere Kilometer, die ich in dieser Stadt hinter mich zu bringen hatte und die Augen stets auf die Karte gerichtet, verfiel ich bald einem umso schnelleren Schritttempo. Ich war mir nicht sicher, ob mir mein Verstand fälschlicherweise ein schlechtes Gefühl einhauchte.

Meine Intuition war so vorbelastet, dass sie mich irre leiten könnte und so gab ich mir Mühe, bald an nichts mehr zu denken.

Was auch immer gerade bei Kanda geschah, ich hatte keinen Einfluss darauf. Noch nicht.

Es war eine verlassene, unbewohnte Gegend, in die mich die Karte führte, bestehend aus leeren Läden, kleinen Lagerhäusern, freien, unbenutzten Flächen, umrandet von hässlichen, kahlen Stahlzäunen. Ein Gewirr aus Schächten und Türen, Gassen und Durchgängen. Der Überblick ging sofort verloren, als ich mich mit all dem konfrontiert sah und ohne zu zögern sprang ich hinauf und auf ein tiefliegendes Dach.

Ich brauchte eine Übersicht, spähte dort oben um mich und erreichte mit einem weiteren Satz ein höheres Dach. Flink nach der Regenrinne gegriffen, ebenso schnell hinaufgezogen und schon kam ich auf die Beine und hob die Karte. Ich drehte sie, hielt sie näher an mein Gesicht, verengte die Augen und sah mich um.

Konnte es sein?

Wieder starrte ich auf das Blatt, blickte auf und unter einem tiefen Atemzug ließ ich das Papier sinken.

Da war es. Direkt vor mir, doch einen solchen Anblick hatte ich nicht erwartet. Das kahle Haus erhob sich bis zur vierten Etage in die Höhe, ragte so finster auf, als entspränge es einem Alptraum, in dem die finsteren, fensterlosen Löcher pechschwarz gähnten.

Kein Glas, nicht einmal eine Tür und mit offenem Mund besah ich mir die finsteren Verfärbungen. Über jeder Öffnung, die die Fassade unterbrach, über jedem leeren Türdurchgang. Es war ausgebrannt.

Raschelnd zerdrückte ich die Karte in der Hand, ließ sie fallen und trat zur Kante des Daches.

Was hatte ich davon zu halten?

Ich spürte eine schneidige Böe, die meinen Schopf zerzauste und sprang in die Tiefe. Annähernd lautlos setzte ich auf und kam auf die Beine. Dieser Ort wirkte nicht wie der Platz, an dem es etwas zu tun gab. Alles schien tot und leer, so unbenutzt und wertlos. Dreckig, finster und kalt.

Ich erreichte den alten Maschendrahtzaun, der das Gebiet umrandete. Er war an so einigen Stellen marode und so war es leicht, sich hindurch zu schieben und jenes Gelände zu betreten. Trocken knirschte dunkler Kies unter meinen Schuhsohlen, als ich aufblickte und mir das Gebäude aus der Nähe besah. Die Fassade war altersgrau und rissig. Hie und da bröckelte bereits der Putz. Es sah so marode aus, als würde ein schneidiger Wind genügen, um es dem Erdboden gleichzumachen.

Mein Atem fiel gedämpft, als ich die Fassade erreichte.

Ich wusste nichts über diesen Ort. Es bot sich an, unauffällig zu bleiben und so fuhr ich mit den Fingerkuppen über eine verrußte Stelle der Außenmauer. Ein dünner Film blieb am Stoff des Handschuhes haften und kurz rieb ich ihn zwischen den Fingern und roch. Was für ein Feuer hier auch immer gelodert hatte, viel Zeit war seitdem nicht vergangen.

Ein Kampf? Hatten Explosionen dieses Gebäude in Brand gesteckt?

Leise trat ich zur Seite, näherte mich dem Eingang und lugte um die Ecke. Der Innenraum war beinahe schwarz. Kaum ein Lichtstrahl fiel in das fensterlose, enge Treppenhaus, doch es war nicht die Dunkelheit allein, die mir ein seltsames Gefühl schenkte. Gefahr. Ein Instinkt, den ich nicht hinterfragte.

Ich hatte es so eilig gehabt, diesen Ort zu erreichen.

Jetzt hier zu stehen und zu grübeln, gefiel mir nicht und kurz wandte ich mich zu Tim um, bettete den Zeigefinger auf den Lippen und er schien es zu verstehen. Zu meiner Schulter flatterte er und kaum schob ich mich in den finsteren Eingang, ließ er sich auf ihr nieder und unterdrückte seinen Flügelschlag.

Erwarten konnte mich hier in diesen engen Gängen alles. Ich achtete auf jeden Dreck des Bodens, auf Gegenstände, die mich verrieten, sobald ich auf sie trat und vertieft in diese sorgfältige Aufmerksamkeit kam ich letztlich nur langsam voran und erreichte die Treppe.

Die Stufen bestanden aus Holz und größtenteils aus verkohlter Materie. Zu gefährlich, verräterisch und nachdem ich nach oben gespäht hatte, stieg ich auf das Stahlgeländer und zog mich hinauf.

Die erste Etage hielt einen breiten Gang für mich bereit. Ein leerer, ausgebrannter und schwarzer Flur, der in einen großen Lagerraum mündete. Auch ihn musterte ich, als ich auf dem Geländer kauerte, die Hand stützend auf der Unterseite der nächsten Treppe. Ich meinte etwas zu hören und vorsichtig neigte ich mich zur Seite, verengte die Augen und starrte weiterhin in diesen Lagerraum. Ein Geräusch, ein leises Knacken und so zügelte ich meinen Atem und wartete.

Doch nicht lange. Es war ein großer, runder Schatten, der sich über eine Wand des Raumes hinwegbewegte. Fließend, schwebend und bevor der Akuma den Flur erreichte, griff ich erneut hinauf und zog mich in die nächste Etage. Ich stahl mich aus seinem Blickfeld, verschaffte mir auch in der zweiten Etage einen Überblick. Sie ähnelte der anderen überhaupt nicht. Diesmal waren es zwei breite Gänge, die von dem Treppenhaus abgingen.

Zwei Flure, in denen sich teils offenstehende Türen reihten. Allesamt ausgebrannt. Ich hatte das Gefühl, mich in einem völlig schwarzen Haus zu bewegen, doch es war nicht so leblos, wie es schien. Hier bewegte sich so einiges und das erneute Knacken, das an meine Ohren drang, hatte ich diesmal nicht zu hinterfragen. Die Schatten schienen sich überall in diesem Gebäude zu bewegen und auf Eindringlinge zu lauern. Das gesamte Haus war eine einzige Falle und wieder zog ich mich hinauf.

Wenn Kanda irgendwo war, so war er es nie längere Zeit gemeinsam mit Akuma.

Letzten Endes blieb nur er übrig.

Ich atmete tief ein und lugte in die nächste Etage und erkannte einen ähnlichen Aufbau wie im zweiten Stock. Zwei Flure, mehrere Zimmer und eilig ließ ich mich zurück hinter das Geländer rutschen, als aus einem dieser Räume der runde Körper eines Akuma driftete. Er schwebte hinaus in den Gang, wandte sich ab und bewegte sich auf ein größeres Zimmer zu, welches das Ende des Ganges bildete. In seinem Rücken hangelte ich mich zum vierten und letzten Mal hinauf.

Ich hatte Kanda zu suchen. Wo sollte er sein, wenn nicht hier?

Ich wusste so wenig über seine Mission. Das einzige, was ich kannte, war dieser Ort und die Tatsache, dass ich hier auf ihn treffen sollte. Ich musste ihn suchen und ich würde ganz oben beginnen. Im vierten Stock, den ich nun erreichte und in ähnlicher Weise vorfand.

Das Treppenhaus war das Mittelstück zwischen zwei Gängen. Gefährlich, wie sehr man hier ausgeliefert war und so schob ich mich vom Geländer, bevor sich in meinem Rücken etwas aus den Zimmern schob, was ich lieber vor mir hatte. Die Umgebung machte einen Kampf kompliziert. Nur wenige Explosionen, schätzte ich, mehr würde dieses Gebäude nicht aushalten, bevor es in sich zusammenstürzte. Es war lange her, dass ich so vorsichtig war, als ich in einen der Gänge trat.

Es fiel mir nicht schwer, einen Akuma in meiner Nähe zu erspüren und so spähte ich in den ersten Raum, fand ihn leer vor und tastete mich weiter zum nächsten. Gegenstände auf dem Boden umgehend, mich oft umdrehend und den anderen Gang im Auge behaltend. Auf so vieles hatte ich zu achten, während ich mich weiterpirschte und im nächsten Gang geradewegs den Rücken eines Akuma vor mir hatte. Er bewegte sich abgewandt durch das Zimmer und lautlos schlich ich an ihm vorbei, tauchte kurz im Türrahmen auf und genauso schnell im Flur unter.

Es waren vereinzelte, blecherne Türen, die das Feuer überstanden hatten und es mir schwer machten. Die Angeln drohten zu quietschen, wenn ich sie öffnete, über den Boden zu kratzen, mich zu verraten und so zog ich leisen Schrittes an der ersten dieser Türen vorbei.

In die offenen Zimmer wollte ich zuerst einen Blick werfen. Die nächsten Schritte würden folgen und oft hatte ich abrupt zurückzuweichen, um den Augen eines Level-1 zu entgehen. Sie waren überall, schienen so auffällig in diesem Gebäude postiert, als handle es sich wirklich um eine Falle.

Für wen war sie gedacht? Für die Verstärkung oder denjenigen, für den sie gedacht war?

Es waren Fragen, für die ich mir keine Zeit nehmen durfte und es vergingen so einige Minuten, bis ich den ersten Flur verließ und mich in den anderen schlich. Reglos hielt sich Tim noch immer auf meiner Schulter. Es war eine angespannte Atmosphäre, in der ich mich bewegte. Eine knisternde Stille, die jederzeit von einem krachenden Geräusch durchdrungen werden konnte. Es war viel zu still und aufmerksam umging ich einen Haufen herabgerieselten Putzes.

Das nächste Zimmer, an dem ich mich vorbei stahl, offenbarte mir keine Gefahr. Im Gegensatz zu den nächsten und umso angespannter blickte ich in den Flur zurück, als ich das Endes des Ganges erreichte und somit die letzte Tür. Jederzeit könnte einer von ihnen ein Zimmer verlassen, jederzeit hier auftauchen und mit zusammengepressten Lippen nahm ich diese blecherne Tür in Augenschein. Sie verwehrte mir den Blick in den Raum und die Bewegung, in der meine Hand zu ihrer Kante fand, war unentschlossen und zögerlich. Es war nicht der einzige Raum, der sich hinter einer solchen Tür verbarg.

Wie sollte ich nach Kanda suchen, wenn ich diese Zimmer umging?

Erneut spähte ich zurück, fasste Tim an den Flügeln, klemmte sie unter den Gürtel und ließ ihn baumeln. Die Vorkehrung war getroffen, ein letzter Blick zurück und schon schloss sich meine Hand um die Kante des dicken Bleches. Entweder es quietschte oder es funktionierte. Im schlimmsten Fall hatte ich es mit einem Mal mit etlichen Akuma zu tun, die in ihrer Raserei das Haus zum Einsturz brachten.

Dennoch begann ich die Tür zu bewegen. Sie regte sich lautlos und ebenso geräuschlos trat ich zum Spalt und schob mich unter einem letzten Blick zurück in den Flur in das dahinterliegende Zimmer. Vorsichtig hielt meine Hand die Tür umschlossen, als ich den Rahmen passierte, aufblickte und inne hielt.

Mein Körper erstarrte, denn plötzlich sah ich Kanda vor mir.

Er saß dort inmitten des Raumes und nicht zu nachlässig an einen Stuhl gefesselt. Seine Beine, seine Arme. Selbst um seinen Oberkörper, der lediglich mit einem Hemd bekleidet war, spannten sich die festen Stricke. Er war fixiert und in dieser Haltung in sich zusammengesunken. Tief war sein Kopf geneigt, wirr streifte sein halboffenes Haar die zum Teil freiliegende Brust und es musste dieser Anblick sein, der mir jede Bewegung verweigerte. Offen gähnte hinter ihm ein Fenster und wie eisig zog mir die Luft entgegen, die auch ihn erfasste.

Stockend bewegten sich meine Lippen, erst jetzt gelang mir ein Blinzeln und es war das Schaben meiner Stiefel, das ihn zum Leben erwachen ließ. Abrupt hob sich sein Kopf. Alarmiert starrte er direkt zu mir, ohne dass sein Blick durch das schwarze Tuch drang, das seine Augen unter sich verbarg.

Er war blind, bewegungsunfähig und Gott weiß, weshalb sich meine Stimme nicht erhob.

Weshalb ich nicht zumindest flüsterte, um mich zu erkennen zu geben und nichts an seiner deutlichen Anspannung änderte.

Er wusste nicht, wem er ausgeliefert war.

Einem Menschen. Einem Akuma. Nein, mir.

Es war eine beklemmende Lage, denn für jede Sekunde, die ich mit Schweigen zubrachte, hätte ich mich später zu rechtfertigen. Wie still musste er in dieser klirrenden Kälte ausgeharrt haben, um keinen der Akuma auf sich aufmerksam zu machen. Wie viel Geduld und Stärke musste es ihn gekostet haben, in dieser Eiseskälte nicht den Verstand zu verlieren.

Er musste befreit werden und stockend glitt meine Hand vom Blech der Tür, senkte sich und ballte sich zur Faust, während sich mein Hals unter einem trockenen Schlucken bewegte.

Was geschah mit mir?

Was tat oder unterließ ich?

Wie gleichgültig war mir seine Lage im Gegensatz zum Anblick, den er bot. Er war ausgeliefert.

Bislang nur meinen Augen, die zu seinen bläulich verfärbten Lippen fanden. Er war stark unterkühlt, doch zu spät bemerkte ich, wie wenig ich mich für diese Tatsache interessierte. Viel eher verfolgte ich, wie sich seine Lippen aufeinander pressten. Eine einfache Bewegung, die so interessant war, während ein Zucken durch sein bleiches Gesicht fuhr.

Fürchtete er sich? Wen sah er hier vor seinem geistigen Auge?

Jemanden, der ihm Schaden zufügen, der seine Lage ausnutzen würde?

Lautlos atmete ich ein, spürte nur beiläufig die Regung Tims unter meinem Mantel und zwang ihn mit einem Griff zur alten Regungslosigkeit. Nicht hier. Nicht jetzt. Es war grenzenlose Freiheit, die ich spürte und Möglichkeiten, mir weitaus mehr an ihm zu betrachten, als sich meinen Augen jemals bot.

Ohne dass er es wusste. Ohne dass er es sah.

Wie sehr war ich hier im Vorteil und alles Menschliche schien mich zu verlassen, als sich mein Blick zu seinem Schlüsselbein senkte, zu seiner Brust. Wie stark musste das Herz in ihr schlagen.

Sein Haar. Der Zopf saß locker, seit längerer Zeit schien das Band nicht mehr jede Strähne unter Kontrolle zu haben. Eine bewegte sich vor seinem Gesicht, wiegte sich unter jedem Atemzug, den er ausstieß. Stockend senkte sich mein Kopf zur Seite. Meine Augen verengten sich und ich blieb still, doch setzte mich in Bewegung. Nur ein Schritt und abrupt schien sich sein Leib zu verkrampfen.

Er offenbarte eine Vorsicht, die ihm nichts nützte.

Er war nicht mehr alleine hier und die Augen nicht von diesem Haar lösend, trat ich näher, schien geradewegs angezogen zu werden von seiner Reglosigkeit. Ich taumelte, schwankte ihm entgegen, während ich meinen noch immer geöffneten Lippen jede Feuchtigkeit nahm. Und ich wurde größer und größer, baute mich kurz darauf vor ihm auf und blickte auf ihn hinab.

Kaum hatte sich sein Gesicht gewandt, kaum sein Körper einen Fluchtversuch unternommen, denn er wusste um die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens.

Vielleicht nicht von Anfang an aber er musste lange genug hier sitzen, um die Stärke der Stricke zu spüren und die ausweglose Lage. Was konnte ich tun? Was wollte ich tun?

Es war erschreckend, wie mir jede Möglichkeit offenstand. Ich war zu allem fähig und während ich dort stand, fast Knie an Knie mit Kanda, betrachtete ich mir wieder sein Haar. Eine Facette, die mir früh aufgefallen war. Früh hatte ich diesem Haar Aufmerksamkeit geschenkt, wie früh über diese Länge gestaunt und mich gefragt, wie es sich wohl anfühlte.

Es juckte in meinen Fingern und nervös spreizte ich sie, lauschte versunken dem zitternden Atemzug, der über seine Lippen drang. Er war zu kalt, um in der Luft zu beschlagen und dennoch wollte ich ihn einatmen, Grenzen überschreiten, Fehler begehen und Respekt verlieren.

Alles, indem ich den Bewegungen folgte, in die sich mein Körper versetzte.

Es war so unendlich falsch, doch welcher Fehler schreckte ab, wenn er keine Folgen nach sich zog?

Ich hob die rechte Hand, hob sie zum Mund und biss nach dem Handschuh.

Ich wollte es spüren. Nur ganz kurz. Und ich zog die Hand ins Freie, spürte sofort die Kälte, die sich auf meine Haut legte.

Alles in mir pulsierte so wild und zitternd hob ich die Hand und streckte sie seinem Gesicht, seinem Haar entgegen.

Ich tat es wirklich und es fühlte sich so verlockend an, dass ich alles vergaß und völlig entrückt diese eine Strähne berührte. Es war nur eine kurze Begegnung, die meine Fingerknöchel dabei mit seiner Wange hatten. Ein unbeabsichtigter Kontakt, unter welchem Kanda merklich in sich zusammenzuckte.

Wer erwartete schon eine simple Berührung in einer solchen Lage?

So schmerzlos, so leicht und tief atmete ich ein, als ich diese seidige Glätte auf meiner Haut spürte, als ich die Strähne durch meine Finger gleiten ließ, nach ihr tastete, sie umgriff und mich an diesem leichten Kitzeln ergötzte.

Es sprengte etwaige Erwartung und ich schluckte, bevor ich das Ende der Strähne von meiner Hand gleiten ließ. Nahe an seinem Gesicht verharrte sie. Beinahe glaubte ich die Kälte zu spüren, die von diesem ausging, doch meine eigene Wärme dadurch nur umso mehr. Er war verwirrt.

Was wusste er schon von seiner Wirkung?

Nahe an seinem Gesicht ballte ich die Hand zur Faust. Das Gefühl war so vergänglich und doch so atemberaubend.

Sein Gesicht. Ich sah nicht die Augenbinde, nicht den angespannten Ausdruck. Nur seine Wangen und seine ebenmäßige Stirn.

Das Gesicht, das sich zu so finsteren Ausdrücken verzog - wie fühlte es sich an?

Durfte ich es wagen?

Ich wagte es.

Wie würde er mich hassen, sollte er es erfahren. Wie würde er mich verachten und wie gleichgültig war es mir.

Ich ließ alles außer Acht zugunsten dieses Augenblickes.

Langsam löste ich die Faust und streckte die Finger zu seinem Kinn. Reglos blieb sein Kopf erhoben und in meine Richtung gewandt, als erwarte er mit der richtigen Entschlossenheit durch jenes Tuch blicken und mich sehen zu können. Ein trauriges Unterfangen und ich belächelte es, während ich die Fingerkuppen auf sein Kinn setzte und er abrupt zurückwich, der Berührung nachdrücklich entging.

Wie musste die Wut in ihm pulsieren, die Irritation. Sie drang nicht zu mir, drang nicht durch den warmen Sog, der mich mit sich zog und meine Hand dazu aufforderte, seinem Gesicht zu folgen. Ich wollte es berühren und kaum strich ich über seine Wange, da zuckte sein Gesicht zur anderen Seite.

Er war es nicht gewöhnt, berührt zu werden und umso verlockender wirkte diese unschuldige, reine Haut.

Hatte es jemals Fingerkuppen wie meine gegeben, die ihn voller Begeisterung erforschten?

Sich interessierten?

Mein Körper entwickelte ein Eigenleben. Sein Widerstand kam mir in die Quere und kaum nahm ich wahr, wie sich meine Hand zu seinem Hinterkopf senkte, ihn packte, fixierte und aufzischen ließ. Er sollte einsehen, dass ein anderer Macht über diesen Augenblick besaß.

Wie nachdrücklich ich zugriff. Kaum darauf achtend, ihm keinen Schmerz zuzufügen und mit einem Mal versenkte ich die Finger tiefer in seinem Haar und zog seinen Kopf zurück. Wie wurde ich gelenkt, wie fieberhaft verschaffte ich mir diesen Genuss und folgte einer undurchsichtigen Leidenschaft, in der ich mich hinab neigte und ohne einen Gedanken seinem Hals entgegen strebte.

Er bot sich mir dar, es gab keine Grenzen und wie vertieft suchte ich nach dem Geruch, den ich schon einmal wahrgenommen hatte.

Es war nicht lange her und im Krankenflügel geschehen, als er an mir vorbeizog. So nahe, dass es ein Leichtes gewesen wäre, ihn zu packen. Doch es war eine Lage, die es mir lediglich erlaubte, in der Brise, die er nach sich zog, tief durchzuatmen. Er hatte rein gerochen, nach Seife und doch ganz speziell. Ein ihm eigener Geruch, nach welchem ich an seinem Hals suchte.

Er regte sich unter einem Schlucken. Eine anziehende Regung und kitzelnd streifte ich seinen Adamsapfel mit der Nasenspitze.

Und ich atmete ein. Tief und nachdrücklich und spürte diesen Ausdruck, zu dem sich meine Lippen verzogen.

Ein Lächeln. Da war er.

Genau das war der Geruch, der mich schon einmal einen nicht geringen Teil meiner Aufmerksamkeit gekostet hatte.

Ich regte die Finger. Schon die ganze Zeit und in seinem Schopf, als wäre ich darauf aus, ihn zu graulen, während ich den nachdrücklichen Griff dennoch aufrechterhielt.

Es war eine fordernde, zwingende Liebkosung, zu der sich meine Hand ohne etwaigen Gedanken meinerseits entschloss und mit leicht gesenkten Lidern verfolgte ich die erneute Regung seines Halses. Auch ihn wollte ich berühren, wollte diesen Moment auskosten und etwaige Möglichkeiten nutzen, die mir gegeben waren. Meine Finger wurden von einem Punkt zum nächsten gelockt. Einer war interessanter als der andere und fürsorglich löste ich den Griff in sein Haar bezeichnete mich nicht als überrascht, als er diese zurückgewonnene Freiheit sofort nutzte.

Wie ruppig er den Kopf zur Seite wandte und zurückstreckte. Jede Berührung schien die Wut in ihm zu schüren, doch meine Hand war allmählich geübt. Jedes Zögern war von ihr gefallen und wenig später setzte ich die Finger schon auf seinen Hals. Die Haut war viel glatter, als es den Anschein hatte. So makellos.

Auch sein Hals wurde von keiner Narbe geziert. Keine Schramme, so rein und kalt, als hätte der klirrende Wind bereits den Großteil seiner Körperwärme davon getrieben.

Doch wie seltsam war die Tatsache, dass diese Kälte zu ihm passte.

Wie seltsam hätte es sich angefühlt, auf Hitze zu treffen. Man vermutete es nicht. Als wäre sein Körper stets in diesem einen Zustand. Abrupt wich er erneut zurück. Zuckend und allmählich wirklich aufgebracht, ohne die Stimme erheben zu dürfen.

Weshalb hätte er auch ausharren sollen, wenn er sich nun mit einem Mal in eine solche Gefahr brachte?

Es war nicht sein Leben, das hier auf dem Spiel stand. Es war meine Unschuld und somit nichts, das ihn zu interessieren hatte und wieder reagierte mein Körper, bevor ich ihm den Befehl gab.

Meine Zähne erfassten auch den anderen Handschuh, zogen ihn ins Freie und lautlos wandelte sich meine Hand zu jener Klingenbesetzten Klaue. Sein Protest missfiel mir. Ich wollte ihn anpassen, so gefügig machen, wie er es nur sein konnte und gnadenlos senkte ich eine der Klingen zu seinem Hals, setzte sie an seine Kehle und ließ ihn den kalten Stahl spüren. Es könnte ein Messer sein, irgendeine Waffe. Alles außer meiner Hand, die ihn hier in seine Schranken wies. Es war eine Drohung, die Früchte trug, die seinen Widerstand zum Erliegen brachte und ihn dazu, reglos zu verharren.

Ein leichter Druck. Noch ein wenig und auf der Flucht vor der spitzen Klinge senkte sich sein Hinterkopf abermals in den Nacken. So wie ich es wollte und nur kurz kratzte ich mit der Klinge über seine Haut, beinahe zärtlich, und postierte sie unter seinem Kinn. Ich brauchte einen weiteren, tiefen Atemzug, als ich realisierte, wie ausgeliefert er mir war.

Bis zu diesem Punkt, an dem er völlig unterlag und neben der Klinge doch lieber meine Hand zu spüren bekam.

Es wären keine Berührungen, die schmerzten. Vielleicht litt sein Stolz.

Flach bettete ich die Hand auf seiner Kehle, umschloss sie, jeden Druck verhindernd. Ich wollte ihm nicht wehtun.

Und wie fesselnd war die erneute Regung seines Halses unter meiner warmen Hand. Ich wärmte ihn, kümmerte mich um ihn und letztendlich doch nur um mich selbst, als ich mit der Hand tiefer strich und ehrfürchtig sein Schlüsselbein erreichte.

Es war von so einer wunderbaren Form, dass sich meine Finger dazu verleiten ließen, ihr zu folgen. Ich strich zur Seite, zurück zu seiner Brust und kaum hatte ich bemerkt, wie ich selbst die Augen schloss, während mein Gesicht seinem Hals entgegen strebte. Meine Lider senkten sich, als genüge es meiner Nase, für meine Wahrnehmung zu sorgen.

Sein Geruch ließ beinahe einen Schwindel in meinem Kopf ausbrechen. Wie eine Fährte führte er mich zu jener kalten Haut und wieder atmete ich tief ein, streifte sie mit der Nase und erzitterte von Kopf bis Fuß. Seine Brust. Wie rasch war meine Hand tiefer gesunken, wie schnell hatte sie sich nicht mehr mit dem Schlüsselbein zufrieden gegeben und wie viel Genuss brachte mir jeder dieser Flecke, die ich erforschte. Unruhig bewegte ich die Lippen und presste sie aufeinander.

Es schien, als wären sie es, die noch unzufrieden waren. Als wollten sie teilhaben und mein Leib erschauderte unter einer fließenden Kälte, als ich mich näher an ihn schmiegte und mit den Lippen seine Haut streifte. Und mit einem Mal zog es mich mit sich, zog mich näher an seinen Hals und ließ mich entrückt nach ihm beißen. Ich küsste ihn, schabte mit den Zähnen über seine Haut, schmiegte mich an ihn und schloss die Augen. Beinahe trunken bewegte ich mich an ihm, nachdrücklicher verstärkte sich mein Griff an seiner Brust und rauschend nahm ich meinen Atem wahr.

So heftig, so erregt, während dieser Sog an Hitze und Stärke zuzunehmen schien. Es nahm mir den Verstand und keuchend riss ich mich kurz darauf von ihm los und stolperte zurück. Nur undeutlich nahm ich seine Bewegungen wahr. Wie verschleiert war mein Blick und verkrampft verbarg ich meinen keuchenden Mund hinter der Hand.

Was war geschehen?

Das Herz raste in meiner Brust, stieß so dumpf gegen meine Rippen, dass ich die Schläge im gesamten Körper spürte.

Nichts stimmte mehr. Mein Körper spielte verrückt und zittrig fuhr ich mir durch den Schopf.

Es war zu viel. Ich hatte zu viel von diesem kostbaren Wein gekostet, auf dass ich nun völlig trunken und ohne Verstand zurückblieb. Auch Kandas Atem erhob sich kurz darauf in jenem Zimmer. Mit einem Mal brach er hervor, war so lange zurückgehalten worden. Wutentbrannt bissen auch seine Zähne aufeinander. Die Stricke wurden zu meiner größten Sicherheit und ich war mir dieser Tatsache bewusst, als ich das Innocence deaktivierte und mit beiden Händen über meine Brust fuhr.

Alles in mir bebte und angestrengt wandte ich mich ab und löste den Blick von ihm.

Ich durfte nicht weitergehen, denn ich würde stolpern, Fehler machen und mich in Gebiete begeben, in denen ich mir selbst nicht mehr gut tat.

Ohne einen weiteren Blick drehte ich mich um und griff nach der Tür. Schon einmal hatte sie nicht gequietscht und tatsächlich bewegte sie sich auch jetzt, als würde sie meine finsteren Vorgehensweisen decken.

Es war so schwer, meinen Atem zu zügeln, als ich wieder im Flur stand und hektisch um mich blickte.

Hatten die Akuma es gehört? Waren sie aufmerksam geworden?

Ich starrte zur einen Seite, zur anderen underspähte knapp über mir eine Luke. Sie musste zum Dach führen und ohne zu zögern sprang ich hinauf, umklammerte die Kanten, zog mich in die Höhe und stieg auf die leere Fläche des Daches.

Luft.

Ich rang nach ihr, als hätte ich lange Zeit nicht atmen können, sank auf die Knie und blieb kauern.

Verworren rasten die Gedanken in meinem Kopf und führten mir die letzten Momente vor Augen.

Was hatte ich getan?

Dumpf ging meine Hand auf den Kies nieder, erschöpft neigte sich auch mein Kopf und keuchend schloss ich die Augen. Ein Gefühl überkam mich. So mächtig, dass es mit der größten Angst einhergehen könnte. Ich musste atmen und mein Herz beruhigen. Ich fühlte mich in diesem Kampf annähernd wehrlos.

Beinahe hätte ich nicht aufhören können. Beinahe hätte ich es nicht einmal gewollt.

Langsam blickte ich auf und betrachtete mir die vereinzelten Schneeflocken, die von Himmel taumelten. Nur leicht begann es zu schneien und ich blinzelte, als eine Schneeflocke auf meiner Nasenspitze schmolz. Von hier unten sah es nach dichtem Schnee aus.

Seltsam, wie wenig von ihm letztendlich den Erdboden erreichte.

Ich blieb kauern und bald verfiel mein Herz dem alten Rhythmus sowie sich mein Atem legte und unter einem letzten Ächzen fuhr ich mir über das Gesicht. Abrupt erinnerte ich mich daran, dass ich mich inmitten einer Mission befand. Kanda saß dort unten, noch immer gefesselt und unfähig, etwas auszurichten. Ich hatte den ersten Schritt zu tun, ihm zu helfen, mich anzukündigen und so zu tun, als hätte ich ihn gerade erst gefunden.

Ich schlüpfte in meine Handschuhe, befreite Tim aus seiner Lage und kam auf die Beine.

Es war vorbei.

Diese Mission brauchte meine Konzentration. Jene Gedanken durften nicht in die Realität hineinreichen, mussten verschwinden. Wenigstens für die Augenblicke, die ich benötigen würde, um Kanda zu befreien.

Jäh kam mir dieses offene Fenster in den Sinn und sofort drifteten meine Augen zum Rand des Daches.

Es wäre so einfach, so nachvollziehbar und ohne zu zögern trat ich zur Kante, beugte mich nach vorn und spähte hinab zu jenem offenen Fenster. Es lag nicht tief, war leicht zu erreichen und so stieß ich mich ab, sprang über die Kante des Daches und drehte mich.

Problemlos schlossen sich meine Hände um die Regenrinne, doch diese gab mir nur kurzen Halt. Kaum hielt sie meinem Gewicht stand, ließ mit einem Mal nach und sackte tiefer. Doch die Zeit genügte, um mich zurückzuschwingen und mit einem Satz glitt ich durch das offene Fenster und setzte auf dem Boden auf.

Dieses Erscheinen war geräuschvoller und kaum setzten meine Füße auf, da fuhr Kanda in die Höhe.

Ein überraschtes Ächzen kam über meine Lippen.

„Kanda.“ Erleichtert keuchte ich seinen Namen.

„Bohnenstange?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Fauchen.

„Allen." Leise trat ich um ihn herum.

Ich tastete nach dem Tuch und wie hatte ich mich zu konzentrieren, die Berührungen lieblos wirken zu lassen. Schon zog ich das Tuch von seinem Kopf. Sofort öffnete er die Augen und verfolgte mit unglaublich abstruser Miene, wie ich mich an den Fesseln zu schaffen machte und ihm die alte Freiheit schenkte. Kaum waren die Stricke gelockert, da riss er sich los.

„Was ist hier passiert?“ Kurz darauf flüsterte ich diese Frage und erhielt zur Antwort nur ein Zischen. „Das ganze Haus wimmelt von Akuma."

Wie wütend er war und wie aufgebracht.

So unruhig, dass sein Körper diesem Zustand kaum gewachsen war.

„Geht dich nichts an.“ Seine Stimme bebte und kurz fragte ich mich, ob ich seinen Zustand nicht unterschätzte. Nur ein kurzer Moment, in dem ich mich damit befasste, bevor ich um mich blickte.

Mugen lag im Dreck des Bodens und nahe der Wand. Wie ein bedeutungsloser Gegenstand, den man fortgeworfen hatte.

Es war mir nicht aufgefallen, denn bei meinem ersten Besuch hatte andere Dinge im Vordergrund gestanden.

Ächzend kam Kanda auf die Beine. Es sah mühevoll und schwerfällig aus und die ersten Schritte, die er tat, waren eher ein Straucheln und Stolpern.

„Alles in Ordnung?“ Ich reichte ihm seine Waffe und bemerkte das starke Zittern der Hand, die nach ihr griff. Er suchte Halt an der Wand, stützte sich gegen sie und flüchtig zweifelte ich daran, ob er dem Kommenden gewachsen war.

Es blieb wohl bei Level-1, doch derzeit schien es ihm selbst schwerzufallen, sich auf den Beinen zu halten.

Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, da löste er sich von der Wand, riss die blecherne Tür auf und strauchelte in den Flur. Ein Quietschen begleitete ihn. Dieser Wucht war die Tür nicht gewachsen und wie verdrehte ich die Augen, als ich den Stoff von der linken Hand streifte.
 

Keuchend standen wir kurz darauf vor den rauchenden Trümmern des Gebäudes und umgeben von Schneeflocken.

Mit einem Mal hatte es zu schneien begonnen und so würde es nicht lange dauern, bis die Kadaver der Akuma gelöscht würden. Die verlassene Umgebung bestand beinahe vollständig aus Gebäuden wie diesen. Verrotteten und leeren, in denen sich kein Mensch aufhielt. Nicht zu dieser Stunde. Niemand, der Augenzeuge dieses Schauspieles wurde.

Der letzte Staub stieg von dem maroden Lehm und dem Putz auf, wurde von den Schneeflocken jedoch zärtlich unterjocht und gen Erdboden zurückgedrängt. Ich blieb stehen, blickte zum Himmel auf und von einem leisen Knarren gelockt, zurück zum Gebäude, in welchem der letzte Stahlträger zur Seite sank und donnernd im Schutt liegen blieb.

Neben mir erhob sich ein langer, zitternder Atemzug und so spähte ich zu Kanda.

Sein Hemd flatterte unter einer eisigen Böe und sein Gesicht machte den Eindruck, dass er bei einer solch finsteren Laune war, wie ich sie nur selten an ihm wahrgenommen hatte. Noch immer waren seine Lippen blau, während er am gesamten Körper bebte.

Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich wieder dem Haus zu.

„Wie konnte das passieren?“, hob ich an und beobachtete Tim, der sich über den Trümmern bewegte. „Dich so vorzufinden, habe ich nicht erwartet.“

Zitternd hob sich sein Arm und so wurde Mugen unter dem Gürtel verstaut. Kanda stieß ein Zischen aus, dann wandte er sich ab.

„Und die Mission?“, erkundigte ich mich.

„Es gibt keine mehr.“

Ich hob die Schultern, ließ sie sinken und schüttelte den Kopf, bevor ich ihm folgte.

Ich beobachtete die Hand, die er als Stütze nutzte, um an einer Wand vorbeizukommen. Er stemmte sich ab und zog durch den knöchelhohen Schnee.

Es war, als hätte es sich bei dem, was vor kurzem zwischen uns geschehen war, lediglich um einen Traum gehandelt.

Ich drohte rasch in meine alte Verhaltensweise zurückzufallen, in der ich mich unschuldig fühlte und nicht danach, seinen Zorn über mich ergehen zu lassen. Doch es war geschehen.

Nur langsam holte ich zu ihm auf. Vermutlich hatte ich jede Facette seiner Wut verdient und noch so viel mehr. Wie musste ich ihn verletzt haben, doch das Schuldgefühl fehlte. Vermutlich war ich auch jetzt so egoistisch, wie ich es sonst verschleiert und unauffällig gegenüber anderen war.

„Hey.“ Seine Stimme riss mich aus meinen prekären Grübeleien. Er wandte sich nicht um und unter einem Seufzen schloss ich zu ihm auf. Auch wenn es nicht so war, ich konnte immer noch so tun, als hätte ich all das nicht verdient.

„Was?“

„Bevor du das Haus betreten hast.“ Er spannte die Schultern an, als uns eine eisige Böe erfasste. „Hast du jemanden gesehen?“

Eine flüchtige Verblüffung befiel mich.

Er erkundigte sich tatsächlich, doch so funktionierte es nicht, denn ich wusste, dass er nicht weiterfragen würde.

Er war der Unwissenheit ausgeliefert, während ich vor Reue eigentlich im Boden versinken müsste.

„Wie meinst du das?“, erwiderte ich, doch seine Hand hob sich nur zu einer abwertenden Geste.

„Vergiss es.“

Damit war ich zufrieden und da er mich nicht ansah, sah er auch nicht mein Schmunzeln.

Mir blieb jedoch nicht viel Zeit, mich in der Bestätigung zu suhlen, denn abrupt verfing er sich in einem entkräfteten Straucheln. Er tat einen unsicheren Schritt und kaum versah ich mich, da sank er auf die Knie. Sein Körper schien ihm jede Bewegung zu erschweren. Selbst sein Atem war noch immer nicht warm genug, um in der eisigen Luft zu beschlagen. So blieb er kauern, starrte zu Boden und schien in absehbarer Zeit nicht vorzuhaben, wieder auf die Beine zu kommen.

Es war ein Anblick, den ich nicht ertrug. Ihn leiden zu sehen, hatte ich nicht vor und so schlüpfte ich aus meinem Mantel und reichte ihn ihm. Ohne Worte. Ich meinte, es wäre das Beste, wenn er ihn nahm, ohne einer Bitte nachkommen zu müssen. Es dürfte seinem Stolz weniger zusetzen.

Er hob den Kopf. Ich sah erneut diese sterbensbleiche Haut zwischen den schwarzen Strähnen seines Haares und die Augen, die sich ungläubig auf den Mantel richteten. Er war abgeneigt, hielt sich nicht lange mit der Beobachtung auf und dann machte er tatsächlich Anstalten aufzustehen. Es war ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war und kaum sank er zurück in den Schnee, da kauerte ich mich vor ihn und bettete den Mantel auf meinem Schoß.

„Das ist nie passiert, okay?“ Ich flüsterte es ihm zu, bevor ich seinem Husten lauschte. „Du bist stark unterkühlt und musst nur zugreifen.“

Somit reichte ich ihm den Stoff erneut.

Bis zum Bahnhof würde er es nicht schaffen. Selbst der Mantel wäre wenig, doch so konnten wir es seinem Körper erleichtern. Ich wusste nicht, wie dieser talentierte Leib mit Kälte umging und wie er sich von Erfrierungen heilte, doch es darauf ankommen zu lassen, war keine Möglichkeit, die ich uns gab.

Und endlich sah ich seine Hand, die sich aus dem Schnee hob und nach dem Stoff tastete.

Als er sich den Mantel zitternd über die Schultern zog, war ich um eines erleichterter und ohne seine Zustimmung ein weiteres Mal einzuholen, packte ich ihn am Arm und zog ihn auf die Beine. Er schwankte, riss sich los und so setzten wir unseren Weg fort.
 

-tbc-

18

Irgendwann rückte der Bahnhof in unsere Sichtweite. Wir waren langsam vorangekommen, doch die Schritte meines teuren Kameraden wirkten endlich so sicher, dass ich mich nicht mehr zu sorgen hatte.

Ich achtete auf ihn, wachte über seine letzten Kräfte und vor ihm trat ich an die Tür heran und hielt sie ihm auf. Dieser Bahnhof war um einige Grade wärmer und geduldig wartete ich, bis auch Tim an mir vorbeiflatterte. Nach dem kurzen Studieren des Fahrplanes blieb Kanda in Bewegung und auch während ich es dann auf einer Bank bequem hatte, blieb er auf den Beinen, um sich aufzuwärmen.

Wie viele seiner wunden Punkte mochte ich wohl getroffen haben?

Er wirkte nahezu konsterniert neben seiner anhaltenden Wut und Schweigsamkeit.

Wie mochte er innerlich fluchen und wie verbissen nach einer Erklärung suchen?

Wer hätte es tun sollen, außer einem erbarmungslosen Verehrer, wie ich es war?

Wer hätte einen Grund gesehen, seinen Zustand so für sich zu nutzen?

Er hatte ja keine Ahnung. Ich selbst konnte mir nur schwerlich erklären, weshalb er mir nicht einmal jetzt Leid tat.

Was ich erlebte, was ich fühlte und ertastete, war zu wertvoll, um Bedauern zu zeigen und zu intensiv, um es anzuzweifeln.

Ich hatte es getan und jeden Moment meiner Schandtat genossen. Bei Gott, das hatte ich und allein der Gedanke an das Vergangene ließ mich heiß und kalt erschaudern und den Blick von ihm abwenden.

Wenn ich ihn sah, was blieb mir übrig, außer den Wunsch zu spüren, ihn erneut zu berühren?

Ich hatte von ihm gekostet. Von ihm, der Droge, der ich verfallen würde, sobald meine Selbstdisziplin erneut nachließ.

Ich hatte mich zurückzuhalten, einfach so zu sein, wie immer und einzusehen, dass es sich um eine einmalige Gelegenheit handelte.

So ausgeliefert würde er mir nie wieder sein. Es war ernüchternd und dann rieb ich mir das Gesicht. Langsam und bedächtig und wie verstohlen drifteten meine Augen zwischen den Fingern erneut zur Seite.
 

Die Reise verlief, wie ich es erwartete. Wir sprachen kein Wort, doch sein Gesicht und die Blicke, die mich trafen, verrieten mir, dass er weit von Beruhigung entfernt war. Es hatte mich nicht zu wundern. Ich rechnete sogar damit, dieses abgrundtief finstere Gesicht noch weitere Tage zu sehen. Eine geringe Strafe.

In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages erreichten wir das Hauptquartier. Was mich anging, ich war der Reise müde und freute mich in der Zwischenzeit auf mein Bett. Wieder hatte ich zu keiner Minute Schlaf gefunden, war wach und unruhig geblieben und voller Gedanken, die ich zu verhindern versuchte. Ein Scheitern auf ganzer Strecke. Der richtige Abstand würde vermutlich erst glücken, wenn ich die Tür hinter mir schloss und mich von Kanda abschottete. Wenn ich ihn nicht mehr sah.

Kaum hatten wir das Tor passiert und kaum das Treppenhaus erreicht, da wurde mir mein Mantel beiläufig zugeworfen. Er hatte ihn nicht mehr nötig. Auf eine Danksagung hatte ich nicht gehofft und ich verdiente sie auch nicht.

„Allen! Kanda!“ Mit großen Augen richtete sich Jonny auf, sobald wir die Wissenschaftsabteilung betraten. „Da seid ihr ja! Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

„Mm?“ Mit müden Augen lehnte sich River hinter einem Stapel hervor. „Ah.“ Ein Winken. „Komui erwartet euch schon.“

Nicht einen Blick hatte Kanda für die Wissenschaftler übrig. Mit derselben verbitterten Miene zog er weiter und so blieb es wiederum an mir hängen, freundlich und gesprächig zu sein. Lächelnd winkte ich zurück.

„Schön, wieder da zu sein.“

„Alles in Ordnung?“ Jonnys Frage richtete sich an Kanda. Er war verwundert und mit einem Mal auch niedergeschlagen und das vermutlich nicht, weil Kanda gefroren hatte. Nein, die maßgeschneiderte Uniform war verschwunden. Rivers Gähnen drang noch zu mir, bevor ich hinter Kanda die Tür passierte und in Komuis Büro trat.

„Willkommen zurück.“ Komui war bei bester Laune, als er die Tasse hob, doch Kandas zielstrebige Schritte ließen nichts Gutes vermuten. Wahrscheinlich erfuhr ich nun etwas über die gescheiterte Mission und wirklich, er baute sich auf der anderen Seite des Schreibtisches auf.

„Was war das?“ Schneidig erhob sich seine Stimme und unter einem Räuspern ließ Komui die Tasse sinken.

„Es tut mir Leid, aber du kennst das doch, Kanda. Es sollte nicht sein aber hin und wieder werden wir falsch informiert.“

„Das nennst du falsche Informationen?“ Zischend neigte sich Kanda über den Schreibtisch und Komui hob die Brauen. „Ich nenne das ein erbärmliches Desaster. Wer ist dafür verantwortlich?“

Komui zuckte nur mit den Schultern und während sich das nächste Zischen erhob, ließ ich mich auf dem Sofa nieder, streckte die Beine und verfolgte das interessante Schauspiel.

„Wie kannst du mich auf eine Mission schicken, der jede Grundlage fehlt?“

„Hätte ich es gewusst, hätte ich es nicht getan.“ Komui drehte an seiner Tasse. „Was regst du dich auf? Es ist doch gut ausgegangen. Du bist da, Allen ist da. Was ist denn nun genau passiert?“

Ruppig verschränkte Kanda die Arme vor der Brust. Eine Kopfbewegung zur Seite zeugte davon, dass er sich Besseres vorstellte, als davon zu erzählen und so blieb es an mir hängen. Ich juckte mich im Schopf.

„Als ich am Ziel ankam, fand ich nur ein ausgebranntes Haus vor, in dem es vor Akuma wimmelte. Und ihn mittendrin.“ Mit einer knappen Geste wies ich auf Kanda. Noch immer schweigend starrte er zur Seite.

Dass ich nicht ausführlich über die Lage berichtete, in der ich ihn vorfand, schien er mir nicht zu danken. Als wäre ihm an diesem Punkt alles gleichgültig. Als könnte er ohnehin nicht mehr tiefer sinken.

„Verstehe.“ Komui gönnte sich noch einen Schluck. „Um ehrlich zu sein, habe ich mir wirklich Gedanken gemacht. Pass auf, Kanda. Es gibt etwas, über das du dich freuen wirst.“ Er hielt inne. „Hörst du zu?“

Erst jetzt und verspätet wandte sich Kanda ihm zu.

„Der Broker, an den du nicht mehr herankommen konntest, wurde zehn Kilometer östlich von Crowley und Miranda erwischt.“

„Und darüber soll ich mich freuen?“, entgegnete Kanda. „Das war meine Mission.“

„Ja doch.“ Komui seufzte. „Wir können nichts mehr daran ändern, ja? Du konntest nichts dafür aber die nächste Mission kommt und diesmal achte ich besser auf die Informanten.“

„Tatsächlich?“

„Ja.“ Komui nahm es mit seiner einmaligen Gelassenheit und nach einem weiteren, genüsslichen Schluck seufzte er. „Ihr könnt gehen. Schlaft euch ordentlich aus. Wir werden morgen sehen, wie es weitergeht.“

Er erlaubte uns den Rückzug und Kanda nahm diese Möglichkeit sofort wahr.

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und kaum kehrte er Komui den Rücken, schnitt dieser eine irritierte Grimasse. Die Geste war an mich gerichtet, doch mir blieb nicht vielmehr übrig, als mit den Schultern zu zucken.

Was mit Kanda los war? Gerade ich sollte das wissen?

Komui kapitulierte, befasste sich Kopfschüttelnd mit seinem Kaffee und so machte auch ich mich auf den Weg. Ein kurzes Winken und schon folgte ich meinem nächsten Ziel.

Ich stattete Jerry einen Besuch ab. Mir fehlte noch etwas Herzhaftes, bevor ich schlafen ging und in Windeseile wurde es mir zubereitet. Nicht nur rasch sondern auch mit der üblichen Liebe, worauf Jerry mich aufmerksam machte. Es sah auch recht lecker aus und mit dem gewohnt schweren Tablett machte ich mich anschließend auf die Suche nach einem freien Platz und fand jemand ganz anderen.

„Allen.“ Linali strahlte über das ganze Gesicht, als ich ihr Gesellschaft leistete, neben ihr über die Bank stieg und mein Tablett loswurde.

„Hallo.“ Ich erwiderte ihr Lächeln und ließ mich nieder.

„Hast du die letzten Missionen gut überstanden?“

„Problemlos“, beruhigte ich sie und verschaffte mir einen Überblick auf meinem Tablett. „Und selbst?“

„Mit mir ist alles in Ordnung.“ Seufzend griff sie nach ihrem Milchreis, neigte sich zur Seite und hob ein anderes Schälchen an. „Wo ist mein Zucker?“

„Ich wünsche mir nur, dass es wieder warm wird“, murmelte ich und reichte ihr meinen Zuckerstreuer.

„Ah, danke.“

„Aber stattdessen wird es immer kälter, als hätte es das Wetter auf mich abgesehen.“ Ich runzelte die Stirn und lugte zu einem der Fenster.

„Ich mag diese Kälte auch nicht“, pflichtete sie mir bei. „Und im letzten Sommer hatten wir soviel zu tun, dass wir von der Wärme kaum etwas mitbekommen haben.“

„Richtig.“ Ich schnappte mir meinen Auflauf und schubste Tim zur Seite. Er hatte sich der Auflaufform bedrohlich genähert. „Und wenn jemand bemerkte, wie warm es war, dann gab es Beschwerden und Gejammer. Ach, wäre es doch kühler. Die Sonne ist zu hell und die Luft schwirrt. Wie undankbar. Natürlich war es viel zu warm.“ Ich zückte die Gabel. „Es ist unsympathisch, sobald es zu extrem wird. Schnee ist in Ordnung aber es wäre noch besser, wenn er im Sommer fallen würde. Im Winter hingegen könnte die Sonne ruhig mehr Kraft haben, dann sähe nicht alles so weiß und langweilig aus.“ Ich schluckte hinter und versenkte die Gabel erneut in der dicken Käseschicht. „Man weiß gar nicht, wo man hinsehen soll, was eigentlich egal wäre, weil wirklich alles gleich aussieht.“ Ich hob die Brauen, als Linali in Lachen ausbrach. „Was ist?“

Sie lachte weiter, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah mich freudig an.

„Es kommt selten vor, dass du so gesprächig bist.“

„Stimmt doch gar nicht.“

„Doch, doch.“ Sie schmunzelte in sich hinein. „Aber ich mag es, wenn du viel zu erzählen hast und zufrieden bist.“

Zufrieden. War ich das?

Ich begann darüber nachzudenken und verfiel der alten Schweigsamkeit. Kurz darauf aß ich weiter und spähte erst auf, als Kanda an unserem Tisch vorbeizog. Und während Linali neben mir ihren Milchreis löffelte, sah ich ihm nach. Auch sie wurde auf ihn aufmerksam, ihr Lächeln vertiefte sich und kurz darauf wandte sie sich wieder an mich.

„Ich habe gehört, du hast dich um das belgische Lager gekümmert?“

Ich nickte, hielt nach Tim Ausschau und fand ihn auf Linalis Schoß.

„Dafür dürften dir viele dankbar sein.“ Kurz tätschelte sie meinen Golem. „Es ist ein gutes Gefühl, dort hingehen zu können und nichts befürchten zu müssen.“

Schweigend verbrachten wir die nächsten Augenblicke mit unserem Essen. Wir ließen es uns schmecken, schnitten und löffelten, tranken und aßen und natürlich entging mir dabei nicht, wie sich Kanda nicht weit entfernt mit seinem Tablett niederließ. Er aß das Gewohnte und bewusst lenkte ich meine Augen zurück auf mein Essen. Ich übte mich in dieser Distanz, doch es war Linali, die ich dabei erwischte, wie sie immer wieder zu jenem jungen Mann spähte. Ich leerte die Auflaufform, schob sie zur Seite und als ich gerade mit meiner Suppe beschäftigt war, hielt es sich nicht länger in mir.

„Was hast du?“

„Mm.“ Unentschlossen besah sie sich ihren Milchreis, spähte erneut an mir vorbei und rieb sich die Wange. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihm“, flüsterte sie dann.

„Ah ja?“ Ich gab mich erstaunt und sie nickte.

„Es passiert selten, dass ihn etwas aus der Fassung bringt.“

Langsam hob ich den Löffel zum Mund. Die Hälfte der Suppe tropfte runter, denn ich starrte schon wieder zu Kanda. Was sich mir bot, war nur noch die abgeschwächte Form seiner vorherigen Wut, doch Linalis Gespür war offenbar darüber erhaben.

„Du warst doch mit ihm auf Mission. Du weißt nicht zufällig…“, sie sprach nicht weiter, denn ich schüttelte längst den Kopf.

In was für einer prekären Lage sich Kanda tatsächlich befand, das wusste nicht einmal Komui, denn von ihm wäre es geradewegs zu Linali gerutscht. Was Linali wusste, wusste anschließend auch Lavi und sobald Kanda den einen oder anderen Kommentar zu dieser Sache hörte, konnte ich mir ausmalen, was er mit mir tat.

„Wer weiß, was für eine Laus ihm diesmal über die Leber gelaufen ist.“ Damit tat ich es ab und zuckte mit den Schultern. Offiziell war es nicht mein Problem und Linali begriff es, denn sie begann wieder zu löffeln.

Wir löffelten beide und dann gähnte ich.

„Was bin ich müde.“ Ich rieb mir die Wange und lugte kauend zu Linali. Sich mit ihr zu unterhalten, machte wirklich Spaß, wenn Lavi nicht da war. Amüsiert sah sie mich an.

„Ich habe das Gefühl, dass allein die Kälte schon müde macht. Immerhin ist man die ganze Zeit verspannt und friert.“

„Das kenne ich“, stimmte sie zu und streute noch mehr Zucker auf ihren Milchreis. „Das Aufstehen wird auch immer schwerer.“

„Wenn draußen die Sonne scheint und es warm ist, kann man es gar nicht eilig genug haben, an die frische Luft zu kommen“, quatschte ich weiter und zog ein Schälchen mit Pudding zu mir. „Im Sommer kriege ich nie genug vom Reisen.“

„Lavi hat es gut. Er ist in Amerika, wo es warm ist.“

„Das ist ungerecht“, bemerkte ich Stirnrunzelnd und neben mir brach Linali in Lachen aus.

„Irgendwie schon.“

Somit versenkte ich den ersten Löffel mit Pudding im Mund und es war ein seltsamer, innerer Trieb, der meinen Blick abermals zur Seite driften ließ. In der Zwischenzeit beließ Kanda es dabei, untätig auf seine Nudeln zu starren.

„Ach“, seufzte Linali und mit großen Augen wandte ich mich ihr zu. „Ich wäre so gern bei Crowleys Feier gewesen. Wie war sie?“

„Sie war toll. Ich habe bei den Vorbereitungen geholfen.“

„Was macht man nicht alles für seine Kameraden.“ Lächelnd beschäftigte sich Linali wieder mit Tim. Sie streichelte ihn und kraulte seine kleinen Hörnchen. „Was mache ich nur?“, murmelte sie nebenbei. „Ich habe so einen Appetit, ich könnte noch einen Teller von diesem Milchreis essen.“

Sofort wurde ich auf den Teller auf meinem Tablett aufmerksam. Ich hatte noch Milchreis und hoffentlich kam sie nicht darauf, nach ihm zu fragen. Ich leerte das Schälchen und kaum langte ich nach meinem Milchreis, kam Linali auf die Beine.

„Ich kann nicht anders. Bin gleich wieder da.“

Ich winkte ihr mit dem Löffel und ließ es mir schmecken.

Wir genossen diesen Abend. Fast die gesamte Zeit während ich aß, leistete sie mir Gesellschaft und irgendwie schien sie sich anzustecken, denn sie kapitulierte erst bei dem dritten Teller Milchreis und anschließend auch vor dem Rest des Abends. Sie wäre müde, meinte sie und so verabschiedeten wir uns für diesen Tag und zogen uns zurück. Linali blieb vorerst im Hauptquartier und so konnte ich auch das nächste Frühstück mit ihr verbringen. Und nicht nur mit ihr.
 

„Das belgische Lager?“ Nachdenklich blickte Crowley von seinem Fruchtsalat auf. Der Name sagte ihm etwas und er begann zu grübeln, während Miranda neben ihm auf ihr Brötchen starrte. Was mich anging, ich war zerzaust und noch etwas müde aber es ging mir gut. Die Nacht hatte mir neue Kräfte geschenkt. Ich fühlte mich wohl und die Runde, die mir jetzt zuteil wurde, verstärkte dieses Gefühl.

Neben mir schlürfte Linali einen Milchshake.

„Ja, ich erinnere mich.“ Crowleys Gesicht erhellte sich und Miranda seufzte. „Dort war ich erst vor einem Monat.“

„Wurdest du auch angegriffen, als du wieder aufgebrochen bist?“, erkundigte sich Linali, doch Crowley verzog nur das Gesicht.

„Nein“, gab er zu. „Ich bin von meiner Route abgekommen, weil ich mich verlaufen habe.“

Ein Grinsen zog an meinen Lippen und amüsiert griff ich nach dem nächsten Croissant.

„Was mache ich nur auf mein Brötchen?“ Neben ihm schwankte Miranda. „Ich habe solche Kopfschmerzen. Sogar so eine Entscheidung kann ich kaum treffen.“

„Nimm Kirschmarmelade“, sagte ich, während ich das Croissant zerrupfte. „Die ist gut.“

„Ah, danke.“ Sofort griff sie nach dem Schälchen und ich begann zu kauen.

„Ich habe vor kurzem Marie getroffen“, begann Linali neben mir zu erzählen. „Vor zwei Tagen in Marokko.“

Seufzend schmierte sich Miranda ihr Brötchen, während Crowley und ich aufblickten.

„Er meinte, er hätte noch eine Kleinigkeit zu erledigen und würde dann auch gleich kommen.“

„Auch?“, wunderte sich Crowley. Und wirklich, da war etwas faul dran.

Ich runzelte die Stirn und hielt inne. Das roch doch nicht etwa nach einer weiteren Besprechung?

„Scheinbar sammeln sich die Exorzisten“, grübelte Crowley und lutschte an einem Stück Ananas, bevor er den Kopf schief legte. „Ich habe Kanda vorhin gesehen. Er schien es eilig zu haben. Gehen wir etwa doch wieder auf Mission?“

„Nein.“ Linali konnte ihn beruhigen und selbstverständlich war auch ich ganz Ohr. „Soweit ich es mitbekommen habe, ist er in der kleinen Trainingshalle.“

„Wenn das so ist.“ Crowley begann in dem Salat zu rühren und nach etwas zu suchen. „Dann kommen Lavi und Bookman doch bestimmt auch bald.“

„Ich denke schon“, antwortete Linali.

Heiter wurden die Gespräche fortgesetzt, doch ich begann mich zurückzuhalten, gedanklich abzudriften.

Absent aß ich so weiter, nahm nur hin und wieder Mirandas Seufzen wahr. Auch das Lachen Linalis und Crowleys. Alles war gut, nur mir fehlte etwas.

Ich mochte den Gedanken, den Vorwand zu nutzen, um ihm näherzukommen und ohne es zu bemerken begann ich hastiger zu essen. Ich hatte mir etwas vorgenommen, ich plante etwas und recht zeitig kam ich auf die Beine und verließ die Gruppe.

Wohin ich ging?

Trainieren.
 

Langsam griff ich nach der Klinke und öffnete die schwere Tür.

Schon früh waren die Geräusche zu mir gedrungen und als ich in die Halle spähte, sah ich den Sand, der aus einem Riss des großen Boxsackes rann. Raschelnd sammelte er sich auf dem Boden und keuchend ließ Kanda den Bokken sinken, bevor er zu mir spähte. Sich an ihn heranzuschleichen, war ein unmögliches Unterfangen und als ich eintrat und seine Mimik deutete, fragte ich mich abrupt, ob ich dieses Risiko wirklich eingehen sollte.

Sein Zorn hatte nicht an Kraft verloren

Einen Schritt tat ich, da fuhr er herum und knackend vergrößerte sich der Riss am Unterboden des Sackes. Was für eine Schnelligkeit, was für eine Kraft und erst jetzt schien es ihm aufzufallen. Sein Gesicht senkte sich und mürrisch bemerkte er den Schaden, bevor er sich abwandte und zu den Bänken trat.

Meine Augen folgten ihm und als er eine Wasserflasche zum Mund hob, trat ich näher und gab mich so entspannt, wie ich es längst nicht mehr war.

Allein sein Anblick sorgte dafür, dass sich mein Leib verspannte. Ich spähte zu dem Gestell mit den Bokken.

„So früh am Tag schon so in Fahrt?“ Gelöst erhob sich meine Stimme in der steinernen Halle und Kanda ließ die Flasche sinken, doch es blieb bei einer kurzen Aufmerksamkeit, bevor er weiter trank. Er antwortete nicht und ich wagte mich näher. Näher an ihn heran, bis ich neben ihm stand und zu jenem bedauernswerten Box-Sack spähte.

„Wie wär’s mit einem Gegner, der dir würdig ist?“ Ich provozierte ihn, doch bemerkte indessen, wie er die Distanz zu mir mit einem Schritt zur Seite wieder herstellte. So beiläufig, als wäre es eine mechanisierte Bewegung. Schon wurde die Flasche zurück zum Kleiderbündel geworfen.

„Dann geh mir mal so einen suchen, Bohnenstange.“

„Das war unfein.“ Ich grinste, begeistert von seiner Bereitschaft, sich auf den Zank einzulassen. Er schwang den Bokken und trat zurück zum Box-Sack. „Bis zum heutigen Tag bist du noch keinem Kampf ausgewichen. Wie kam es zu der Schrumpfung? Ist es Ehrfurcht, weil ich mich in der Schwertkunst verbessert habe?“

„Ts.“ Kopfschüttelnd zog er weiter und ich musste nur kurz grübeln.

„Oder hast du nur Angst davor, schon so früh am Morgen zu weinen?“

„In Ordnung.“ Prompt wurde mir der Bokken entgegengestreckt. „Ich werde dir den Hintern so versohlen, dass du dir wünschst, du hättest keinen.“

„Alles klar.“ Auf mehr war ich nicht aus, doch als ich ihm den Rücken kehrte und zu dem Gestell schlenderte, zog ich eine Grimasse. War das klug?

Auch wenn ich die Mehrheit meiner Kämpfe ebenso mit einem Schwert führte, waren unsere Fähigkeiten wie Tag und Nacht. Er war ein geschickter und schneller Schwertkämpfer und so wusste ich längst, wie die nächsten Momente verlaufen würden.

Ich war ein schweres und großes Schwert gewöhnt, das man soviel anders handhabte als solch einen Bokken, der Mugen so ähnlich war, wie er es nur sein konnte. Tief durchatmend griff ich nach einem von ihnen, bewegte ihn in der Hand und schlüpfte aus meinen Schlappen. Auch die Weste streifte ich von meinen Schultern und strich mein Hemd glatt. Eigentlich sinnlos, denn am Ende wäre ich ohnehin verschrammter als der Stoff. Lauernd hatte Kanda meine Bewegungen verfolgt und kaum hatte ich mich ihm zugewandt, da wurde surrend der Bokken geschwungen.

„Komm her, Bohnenstange!“ Er winkte mich näher. „Ohne Zähne fallen dumme Sprüche schwer.“

„Konzentrier dich bitte.“ Auch ich schwang den Bokken, näherte mich Kanda und schöpfte tiefen Atem. „Mut siegt immer über Zorn und ich will dich nicht verletzen.“
 

„Verdammt!“ Zischend schüttelte ich die Hand, entkam dem nächsten Schlag nur knapp und stolperte zur Seite.

Ich war es nicht gewohnt, dass die linke Hand bei einem Kampf im Weg war. So konzentrierte ich mich zu sehr auf sie und sammelte die Prellungen ab der rechten Schulter abwärts. Ein Schritt zur Seite, schon wirbelte Kanda herum und knallend trafen die Bokken aufeinander, als ich den Schlag parierte. Bisher hatte ich ihn kein einziges Mal getroffen.

Was ich befürchtete, trat ein und kaum konnte ich seiner Schnelligkeit folgen, da spürte ich die Spitze seines Bokken, die schmerzhaft meine Seite streifte.

„Du bist schon wieder tot!“ Keuchend erhob sich seine Stimme nahe an meinem Ohr, als er sich in meinem Rücken an mir vorbei schob. „Streng dich endlich an!“

Das sagte er so einfach. Für ihn war es leicht und für mich so kompliziert.

Ich war doch nicht darauf aus, mit ihm zu kämpfen und bildete mir auch keine Ebenbürtigkeit mit dem Schwert ein. Das einzige, was ich wollte, bekam ich längst. Die Wärme seines Körpers, wenn er sich an mir vorbeipirschte. Seine Stimme, die mir bisweilen so nahe war. Sein Duft, der mich streifte, wenn wir aufeinandertrafen. Sein Haar, das auf meine Schulter traf, wenn er herumfuhr.

Alles, was so betörend war und mir jede Konzentration nahm.

Möglicherweise hätte ich bisher weit weniger abbekommen, würde ich nicht dieser neuen Fixierung unterliegen und mich nicht wehrlos in seiner Gegenwart fühlen. Erinnerungen bekamen mich zu fassen und führten mich zu jenem Moment zurück und kaum sah ich diese Bilder vor mir, kaum nahm ich die alten Gefühle wahr, da wurde ich bitter mit der Realität vertraut gemacht.

Kanda hielt sich natürlich nicht zurück und gehetzt kam ich ihm bei, als er sich auf mich stürzte. Mit einem kraftvollen Hieb, den ich mit einem Schlag fehlleitete und mich dadurch endlich in einer gewissen Sicherheit wiegte. Doch wie plötzlich trat er noch näher an mich heran, wie plötzlich spürte ich seine Hand auf meiner Schwertführenden und kaum versah ich mich, da wurde mir der Arm verdreht und ich wirbelnd zu Boden gerungen.

Ich schlug auf, bekam nur beiläufig mit, wie er über mich hinweg stieg und gerade bemerkte ich, dass mir das Schwert aus der Hand gerissen worden war, da landete es schon vor mir auf dem Boden.

Was für eine Präzision. Ich hatte den Verlust kaum mitbekommen und so rappelte ich mich auf und tastete nach dem Bokken.

„Wo bleibt mein würdiger Gegner?“

„Ja ja.“ Ächzend rieb ich mir eine der schmerzenden Stellen und kam auf die Beine.

Mehr als das würde er nicht zu sehen bekommen. Vermutlich war er anschließend noch wütender, doch das war es wert.

Wie sehr vergaß mein Körper die Schmerzen, wenn meine Sinne nach ihm trachteten und alles nahmen, was er mir gab. Jeden Schlag nahm ich gern auf mich für einen Moment, in welchem wir uns nahe waren und ohne Zögern ging ich in den Angriff über.

Wenn er mir schon Schmerzen zufügte, dann sollte es sich wenigstens lohnen.

Sein Schlag. Wie eilig drehte ich mich aus seiner Reichweite, näherte mich ihm ebenso schnell und nur beiläufig spürte ich seine Hand, die auf meine Schulter niederging, als mein Rücken auf seine Brust traf und mein Ellbogen kurz darauf seine Rippen. Kaum hatte ich ihm diesen Schlag versetzt, da wurden mir die Beine weggerissen. Die Hand an der Schulter zog mich zurück und haltlos ging ich erneut zu Boden.

Ich fühlte mich, als würde ich mich blind und taumelnd bewegen, ohne Sinn und Verstand.

„Was ist mit dir los?“, wurde ich angefahren und begann mich ein weiteres Mal aufzurappeln.

Wollte er das wirklich wissen?

Ein Grinsen zog an meinen Lippen, als ich mich auf dem Bokken in die Höhe stemmte.

„Ich mache mich warm.“

„Dann werde mal fertig damit!“

Ich war ihm heute nicht würdig. Nicht im Geringsten. Und mein Kreuz tat höllisch weh.

Ich stand völlig neben mir und fragte mich allmählich wirklich, was ich mir eingebrockt hatte.

Tief atmete ich aus, atmete ein und fasste den Bokken sicher.

Wenigstens einen Schlag, wenigstens einen Treffer, damit er nicht noch mehr Misstrauen schöpfte.

Mir gegenüber wurde der Bokken gehoben. Leicht ging Kanda in die Knie, stets achtsam und voller Erwartung.

Scheinbar nahm er mich doch ernst. Wenn auch nicht komplett, er bereitete sich auf meinen Angriff vor. Diesmal würde er zu Boden gehen. Wenn er seine Waffe benutzte, würde ich nichts anderes tun und kurz spreizte ich die Finger der linken Hand, presste sie zu einer Faust und lockerte sie wieder.

Und los.

Ich setzte mich in Bewegung, sofort tat er es mir gleich und wie schnell überwanden wir die Distanz, wie schnell trafen wir aufeinander und nur kurz begegneten sich unsere Bokken. Ein lauter Knall erhob sich in der Halle, als sie übereinander hinwegschlitterten und wie eilig hatte ich es, mich gegen Kanda zu drängen, an seinen Schwertführenden Arm zu gelangen und mich mit meinem Linken in ihm zu verkeilen.

Es war eine scheinbar ungeschützte Stelle, in die ich mich schob. So rasch, wie ich ihn zur Seite zerrte und seinen Schritt mit dem Bokken blockierte. Sofort zog es ihn nach unten, sofort zog ich den Arm zurück, doch wie gesperrt war meine Freiheit mit einem Mal.

Ich konnte mich nicht lösen, irgendwas zog mich mit hinab. Es war sein Bokken, der plötzlich in meinem Nacken lag und keuchend gingen wir zu Boden. Er schlug auf, ich stürzte ihm nach und nur knapp gelang es mir, mich abzustützen, bevor ich vollends auf ihn sank. Es war nur ein Moment, in dem ich über ihm kauerte und fast fluchtartig stieß ich mich ab und rollte mich zur Seite. Zuviel. Viel zu viel.

Fast war ich erschrocken von dieser plötzlichen, intensiven Nähe und mein Herz raste schmerzhaft in meiner Brust, als ich aufblickte. Kanda entrann ein Keuchen, bevor er auf die Beine kam. Sein wirres Haar verbarg einen Teil seines Gesichtes und mit einem Mal überkam mich die Gewissheit, dass es genügte. Weiter konnte und wollte ich nicht gehen und kaum traf mich sein Blick, da richtete ich mich schlagartig auf. Er war bereit für die Fortsetzung, doch ich hatte meinen Bokken verloren und würde nicht wieder nach ihm greifen.

„Ich denke, das reicht mir für heute“, meine Stimme versank im Keuchen, als ich mich auf die Beine quälte.

„Wir haben gerade erst angefangen!“ Er war entrüstet. „Jetzt willst du kneifen?“

„Oh ja.“ Unter einem beschämten Lächeln rieb ich mir den Steiß und wich bereits vor ihm zurück. „Wenn wir so weitermachen, schlägst du mich nur grün und blau.“

„Diese Einsicht kommt erst jetzt?“ Endlich ließ er den Bokken sinken und betrachtete mich verächtlich. „Wo ist dein Selbstvertrauen hin, Bohnenstange? Ist es in das Nichts zurückgekehrt, aus dem es kam?“

„So in der Art.“

Es war mir egal. Meine Beweggründe waren wichtiger als eine Blamage und düster verfolgte er, wie ich zu meinen Schuhen trat.

„Wir holen das nach.“ Ächzend schlüpfte ich hinein, erschauderte heiß und kalt.

„Und wenn ich keine Lust darauf habe?“

„Das wirst du schon.“ Flüchtig winkte ich ihm.

Es war ein Rückzug, wie er im Buche stand, doch ich ließ die Schmach gern über mich ergehen, denn mein Körper zeigte mir, dass es allerhöchste Zeit war. Ich war nicht mehr weit davon entfernt, mich völlig fallen zu lassen und ich wechselte kein weiteres Wort mit Kanda, bevor ich fluchtartig aus der Halle trat.
 

-tbc-

19

Hastig schaltete ich die Dusche ein und ächzte unter dem kalten Wasserstrahl, der auf mich niederging. Es erschreckte mich, wie sehr mein Körper auf Kanda reagierte. Was meinen Gedanken entsprang, schien auf ihn übergegangen zu sein und wie benommen bettete ich die Hände auf den Fliesen.

Wie stark war nur mein Verlangen?

Jetzt genügte es schon, über ihm zu kauern, um mich nahe dazu zu bringen, den Verstand zu verlieren.

Wie haltlos hatten wir uns damals nahe beieinander bewegt, ohne dass mein Körper mich darauf aufmerksam machte.

Es war nie viel dabei gewesen.

Wieder rieb ich mir das Gesicht, strich über mein Haar und hinab zum Nacken. Es wurde besser.

Die Spannungen ließen nach, mein Atem legte sich und bald drehte ich das Wasser wärmer.

Wie ging es weiter?

Ich hob das Gesicht in den prasselnden Strahl. Hier war es eigentlich recht angenehm.

„Allen!“ Plötzlich erhob sich eine Stimme hinter mir. Ihr Klang war unverkennbar und sofort drehte ich mich um.

„Lavi!“

„Da bin ich!“ Ächzend winkte er und war schon dabei, aus den Stiefeln zu schlüpfen. Trotz seiner Eile schien er doch bei bester Laune zu sein. „Jetzt aber schnell! Ich bin total durchgefroren!“

„Gerade erst angekommen?“ Ich strich mir das Haar zurück und sah ihn nicken. Eilig pellte er sich aus dem Mantel und begann die Uniform zu öffnen.

„Ist eisig kalt draußen!“ Schon landete die Uniform auf der Bank. „Der Opa genehmigt sich erst einmal einen Tee aber ich bevorzuge Wärme von außen.“

Schmunzelnd wandte ich mich ab und hielt nach der Seife Ausschau.

Lavi also auch. Wie erwartet. Jetzt fehlte nur noch Marie.

Kurz darauf rauschte eine zweite Dusche.

„Tut das gut!“ Wohlig streckte er sich unter dem Strahl und ich bekam die Seife zu fassen.

„Du glaubst nicht, wie seltsam das ist!“ Seine Stimme erhob sich unaufhörlich. Es störte mich nicht aber ich schenkte ihr auch nicht meine volle Aufmerksamkeit. „Da kommt man aus dem warmen Amerika und dann so etwas. Bin ich froh, dass ich meinen Mantel doch mitgenommen habe.“

„Seid ihr mit der Mission fertig?“, wandte ich mich an ihn und schäumte mich indessen ein.

„Mit der einen. Eigentlich sollten wir noch eine zweite machen aber dann wurden wir zurückgerufen.“

„Hat man euch einen Grund dafür genannt?“

„Mm.“ Er schüttelte sein Haar und puhlte sich im Ohr. „Es soll wohl eine Besprechung geben.“

Ich wusste es.

Er fuchtelte mit der Hand und ich warf ihm die Seife zu. „Danke. Komui meinte, wir haben Zeit, uns auszuruhen, also dürfte es nicht so schnell losgehen. Sind die anderen denn schon da?“

„Bis auf Marie.“

„Ist das so?“ Das freute ihn. „Dann lass uns nachher etwas zusammen machen.“
 

Es war ein seltenes Bild, wie wir alle kurz darauf in der Lounge saßen.

Ich hatte es mir auf der Armlehne eines Sofas gemütlich gemacht und ließ die Beine baumeln, während ich an einem Milchshake saugte. Lavi überragte uns. Er saß auf der Rückenlehne und über Crowley, der Mirandas gepeinigte Schläfen massierte. Der Kopfschmerz war immer noch da und während sich Lavis und Linalis Lachen erhob, mischte sich hin und wieder ein genüssliches Seufzen darunter.

Wir waren alle beisammen.

Fast alle, denn außer Marie fehlte natürlich noch einer. Lavi wäre losgezogen, ihn zu suchen, hätte ich ihn nicht gewarnt. Eine Stimmung, hatte ich gesagt, so schwarz wie der tiefste Abgrund und zum Glück hatte ihn die Beschreibung von seinem sinnlosen Unterfangen abgebracht. Jetzt war er in Erzählungen verstrickt, während mir noch alles wehtat.

Ich war nicht so klug gewesen und hatte auch niemanden, der mich von dummen Ideen abhielt.

„Und dann?“ Linali war neugierig. „Was ist dann passiert?“

„Jedenfalls war da dieser riesige Typ!“ Ausschweifend hob Lavi die Arme, demonstrierte uns diese wirklich enorme Größe. Ich schaute nur kurz hin, bevor ich weiter an meinem Strohhalm saugte.

„Ach, tut das gut“, erhob sich wieder Mirandas Seufzen.

„Aber immer doch, meine Liebe.“ Crowley seufzte zurück und Lavi lachte.

„Und der kam auf den Panda zu und beschwerte sich, wieso wir da herumstanden. Dabei ist doch nichts dabei, irgendwo zu stehen.“

„Ganz recht“, pflichtete Linali bei und ich schielte zu dem Strohhalm.

Ein Stück Erdbeere musste festhängen. Ich saugte stärker.

„Da bin ich natürlich dazwischen gegangen und habe ihm gesagt...“

Jetzt kam die Zeit sich zu beweisen und Linali staunte, als Lavi weiterredete.

„Diese Jugend“, seufzte Crowley mittendrin. „Müssen die denn immer auf Konfrontation aus sein?“

Neben mir begann sich Linali das Auge zu reiben und Stirnrunzelnd zog ich den Strohhalm aus dem Becher und starrte ihn an.

„Und dann war wieder alles in Ordnung.“ Lavi rückte auf dem Polster herum. Linali war weiter am Auge zugange und während ich mich nur mit meinem Strohhalm befasste, wurde Lavi darauf aufmerksam. „Hast du etwas im Auge?“ Er neigte sich hinab und nickend wandte sich Linali ihm zu.

„Schaust du kurz?“

„Natürlich.“ Mit vor Konzentration erhobener Augenbraue starrte Lavi sie an und nur kurz lugte auch ich zur Seite. Als ich nochmal am Strohhalm saugte, war er endlich wieder frei und quietschend verstaute ich ihn wieder im Plastikdeckel.

„Nur eine Wimper“, nuschelte Lavi. „Warte, die kriege ich.“

Waren sie nicht niedlich?

Stoisch begann ich wieder zu saugen und Timcanpy zu beobachten, der über unseren Köpfen flatterte.

Genau wie der eine oder andere schwarze Golem.

„Wird es besser?“ Auch Crowley kümmerte sich noch um Miranda.

„Viel besser, danke.“

Über uns begann Lavi wieder zu lachen.

Die garstige Wimper war entfernt aber jetzt wurde er auf etwas anderes aufmerksam.

„Die Augen hast du von deinem Bruder“, bemerkte er und während ich die Nase rümpfte, lachte Linali.

„Ja“, gab sie zu und wurde auf Crowley aufmerksam. „Von wem hast du deine Augen, Crowley?“

„Von“, der Mann wirkte plötzlich etwas bekümmert, „meinem Großvater.“

„Ah ja“, erinnerte sich Lavi und kam nicht um ein Grinsen. Ich erinnerte mich auch an das einzigartige Bild im Foyer des Schlosses, welches Crowley bewohnt hatte. Zusammen mit Eliade. Darauf ansprechen sollte man ihn wohl erst recht nicht. Vermutlich dachte er ohnehin längst von selbst daran und schon lenkte Lavi seine Aufmerksamkeit auf Miranda.

„Und unsere Miranda? Wem hat sie ihre Augen zu verdanken?“

„Meine Augen?“ Miranda verfiel einer gewissen Irritation. „Ich weiß es nicht. Aber meine Augen sind auch nichts Besonderes und nicht wert, dass man sich solche Fragen stellt.“

Das amüsierte Lavi. Auch Linali schmunzelte, während Crowley ein erneutes Seufzen ausstieß.

„Und unser herzallerliebster Allen?“ Ein Klaps traf meine Schulter. „Hat er seine Augen von seiner Mutter oder seinem Vater?“

Wie reizend.

Resigniert saugte ich weiter, kam kurz darauf jedoch nicht um ein Lächeln, mit dem ich mich zu Lavi umdrehte.

„Und du?“, erkundigte ich mich. „Wie steht’s mit deinen Augen? Scheinbar hast du ja nur eines. Erzähl uns lieber etwas darüber.“

Lautlos öffnete sich Lavis Mund. Mit einem Mal stand er im Mittelpunkt und schien sich am Ende wenig darüber zu freuen. Er grübelte, als sich auch Linali erwartungsvoll umdrehte und tief durchatmend wandte ich mich ab. Natürlich würde er nicht antworten aber mein Ziel erreichte ich allemal.

„Miranda hat schon Recht. Dieses Thema ist wirklich sinnlos“, winkte er kurz darauf ab. „Reden wir doch über etwas an...“

Er verstummte, als sich die Golems meldeten. Gleichzeitig blickten wir auf und lauschten der Stimme, die sich meldete.

„Alle Exorzisten finden sich bitte in fünf Minuten bei Abteilungsleiter Komui ein.“

Der Strohhalm rutschte mir aus dem offenen Mund, Linali hob die Brauen und Lavi kratzte sich im Schopf. „Es ist soweit“, hauchte Crowley und Miranda nickte. Wir begannen uns zu regen, kamen auf die Beine.

„Hoffentlich habe ich danach noch genug Zeit, ein wenig zu schlafen.“ Miranda zog ihren Pullover zurecht, wurde von Crowley getätschelt.

„Bestimmt, meine Liebe.“

„Was bin ich gespannt.“ Lavi rutschte von der Rückenlehne. „Mal schauen, was Komui auf dem Herzen hat.“

Was diesen Punkt anging, in mir gab es eher Befürchtung als Erwartung. Nach der letzten Besprechung und deren Inhalt blieb mir nichts anderes übrig. So setzten wir uns in Bewegung und als wir das Ziel erreichten, sahen wir dort die beiden, die der kompletten Gruppe noch fehlten.

Gerade erreichte Marie die Tür. Gekleidet in bequeme Sachen war ihm doch anzusehen, dass er gerade erst eingetroffen war. Es musste Hektik gegeben haben, denn er rückte noch an seinem Gürtel, während meine Augen geradewegs an ihm vorbeidrifteten und sich auf den Letzten im Bunde richteten. Seine Schritte endeten vorerst bei Marie.

„Yu!“ Freudig hob Lavi die Hand und die einzige Reaktion bestand aus einem Augenrollen, mit dem sich Kanda an Marie wandte.

„Ich habe davon gehört.“ Flüchtig musterte er seinen Kameraden. „Du scheinst noch gut davongekommen zu sein.“

Ein Lächeln entfaltete sich auf Maries Lippen. Kurz darauf erreichte seine Hand Kandas Schulter.

„Mir geht es gut. Danke für deine Sorge.“

„Mm.“ Kanda deutete das Nicken nur an, bevor er sich abwandte und natürlich schenkte ich auch dieser Begebenheit meine vollendete Beachtung. Er wies nicht einmal von sich, besorgt gewesen zu sein. Auch Maries Hand und deren Berührung hatte er geduldet und so setzten sie den Weg gemeinsam fort. Nebeneinander, ebenbürtig, und ich schöpfte tiefen Atem, bevor ich ihnen durch die Tür folgte.

Komui war noch kurz mit River beschäftigt, blätterte in einer Mappe und flüsterte mit ihm, während wir uns einfanden. Bookman war bereits anwesend und grüßte uns mit einem Nicken.

„In Ordnung.“ Komui schloss die Mappe und River machte sich kurz an einer Kartenhalterung zu schaffen. Eine Rolle wurde angebracht und während sich Komui von unserer Vollständigkeit überzeugte, wurde die Karte neben ihm ausgerollt. Sofort lenkte sich unsere Aufmerksamkeit auf sie und die Mappe unter dem Arm, trat River zur Seite. Komui nippte noch schnell an seinem Kaffee, rückte an den einen oder anderen Unterlagen und blickte auf.

„Danke, dass ihr alle da seid.“ Das leichte Lächeln, das er uns schenkte, entschärfte die Situation. „Hattet ihr einen schönen Tag?“

Um ein heikles Thema konnte es sich hier nicht handeln und trotzdem stand uns nicht der Sinn nach Ausschweifungen. Es blieb bei einem undeutlichen Murmeln, mit dem sich Komui zufrieden gab.

„Ich habe euch rufen lassen, weil es zu einem weiteren Kontakt mit einem Noah gekommen ist.“

Mein Mund öffnete sich lautlos, langsam setzte ich mich auf und war mit einem Mal mehr als aufmerksam. Und ich war nicht der einzige, der kurz darauf zu Marie lugte.

„Marie traf einen von ihnen am gestrigen Tag in Polen. Marie?“ Komui nickte ihm zu.

„Es geschah in der Nacht in Lysa, einer Stadt nahe der östlichen Grenze Polens“, begann er zu erzählen. Eine interessierte Stille begleitete seine Worte. „Das Seltsame daran war, dass dieser Noah alleine reiste.“

„Das heißt, er war in Lysa nur auf der Durchreise?“, erkundigte ich mich und Marie nickte.

„Aber es war im Allgemeinen kein Treffen, wie wir es von den Noah gewohnt sind. Der Noah gab sich mir zu erkennen, war aber nicht auf einen Kampf aus.“

Ich verengte die Augen. Neben mir tauschten Crowley und Lavi Blicke. Selbst aus Kandas Richtung nahm ich eine Regung wahr.

Es waren seltsame Neuigkeiten.

„Noch während ich einzuschätzen versuchte, wie mit der Situation umzugehen ist, verschwand er, als hätte er sich aufgelöst."

„Das war das erste Treffen mit einem Noah seit einem Monat“, ergriff Komui das Wort. „Gerade dieses Zusammentreffen ist bedeutungsvoll und interessant. Es lässt darauf schließen, dass die Noah etwas planen, das sie der Jagd auf Exorzisten vorziehen.“ Er zückte einen Zeigestab und wandte sich zur Karte. „Lasst uns das mal kurz zusammenfassen.“ Der Stab wies auf die Slowakei. „Das vorletzte Treffen mit einem Noah erlebte Kanda vor 36 Tagen hier in Púchov. Wir sehen die geringe Distanz zu Polen.“ Der Stab wanderte weiter. „Davor, 41 Tage her, trafen Lavi und Crowley auf einen Noah hier in Tschechien und in der Stadt Liberec, die auch an Polen grenzt. Auch wenn es bei Marie nicht zum Kampf kam, bei Kanda, Lavi und Crowley war es anders und deswegen will ich euch warnen und darauf aufmerksam machen, was für eine Gefahr von dieser Gegend ausgeht.“

„Versuchen wir herauszufinden, was sie planen?“, fragte Lavi, doch sofort wurde der Kopf geschüttelt.

„Derzeit stehen zu viele wichtige Missionen an.“ Komui lehnte sich zurück. „Ich kann es mir gerade nicht leisten, mehrere von euch auf so eine unsichere Langzeitmission zu schicken.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben keine Anhaltspunkte, also wo würdet ihr ansetzen?“

Das folgende Schweigen bestätigte ihn nur in seiner Meinung.

„Wir werden es wohl auf uns zukommen lassen und auf einen Punkt warten, an dem wir etwas Handfestes haben, das es uns erlaubt, einzugreifen. Sollte dieser Zeitpunkt kommen, bin ich natürlich bereit, sofort zu handeln.“

Etwas schleifen zu lassen, gefiel mir nicht aber ich sah die ausweglose Situation und akzeptierte es. Selbst ich würde den ersten Schritt nicht erkennen. Es gab keine Möglichkeit, einem potentiellen Plan auf die Schliche zu kommen.

Bisher waren es zu viele Spekulationen.

„Ich bitte euch, vorsichtig zu sein, wenn euch Missionen in diese Umgebung führen. Haltet euch auch davon fern, euch in einen Kampf mit einem Noah zu stürzen, wenn ihr alleine unterwegs seid.“ Komuis Augen drifteten zur Seite und aus Kandas Richtung erhob sich ein tiefes Durchatmen. Auch ich spähte kurz zu ihm und ich schätzte, es verwunderte niemanden.

Doch hätte ich mich zurückgezogen, wäre ich auf einen Noah getroffen?

Wenn ich alleine unterwegs war und sich mir dieser Feind bot?

Wohl kaum.
 

Es blieb bei weiteren Minuten, in denen wir vor dem Kontakt mit Noah gewarnt und darauf aufmerksam gemacht wurden, vorsichtig zu handeln. Jeder Verlust wäre fatal. Komui wollte ihn nicht tragen und als es dem Ende der Besprechung entgegenging, hatten wir es begriffen. Hoffentlich.

„Das wär’s.“ Zufrieden nickte Komui uns zu. „Ihr könnt gehen. Nur Allen und Kanda, ihr bleibt bitte.“

Was das bedeutete, das musste ich mich nicht fragen. Auch die Freude, die in mir emporstieg war eine deutliche und ehrliche.

Eine Mission mit ihm. Ein reizender Fakt.

Lavi tätschelte mich, bevor er sich auf den Weg machte und es dauerte nicht lange, da gab es nur noch uns drei.

Was hier geschah, war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Als würden sich die Zufälle meinem Begehren neigen. Als erfülle mir das Schicksal einen egoistischen Wunsch nach dem anderen.

Irritierend. Ich hatte es nie für einen Gönner gehalten.

Schon wurden uns zwei Mappen gereicht.

„Es ist möglich, dass die Mission euch sehr fordern wird, also ruht euch heute Nacht gut aus.“

Das wünschte ich mir auch. Jedes Mal aufs Neue.

Blieb nur abzuwarten, wie gönnerhaft sich mein Schicksal in den kommenden, dunklen Stunden zeigte.

Neben mir wurde die Mappe bereits geöffnet und unter einem stillen Seufzen tat ich es Kanda gleich und warf einen Blick auf die Landkarte. Spanien. Huesca.

„Der Inhalt der vergangenen Besprechung trifft vor allem auf diese Mission zu.“ Komui faltete die Hände auf dem Tisch und musterte uns. „Die Chancen auf ein Innocence sind groß. In Huesca stationierte Finder meldeten einen mehrfachen Feindkontakt mit Level 1. Sogar ein Level 3 tauchte vor kurzer Zeit auf. Um diesen hat sich Linali auf der Durchreise gekümmert aber zu erkennen, dass die Akuma dort auf etwas aus sind, ist nicht schwer und wo Akuma des Öfteren waren, dort tauchte bisher meistens auch ein Noah auf. Nur eine Frage der Zeit. Ihr werdet zu dieser Stadt reisen und Nachforschungen anstellen. Möglicherweise werdet ihr sogar ein Innocence sicherstellen können. Genauer hinzuschauen lohnt sich dort auf jeden Fall.“

„Mm.“ Ich juckte mich an der Wange. „Wann sollen wir aufbrechen?“

„Morgen in aller Frühe. Macht das unter euch aus.“ Somit lächelte Komui und sah sich nach seinem Kaffee um. „Das wäre alles.“ Er wurde fündig. „Viel Glück und meldet euch, sobald etwas bei den Recherchen herausgekommen ist.“

Schmunzelnd schloss ich die Mappe und kam auf die Beine.

Was mich anging, ich empfand heimtückische Freude, denn ich sah Gelegenheiten, Kanda weiterhin zu erforschen, ihn zu betrachten, wenn er es nicht bemerkte und so viel mehr.

Gemeinsam verließen wir Komuis Büro, als dieser an seiner Tasse hing und kaum traten wir in die Wissenschaftsabteilung, da wandte ich mich an Kanda. Ich genoss jeden Grund, ihn anzusprechen.

„Wie sieht’s aus?“, erkundigte ich mich und sah ihn die Stirn runzeln.

„Wie soll es aussehen?“, antwortete er und es fiel mir ein weiteres Mal auf, wie missgestimmt er war und blieb. „Wir brechen um fünf auf.“

Das war unsere Absprache. Kurz und so prägnant, wie er es nun einmal war und kaum war die Sache geklärt, da zog er weiter und ließ mich zurück. Meine Augen folgten ihm und ohne dass ich über mich herrschte, holte ich Luft.

„Kanda.“ Ich nannte seinen Namen und gleichzeitig erschrak ich, denn ich wusste nicht, was ich zu sagen hatte. Es war ein plötzlicher Drang, weitere Worte mit ihm zu wechseln und ein Quäntchen seiner Beachtung zu ergattern. Und er hielt tatsächlich inne und wandte sich um. Fast lauernd beobachtete er mich anschließend, abwartend jedoch ungeduldig und mit einem Mal fiel es mir ein. Worte, die ernstzunehmend waren und in denen ausnahmsweise ein Fünkchen Wahrheit steckte.

„Wollen wir den Tag mit einer Revanche beenden?“, erkundigte ich mich also.

Es war seine Nähe, nach der ich erneut gierte. Wie ein Mensch, der kurz vor dem Erfrierungstod stand und den nur diese einzige Wärme retten konnte. Genauso fühlte ich mich aber bevor ich mich versah, kehrte er mir abermals den Rücken.

„Nein“, vernahm ich seine Stimme, als er die Abteilung verließ, doch ich folgte ihm und tat es entspannt, denn ich hatte ihn nur zu provozieren, damit er meinem Willen nachkam.

„Vorhin war ich nicht in Form“, blieb ich meinem Vorhaben treu. „Aber jetzt bin ich in der Lage, dich in Grund und Boden zu prügeln. Natürlich nur, wenn du dich traust, es darauf ankommen zu lassen.“

Abermals blieb er stehen. Seine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Atemzug und die Mimik, mit der er sich anschließend erneut zu mir drehte, war eine seltsame.

War es Skepsis?

Nein, es schien tiefer zu reichen.

„Das von vorhin“, sagte er, „war eine beschämende Katastrophe.“

War es das? Ich hatte keine Scham gespürt.

„Nerv mich nicht mit so etwas.“

Als er ging, wirkte es so endgültig, dass mir keine weitere Provokation einfiel. Viel eher entspannte sich mein Gesicht und still sah ich ihn entkommen. Ich verlor ihn für diesen Tag und Stirnrunzelnd wandte auch ich mich ab, als er hinter der nächsten Ecke verschwand.

So hatte er es wahrgenommen?

Ich rieb mir den Mund, grübelte und schüttelte bald den Kopf, nun selbst auf dem Weg zu meinem Zimmer.

Natürlich hatte ich es nicht darauf angelegt, ihm mein wahres Können zu zeigen. Nicht einmal im Stande wäre ich dazu gewesen, denn er war eine zu starke Ablenkung.

Wie hätte ich mich auch konzentrieren sollen?

Hatte er mich durchschaut? Begriffen, wie gleichgültig mir dieser Zweikampf war?

Nein.

Wie unumstößlich fühlte sich diese Überzeugung an.

Es war nicht sein Tag. Seit jenem Treffen und jenem Moment, in welchem ich ihn berührte.

Er war frustriert, wohl auch zermartert von ziellosen Grübeleien, die ihn auf keinen Nenner brachten.

Was wunderte es mich?

Es war alles so durchschaubar. Was mich anging, ich begann mich zu entspannen und erreichte meinen Raum nach einem gemächlichen Spaziergang. Es war natürlich noch nicht an der Zeit für Schlaf. Meine Freunde warteten und so verbrachte ich den Rest des Tages mit ihnen. Er wurde gefüllt mit Gesprächen, Lachen und Erzählungen. Ein Tag, der mich zufrieden stellte und mich mit neuer Kraft erfüllte. Seltene Gelegenheiten mussten ergriffen werden.

Prinzipiell in jedem Gebiet.
 

-tbc-

20

Am nächsten Tag auf die Beine zu kommen fiel mir leicht, um mich noch einem ausgiebigen Frühstück hinzugeben und die Ruhe im Speiseraum zu genießen. Morgens um vier Uhr war er selten gut besucht und so blieb Jerry die einzigartige Gelegenheit, sich nur um mich zu kümmern.

Noch leicht zerzaust ließ ich es mir schmecken und so oft ich auch zu jener Tür spähte, so sehr ich auf jemanden wartete, er kam nicht. Ein Fakt, der in diesem Fall nicht ernüchternd war, denn ich würde ihn schon bald zu Gesicht bekommen und seinen Anblick anschließend dauerhaft genießen.

Mit Kanda auf Mission zu gehen hatte sich noch nie als schlecht herausgestellt. Zumeist übertraf er die eigene Motivation und Zielstrebigkeit bei weitem und brach damit ungeahnte Rekorde. Erfolge waren mit ihm sehr greifbar und in diesen Erwartungen schwelgend, leerte ich meine Teller und Schüsseln und legte bald darauf meine Uniform an.

Ich lag gut in der Zeit, konnte bequem die Schnallen schließen und in meine Stiefel steigen. Es war ein guter Beginn, ein entspannter und als ich in das Treppenhaus trat, da lehnte er bereits am Geländer und studierte die Mappe. Letztendlich blieb es bei einem Blick, bevor er sich abwandte und ging. So abweisend und schweigsam, doch ich war sicherlich nicht der Einzige, der in diesen Genuss kam.

Natürlich nicht. Weshalb sollte dem auch so sein?

Es blieb bei dieser auffälligen Stille, die weit über den Bahnhof hinaus anhielt. Wortlos studierte er den Fahrplan und kaum hatte auch ich ihn erreicht, da ließ er sich auf einer nahen Bank nieder. Doch nicht ruppig und wenn ich ihn musterte, zeugte nicht einmal sein Gesicht von einer greifbaren Wut.

Er war auf eine entspannte Art abweisend.

Ich lugte zu ihm, Stirnrunzelnd und durchaus skeptisch, befürchtete, argwöhnte und verwarf.

Die Abweisung hätte jeden Missionspartner getroffen. Er war nicht nachtragend wegen dem Zweikampf. Mein verändertes Verhalten ihm gegenüber fiel ihm sicher auch nicht auf, denn ich hatte ihm zu wenige Gelegenheiten geboten, um auf so etwas zu kommen. Ich schuf mir diese Sicherheit und wiegte mich in ihr.

Bald darauf begann die Reise und tat es wie erwartet.

Bevor wir in den ersten Zug stiegen, hatte ich mir eine Frage einfallen lassen. Etwas Belangloses, um sein seltsames Verhalten auszubauen, bis es Form für mich annahm.

Ob er schon einmal in Huesca war. Ob er sich dort auskannte und wieder blieb es bei einem Nicken, das ich nur vermuten konnte, doch diese Geste sorgte dafür, dass ich die ersten Stunden der Fahrt nachdenklich zubrachte. Die Beine auf der Bank und die Finger am Mund, während meine Augen über das deprimierende, weiße Nichts hinweg schweiften, auf der anderen Seite des Glases. Was Kanda offenbarte, war lediglich Missstimmung gepaart mit altem Frust.

Nichts, das sich gegen mich lenkte, sondern mich nur traf, weil kein anderer da war.

Eine klare Sache und doch hatte ich schwer damit zu tun, diese Tatsache für mich anzunehmen. Ich arbeitete wirklich schwer daran, dieses seltsame Ding zu verinnerlichen und als wir am späten Nachmittag in Gipúzkoa den Zug verließen, war es mir tatsächlich gelungen.

Ich war so schuldunbewusst und angestrengt naiv, dass ich Kanda tun und unterlassen ließ, wonach ihm der Sinn stand. Alles, ohne es von mir abhängig zu machen.

Der Bahnhof Gipúzkoas war kaum als ein solcher zu erkennen. Nur drei Gleise, umgeben von einem überdachten Steg und auch in den Mantel gehüllt war es nicht angenehm, die Wartezeit auf sich zu nehmen. Ich verkroch mich in dem Stoff, wippte auf den Fußballen und blickte um mich, während der Wind unter die Kapuze drang und mein Haar zerzauste. Auch Tim steckte seit geraumer Zeit unter dem wärmenden Stoff und es dauerte nicht lange, da ärgerte ich mich, nicht nach Amerika unterwegs zu sein. In meinem Rücken hielt sich Kanda in Bewegung, schritt auf und ab und natürlich fiel mir nicht erst jetzt auf, was er für eine Uniform trug.

Ich erinnerte mich, wie ihm die eigene abhandenkam und es war wohl unmöglich gewesen, in der kurzen Zeit eine neue anzufertigen. Die Uniform, die er trug, ähnelte der von Lavi. Die obere Robe war nicht lang, reichte bis zu den Oberschenkeln und erlaubte die freie Sicht auf seine Beine. Ein verheerender Anblick.

Während dieser Wartezeit hatte ich mit mir zu ringen und wie oft versagte ich und verfluchte diesen dicken Mantel, der vor mir verbarg, worauf ich aus war.

Das Eintreffen des Zuges war also mehrfach erleichternd. Es war das Ende dieser süßen Verlockung sowie das der Kälte und wie eifrig schob ich mich in das warme Abteil und aus dem Sichtfeld Kandas.

Was uns nun bevorstand, war eine weitaus längere Fahrt. Über Navarra führte uns die Strecke bis in die Nähe Huescas. Wir würden nördlich davon aussteigen, nahe der Grenze Spaniens und wieder war es nichts als eine weiße Landschaft, die Stunde um Stunde an meinem Fenster vorbeizog.
 

Es musste in den frühen Abendstunden sein, als sich die Stimme des Schaffners in der Nähe meines Abteils erhob und mich auf die Beine brachte. Es war soweit, die Wärme verlor mich, die Kälte wartete und kaum stieg ich auf den gefrorenen Boden der abgelegenen Haltstelle hinaus, da tat es auch Kanda.

Ein eisiger Wind blies, ohne dass Flocken fielen und sofort vergrub ich mich wieder in meinen Mantel.

Wir waren in der Einöde gelandet. Ich sah keinen Weg, keine Häuser. Nur eine unendliche Steppe.

Neben Kanda blieb ich stehen und verfolgte, wie er aufblickte und um sich spähte. Er suchte nach Orientierung und wie angenehm war es, wie erleichternd, als er sich an mich wandte.

„Wir gehen gen Osten.“ Nur undeutlich drang seine Stimme durch das Pfeifen des eisigen Windes. Seine Hand wies in das pure Nichts. „Circa drei Kilometer entfernt ist ein Dorf.“

Ich streifte mir die Kapuze über und hielt mich neben ihm, als er sich in Bewegung setzte.

„Wenn es so weitergeht, kriegen wir einen Schneesturm“, erhob sich seine Stimme wieder.

„Einen Schneesturm?“, rief ich zurück und keuchte unter dem Wind, der sich in meine Lunge presste.

Die Mappe wanderte unter Kandas Mantel und so bahnten wir uns unseren Weg durch den Schnee.

Es wurde schwer. Selbst das Atmen.

Kälter und kälter wurde auch der Wind und mit beinahe erstarrten Gliedern sahen wir irgendwann durch das Tosen und Stieben der Schneeflocken die schwarzen Umrisse eines kleinen Dorfes vor uns. Nur wenige Häuser ohne Licht und trotzdem waren wir erleichtert bei diesem Anblick, einigten uns auf eine Pause und fanden einen kleinen Schuppen.

Das Dorf schien nicht groß genug, um eine Herberge zu beinhalten. Keine Menschenseele hätten wir fragen können, doch dieser Ort war besser als nichts. Eilig tastete ich die Tür ab, fand den Knauf und unter einem Knacken ließ sie sich wirklich öffnen. Sofort traten wir in das Innere des kleinen, hölzernen Gebäudes und in den nächsten Momenten keuchten wir in der Finsternis. Es war nicht warm, jedoch windstill und mehr als das brauchten wir nicht. Das Quietschen der Bodendielen zeugte davon, dass Kanda sich bewegte. Er schien mir die Suche nach einem Licht abzunehmen und so lauschte ich dem äußeren Tosen.

Vorsichtig trat ich einen Schritt zur Seite, tastete neben mich und spürte die Bewegungen Tims. Er stahl sich aus der Sicherheit meines Mantels, flatterte neben mir empor und beinahe blind ertastete ich die hölzernen Griffe verschiedener Werkzeuge. Es mussten Besen sein.

Irgendetwas, das sofort umfiel, als ich es betastete und kaum nahm ich in dem kurzen Lärm das Quietschen wahr, das sich nicht weit entfernt erhob. Es klang nach Blech und vorsichtig tat ich einen Schritt. Unter meinen Füßen erstreckten sich Holzdielen. Sie mussten von Wind und Wetter verzogen und schief sein, denn der Schritt blieb nicht heimlich.

Dieser Ort brachte weitaus wenig, wenn man nicht einmal die Hand vor Augen sah, doch plötzlich zuckte neben mir ein Licht auf. Es war ein Streichholz, das entflammte und dann sah ich Kanda dort kauern. Es war eine Öllampe, die er gefunden hatte und wie erleichtert atmete ich durch, als der Ölgetränkte Docht Feuer fing und sich uns die Umgebung preisgab. Es waren wirklich Besen, die neben mir lagen, doch auf der anderen Seite häufte sich getrocknetes Stroh. Kanda blies das Streichholz aus und kam auf die Beine.

„Wir warten, bis der Schneesturm vorüber ist“, sagte er und so begann ich mich von meinen Handschuhen zu befreien.

„Lass mich eine Runde schlafen.“

Jetzt wo etwas Ruhe einkehrte, bemerkte ich, wie nötig ich es hatte und als mich sein Blick traf, da stieg schon dieses Gähnen in mir höher. Ich gab mich ihm hin, rieb mir die durchgefrorene Wange.

„Nur kurz“, kam ich seinen nächsten Worten zuvor und sank in das Stroh. „Wir können uns abwechseln.“

„Mm.“ Es klang nach einer Zustimmung.

Ich zog den Mantel von meinen Schultern und zog ihn über mich. Es war bequem und schon gähnte ich erneut, als ich lag. Neben mir atmete Kanda tief durch. Er hatte sich niedergekniet und behaglich verschränkte ich die Arme unter dem Kopf. Ich blinzelte zum Dach des Schuppens, erkannte dort eine schiefe, defekte Lampe und spähte anschließend auch zu der Öllampe, die tapfer ihren Dienst tat.

Das Öl würde reichen und kurz streiften meine Augen Kanda, bevor sie sich schlossen.

Er blickte zur Tür geblickt und dann wurde es schwarz. Müde lauschte ich dem leisen Knacken des Dochtes. Das Stroh unter mir war weich und es dauerte nicht lange, bevor ich in den Schlaf fiel und in meine abgeschiedenen, seltsamen Gefilde driftete. Sie hatten mir Glück gebracht in letzter Zeit und gerne war ich diesmal gutgläubig. Ein tiefer, dunkler Schlaf, der ereignislos blieb, war alles, was ich mir wünschte, doch bemerkte ich rasch, dass ich Gebieten entgegen trieb, die alles in mir enttäuschten.

Ich fiel, sank in dieses schwarze Nichts und spürte diese Wärme, die mich begleitete. Auch ein Trugbild, das ich sofort als ein solches erkannte. Die Realität hielt derzeit keine Wärme für mich bereit. Ich erinnerte mich an diesen eisigen Schneesturm, vor welchem Kanda und ich uns zurückzogen.

Es war noch nicht lange her.

Diese Wärme hingegen war nicht real. Es gab sie einfach nicht und augenblicklich verblasste sie.

Ich nahm lieber diese Kälte an. Lieber die Realität, als dass ich mich in all diesem Unwirklichen verlor.

Fröstelnd sank ich weiter hinab und streckte die Hände von mir, um zu tasten, zu erspüren, worauf ich traf, doch gleichsam wurde ich mir dieser Tatsache bewusst.

Ich träumte. Ja, ich tat es wieder und noch nie hatte diese Traumwelt Angenehmes für mich bereitgehalten. Was für ein Teufel führte nur die Stricke, an denen ich hing?

Ich hatte mich zu schützen, auf mich zu achten, komme was wolle, und plötzlich trafen meine Hände auf einen festen Widerstand. Ich wurde geblockt, das Sinken meines Körpers endete und irritiert betastete ich diese ebene Fläche, durch die ich nicht zu dringen vermochte. Eine unsichtbare Barriere im schwarzen Nichts meines Traumes.

Es ging nicht weiter. Hier sollte es enden, doch ich akzeptierte es nicht, denn mein Weg endete niemals.

Ich blieb nicht stehen, gab mich nicht mit Sackgassen zufrieden und umso hektischer wurden die Bewegungen meiner Hände. Das Tasten, das Fühlen und wie schwer fiel es meinem Körper, meinen Armen zu folgen. Als wäre ich an diesem einzigen Platz gelähmt. Als gebe es keine Möglichkeit für mich, flexibel zu sein und einen Umweg zu nutzen.

Es war Versagen, mit dem ich konfrontiert wurde und so hart meine Hände auch gegen diese Grenze vorgingen, nichts bewegte sich und wie erstarrt ertastete ich kurz darauf auch neben mir das Ende des Raumes. Eine Sperre, die vor kurzem noch nicht dort gewesen war. Mein Atem stockte, versiegte in meiner Brust und hektisch tastete ich auch zur anderen Seite.

Weder Vorankommen noch Entkommen?

Ich stemmte mich in die Höhe und mit einem Mal traf auch mein Rücken auf diese Fläche.

Ich war gefangen, begann mich zu winden, mich in dieser Enge zu bewegen, es zu versuchen. Wie heftig pressten sich diese Wände gegen mich. Von allen Seiten schienen sie mich zu bedrängen und mir etwaigen Ausweg zu versperren. Doch hatte es denn jemals einen gegeben?

War nicht ich es, der sich letzten Endes von diesen finsteren Fetzen der Angst losriss?

War es nicht die Kraft meiner Verzweiflung, die den letzten Retter darstellte?

Es musste funktionieren. Ein weiteres Mal, denn das hatte es immer. All meine Gelenke schienen zu knirschen und zu krachen, als ich mich in den Versuch verstrickte, meine Arme zu bewegen, freizukommen, doch nicht einmal meine Finger konnte ich spreizen, um etwas zu ertasten.

Ich steckte fest in diesem Wahnsinn und der Schrei, der mir entrann, war kaum mehr als ein stimmloses Keuchen, während ich versuchte, die Augen zu öffnen.

Meine Zähne bissen aufeinander. Schmerzhaft, knirschend. Zischend stieß ich einen weiteren Atemzug aus und lautlos rief ich nach der Realität. Nach der Rettenden, der Wahren.

Wenn auch entfernt und distanziert, war sie nicht dennoch immer bei mir gewesen?!

Meine Lunge eröffnete sich dem Atmen, als hätte sich ein Schalter umgelegt. Mit einem Mal gelang mir dieser tiefe Atemzug und ein Schrei, laut genug, um die Realität zu erreichen. Und ich flehte, bettelte und unterwarf mich ihr. Mit Demut klagte ich, betete sie in ihrer Macht an und mit einem Mal spürte ich ihre Präsenz. Der Schleier schien zu fallen, das finstere Bild der Realität entflammte in wilden Farben und mit einem Mal verfiel mein Körper der hektischen Bewegung, derer er zuvor nicht fähig gewesen war.

Er zuckte, fuhr in die Höhe und unter einem kläglichen Stöhnen starrte ich an diese hölzerne Wand direkt vor mir und nahe meinen Füßen, die auf verblasstem Heu gebettet lagen.

Die frische Luft, die ich atmete. War das die Realität?

Mein offener Mund gierte nach ihr, starr tasteten meine Augen diese hölzernen Bretter ab und nicht zuletzt spürte ich die Kälte auf meinem Gesicht und die Feuchtigkeit, über die die Luft des rauen Klimas wie eine Klinge schnitt. War ich zurück?

Mir gelang kaum ein Blinzeln, kaum eine weitere Regung und wie zuckte ich zusammen, als sich ein Schatten vor mein Gesicht hob. Mit einem Mal und gleich eines schemenhaften Fetzens, der mich streifte und sich auf meine Stirn bettete. Perplex gelang mir ein Blinzeln, stockend bewegten sich meine Lippen und wie bestürzt spürte ich diese warme Hand auf meiner Stirn.

„Kan...“ Meine Stimme versagte mit einem Mal, als sie Druck auf mich ausübte und meinen Leib hinab drängte. Zurück in das Heu, in dem ich starr liegen blieb und nur langsam spähte ich anschließend zur Seite und zur Gestalt meines Kameraden. Er saß noch immer neben mir. Seine Hand hinterließ Kälte auf meiner mit Schweiß überzogenen Stirn, während er zur Tür blickte.

„Du hast noch eine Stunde.“

Stockend wandte ich das Gesicht ab und rieb es mir unter einem leisen Ächzen.

Der Kampf in meinem Unterbewusstsein hatte soviel länger gedauert.

Die alte Stille kehrte ein. Kanda schwieg, lauschte in die Lautlosigkeit unserer Raststätte und matt verbarg ich die Augen unter dem Arm. Ich bettete ihn auf meinem Gesicht, presste die Lippen aufeinander und versuchte zu realisieren, dass die erneute Gefahr vorüber und ich in Sicherheit war.

Wie schwer fiel es mir selbst nach dieser Zeit?

Wie misstrauisch war und blieb ich? Wie vorsichtig?

Hier und jetzt würde ich keinen erneuten Versuch wagen. Hier und jetzt blieb ich wach und beruhigte meinen Atem. Es war vorbei. Erneut. Wie ernüchternd.

Wann ließ man mir den Frieden, um erholt zu mir zu kommen?

Hatte ich es nicht verdient?

Wie musste der Ernst des Lebens über mich lachen.

Ich rang mit mir und wie gleichgültig war mir Kandas Anwesenheit und dass er Zeuge meiner verborgenen Tiefen wurde. Ich hatte akzeptiert, dass ich zurückzugeben hatte, was ich an ihm entdeckte. Letztlich war es nur gebührlich. Gleichsam bekam ich zurück, was ich gab und lange blieb ich liegen, wie lange lauschte ich dem Pfeifen des Windes, der durch die Ritzen der alten Hütte blies.

Meine Lippen schwiegen, so wie es auch die von Kanda taten. Was gab es auch zu sagen?

Er musste keine Fragen mehr stellen. Er wusste es doch längst.

Ich hatte mich vor ihm nicht zu verbergen und hier und jetzt spürte ich diese Ruhe, die dieser Fakt mit sich brachte. Ich konnte mich fallen lassen, konnte mich zeigen wie ich war. Mit all meinem Leid, all meinen Abgründen. Er sah mich nicht an, er saß still und erst als ich mich erneut aufsetzte, regte auch er sich.

„Ich übernehme“, flüsterte ich, erkannte ein Nicken und verfolgte, wie er bald darauf den Rücken spannte und sich aufrichtete. Seine Hände betteten sich in seinem Schoß und nur wenige Momente später senkte er den Kopf und schloss die Augen. Er meditierte, während ich im Heu zur Seite rutschte und mich an die Wand lehnte. Es war kühl, auch etwas feucht aber als ich meinen Mantel über mich zog, wurde es besser. Ich kroch in mich zusammen, zog die Beine an und legte die Arme um die Knie.

Und ich beobachtete ihn weiterhin.

Wie reglos er verharrte, wie schnell er in die Meditation zu finden schien.

War er sicher vor etwaigen Schreckensbildern, wenn er nur einen Teil seines Bewusstseins hergab?

Ich atmete tief durch und regte die Schultern. Tim leistete mir Gesellschaft, ließ sich auf meinem Kopf nieder und sank auf und nieder, als ich seufzte.

Wann hatte ich die Gelegenheit gehabt, ihn mir zu betrachten, ohne dass er darauf aufmerksam wurde?

Ich folgte der Neugierde meiner Augen und die nächsten Momente verbrachte ich damit, ihn einfach anzusehen. Sein Gesicht. Wie ebenmäßig es war, wie anmutig. Es fiel kaum auf bei seiner verdrießlichen Miene. Seine Augenbrauen, seine Lippen. Wie vertiefte ich mich in diesen Anblick, wie verlor ich mich in ihm und gab mich selbst mit der wenigen freien Haut seines Halses zufrieden. Seine Kehle. Sein Haar. Mein Hinterkopf sank gegen das Holz, als ein genüsslicher Atemzug über meine Lippen strich.

Er war wunderschön.
 

Es kam der Augenblick, in welchem er die Augen öffnete, aus der Meditation auftauchte und sich zu regen begann. Der Schneesturm war vorbei. Schon seit einigen Momenten vernahm ich nicht mehr sein Pfeifen und Tosen und so traten wir aus dem Schuppen. Der hart gefrorene Schnee knackte und knirschte unter unseren Sohlen und erleichterte uns den weiteren Weg. Nun hatten wir es nicht mehr mit der gnadenlosen Natur aufzunehmen, nur mit gnadenlosen Gegnern.

Während des Weges blieb es größtenteils und abermals still zwischen uns. Wir verfolgten unser Ziel Seite an Seite, die Augen nach vorn gerichtet und nur selten auf unsere Umwelt. In dieser Entfernung zu jener Stadt hatten wir nichts zu befürchten und so hielt ich mich nicht davon ab, erneut nachdenklich zu werden. Ich hatte die Zeit, ich hatte die Gelegenheit und in jene Gedanken vertieft geschah es öfter, dass ich zu Kanda blickte.

Er studierte das weiße Nichts, schlug des Öfteren die Mappe auf, um sich auf der Karte zu orientieren und er schwieg und tat damit genau das, was mir nicht gefiel. Gerade hier und jetzt.

Wir hatten doch die Möglichkeit, oder nicht?

Ich gelangte an diesen Punkt, an dem mir nach einem Gespräch zumute war. Das Thema spielte keine Rolle. Eher legte ich Wert darauf, seine Stimme zu hören und einen Beweis zu erhalten, dass er wirklich bei mir war. Ich wollte ihn intensiver spüren, als ihn nur zu sehen, denn meine Augen konnten täuschen.

Was sie zeigten, genügte meinem anspruchsvollen Wesen nicht. Sie verfolgten, wie er die Stirn runzelte, um sich blickte und mit einem Mal wuchs Hoffnung in mir. Ohne dass ich es beabsichtigte musterte ich ihn längst erwartungsvoll und folgte seinem Blick zur Seite, wo sich ein kleines Dorf erstreckte.

„Dieses Dorf ist nicht verzeichnet“, murmelte er währenddessen und wie frohlockten meine Ohren unter dem Klang seiner Stimme. „Was ist das für eine Karte?“

Wieder starrte er auf das Papier und auch ich erkannte dort nichts, was einem Dorf ähnelte.

„Möglicherweise ist sie nicht mehr aktuell“, meinte ich.

Wenn ich antwortete, dann lief es auf ein Gespräch hinaus. So hoffte ich.

„Oder wir sind hier falsch.“

Ich betastete meinen Gürtel, zückte den Kompass und dann betrachteten wir die Nadel, die gen Norden pendelte. „Es ist die richtige Richtung.“

„Wir laufen jetzt seit drei Stunden“, erwiderte er und blätterte in der Mappe, bis er die Koordinaten vor sich hatte. „Huesca dürfte kaum noch einen halbstündigen Marsch entfernt sein aber ich sehe nichts.“ Er wies gen Horizont.

„Das hat nichts zu bedeuten. Die Kämpfe könnten zum Erliegen gekommen sein.“ Das sagte ich und kaum blickte Kanda zu mir, da begriff ich es und öffnete den Mund. Wir sahen uns an, der eine bitter, der andere bestürzt.

„Das kann nicht sein“, ächzte ich kurz darauf und zischend wandte er sich ab. „Kanda, wir hätten Bescheid bekommen, wenn die Stadt gefallen wäre!“

„Hast du eine bessere Erklärung?“ Er verstaute die Mappe unter dem Mantel und setzte sich in Bewegung. „Beeilung!“

Ich schloss mich seinem Tempo an, problemlos und rasch und nach wenigen Schritten begannen wir zu eilen, zu rennen. Es ließ sich gut laufen in dem harten Schnee und spätestens jetzt gab es in meinem Kopf nichts anderes als diese Mission und das Ziel, das nicht mehr weit entfernt sein konnte.

Könnte es wirklich sein?

War der Widerstand der Finder niedergeschlagen?

Komui hätte uns sofort kontaktiert und mit diesem Wissen wäre es uns nie in den Sinn gekommen, dem Schneesturm aus dem Weg zu gehen.

Wir ließen einen Hügel hinter uns und überquerten eine Ebene mit gefrorenen Feldern. Was uns hinter dieser erwartete, war ein kleiner Wald und eilig durchquerten wir auch diesen.

Waren die Finder gefallen? Welcher Gegner erwartete uns in Huesca?

Es waren so zahllose Gedanken, die in meinem Kopf tobten und als wir keuchend den Wald verließen, war es ein letzter Abhang, der sich zwischen uns und Huesca erstreckte. Dort in der Talsenke lag jene Stadt und wie sprinteten wir dieses Gestein hinauf und jeglichen Antworten entgegen.

Ich sprang über einen Vorsprung, sofort folgte mir Kanda und schlitternd rutschten wir hinab zum Abhang und stoppten, bevor er steil abfiel. Schwer fiel unser Atem, als wir in das Tal hinab starrten.

Die gesamte Stadt schien in Trümmern zu liegen. Was einmal Menschen ein Zuhause bot, war nicht mehr als ein Schlachtfeld, in dem wir keine Bewegung ausmachten, doch erspähten wir inmitten der Stadt den hellen Schein einer Barriere. Quadratisch umgab sie ein Gebäude, das selbst bereits in Schutt und Asche lag.

Unter einem dumpfen Dröhnen fiel ein weiteres, schwer beschädigtes Haus in sich zusammen, bevor sich unsere Blicke trafen. Schützte die Barriere ein Innocence? Wie lange hielt sie noch?

Ein kurzer Blick, mit dem wir uns verständigten und mit einem Mal sprangen wir über diesen Abhang und stürzten uns in die Tiefe. Donnernd schlug uns der Wind entgegen, wild bäumten sich unsere Mäntel auf und nach Sekunden im freien Fall setzten wir auf einer schrägen Felswand auf und schlitterten hinab. Ich hielt mich auf den Beinen, sprang über eine hohe Kerbe und kaum hatte ich den ebenen Boden erreicht, stieß sich auch Kanda ab und ließ die letzten Meter mit einem großen Sprung hinter sich.

„Wie gehen wir vor?“, rief ich ihm zu, als wir wieder zu rennen begannen, die Ebene zur Stadt überquerten. „Wir kennen die Lage nicht!“, antwortete er. „Wir kundschaften aus, bevor wir handeln!“

Diesen Worten zu folgen, verlangte mir nicht viel ab, denn vor allem in Momenten wie diesen erinnerte ich mich daran, dass er erfahrener war. Ohnehin war es selten, dass er von Auskundschaften sprach, anstatt alles auf sich zukommen zu lassen.

Ich kam ihm mit einem Nicken bei und spähte zurück zur Stadt.

Hoffentlich waren wir nicht längst gesichtet worden, denn wir bildeten einen scharfen Kontrast zum Schnee, doch keine Schüsse richteten sich auf uns und unbeschadet erreichten wir die ersten Ruinen und schoben uns in eine Gasse, die sich zwischen zwei noch stehenden Mauern bildete. Wir dämpften unseren Atem und spähten um uns, doch es war Totenstille, die uns umgab. Leise rieselte neben uns der Putz aus der Mauer.

„Wir haben keine Zeit für langes Planen“, ergriff Kanda das Wort. „Wie lange die Barriere noch hält, wissen wir nicht und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Innocence birgt, ist so hoch, dass wir sofort eingreifen sollten.“

„Lass mich nach dem Innocence suchen und halt mir den Rücken frei“, meinte ich dazu und begegnete seinem seltsam zielstrebigen Blick.

„Schaffst du es denn, dich nur auf das Innocence zu konzentrieren?“, präsentierte er mir umgehend seine Zweifel und hob die Brauen, als ich verständnislos das Gesicht verzog. „Bohnenstange, ich muss wissen, dass du dich nicht für das Leben jedes Finders aufopferst, sondern beim Wesentlichen bleibst.“

„Mach dich nicht lächerlich.“

Zugegeben, ich war wütend, ohne den Anlass zu kennen. Im Grunde hatte er Recht, denn in manchen Gebieten fiel es mir schwer, die objektiv richtigen Prioritäten zu setzen. Möglicherweise war es seine direkte und ungezierte Einschätzung, die mich ernüchterte.

„Wage es nicht, mich zu enttäuschen.“ Er verwarf meine Worte wie gewohnt und auch auf meine finstere Miene achtete er wenig, als er auf die Beine kam und nach Mugen tastete.

Verbittert entblößte ich meine linke Hand. Wir wussten beide was geschehen würde, sobald wir den Schutz dieser Mauern aufgaben. Die Akuma konnten weder besiegt noch zurückbeordert worden sein, wenn die Barriere noch stand und ihnen das Vorrücken verbot. Sie lauerten.

Flink klemmte ich den Handschuh unter den Gürtel, streifte mir die Kapuze vom Kopf und so traten wir

zum Ende der Gasse und spähten auf die Straße, die zwischen all den Trümmern kaum noch als eine solche zu erkennen war. Der Schutt begrub sie beinahe vollständig unter sich und nachdenklich spähte ich zur anderen Seite, während Kanda sein Innocence aktivierte und sich unter dem gleißenden Licht auch das zweite Schwert in seiner linken Hand manifestierte.

Es bereitete mir keine Schwierigkeit, ihm meinen Rücken zu überlassen, obgleich wir nicht wussten, was uns erwartete und was er von mir fernhalten müsste. Ich hatte Respekt vor dem, was uns bevorstand und es blieb bei einem flüchtigen Zeichen, bevor ich mich in Bewegung setzte. Wir würden es herausfinden.

Ich sprang hinaus auf die Straße sowie Kanda auf die Mauer und kaum drei Schritte hatte ich getan, da zerriss es das Gestein neben mir unter dumpfen Schüssen.

Wie früh mussten sie uns erspäht haben, wie durchdacht vorgehen.

Kein Level-1, schoss es mir durch den Kopf und kurz war ich versucht, mich zu überzeugen, doch der Glaube an Kanda ließ mich weitersprinten und geradewegs hinein in einen schmalen Pfad. Ich rannte, stets umgeben vom tosenden Lärm des Kampfes, ließ den Pfad zwischen den Trümmern hinter mir, sprang auf eine weitere Straße hinaus und wechselte sofort die Richtung, als sich mir von dort mehrere Level-1 näherten. Ich bog in einen Durchgang, blickte nicht zurück, erspähte eher noch den hellen Schein der Barriere nicht weit vor mir. Es gab keine Häuser, die mir den Blick versagten. Beinahe war es eine freie Flur, die sich vor mir auftat und schon vernahm ich die weiteren Explosionen in meinem Rücken.

Kanda hielt sich nahe bei mir und eilig sprang ich über steinerne Trümmer, setzte über eine halbwegs zerstörte Mauer hinweg und ließ eine Hauptstraße hinter mir.

So rasch wie ich auf den freien Platz hinaus sprang, so rasch verschwand ich wieder und es waren nichts als Bewegungen, die ich wahrnahm. Kreaturen, die hinter Ecken hervorschnellten und mich doch verfehlten. Die runden Körper der Level 1, die mir schwerfällig folgten und meiner Eile nicht beikamen. Hinter mir tobte der Kampf. Das Kreischen eines Level 2 drang an meine Ohren, als ich mich über eine weitere Mauer zog.

Er würde es nicht bereuen, mir vertraut zu haben.

Der Gedanke ließ mich schneller laufen und eilig meinem Ziel entgegen. Die Barriere vor mir wurde größer und endlich sprang ich auf die Fläche hinaus, auf welcher sie sich erhob, doch das einzige, was sie schützte, war ein Trümmerhaufen. Hoffentlich war das Innocence nicht beschädigt.

Ich eilte an den Talismanen vorbei, umging die Barriere und nach nur wenigen Augenblicken erspähte ich das Beige eines Findermantels hinter zerfressenen Ruinen. Nur kurz offenbarte es sich meinen Augen und wie zuckten die beiden Finder in sich zusammen, als ich über die Mauer sprang und sie erreichte. Zitternd klammerte sich der eine an ein Kommunikationsgerät, während sich der andere auf einen Talisman stemmte. Ihre entsetzten, bleichen Gesichter entspannten sich nur stockend, als sie mich erkannten.

Ohrenbetäubend erhob sich eine Explosion in unmittelbarer Nähe und verschluckte ihre Worte.

Der Krawall des Kampfes hatte uns beinahe erreicht.

„Das Innocence!“, keuchte ich und wies auf die Barriere. „Unter den Trümmern?“

Hastig wurde genickt. „Wir hatten es gerade gefunden, da jagten die Akuma das Gebäude mit all unseren Kameraden in die Luft!“

„Es ist uns gerade noch gelungen, die Barriere zu errichten!“

„Das Passwort?“ Ich schob mich zum Ende der Mauer und spähte zur Barriere.

„Dezember“, wurde geantwortet und im nächsten Moment verließ ich den Schutz des Gesteins und sprintete zu den Talismanen. Mehrfach stiegen indessen die schwarzen Rauchwolken brennender Akuma auf und krachend wurde ein Level 2 durch eine Hausfassade und gegen die Barriere geschmettert. Unter einem grellen Aufblitzen schien er annähernd zu schmoren und nur knapp neben mir schlug der leblose Körper auf, als ich die Barriere erreichte und mich vor einem Talisman auf die Knie warf. Eilig öffnete ich die kleine Luke des Talismans, hob ein Fach aus der Öffnung und warf es zur Seite. So tat sich das Buchstabenfeld vor mir auf, doch abrupt hielt ich inne.

Es war ein Reflex, der mich dazu trieb, eine plötzliche Befürchtung, und kaum wandte ich das Gesicht, da erfassten meine Augen die schwarze Gestalt eines Level 3, der sich von einem Dachgiebel abstieß und sich auf mich stürzte.

Es war eine zu kurze Distanz, um das Wort einzutippen und augenblicklich aktivierte ich mein Innocence. Mit aller Kraft traf er auf mich, mit all seinem Gewicht und schlitternd wurde ich zurückgedrängt, als ich den Schlag seiner Pranken blockte.

Es schienen weitaus mehr zu sein als erwartet, denn das nahe Krachen und Tosen der Explosionen zeugten davon, dass Kanda in mehrere Gefechte verstrickt zu sein schien. So hatte ich mich wohl diesem einen anzunehmen und mit einem Mal schloss ich die Klaue um die schwarze Pranke des Akuma, fuhr herum und schleuderte ihn gegen eine nahe Hausfassade. Krachend brach sie zusammen und unter einem dumpfen Tosen ging der Akuma in all dem Schutt und umherstiebenden Staub unter.

Er war noch nicht besiegt, lediglich Zeit hatte ich mir verschafft und kaum regte sich der Akuma in den Trümmern, erfasste ich die Gestalt Kandas. Er sprang von einem Dach, setzte auf dem Nächsten auf und stürzte sich auf den Level 3, kaum dass sich dieser aufrichtete. Er übernahm ihn, doch als ich zu dem Talisman herumfuhr, boten sich meine Augen etwa zwanzig Level 1. Mit einem Mal stiegen sie aus den Ruinen der Stadt auf, doch der Bannkreis erhob sich zwischen uns und so kniete ich mich erneut hinab und tippte das Wort.

Ich wusste, was mich erwartete, sobald der Bannkreis erlosch. Kanda würde es nicht leicht haben, den Platz zu verteidigen, doch wieder blieb es bei blindem Vertrauen. Wenn er mir etwas versicherte, waren es für mich schlicht und ergreifend Tatsachen, auf die ich bauen konnte.

Unter einem Surren verblasste das Licht des Bannkreises. Er erlosch und zurück blieb der Berg aus Trümmern. Ich hatte zu suchen und begann sofort. Nur wenige Schüsse waren es, denen ich auszuweichen hatte und kaum versenkte ich die Klaue im Schutt, da sprang Kanda an mir vorbei und stürzte sich auf das Heer der sich nähernden Akuma.

Ich begann zu graben, Gestein zur Seite zu schleudern und trotz allem hatte ich doch die ganze Zeit über vorsichtig zu sein. Innocence war fragil. Auch nur eines zu verlieren, war undenkbar und es forderte eine gewisse Konzentration, keinen Wert auf den Kampf zu legen, der um mich herum tobte. Oft näherten sich mir Level 1 gefährlich, oft suchte ich dennoch verbissen weiter und stets gingen die monströsen Körper in grelle Explosionen auf, noch bevor ein Schuss auf mich abgegeben werden konnte.

Ein schwerer Stahlträger war es, der mir in Quere kam und so zog ich auch ihn aus dem Schutt. Wenn mich das Pech ein weiteres Mal zu fassen bekam, verbarg sich das Innocence ganz unten. Ich arbeitete mich vor, suchte, wühlte und schmiss Gestein zur Seite. Es waren wahre Brocken, die ich zu entfernen hatte, während Tim mich umflatterte.

„Wo habt ihr es gefunden?!“, schrie ich kurz darauf zu jenen Grundmauern, hinter denen sich die Finder verbargen und sofort neigte sich einer von ihnen ins Freie.

„Im Obergeschoss!“, rief er zurück. „Auf der linken Seite!“

Es konnte nicht tief liegen und vorsichtig stieg ich nach links und suchte weiter. Eine weitere grelle Explosion erhob sich, krachend schlug ein Level 1 neben dem Schuttberg auf und nur beiläufig bemerkte ich das Auftauchen eines weiteren Level 3.

Ich biss die Zähne zusammen, ließ mich auf die Knie sinken und wurde immer unerbittlicher in meiner Suche. Kanda musste gleichzeitig überall sein. Die Gegner näherten sich von jeder Seite und ich spürte, wie sich die Situation zuspitzte. Weitere Level 1 gingen zu Boden und nur kurz spähte ich auf und verfolgte, wie Kanda sich auf den Level 3 stürzte, kurz bevor er sich auf den Weg zu mir machen konnte und kaum trafen sie aufeinander, rückten die Level 1 näher. Die Kanonen richteten sich auf mich und nur kurz konnte Kanda von dem Level 3 ablassen, um sich um jeden von ihnen zu kümmern.

Ich durfte nicht hinschauen. Ich musste vertrauen!

Hektisch beteiligte sich Tim an der Suche, stürzte sich auf einen Stein, biss hinein und versuchte ihn vom Fleck zu bewegen, während ich Schutt zur Seite räumte und in all dem Staub, der mir entgegen stiebte, hustete. Meine Hand traf auf einen festen Widerstand. Es war ein weiterer Stahlträger, der mir im Weg war und sofort umfasste ich auch ihn mit meiner Klaue, bewegte ihn, zog ihn aus dem Dreck und schleuderte ihn nach drei Level 1, die sich mir bedrohlich näherten. Der Aufprall war heftig, er riss sie mit sich und mir entrann ein lautes Ächzen, als ich dort tief unten und in einem Schacht der Ruine jenes Leuchten erspähte. Das Innocence!

Es wurde nicht von Gestein belastet, doch lag circa drei Meter tiefer. Ich konnte es schnell erreichen, doch musste gleichsam darauf achten, es nicht zu verschütten. So gab ich mir Mühe, das Gestein nichts ins Rollen zu bringen. Stein für Stein entfernte ich, schob mich auf den Knien näher, tastete weiter und hielt inne, als ich ein Ächzen vernahm.

Kanda!

Ich fuhr herum und sah ihn straucheln. Ein Schuss schien ihn getroffen zu haben. Er stolperte, doch ebenso rasch wandte er sich wieder den Gegnern zu. So wie ich auf ihn vertraute, hatte ich auf seine Fähigkeiten zu vertrauen. Ich durfte nicht hinsehen, mich nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, wo ich mein Ziel vor Augen hatte und wie kalt kroch die Gänsehaut über meinen Rücken, als ich weitere Level 3 erspähte. Zwei von ihnen in Kandas Rücken. Sah er sie? Er musste es!

Verbissen schüttelte ich den Kopf und schob mich tiefer in den Schacht. Er war zu eng, ich kam nicht weit genug hinab. Nicht einmal annähernd, als ich den Arm nach dem Innocence ausstreckte! Fluchend schob ich mich zurück und begann abermals im Schutt zu graben.

Der Kampf ging weiter. Nicht minder unerbittlich, wie ich mit diesem Gestein zugange war. Ich war ungeduldig und aufgebracht, schmetterte mehr und mehr zur Seite und konnte kaum noch unbeachtet lassen, was in meinem Rücken geschah. Kanda ging beinahe unter in diesem Meer aus Level 1. Sie schienen ihn geradewegs zu verschlucken, bis es mehrere durch Explosionen zerriss und er wieder auftauchte. Nervenkitzel und Erleichterung gaben sich die Hand und wie schwer fiel mein Atem nach wenigen weiteren Momenten. Weitere Stahlträger. Ich verfluchte diese Zufälle und mit einem Mal blickte ich auf und erspähte über mir zwei Level 1. Nahe. Zu nahe!

Eine Explosion ließ mich vermuten, dass Kanda nicht darauf achten konnte. Er behauptete sich an einer anderen Ecke des Platzes. Ich konnte nicht auf ihn warten und ohne zu zögern stieß ich mich ab und zerriss die beiden monströsen Körper mit einem Hieb meiner Klaue. Gleichsam schmetterte ich sie zur Seite und fort von jenem Schuttberg, bevor sie dort einschlagen konnten, wo ich zugange war.

Es war nicht problematisch, doch zeugte all das davon, dass Kanda überfordert zu sein schien.

Ich schürfte nicht weiter, fuhr viel eher herum und sah ihn auf der Kante eines Daches aufsetzen. Von einem weiten Sprung ging er nieder und mit stockendem Atem sah ich ihn dort oben straucheln.

Er schien keinen Halt zu finden, klirrend brachen die Dachziegel unter ihm und wie ein Blitz stürzte dieser Level 3 auf ihn zu. Mein Körper zuckte. Ein Reflex befahl mir, sofort zu ihm eilen, die Distanz war jedoch zu groß und ich durch unsere Abmachung an diesen Ort gebunden.

Doch Kanda war dem Angriff gewachsen. Der kraftvolle Schlag wurde sicher abgewehrt, doch während der Akuma zur Seite geschmettert wurde, stürzte auch Kanda vom Dachgiebel. Es war ein leichter Sturz, der keine Gefahr für ihn darstellte und angespannt arbeitete mich weiterhin vor. Mit zusammengebissenen Zähnen tauchte ich erneut ein in den Schacht und streckte mich dem Innocence entgegen.

Ich erreichte es fast, doch realisierte in diesem Augenblick die ungewohnte Stille, die seit kurzem herrschte. Keine Explosionen erfüllten die Luft und sofort stemmte ich mich in die Höhe und hielt nach Kanda Ausschau.

Weitere Level 1 zogen mir entgegen, während der Akuma des 3ten Levels auf einen nahen Dachstuhl niederging und wie still war es auch weiterhin. Der ohrenbetäubende Lärm hatte jeden Moment unseres Aufenthaltes bestimmt. Wie verbittert suchten meine Augen nach meinem Kameraden und mein Atem stockte, als ich ihn fand. Langsam schob sich der massive Körper eines Level 1 aus meiner Sicht und lautlos öffnete ich den Mund.

Stockend regte er sich, bebend tastete seine Hand nach Mugen und erreichte es doch nicht. Er war fixiert, aufgespießt und die Waffe ihm entglitten. Ein stählerner Pfahl ragte aus seiner Brust und wie zuckte ich zusammen. Er gelangte nicht an seine Waffe. Er war verletzt.

Wie schmerzhaft rasten diese Gedanken in meinem Kopf, als mein Körper reagierte und ich auf die Beine sprang. Ich wusste, dass diese Wunde nicht seinen Tod bedeutete, doch die Zahl der Feinde war noch immer so immens und er jedem von ihnen ausgeliefert.

Mein Atem raste, alles an mir zitterte und keuchend blickte ich zurück zu dem Innocence.

Es zerriss mich. Hier an diesem Punkt, an den ich gehörte und an welchem ich doch nicht sein wollte!

Ich gehörte zwischen Kanda und die Akuma.

Das Donnern eines Schusses riss mich aus meinen fieberhaften Gedanken und ein Ächzen entrann mir, als alles um Kanda herum aufstob. Wie ausgeliefert war er und wie eilig sprang ich von dem Schuttberg, setzte auf dem Boden auf und zerriss mehrere Level 1 mit einem Schlag.

Niemand legte Hand an Kanda, wenn ich in der Nähe war!

Verkrampft umklammerte er diesen Pfahl, versuchte ihn zu bewegen und ich rannte weiter, rannte zu ihm und durch die Mauer der Feinde, die sich um ihn schloss. Keuchend erreichte ich ihn letztendlich und blieb stehen. Er in meinem Rücken, vor mir die Akuma und ich zu allem bereit.

Eine seltsame Regung ging durch die Reihen der Angreifer. Abrupt hielten die Level 1 in ihren Bewegungen inne, ihre Kanonen gaben keinen weiteren Schuss ab und mit schwerem Atem starrte ich auf die Massen, die uns umgaben. Es waren geschätzt dreißig Level 1, während zwei weitere Level 3 über Häuserfassaden krochen. Es blieb eine Masse, mit der ich es aufnehmen konnte, doch mit einem Mal stockte mir der Atem. Er setzte sich in meiner Brust fest, während sich meine Augen weiteten und nur unterschwellig vernahm ich das Ächzen hinter mir.

„Was tust du! Kümmere dich um das Innocence, verdammt!“

Stockend hob ich den Kopf, nur langsam drifteten meine Pupillen zur Seite und kalt überkam mich ein Schauer, als aus sämtlichen Ruinen, aus sämtlichen Kellern und Fenstern ein wahres Heer aus Level 2 kroch. Ein buntes Getümmel erhob sich um mich herum und röchelnd verstummte auch Kanda.

Weniger problematischer wäre es, würde ich sie bekämpfen, ohne jemanden zu schützen. Doch zu schützen hatte ich hier und jetzt zweierlei Dinge, von denen eines einen weitaus geringeren Wert einnahm.

Was war ein Innocence im Vergleich zu Kandas Leben?

Ich würde es sofort opfern, wenn man mich vor die Wahl stellte.

Langsam bewegte ich meinen linken Arm, umschloss das Handgelenk mit der Rechten und zog mein Schwert ins Freie.
 

-tbc-

21

Ich stolperte, strauchelte, bewegte mich taumelnd in diesen Massen, die nach unserem Leben trachteten.

Nach meinem, nach Kandas und wie stürzte ich zurück zu ihm, um ihn zu verteidigen, wie warf ich mich in diese Massen und schreckte nicht vor Verletzungen zurück.

Was waren sie schon im Vergleich zur Gefahr, die für Kanda bestand.

Jeden Kratzer nahm ich auf mich, jede Schramme, jeden Schmerz und ganz gleich, wie sehr er in mir tobte, ganz gleich wie stark ich zur Seite geschmettert wurde, ich hatte wieder aufzustehen.

Die Akuma rückten vor, rückten zur Seite und stets gab es den einen oder anderen, der meinen beiden Heiligtümern gefährlich nahe kam. Explosionen pflasterten meinen Weg, dröhnten in meinen Ohren, spien mir heiße, feurige Luft entgegen und wie schwer fiel mein Atem nach einer schier unendlich erscheinenden Dauer des Widerstandes. Ich war der einzige, der imstande war, etwas zu bewegen, während mich Kandas Schreie wuterfüllt eines unverzeihlichen Fehlers bezichtigten.

Machte ich es denn falsch?

Würde sich Kanda in einer solchen Lage dem Tod ergeben, um die Mission zufriedenstellend zu erfüllen?

Und inmitten des Rauches und des Schmerzes stellte ich mir die Frage, ob er wohl auch so gehandelt hätte. Wäre ich dort aufgespießt, hätte er mir den Rücken gekehrt und seine Prioritäten gegen mich gesetzt?

Eine Frage, auf die ich keine Antwort fand, über die ich auch nicht grübeln konnte, denn die Situation erforderte all meine Konzentration. Über mir, neben mir, unter mir. Der Feind schien überall und seine Masse nicht abzunehmen, so viele ich auch in Stücke riss.

Ich biss die Zähne zusammen und unterdrückte das erschöpfte Zucken meiner Glieder, unterdrückte auch das Gefühl, dass mir Batteriesäure durch die Venen schoss und meine Lunge kurz davor war, zu zerbersten. Alles schmerzte und bebte, doch ich blieb auf den Beinen. Ich stieß mich ab, rollte mich zur Seite, griff an und schlug zurück. Es war ein Kampf ohne etwaige Gerechtigkeit, für welchen ich in jedem Moment verdammt wurde. Doch es fühlte sich nicht falsch an. Der Gedanke, ihn mir nicht nehmen zu lassen, hielt mich am Leben. Er würde nicht sterben, solange mein Körper noch dazu fähig war, sich zu bewegen. Nicht solange ich atmete.

Nicht solange ich ihn liebte.

Ein betäubender Schlag traf meinen Rücken, riss mich beinahe zu Boden. Ich rutschte durch all den Schutt, durch all die Asche und das Bild vibrierte vor meinen Augen, kurz bevor ich jenen Level 2 mit meinem Schwert aufspießte und zur Seite schleuderte. Und ich kämpfte weiter, verdunkelte den Himmel mit den schwarzen Rauchwolken brennender Akuma, ebnete meinen Weg mit ihren Einzelteilen.

Eine Platzwunde an der Stirn erschwerte mir das Sehen. Mein Blick trübte sich, alles schien undeutlich und eilig begann ich zu rennen, mir die Augen zu wischen und um die alte, klare Sicht zu ringen. Ein Geräusch drang kaum in meine Wahrnehmung. Es glich einem Surren, dem ich keine Beachtung schenkte, doch mit einem Mal schien der Himmel über meinem Kopf zu explodieren. Zwei Level 3 riss es in Fetzen und ächzend blickte ich auf und sah qualmende Einzelteile noch immer über mir hängen.

Regungslos? Festgezurrt?

Ich öffnete den Mund, ein fahriger Atem drang über meine Lippen und strauchelnd fuhr ich herum. Ein weiterer. Wie nahe war er mir schon gewesen, wie plötzlich verzerrte er sich unter unsagbaren Schmerzen und wie grell war diese weitere Explosion. Ich riss die Hand vor die Augen, strauchelte zurück und wie undeutlich und verschwommen drang plötzlich diese Stimme zu mir.

„Allen!“

Ich blickte auf, bewegte mich strauchelnd zur Seite und fassungslos erkannte ich ihn.

Neben mir und auf einem Dach.

„Marie!“ Meine Stimme gab kaum noch etwas her. Wie brüchig erhob sie sich, wie bebend und kurz darauf zerriss es weitere Akuma. Sie wurden zerschnitten, in die Luft gejagt und die nächste Bewegung, die ich hinter mir ausmachte, war die eines Finders, der zu mir eilte. Maries Begleiter.

„Walker!“ Eilig bahnte er sich einen Weg durch die rauchenden, qualmenden Kadaver. „Sind Sie verletzt?“

Ächzend starrte ich ihn an.

Alles geschah so schnell, dass ich es nicht erfasste und auch als Marie mich bald darauf erreichte, tat ich nichts anderes, als ihn anzustarren. Mein Körper schien wie betäubt. Nicht einmal Schmerz nahm ich wahr. Plötzlich war es still um mich herum und auch Maries Lippen bewegten sich lautlos.

Meine Ohren dröhnten.

Seine große Hand bettete sich auf meine Schulter und augenblicklich gab mein Körper unter diesem Druck nach und schwankte zur Seite. Vermutlich fragte er, ob ich verletzt war, vermutlich wollte er sich überzeugen, doch kurz darauf wandte er sich bereits ab, konzentriert lauschend und dem Pfad der Laute folgend.

„Walker?“ Es war der Finder, der noch immer bei mir stand.

Der Rauch schien zuzunehmen und mir in die Augen zu steigen. Es wurde finster um mich herum und stockend entspannte sich mein Gesicht.

Es war getan. Ich konnte mich ausruhen. Meine Lider wurden schwer, so furchtbar schwer, dass sie sich meiner Kontrolle entzogen. Ausruhen. Nur ein wenig und gleichsam wurde es noch ruhiger um mich herum. Wie angenehm.

Das Tosen des Kampfes erstarb. Alles erstarb und kaum spürte ich, wie meine Beine versagten und ich haltlos zu Boden ging. Ich ließ mich fallen, nun konnte ich es und nur ein leichtes Stechen zeugte davon, dass ich mit dem Kopf aufschlug, bevor mich auch das letzte Bewusstsein verließ.

Alles wurde pechschwarz, schwer, warm und lautlos.

Ich ruhte mich nur kurz aus.
 

Wie schnell ich das Bewusstsein verlor. Als wäre es mir entflohen, sobald ich mich nicht mehr verbittert daran klammerte. Ein dumpfes Surren begleitete mich, während ich in einer tiefschwarzen dumpfen Hitze versank. Nur selten zuvor war ich der Wirklichkeit so fern gewesen. Ein schier unendliches Nichts verschluckte mich und doch hörte ich zu manchen Zeiten ein Rauschen, das ich für meinen Atem hielt.

Ich schien aufzutauchen, ich kehrte zurück und irgendwann spürte ich Berührungen.

Es waren Hände, die sich über meine Schultern tasteten und mit einem tiefen Atemzug kehrte ich vollends zurück. Meine Lider zuckten, wollten sich noch nicht heben, mir die Umwelt noch nicht offenbaren, doch ich hörte sie.

Stimmen und das Knacken entfernter Flammen. Auch Schritte auf dem Boden, auf dem ich lag. Der Kies knirschte unter Sohlen, entferntes Gemurmel und unter einem trockenen Husten wurde ich wach, bewegte den Kopf und öffnete die Augen. Das Licht blendete mich. Jeder Einfluss schien zu viel, doch als ich blinzelte wurden die Konturen deutlicher. Das grelle Licht ermattete und benommen starrte ich in die Welt, die mich umgab. Ich lag dort, wo ich zusammengebrochen war. Das Gestein bohrte sich in meine Rippen, Dreck haftete auf meinem Gesicht und stockend wendete ich es zur anderen Seite.

Eine Gestalt erhob sich neben mir, gekleidet in diesen beigen Mantel. Es war der Finder, der neben mir hockte und das Innocence in den Händen hielt.

Ich blinzelte zu diesem Ding, zu diesem gottverdammten Ding. Sie hatten es geborgen.

„Walker.“ Der Finder neigte sich über mich. „Was für ein Glück! Sie sind wieder bei Bewusstsein!“

Mein Körper fühlte sich nicht besser an, kaum stärker oder vom Schmerz befreit. Es konnten nur wenige Momente gewesen sein und vorsichtig begann ich mich zu bewegen.

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte sich der Finder sofort, doch ich hob nur die Hand.

Mir helfen? Er hatte ja keine Ahnung.

Mein Bauch krampfte, selbst meine Arme hatten kaum genug Kraft inne und wie verbissen stemmte ich mich auf die Hände, um mich zumindest hinzusetzen. Auf die Beine wollte ich kommen, aufstehen. Es gab diesen Drang in mir, der diesen dreckigen Boden hasste.

War ich wirklich so erschöpft?

Gegen Ende des Kampfes hatte ich meinen Körper kaum noch gespürt. Alles schien sich abgeschaltet zu haben und auch jetzt tauchte ich nur langsam in die Realität ein und erinnerte mich an das, was geschah. Ächzend setzte ich mich und richtete mich auf, den aufgeregten, goldenen Golem nur beiläufig zur Seite drängend, als er mir zu nahe kam.

Kanda.

Mein Genick schmerzte, als ich um mich spähte.

Nur wenige Flammen loderten noch um uns herum. Viele Überreste der Akuma waren bereits verloschen, doch sah ich durch eine der Rauchsäulen Bewegungen.

Dort war er.

Nur schwerfällig hielt er sich auf den Beinen, doch akzeptierte Maries Unterstützung. Der Stoff seiner Uniform war von Blut durchtränkt. Selbst auf dem Kies des Bodens hinterließ er Spuren. Aufmerksam hielt Marie seinen Arm und unter dem ersten tiefen Durchatmen seit langem versuchte ich mich daran, aufzustehen. Wieder stemmte ich mich empor, wieder verlangte ich meinen Armen alles ab und die beiden hatten mich beinahe erreicht, da richtete ich mich endlich schwankend auf.

Das Knacken des Kieses näherte sich und benommen hob ich die Hand, um mir die Augen zu reiben. Ich stand, wenn auch unsicher und rang um Gleichgewicht, als Kanda die letzte Distanz zwischen uns überwand. Mit einem Schritt trat er an mich heran und ich sah nicht die Bewegung seiner Hand, sah nicht, wie sie sich aus dem blutigen Stoff löste, doch plötzlich erfasste ein Schlag mein Gesicht. Eine Faust riss meinen Kopf zur Seite, taumelnd folgte mein Körper und überwältigt von dieser Kraft ging ich abermals und haltlos zu Boden.

„Du erbärmlicher Heuchler!“ Kandas Stimme bebte vor Wut und benommen begann ich mich zu regen.

„Kanda“, wandte sich Marie leise an ihn, doch wurde unterbrochen.

„Sieht so für dich das Befolgen von Befehlen aus?!“

Blind tastete ich nach meinen Lippen, spürte das Blut auf ihnen, spürte das Kitzeln auch auf meinem Kinn und wischte es matt hinfort. Ein solcher Zorn, eine solche Verachtung.

Hatte ich sie verdient?

„Was sollte das?!“

Noch nie offenbarte Kanda eine solche Wut und zugegeben, er erwischte mich eiskalt. Wie dumm.

War ich davon ausgegangen, dass er nicht zu heißblütigem Zorn neigen konnte?

Er beugte sich zu mir hinab, doch wurde von Marie zurückgezogen.

„Was wäre passiert, wäre er nicht aufgetaucht?!“, verlangte er zu wissen, sich in Maries Griff windend. „Du konntest es nicht wissen! Das Innocence verlieren! Ist es das, was du wolltest?!“

Zitternd senkte ich die Hand zum Boden und richtete mich auf. Der kalte Schauer der Wut durchlief mich.

Wofür hatte ich gekämpft? Für seine Unzufriedenheit?

Verkrampft fand seine Hand zur Wunde zurück und klammerte sich in den Stoff der Uniform.

„Und einem wie dir soll ich vertrauen?!“, stieß er aus. „Wo zur Hölle liegen deine Prioritäten?!“

„Sei still.“ Nur leise kam die Stimme über meine blutenden Lippen sowie sich meine Finger im Dreck des Bodens versenkten. Es waren Worte, die nicht zu ihm drangen, die bisher nur mir gehörten.

Nach meinen Prioritäten fragte er?

Was hätte ich noch tun sollen, um ihm zu zeigen, dass er diese Rolle einnahm?

„Du hast die ganze Mission gefährdet!“

„Halt die Klappe!“ Ich fuhr in die Höhe, doch kam nicht auf die Beine, denn sie gehorchten mir nicht mehr. Aber ich schrie ihn an, mit all dem Schmerz, mit all dem Zorn und Unverständnis, die ich empfand.

Sofort zuckte mir seine blutige Hand entgegen. Er wollte mich packen, doch wieder zog Marie ihn zurück.

„Es ist dein Leben, das ich gerettet habe!“ Meine Stimme bebte und abermals versuchte er sich loszureißen. Abermals wurde er gehalten, doch es wäre mir gleich gewesen, hätte er sich auf mich gestürzt, denn seine Schläge könnten niemals so wehtun wie seine Worte. „Wie kann dir das so wenig wert sein?!“

„Ich habe es dir erklärt!“, zischte er. „Ich habe dir immer und immer wieder erklärt, was für Prioritäten gesetzt werden müssen!“

„Ich setze meine Prioritäten nach eigenem Ermessen!“ Keuchend sank ich in mich zusammen. „Ich habe es geschafft“, stieß ich aus. „Ich habe dich beschützt und ich habe das Innocence beschützt, also was macht dich wütend?! Dass du am Leben bist?! Es steht dir frei, dich nachträglich umzubringen! Ich halte dich nicht auf!“

„Du verdammter…“

Ein Ruck, ein Zerren und mit einem Mal war er frei. Maries Hände erreichten ihn nicht mehr, viel zu rasch tat er diesen Schritt, doch bei diesem blieb es. Das Bein konnte ihn nicht halten. Er sank hinab, brach zusammen und kurz darauf hockten wir dort. Zornig, keuchend und doch zu erschöpft, um uns zu erreichen. Kein weiteres Wort wollte über meine Lippen kommen, kaum ein Ausdruck mein Gesicht verändern. Schweigend standen Marie und der Finder neben uns. Es war ein Fiasko ohnegleichen.
 

-tbc-

22

Bald darauf saß ich dort und an eine Wand gelehnt, inmitten des Schlachtfeldes auf wenigen hölzernen Brettern und unter einem Dach, das die Schüsse überlebte. Während ich das Innocence absent in der Hand bewegte, betrachtete ich mir die erloschenen Überbleibsel des Kampfes. Sie umgaben mich, als würden selbst die toten Spuren der Akuma noch auf mich lauern. Nein, der Kampf war vorbei.

Kanda war sicher, ich war sicher, ebenso das Innocence. Wie seltsam, dass es sich in meinen Augen dennoch um den denkbar schlechtesten Abschluss handelte.

Ich hatte nicht das Gefühl von Erleichterung, alles in mir war ernüchtert und verbittert und als wollten meine Lippen mich von etwaigem Vergessen fernhalten, taten auch sie noch weh. Oft hob ich die Hand und betastete die Wunde. Was für eine Kraft Kanda noch übrig hatte, um mir diesen Schlag zu versetzen. Körperlich sowie mental. Nichts stimmte mehr.

Marie hatte ihn in eines der Gebäude gebracht. Die Verletzung schien ihn länger zu quälen als ich erwartete und was mich anging, ich geduldete mich. Derzeit telefonierte Marie mit Komui und es dauerte nicht lange, da gesellte er sich zu mir.

„Kanda kehrt in das Hauptquartier zurück“, hob er an. „Was dich angeht, Komui lässt dir zwei Möglichkeiten. Wenn du dir eine weitere Mission nicht zutraust, kannst du mit Kanda zurückkehren.“

„Und wenn ich es mir zutraue?“, fragte ich sofort, denn letztlich konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als Kanda in nächster Zeit noch einmal unter die Augen zu treten. Unser Weg wäre von eisigem Schweigen und verächtlichen Blicken erfüllt und somit etwas, das ich derzeit nicht ertrug.

„In dem Fall bittet dich Komui, das Innocence in die Asien-Zweigstelle zu bringen.“

„Das mache ich.“

„Gut.“ Marie lächelte und berührte meine Schulter. „Dann gehst du eben nach dieser Mission Nachhause.“

Er reichte mir die Hand und ich ergriff sie. „Du kannst dir Zeit lassen und dich ausruhen. Scheinbar hast du es nötig.“ Er zog mich in die Höhe. „Ich muss mich wieder auf den Weg machen.“

Das war der Abschied.

Er war auf der Durchreise gewesen, durch einen glücklichen Wink des Schicksals in der Nähe und sein Gehör musste ihn anschließend hierher geführt haben und an den Ort, an dem man ihn und seine Kraft brauchte. Es war einer der seltenen Momenten, an welchem ich dem Schicksal dankte. Nur ein wenig.

„Danke für deine Hilfe.“

„Wir sind Freunde“, erwiderte er und wie lange sah ich ihm nach, nachdem er sich abwandte.

Ja, wir waren Freunde. Wir halfen einander, retten einander und taten es, weil es selbstverständlich und richtig war. Wie konnte Kanda nur soviel anders denken?

Ich wusste es nicht, doch der Weg, der vor mir lag, würde mir genug Möglichkeit bieten, zu grübeln.

Ich brach sofort auf, denn es war gut, sich hier und jetzt zu trennen.

Ich tat nur wenige Schritte, zurück in das weiße Nichts, das die Stadt umgab und zurück zu jener Haltestelle, von der Kanda und ich gekommen waren. Ein langer und beschwerlicher Marsch lag vor mir, doch mir blieb Zeit, wie Marie sagte, also sah ich es erst einmal auf die nächste Stadt ab. Dort würde ich pausieren, schlafen und essen, denn in meinem derzeitigen Zustand würde ich Asien nicht erreichen.
 

Entgegen der Schwäche und Erschöpfung ging ich dennoch zügig, legte Wert darauf, die Haltestelle zu erreichen, bevor ein weiterer Schneesturm auf den glorreichen Gedanken kam, loszuschlagen und mir jeden Schritt zusätzlich zu erschweren.

Als ich mein Ziel erreichte, sank ich ermattet auf die Bank, nicht dazu fähig, den Plan zu studieren. Wenn ein Zug kam, dann bemerkte ich es schon. Lieber schloss ich für einen Moment die Augen, streckte die Beine und vergrub mich in meinem Wintermantel. Meine Pause dauerte nicht lange an, bevor ich das Rauschen und Rattern des sich nähernden Zuges vernahm und die Augen öffnete.

Wohin er fuhr, das war mir egal. Es würde jedenfalls eine Stadt sein und wie ich von dort aus Asien erreichte, war das Problem des nächsten Tages. Heute interessierten mich all diese Dinge nicht mehr.

In einer warmen und windstillen Kabine gönnte ich mir schon die eine oder andere Stunde Schlaf und stieg etwas wackelig aus, als der Zug nach zwei Stunden einen großen Bahnhof erreichte.

Ich wusste nicht, wie die Stadt hieß, hatte nur Augen für eine Unterkunft und fand diese auch rasch. Sie

hatte nicht viel zu bieten, doch ein Bett genügte mir und wie erschöpft ließ ich mich kurz darauf fallen.

Ein tiefer, schwarzer und warmer Schlaf überkam mich binnen weniger Momente und als ich am späten Nachmittag des nächsten Tages die Augen öffnete, fühlte ich mich um einiges wohler.

Mein Körper hatte Kraft zurückbekommen, auch mein Kopf war recht klar und unbelastet. Es war wohl eine der wenigen Zeiten, zu denen mir der Schlaf gute Dienste leistete und anschließend ließ ich mir mit allem Zeit. Ich stieg in die Badewanne der Herberge, wärmte mich auf und während ich ein ausgiebiges Essen genoss, hangen meine etwas klamme Uniform sowie der Mantel nahe einem Kamin.

Bald darauf fühlte ich mich bereit für die Reise nach Asien.

Die Länge des Weges verlor an Ernsthaftigkeit, alles verlor seinen Schrecken und wie entspannt trat ich in den Abendstunden aus der Herberge und atmete die frische, kalte Luft.

Der Weg begann und erst als ich im Zug saß, gestattete ich meinen Grübeleien die Rückkehr.

Ich wollte verarbeiten und verstehen, was zwischen Kanda und mir passierte, wollte ihn verstehen und weshalb er so handelte. Seine Beweggründe oder nur Erklärungen für sein abstruses Verhalten, doch so sehr ich auch diese Gedanken wälzte, ich schien nur in immer kompliziertere Gefilde zu driften.

Alle Fragen, die ich mir stellte, konnte ich mir nicht beantworten und es war stets ein- und dieselbe Barriere, die mir dabei in den Weg kam. Die Barriere, Kanda nicht zu kennen.

Was wusste ich schon von ihm?

Nicht einmal den kleinsten Fetzen seiner Vergangenheit.

Er war lange beim Orden. Er und Linali waren wohl unter den ersten gewesen, doch dieser Fakt so undeutlich und unwichtig, wenn man darauf aus war, das Puzzle zusammenzusetzen.

Ich wusste gar nichts. Worüber wunderte ich mich also?

Selbstverständlich konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären. Es traf mich, als wäre ich ein tauber, blinder und stummer Gegenstand. Ich wich nicht zurück, doch prallte es ebenso an mir ab, ohne dass ich in diesem Schlag zu lesen wusste. Möglicherweise war es so beabsichtigt. Möglicherweise würde ich niemals mehr über ihn erfahren und ihn auch niemals komplett verstehen. Und ich hätte mich damit abzufinden. Eine andere Eventualität blieb mir nicht, doch es wäre schwer zu akzeptieren, wo er mich doch in einem so hohen Maß interessierte.
 

Irgendwann erreichte ich Asien und somit mein Ziel. Es hatte sich wenig verändert, seit ich zuletzt dort war, inmitten einer finsteren Zeit und einer gefährliche Gradwanderung, an die ich mich nur ungern erinnerte. Und doch waren sie es gewesen, die mir die zweite Chance schenkten.

Die Wiederherstellung meines kristallisierten Innocence’.

Wie lange hatte dieser Kampf gedauert und wie angenehm war nun diese andere Art meines Besuches. Auch die Menschen wieder zu treffen, die diese schwere Zeit mit mir verbrachten.

„Allen Walker!“ Eifrig schüttelte Bak meine Hand. Er tat es schon seit einer Weile und reserviert lächelte ich. „Was für eine Freude! Wie groß du geworden bist!“ Staunend neigte er sich zu mir, hob die andere Hand zu meiner Stirn. „Ein wahrer Gigant!“

„Das ist freundlich, aber leicht übertrieben“, erwiderte ich und wurde endlich losgelassen. Dafür kassierte ich einen Schlag gegen die Schulter.

„Ich habe gehört, du hast dich gemacht. Wie es nicht anders zu erwarten war.“ Bak lachte und machte den Anschein, nichts anderes zu tun zu haben, als sich mit mir zu befassen. Dabei standen wir inmitten seines Büros, das offensichtlich so einige Arbeit für ihn bereithielt. „Hast du Zeit mitgebracht? Erzähl mir doch ein bisschen was.“

„Was zum Beispiel?“ Ich kratzte mich im Schopf, während er sich Mühe gab, Nachdenklichkeit vorzutäuschen.

„Zum Beispiel“, murmelte er, „wie es Linali so geht.“

Wie nostalgisch.

Hier hatte sich wirklich nichts verändert.

„Ihr geht es gut.“ Ich rümpfte die Nase und musterte ihn resigniert.

„Das freut mich.“ Bak lehnte sich an seinen Schreibtisch. „Und den anderen? Kanda zum Beispiel?“

„Kanda?“ Dass er sich nach ihm erkundigte, wunderte mich. Sofort juckte die Frage in mir, doch ich hatte sie zu unterdrücken, denn hier und jetzt war der falsche Zeitpunkt für Neugierde.

„Ihm geht es bestens.“ Ich schlug meinen Mantel zurück und tastete nach dem Innocence.

Ich hatte keine Lust, über andere zu sprechen und Bak schien es zu begreifen, denn er seufzte kapitulierend und rückte an seiner Mütze. Als sich plötzlich die Tür zu seinem Büro öffnete, spähte er an mir vorbei und als ich eilige Schritte hinter mir vernahm, wandte ich mich auch um.

„Walker!“ Mit ausgestreckten Armen eilte Mr. Wong auf mich zu. Er machte dieses Wiedersehen zu einer dramatischen Angelegenheit und kurz darauf fand ich mich in einer eisernen Umarmung wieder.

„Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen!“ Er drückte mich innig, ließ mich los und packte mich an den Schultern, um mich zu mustern. Kaum sah er mein Gesicht, da erblichen seine Züge vor Entsetzen.

„Was sind Sie so blass?“, ächzte er. „Essen Sie genug?“

Er hatte ja keine Ahnung. Ich nickte und da lehnte er sich noch näher und verengte die Augen.

„Sie sind verletzt!“

„Ein paar Kratzer.“

„Ihre Lippe“, keuchte er und bevor er an mir zu rütteln begann, löste ich mich aus der Umklammerung und lächelte freundlich.

„Wie lange bleibst du?“, erkundigte sich Bak in diesem Moment. „Ich meine nur“, er schirmte seinen Mund mit der Hand ab, neigte sich zu mir, „Fou würde sich sicher freuen, wenn du vorbeischaust.“

„Das mache ich sowieso“, konnte ich ihn beruhigen. „Ich würde auch eine Kleinigkeit essen, bevor ich mich auf den Rückweg mache.“

„So ist es richtig!“, bezeugte Wong. „Essen ist die Grundlage für gute Gesundheit.“

„Ja.“ Lächelnd nickte ich, übergab das Innocence an Bak und stahl mich im Anschluss unauffällig davon.

„Essen Sie ordentlich!“ Wong streckte mir den Daumen nach. „Und wenn ich nachher die Verletzung in Ihrem Gesicht schnell mit einer antiseptischen Salbe versorgen dürfte...“

„Ich denke, das ist nicht nötig.“

Wong seufzte gebrochen, doch Bak war immer noch bei bester Laune.

„Schau noch mal vorbei, bevor du gehst“, rief er mir nach. „Ich werde dir etwas für Komui mitgeben!“

Ich nickte, tat es noch immer lächelnd und tief durchatmend schob ich mich dann hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter mir. Ja, auf Fou freute ich mich wirklich. Meine Dankbarkeit für das, was sie damals für mich tat, reichte bis in die Gegenwart hinein.

Ich begann mich zu orientieren, blieb an der nächsten Kreuzung stehen und sah mich um, lehnte mich nach vorn, lehnte mich zurück und entschied mich am Ende für den linken Weg. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich das Erdgeschoß aufzusuchen und um dorthin zu gelangen, brauchte ich erst einmal Treppen. Um sich in einem solchen Hauptquartier zurechtzufinden, benötigte man vermutlich Jahre.

Ich folgte dem Gang, fand tatsächlich ein Treppenhaus und stieg die Stufen hinab.

„Allen Walker?“

Nur zögerlich erhob sich die Stimme hinter mir. Die Stimme eines Mädchens, an das ich mich natürlich erinnerte und als ich mich umwandte, stand sie wirklich dort. Lou Fa. Sie musste gerade aus dem Gang geeilt sein, den ich hinter mir ließ. Und mit ihr Shifu und Rikei.

„Hallo.“ Ich hob die Hand und unter einem Keuchen klammerte sich Lou Fa um ihre Mappe. Während sie erstarrte, begrüßten mich die beiden jungen Wissenschaftler freudig.

„Wie geht es Ihnen?“

„Es ist also wahr!“ Mit zusammengepressten Lippen starrte Lou Fa zu Boden. „Sie sind hier! Ich wollte es nicht glauben!“

Entspannt kehrte ich zu ihnen zurück und wurde mit großen Augen angestarrt.

„Wie geht es euch?“

„Alles bestens.“

„Jetzt reiß dich zusammen!“ Rikei ließ Lou Fa seinen Ellbogen spüren und mit einem Mal fuhr sie in die Höhe und reichte mir die Hand.

„Freut mich, Sie wiederzusehen!“ Fast hysterisch erhob sich ihre Stimme und irritiert schüttelte ich ihre Hand. Stimmt ja. So war sie schon damals gewesen.

„Alles in Ordnung?“

„Danke für Ihre Sorge! Wirklich, vielen Dank!“ Mit glänzenden Augen erwiderte sie meinen skeptischen Blick. „Mir geht es einfach wunderbar!“

„Das freut mich. Ach.“ Ich wies mit einer knappen Kopfbewegung zur Treppe. „Ich war gerade dabei, mich zu verlaufen.“

„Wo wollen Sie denn hin?“, erkundigte sich Shifu.

„Zu Fou.“

„Ah, natürlich!“ Shifus Gesicht erhellte sich, neben ihm lachte Rikei und Lou Fa starrte mich immer noch an. „Da sind Sie hier völlig falsch.“

Resigniert juckte ich mir den Mundwinkel und folgte einem Wink, der zur anderen Treppe wies.

„Sie nutzen diese Treppe, gehen bis ins Erdgeschoss und dort...“

„Wir“, plötzlich erwachte Lou Fa wieder zum Leben, „wir könnten Sie begleiten!“

„Lou Fa!“ Wieder erreichte sie ein Ellbogen. „Wenn wir gerade etwas nicht haben, dann ist es Zeit.“

„Der kleine Umweg?“ Fast bettelnd wandte sich das Mädchen an ihre Begleiter. „Der winzig kleine Umweg?“

„Ich finde es auch, wenn ihr es mir erklärt“, warf ich ein und während Shifu und Rikei nur nickten, sackte Lou Fa seufzend in sich zusammen.

„Also dann.“ Wieder wandte sich Shifu der Erklärung zu. „Sie gehen ins Erdgeschoss und dann in den kleinen Durchgang, der auf der rechten Seite ist.“

„So kurz?“, staunte ich.

„So kurz.“

„Vielen Dank.“

Lachend winkten die beiden jungen Männer ab. Lou Fa schien zwischen ihnen kleiner und kleiner zu werden und erst als wir uns kurz darauf dem Abschied näherten, fuhr sie wieder in die Höhe.

„Besuchen Sie uns noch einmal?“, wollte sie wissen aber Fragen solcher Art konnte ich nicht beantworten und da verfing sie sich abermals in diesem tiefen, dumpfen Seufzen.

„Na na.“ Feixend tätschelten Shifu und Rikei ihre Schulter. „Ich glaube, wir müssen dann mal weiter.“

„Ich wollte euch nicht aufhalten.“

„Haben Sie nicht.“

„Na dann.“ Ich winkte ihnen und Lou Fa sah nicht begeistert aus, als die beiden jungen Wissenschaftler sie mit sich zogen.

„Jetzt aber schnell“, hörte ich Rikei noch flüstern, bevor die drei in einem nahen Gang verschwanden. „Wir müssen endlich diese verdammten Daten auswerten.“

„Machen Sie es gut!“ Laut erhob sich Lou Fa’s Stimme. „Auf Wiedersehen! Passen Sie auf sich auf und...“

„Das macht er schon“, unterbrach Shifu sie.

Verschämt lächelnd blieb ich stehen, bis ihre Schritte von dem Dröhnen einer nahen Tür verschlungen wurden. Dann wandte ich mich dem beschriebenen Weg zu, ging zügig, hielt mich strikt an die Beschreibung und fand im Erdgeschoss wirklich etwas, das wie ein Durchgang aussah.

Ich schien richtig zu sein und bequem trat ich durch das Gewölbe und erreichte diese große Halle. Die Säulen zu meinen Seiten und vor mir dieses riesige Tor weckten Erinnerungen.

Ich sah mich um, während ich mich dem Tor näherte.

Wie viel Zeit hatte ich mit Fou verbracht? Wie viel hatte sie für mich getan?

Ich versenkte die Hände in den Hosentaschen, hob und senkte die Schultern unter einem tiefen Durchatmen und blieb vor den wenigen Stufen stehen. Dieses Tor.

„Was für ein seltener Besuch!“ Plötzlich erhob sich die resolute Stimme in der Halle und unaufhaltsam breitete sich dieses Lächeln auf meinen Lippen aus. Da war sie.

„Ich wollte nicht gehen, bevor ich hier war“, erwiderte ich und ein leises Schnauben zeugte von Wut.

„Das ist ja auch das Mindeste!“ Mit einem Mal erstrahlte die Oberfläche des Tores in gleißendem Licht. „Wo du ohnehin nie etwas von dir hören lässt, Allen Walker!“

„Tut mir Leid.“ Ich trat einen Schritt zurück und lauschte in die rasch zurückgekehrte Stille.

Zeigte sie sich mir?

Ich blickte diesem gleißenden Licht entgegen, wartete auf ihre Materialisierung, doch mit einem Mal zuckte dieser Schatten hervor und stieß mir entgegen. Er tat es blitzschnell und doch gelang es mir, den kraftvollen Schlag mit der Linken zu parieren. Ich schlitterte zurück, doch hielt dagegen, stets das bekannte Gesicht musternd, das mir so nahe war. Wir gaben uns einem kurzen Kräftemessen hin, bevor sie von mir abließ und mit einem Sprung zurücksetzte. Fast lautlos erreichten ihre Füße den Boden, bevor sie sich aufrichtete und mich mit der mir vertrauten Skepsis musterte.

„Wo ist der mickrige Allen Walker, den ich kenne?“

„Grüß dich, Fou.“
 

Niemand schrieb mir Eile vor und so ließ ich mir Zeit im Asian Brunch.

Es begann mit dem Austausch von kleinen Sticheleien zwischen Fou und mir, gipfelte in einem freundschaftlichen Gespräch und es musste wohl eine Stunde dauern, bevor ich die Halle verließ und Bak abermals besuchte. Es war ein Brief, den er mir reichte und mit diesem im Gepäck und den alten Kräften trat ich letztendlich den Heimweg an.

Dieser Umweg hatte mir gut getan und meine Gedanken auf einen helleren Weg gelotst.

Genau das, was ich nach der Mission mit Kanda nötig hatte.
 

„Was ist das?“ Unschlüssig betrachtete sich Komui den Brief, den ich ihm reichte aber ich wusste es nicht, also zuckte ich mit den Schultern.

„Habe ihn nicht gelesen, ist von Bak.“

„Ah ja.“ Stirnrunzelnd nahm er ihn entgegen und war er gerade noch so interessant, wurde er doch nur zur Seite geworfen, wo er auf einem der vielen Stapel liegen blieb. „Es tut mir Leid, Allen.“ Fast unterwürfig wandte er sich wieder an mich und ich hatte keine Ahnung, was er meinte. „Dass ich dich den ganzen Weg nach Asien geschickt habe.“

„Warum sollte es dir leidtun?“, erwiderte ich. „Es ist deine Aufgabe, mich zu schicken und ich habe die Aufgabe zu gehen.“ Ich hatte keine Lust auf weitere Worte oder überflüssiges Gerede, denn so Leid es Komui auch tat, ich war müde und sehnte mich nach meinem Bett.

Flüchtig hob ich die Hand, bevor ich mich abwandte. Die Reise, die hinter mir lag, hatte ich vielmehr mit Grübeleien und Essen verbracht als mit Schlaf. Stunde um Stunde in verschiedenen Zügen.

Seufzend schlüpfte ich draußen im Gang aus meinem Mantel und streckte mich ausgiebig. Es würde einer der Abende werden, die Seltenheitswert genossen. Ein kleiner Abstecher zum Bad wäre alles, was ich hier und jetzt noch schaffen würde und das nächste Essen hatte Zeit bis zum Morgen.

Wie zermartert war ich und wie gut gelaunt trotzdem. Während meine Beine so schwer wirkten, fühlte ich mich leicht und unbeschwert. Alles schien seine Ordnung zu haben und so umgab mich auch die Umwelt angenehm still und friedlich. Keine Hektik oder laute Gespräche. Es war, als wäre alles nur für mich ausgelegt und wie wusste ich es zu schätzen. Kurz darauf schloss ich die Tür der Baderäume hinter mir und genoss den Duft von Seife, der mir entgegen zog.

Im Nebenraum rauschte eine Dusche aber selbst dieses Geräusch war angenehm. Meine Lippen pfiffen ein leises Lied, als ich die Zahnpasta auf die Zahnbürste drückte. Bei dieser Erschöpfung stand der verdienten Ruhe nichts im Wege. Nicht einmal aufreibende Gedankengänge.

Worüber sollte ich auch grübeln?

Es war alles gut und mein Pfeifen verstummte erst, als ich die Zahnbürste im Mund versenkte und mich auf das Waschbecken stemmte. Im Nebenraum verstummte die Dusche und ich richtete mich auf, fuhr mir durch das Haar und begann anschließend meine Uniform aufzuknöpfen. Bequem putzte ich weiter, streifte mir die Uniform von den Schultern und warf sie hinter mich auf einen Stuhl. Nicht sehr gekonnt und ich verdrehte die Augen, als sie von der Lehne rutschte und zu Boden ging.

Schwerfällig hob ich sie auf und kaute auf der Zahnbürste. Das leise Klimpern einer Gürtelschnalle drang an meine Ohren und irgendwie gefiel mir der Gedanke, hier und jetzt auf Lavi zu treffen, gar nicht.

Mir war nicht danach, viel zu reden oder von Vergangenem zu berichten.

Ich kehrte zum Waschbecken zurück, neigte mich hinab und spuckte aus. Rauschend erhob sich kurz darauf der Wasserhahn und in aller Ruhe begann ich meinen Mund und mein Gesicht zu waschen. Es tat gut und nur beiläufig nahm ich die Bewegungen neben mir wahr.

Jemand trat aus den Duschen, ich streifte mir das Wasser aus den Augen und ein schmerzhafter Stich in meiner Herzgegend machte mich darauf aufmerksam, dass dieser Jemand mir noch unangenehmer war als es Lavi je sein könnte.

Es war Kanda, der an mir vorbeizog.

Das Handtuch um den Hals, schickte er mir einen nur zu erahnenden Blick und wie konzentriert wusch ich mich weiter, als er die Tür erreichte. Es war der falsche Moment, um auf die vergangene Mission zu sprechen zu kommen. Auch der falsche Moment für weitere Vorwürfe oder scharfe Worte.

Viel lieber ertrug ich dieses kurze, kalte Schweigen und hoffte, dass er keine Zeit mit mir vergeudete.

Verstohlen und unscheinbar sah ich ihm im Spiegel nach.

Geh weiter, dachte ich mir indessen. Geh einfach.

Ich verfolgte genau, wie sich seine Hand zur Klinke hob und blind tastete ich neben mir nach einem Handtuch, als er sie hinab drängte und plötzlich inne hielt. Ich hoffte, er hätte etwas bei den Duschen vergessen, doch er stand nur dort und angespannt begann ich mich mit dem Handtuch zu beschäftigen.

Das meinte er doch nicht ernst.

Ich rieb mir das Gesicht, trocknete es ab und als ich erneut in den Spiegel sah, blickte ich in seine Augen.

Er hatte sich zu mir gewandt, die Hand noch immer auf der Klinke und wie eisig war der Schauer, der mich unter der Last seiner scharfen Fixierung durchlief.

„Es gibt eine Unklarheit“, erhob sich plötzlich seine Stimme, „bezüglich der Mission in den Niederlanden.“

Fast entglitt meinen Händen das Handtuch.

Niemals hätte ich es erwartet. Niemals gedacht, dass er mich direkt darauf ansprach!

Was ich mit ihm tat, lag als sichere Gegebenheit bei meinen Akten. Wie überlegen hatte ich mich bislang gefühlt, während er im Dunkeln tappte.

Mit einem Mal war ich angespannt und mir jedes Fehlers, der vertuscht werden musste, bewusst.

Noch immer lasteten seine Augen auf mir und es entging mir nicht, wie sich seine Hand von der Klinke löste. Er hatte es nicht eilig und wie schwer fiel es mir, nur mit den Schultern zu zucken, während das Herz in meiner Brust raste.

„Welche Unklarheit?“ Unnötig hantierte ich noch immer mit dem Handtuch und fuhr über meine Stirn. Und wie wünschte ich mir, ich könnte mich verstecken unter diesem kleinen Stück Stoff.

Dieses zuvor noch nie dagewesene, direkte Gespräch traf mich schmerzhaft, dabei hätte ich eine solche Gelegenheit in jedem anderen Fall endlos begrüßt. Doch das Fundament war gefährlich und seine Absichten unergründlich. Meine Hände zitterten und seine Augen zersetzten mich wie Säure.

„Ich gebe dir jede Auskunft, zu der ich fähig bin“, sagte ich, da er nicht sofort antwortete und wie alarmiert verfolgte ich im Spiegel, wie er zum Leben erwachte. Er löste sich von der Tür, näherte sich mir und unscheinbar drängten sich meine Finger tiefer in das Handtuch.

Nichts war verloren, versuchte ich mir einzureden. Das Lügen lag mir und bisher hatten meine Worte noch jeden überzeugt. Er trat näher, noch näher, und dann versagte mein Atem.

„Du erlaubst.“

Wo war unsere alltägliche Distanz, als er sich zu mir neigte, mir so nahe kam, wie ich es in bewusstem Zustand nie ertragen hätte. Ich war unvorbereitet und blieb meiner Starre treu, als sein Haar meine Wange streifte und seine Nase beinahe die Haut meines Halses. Er zerschmetterte jede schützende Mauer, drang ein in meinen Kern und wie dumpf spürte ich das Schlagen meines Herzens, als er tief einatmete. Ein langer Atemzug erhob sich rauschend in der völligen Stille und ich blinzelte nicht, noch immer auf das Spiegelbild starrend.

Es war, als zeige es ein Bild meiner Fantasie. Wie eine Leinwand, die Sehnsüchte wiedergab.

Kanda war mir so nahe, dass seine Existenz meine eigene zu zermalmen schien. Ich spürte seine Wärme, doch nichts an dieser Situation war gut.

Er nahm meinen Geruch in sich auf und suchte ihn an der richtigen Stelle. Nur einmal roch er, tief und konzentriert und ich würgte ein trockenes Schlucken hinab, als er sich daraufhin schon wieder von mir löste. Er richtete sich auf, wandte sich ab und nur flüchtig meinte ich einen schwer zu definierenden Ausdruck auf seinen Lippen zu erkennen, bevor sich unsere Blicke im Spiegel begegneten.

Nur ein Augenblick. So kurz, dass er der Einbildung entspringen könnte und ich regte mich auch weiterhin nicht. Als er sich abwandte und ging, sich die Tür öffnete und schloss und als er nicht mehr zu sehen war, stand ich noch immer nur dort und starrte in den Spiegel.

Ich meinte, ein Zucken in meinem Gesicht zu spüren, doch selbst meine Züge waren erstarrt.

Stumm öffnete sich mein Mund. Ich fühlte mich, als würde ich fallen, spürte diesen Sturz tief in meinem Inneren und nur stockend gelang es mir, den Mund zu schließen.

Nein.

Ein Zittern durchfuhr meine Hände, bevor ich sie sinken ließ und nun wirklich sterbensbleich vor Grauen wandte ich den Kopf und starrte auf die geschlossene Tür.

Nein.

Meine Knie schienen weich zu werden vor Bestürzung und doch blieb ich stehen und sehnte mich fieberhaft danach, den Moment zurück zu spulen und ihm jede Nähe zu verbieten. Es wäre nicht einmal verdächtig gewesen, wäre ich vor ihm zurückgewichen, doch umso mehr, dass ich es eben nicht tat.

Wie eine gellende Endlosschleife raste diese Tatsache in meinem Kopf.

Er wusste es.

Wie hatte ich damit gerungen, mich unter Kontrolle zu halten, um ihm überlegt zu antworten!

Jeder Frage wäre ich gewachsen gewesen, reich an Fantasie und Verlogenheit, doch mein Geruch blieb ehrlich. Damals war er zu ihm gedrungen. Inmitten dieses ausgebrannten Hauses hatte er ihn in sich aufgenommen und nun erneut gesucht, um sich nicht auf meine Worte verlassen zu müssen.

Er wusste es.

Meinen Körper zog es zur Seite, strauchelnd lehnte ich mich gegen das Waschbecken.

Was für ein widerliches, schweres Gefühl, dass ich meines Vergehens überführt wurde.

Was täte er mit mir, sobald er die Schwere dieser Tatsache realisierte?

Was wären verächtliche Worte im Gegensatz zu dem, was mich erwartete?

Wieder starrte ich zu dieser Tür.

Kam er zurück?

Nein, ich blieb alleine und fühlte mich dabei so nackt, wie ich es ohne Kleidung nicht sein könnte.

Er wusste von meinem Interesse, meiner Begierde und Gnadenlosigkeit!

Und das Training!

Ein Schrecken jagte den anderen. Ich konnte die Tragweite dieses Fehlers kaum realisieren.

Konnte er es sich jetzt erklären, dass ich nur Nähe suchte?

Dumpf trafen meine Ellbogen auf das Waschbecken und binnen der nächsten Momente schüttelte ich immerzu den Kopf. Was erwartete mich nur in den nächsten Tagen?

Mit ihm auf Mission zu gehen, wie hatte ich bisher danach gelechzt und nun ähnelte die Möglichkeit nur noch einem blanken Albtraum. So erinnerte ich mich auch an mein Handeln während der letzten Mission. An mein stures Beschützen und meinen Widerstand entgegen all seiner wuterfüllten Worte.

Nun wusste er, dass ich weitaus mehr verteidigt hatte, als einen Kameraden.
 

-tbc-

23

Noch nie hatte das Herz so dumpf und schwer in meiner Brust geschlagen, als ich mich in mein Zimmer zurück schlich und mich dabei wie die Beute fühlte, die vor ihrem ganz persönlichen Raubtier floh.

Die Augen stets in der Umgebung, jede Ecke mit Vorsicht genießend. Ich wurde paranoid.

Die letzten Schritte zu meinem Ziel tat ich rasch und als ich die Tür hinter mir schloss, erhob sich dieses erleichterte Stöhnen. Ich lehne mich gegen das Blech, bettete auch den Hinterkopf an diesem kalten Material und schloss die Augen.

Ich würde ihm nicht ewig entgehen können. Es war unmöglich, doch gleichsam wollte ich mich auch nicht stellen.

Niemand tat so etwas mit ihm. Niemand, und ich stellte gewiss keine Ausnahme dar.

Ein letztes Mal lauschte ich in den Flur, bevor ich mich auf mein Bett zu bewegte und mich ächzend neben Tim fallen ließ. Ich vergrub das Gesicht im Kissen, durchfuhr meinen Schopf.

„Du hast ja keine Ahnung“, nuschelte ich Tim durch die Federn zu und raufte mir das Haar. „Du hast ja keine Ahnung, was ich mir für ein Problem gebastelt habe.“

Natürlich wusste er es nicht. Unbeteiligt schlug er mit den Flügeln.

Kanda wusste alles und ich konnte ihn beileibe nicht einschätzen, um zu wissen, was er jetzt zu tun gedachte. Die humorvollen Sticheleien würden wohl der Vergangenheit angehören und ihr Platz eingenommen von Blicken, die wirklich verletzten. Ganz zu schweigen von seinen Taten.

Eigentlich hatte ich es doch verdient. Jedes Fragment seiner Wut, seiner Rache.

Wie selbstsüchtig hatte ich mich an ihm bedient und mich mitreißen lassen von seiner Wehrlosigkeit.

War es nicht richtig, dafür zu bezahlen?

Ich setzte mich auf und starrte resigniert in die Finsternis der Nacht.

Nein.

Plötzlich erreichte mich dieser Impuls und ließ mich in allem innehalten.

Was dachte ich da nur?

War ich kurz davor, mich selbst zu verraten?

Sollte ich mir nicht lieber sagen, dass sich jede Berührung gelohnt hatte und dass ich es wiederholen würde, sobald sich mir die Gelegenheit bot? Ich hatte dazu zu stehen. Vermutlich ging es nicht anders, wenn man die Stärke jener Gefühle einbezog. Sollte ich nicht eher jeden Schlag, jede Beleidigung über mich ergehen lassen und mich dabei an jene Momente zurückerinnern? Mir sagen, dass sie jede Rache wert waren?

Die Höhe der berauschenden Gefühle könnte er mir ohnehin nie in negativen Gefühlen zurückzahlen.

So immense finstere Kräfte existieren einfach nicht.

Ich nickte in mich hinein.

Worum sorgte ich mich eigentlich?

Dann beleidigte und schlug er mich eben und schadete mir auf noch ganz andere Weise.

Ich hatte es verdient. Nur Reue sollte er nicht erwarten, denn ich kannte keine. Nicht in diesem Fall.

Eher noch würde ich ihm davon erzählen, damit er härter zuschlug. Solange er es brauchte, um sich besser zu fühlen, während vor meinem geistigen Auge alles Revue passierte und ich innerlich lächelte.

Was konnte er mir schon anhaben?

Schläge erhielt ich oft, auch verspottet wurde ich und nichts davon würde dazu führen, dass ich ihm seine Schönheit und Herrlichkeit aberkannte. Nichts.

Nur er hatte es einzusehen. Ich tat es längst. Er war am Zug.
 

Ich schlief kaum, obgleich mein Körper mir signalisierte, dass es eine gute Wahl wäre. Vermutlich waren es nur wenige Stunden, denn der Sonnenaufgang kam rasch. Als ich auf dem Rücken lag und mit einem Mal an die Decke meines Zimmers starrte, da wurde sie bereits leicht erhellt und das Licht blendete mich, als ich den Kopf zum Fenster drehte.

Was hinter ihm lag, war abermals dieser graue, kontrastlose Himmel. Irgendwie kam alles zusammen und auch die Ereignisse des vergangenen Abends hatten mein Bewusstsein nicht verlassen.

Es gab nur wenige Tage, an denen ich liegen bleiben wollte. Nicht nur dem Fenster, auch dem ganzen Leben, der ganzen Welt wollte ich den Rücken kehren, denn mein Mut hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt etwas verlassen. Tim saß am Kopfende und schien etwas zu erwarten.

Vielleicht dass ich aufstand und der Tag begann?

Murrend zog ich die Decke über meinen Kopf.

Würde es doch ewig Nacht bleiben.

Warum war dieser Tag so schnell gekommen? Hatten sich selbst die Zeiten gegen mich verschworen?

Plötzlich wechselte das Knurren meines Magens die Stille ab. Es erhob sich so intensiv und laut, dass ich sofort meinen Hunger wahrnahm. Wie jeden Morgen, nur war es mir noch nie so schwer gefallen, mich auf den Weg zum Speiseraum zu machen.

Mit einem Mal erwachte ich zum Leben, schlug die Decke zur Seite und richtete mich auf. Ich kapitulierte, denn ich hatte Hunger und eines Tages brachte mich dieser Appetit noch ins Grab.

Ich schlüpfte in ein frisches Hemd und hielt nach meinen Schlappen Ausschau.

Letztendlich fand ich sie unter meinem Bett und als ich hineinschlüpfte, da kam mir ein Gedanke.

Die Schuhe waren nicht zum Wegrennen geeignet.

Ich grinste, als ich mein Zimmer verließ und schüttelte den Kopf.

Ich hastete nicht, trödelte nicht, versuchte mich normal zu bewegen und so als würde ich nichts befürchten, als wäre ich rein und aufrichtig und nicht dazu bestimmt, das Ziel von Rache zu werden.

So trat ich kurz darauf in den Speiseraum und machte mich auf den Weg zu Jerry.

„Allen?“ Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken und als ich mich von der Tür losriss, sah ich Marie dort sitzen. Seine Hand hatte sich gehoben und gut versteckt erspähte ich auch Miranda hinter ihm.

Gemütlich saßen sie vor einem mit Liebe gedeckten Tisch und frühstückten.

„Guten Morgen.“

„Setz dich doch zu uns“, lud mich Marie ein und nickend wandte ich mich ab und ließ die letzte Distanz zum Tresen hinter mir.

Marie, ging es mir dabei durch den Kopf. Er erlebte, was zwischen Kanda und mir geschah.

Kurz darauf gesellte ich mich mit meinem Tablett zu ihnen und ließ mich auf der gegenüberliegenden Bank nieder. Marie genoss seinen Fleischsalat, Miranda jedoch wurde darauf aufmerksam und als ich aufblickte, starrte sie mich an.

„Belastet dich etwas?“, erkundigte sie sich sofort und ich bemerkte die Rühreier auf ihrem Tablett. Offenbar lenkte sich ihr Appetit heute in diese Richtung und erklärte die Tatsache, weshalb es keine Eier mehr gab.

„Hm?“ Ich riss mich los. „Was hast du gesagt?“

„Oje.“ Sie seufzte. „Hast du mit jemandem Ärger?“

Was für eine Frage. Mit einem ganz Bestimmten hatte ich doch andauernd Ärger.

„Nein“, log ich und zuckte mit den Schultern. „Alles bestens.“

„Wenn du das sagst.“ Nachdenklich begann sie ihre Rühreier zu zerschneiden. Ich verfolgte es akribisch und plötzlich richtete sie sich auf und starrte mich an. „Wenn mich etwas durcheinanderbringt, dann nehme ich eine Handvoll Schnee und schmiere ihn mir ins Gesicht!“

Ich runzelte die Stirn. Auch Marie hielt kurz inne, doch sie war sich sicher, bis sie meine Mimik bemerkte.

„Was?“, keuchte sie. „Das hilft wirklich.“

„Und was machst du im Sommer?“, erkundigte sich Marie und Kopfschüttelnd begann ich den Milchreis zu löffeln. Die beiden hatten ja keine Ahnung. Meine Probleme ließen sich nicht lösen durch eine Handvoll Schnee.

„Im Sommer kaufe ich mir ein Eis“, antwortete Miranda.

„Und das“, nahm mir Marie meine Worte ab, „schmierst du dir dann auch...“

„Nein.“ Miranda lachte. „Das esse ich.“

Vergnügt genoss sie ihre Rühreier und während Marie lächelte, stemmte ich den Ellbogen auf den Tisch und die Wange in die Handfläche.

„Allen?“

„Hm?“ Ich blickte auf.

Es war Marie, der sich etwas zu mir neigte. Und er räusperte sich, was wohl das Zeichen dafür war, dass etwas Wichtiges folgte.

„Es tut mir Leid, wenn ich dich auf das anspreche, was zwischen Kanda und dir vorgefallen ist.“

Das konnte es auch.

„Ich kenne ihn schon sehr lange“, fuhr Marie fort. „Und er akzeptierte es noch nie, dass andere sich für ihn opfern. Er trägt die Verantwortung gern selbst.“

Ich richtete mich auf. Die Hand glitt von meiner Wange und während Marie flüchtig lächelte, ließ Miranda es sich unbeteiligt schmecken.

Es war unerwartet, doch diese Worte erreichten mich wirklich.

Marie nickte langsam und andächtig. „Er hat schon viel erlebt und die Last auf seinen Schultern ist keine geringe. Den Tod eines Kameraden kann er sich nicht auch noch aufbürden.“

Wie versteinert saß ich dort, als er sich wieder um seinen Salat kümmerte.

Während die beiden weiteraßen, hatte ich meine Mahlzeit völlig vergessen. Ich rieb mir den Mund, verengte die Augen und starrte zur Seite.

Natürlich. Kanda war ein komplizierter Mensch.

Wie könnte eines seiner Verhaltensmuster genauso sein wie es erschien?

Ich wusste doch, wie komplex er war, wie diffizil. Das zu erblicken, was hinter seinen Worten lag, war so endlos schwierig, doch genau das, wodurch ich auf ihn aufmerksam wurde.

Hatte ich ihn nicht durchschaut? Wenn auch nur in wenigen Gebieten?

Wie hatte ich davon ausgehen können, dass er sich fanatisch an Befehle band und eine solche Wut entwickelte, wenn andere es nicht taten? Dieses Verhalten wäre albern und ihm nicht zuzutrauen, wenn ich im Nachhinein darüber grübelte. Hier eröffneten sich mir ein weiteres Mal neue Seiten an Kanda.

Seiten, die es mir nur schwerer machten.

Ächzend sank ich in mich zusammen und wurde irritiert angestarrt.

Ich drehte mich im Kreis. All diese Punkte schürten nur mein Verlangen und wie schlecht beraten war ich mit genau diesem. Diese Begierde war es doch, die mich in das Unglück stürzte, in welchem ich mich gerade befand.

Ich rieb mir das Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Allen.“ Miranda verzog leidvoll das Gesicht. „Das kann man sich ja nicht ansehen. Magst du meine Rühreier haben?“

„Oh.“ Sofort fuhr ich hin die Höhe. „Natürlich. Danke.“

Freudig nahm ich den Teller entgegen und wie erleichtert wirkte Miranda, als ich es mir schmecken ließ. Sie seufzte und durch diese wunderbare Ablenkung blieb ich für kurze Zeit auch frei von jeglichen Sorgen. Auch in den Genuss des ruhigen Essens kam ich nicht mehr lange, denn plötzlich erhob sich ein Rauschen und dann erhob sich Tim von der Bank.

„Allen?“ Es war Komui. „Bist du so nett und in zehn Minuten in meinem Büro?“

Ich fuhr mir mit dem Handrücken über den Mund.

So schnell?

Das klang wichtig.

„Und bist du bitte nochmal nett und bringst Miranda mit, die wieder einmal ohne Golem unterwegs ist? Danke.“ Somit verstummte seine Stimme und kauend blickte ich zu der Frau, die mit einem Mal um einiges bleicher geworden war.

„Oh Gott.“ Sie schnappte nach Luft. „Ich wusste doch, dass ich etwas vergessen habe! Was mache ich nur?“

Ich juckte mich im Schopf. „Na ja, du kommst dann einfach mit.“

„Wieso denke ich nie an das Ding?“ Sie rutschte in sich zusammen. „Ich werde mich nie daran gewöhnen!“

Beruhigend tätschelte Marie ihre Schulter und was mich anging, ich beeilte mich mit dem Essen.

War es eine Mission, auf die wir geschickt wurden?
 

„Eine Mission?“ Miranda sah erschrocken aus, als wir kurz darauf auf dem Weg zu Komui waren. „Aber ich bin erst vor zwei Stunden angekommen! Oh mein Gott!“ Sie raufte sich die Haare. „Ich hätte schlafen sollen anstatt zu essen! Mein Egoismus ist grenzenlos! Verzeiht mir!“

Die zwei Stunden hätten keinen großen Unterschied gemacht aber nun wunderte ich mich schon darüber. Miranda nach zwei Stunden auf eine neue Mission zu schicken, wäre schon recht gnadenlos von Komui.

Was mich anging, ich war bereit. Das war ich immer.

Bald darauf erreichten wir die Tür der Wissenschaftsabteilung und grüßten die fleißigen Arbeiter, von denen nur die Hälfte bei Bewusstsein war. River lag auf seinem Schreibtisch und Johnny war tief in seinen Stuhl gerutscht. Ob er auch schlief, konnte man durch die Brille nicht erkennen. Nur Rokujugo schwebte noch von einer Seite zur anderen.

Unsicher griff Miranda nach der Klinke, stieß ein Seufzen aus und betrat das Büro des Abteilungsleiters. Ich folgte ihr, spähte noch einmal zurück und hielt inne, als ich mich umwandte.

„Du willst Entschlossenheit?“ Mit verschränkten Armen stand Kanda vor Komuis Schreibtisch. „Ich rede nicht über so etwas. Da hast du sie.“

„Ach Mensch.“ Ächzend griff Komui nach seinem Kaffee und winkte uns näher.

Was mich anging, ich war zum Teil meiner alten Starre verfallen. Nur stockend trat ich ein und tastete hinter mir nach der Klinke.

Doch nicht etwa eine Mission zu dritt? Sie würde Kanda jede Gelegenheit bieten, die er brauchte, und Miranda könnte mich auch nicht retten.

„Es tut mir so leid!“ Sie war die erste, die den Schreibtisch erreichte. Flehend hob sie die Hände und nur kurz spähte Kanda zu ihr. „Nächstes Mal denke ich bestimmt an meinen Golem!“

Was Kandas Golems anging, der war anwesend und lachend winkte Komui ab.

„Allen hat dich doch gefunden. Alles bestens.“

In diesem Moment drehte sich Kanda um, erspähte mich und wie zufällig versuchte ich seinen Blick nicht zu erwidern. Wortlos hob ich die Hand, als ich bedacht neben Miranda stehenblieb. Es war ein besseres Gefühl, wenn sie zwischen uns stand aber wirklich sicher fühlte ich mich auch dadurch nicht.

„Sehr schön.“ Komui nahm noch einen Schluck und wie bitter lugte ich zu diesen schwarzen Mappen. „Ich habe Aufgaben für euch alle.“ Sein Zeigefinger richtete sich auf Miranda. „Du solltest vielleicht ein paar Stunden schlafen. Du bist ja gerade erst angekommen.“

„Sehr gerne.“ Wenigstens Miranda hatte Grund, erleichtert zu sein.

„Danach brauchen wir dich nämlich als Dolmetscher.“ Mit einer Kopfbewegung wies Komui auf einen riesigen Stapel aus Unterlagen. „Die haben wir von unseren deutschen Kollegen bekommen. Wird wohl ein paar Tage dauern.“

„Oh Gott, nein.“ Miranda verlor an Körperspannung. Komui winkte ihr heiter und dann schleppte sie sich zur Tür zurück. So verschwand sie und mit ihr die Mauer zwischen Kanda und mir.

„Was euch angeht“, fuhr Komui da fort. „Ich habe eine wichtige Aufgabe. Ein kleiner Teil der Unterlagen von der Wissenschaftsabteilung muss ins Lager und zu den Akten. Ihr wisst schon, der Lagerraum in der 11ten Etage. Dazu brauchen wir ein paar starke Hände.“

„Was?“ Ich schnitt eine gründliche Grimasse.

„Das ist ein Dienst für den Orden“, regte sich Komui gekünstelt auf. „Und ihr gehört ihm doch an. Auch die kleinen Aufgaben sollten euch mit Stolz erfüllen. Das gehört zum großen Ganzen, versteht ihr?“

Wie endlos verdammte ich das Schicksal für seine Gnadenlosigkeit, in der es Kanda und mir einen gemeinsamen Tag schenkte. Stunden und Stunden auf dem Weg in einen abgelegenen Lagerraum, der Kanda jede Möglichkeit bot, etwas mit mir zu regeln.

„Also dann.“ Komui klatschte in die Hände. „Hopp hopp, seid fleißig. River wird euch anleiten.“

Der, der gerade schlief?

Resigniert ergab ich mich dem Befehl, trat zu River und begann an dem schlafenden Mann zu rütteln. Er grunzte, regte sich und an seinen müden Augen, die sich kurz darauf auf mich richteten, war abzulesen, dass er keine Ahnung hatte, weshalb ich ihn störte.

„Mm?“, murrte er nur.

„Die Akten.“

„Welche Akten?“ Nur lahm richtete er sich vom Schreibtisch auf und juckte sich im Haar. „Weiß nicht, wovon du sprichst.“ In seinem Kopf arbeitete es und schweigend genoss ich die Momente, bis ich sein Gesicht erhellte. „Ach so!“ Mit einem Mal wurde er wach und wie bereute ich es, dass es ihm doch noch einfiel. Ich hätte fliehen können. Fast wäre ich sicher gewesen, doch folgte River kurz darauf, Kandas Schritte im Rücken und wie unauffällig stahl ich mich näher an River heran.

„Kriegen wir noch Unterstützung?“

„Wie meinst du das?“ Er kapierte es nicht und ich erklärte es gerne.

„Wir sind nur zu zweit, verstehst du? Mehr Hände, weniger vergeudete Zeit. Stell dir vor, in der Welt geschieht plötzlich etwas und wir müssen sofort los. Dann liegen die Akten da.“

„Keine Angst.“ Lachend tätschelte River meine Schulter. „Soviel ist es gar nicht.“

Er blieb stehen, wies mit einem Nicken zur Seite und wie ungläubig starrte ich auf dieses Regal.

Es war hoch und breit und schien fast unter der Last der Akten zusammenzubrechen.

„Das alles?“, ächzte ich und wie bitter spähte ich zu River, als er seufzend die Arme verschränkte. „Was ist ‚viel‘ in deiner Welt, wenn das hier ‚wenig‘ ist? Hast du mir zugehört? Ich hatte Argumente.“

„Was denn? Ihr beiden habt doch sowieso nichts zu tun und die letzten Tage waren ruhig. Heute wird wohl nichts mehr passieren in der Welt.“

Dieser Wink des Schicksals drückte mich nieder und letzten Endes sank ich in mich zusammen und rieb mir das Gesicht. River verabschiedete sich.

„Seid fleißig.“

„Du auch“, antwortete ich aber scheinbar hörte er es nicht, denn sein Pfeifen erhob sich gar nicht weit entfernt. So wurden wir stehen gelassen und während ich abermals an meinen Augen zugange war, erhoben sich Kandas Schritte neben mir.

Er trat an das Regal heran und zwischen den Fingern lugte ich zu ihm.

Er war seltsam gefügig, fiel mir auf. Gerade von ihm erwartete man doch den meisten Widerstand, wenn er mit solchen niederen Angelegenheiten konfrontiert wurde. Hätte er es stur und simpel abgelehnt oder wäre er einfach gegangen, dieses Verhalten wäre kompatibel gewesen mit seinem Charakter, doch hier war er.

Zermürbt schüttelte ich den Kopf.

Was mich erwartete war eisiges Schweigen und das auch nur im besten Fall. Wäre jene Sache in jenem ausgebrannten Haus nicht passiert, sicher wären wir wohl längst dabei, uns zu foppen. Vermutlich hätten wir Spaß aber jetzt war es still.

Ich atmete tief durch und verfolgte, wie er eine Leiter näher zog. Sie bewegte sich ratternd zur Seite und sofort trat ich zurück, als ihre Bewegung vor mir gestoppt wurde. Kanda drängte mich zurück und ich fügte mich und stand unentschlossen dort, während er die Arbeit begann.

Vor mir stieg er hinauf und kaum versah ich mich, da war er oben und tastete nach den ersten Ordnern. Ich beobachtete es, doch nur kurz, bevor ich mir der Art meines Blickes bewusst wurde.

Bewegen. Ich musste mich bewegen, doch selbst unter diesen Umständen war er so überaus verlockend.

Wie endlos hätte ich es genossen, ihn während dieser Tätigkeiten zu studieren und mich daran zu ergötzen, doch ich durfte es nicht, denn er wusste von meinem Verlangen und jeder Blick wäre ein zu offenkundiger. Er würde es spüren und ganz gewiss wäre dies nicht die beste Art, seine Wut ob dieser Sache zu besänftigen.

Ich biss mir auf die Unterlippe, trat an das Regal und begann in den unteren Fächern.

Wäre ich eher im Lagerraum als er, so würde es bei einem Treffen im Treppenhaus bleiben.

Mit einem Mal motiviert nahm ich so zwei Akten an mich, drei und noch eine vierte und machte mich auf den Weg. Ich ging zügig und noch zügiger, als ich das Treppenhaus erreichte. Den Lagerraum zu finden, war keine Hürde, ganz im Gegensatz zu der Tür, die so furchtbar klemmte, dass ich mich mit der Schulter dagegen zu rammen hatte, bevor sie sich regte.

Ein wundervoller Tag, dachte ich mir, als in den ersten Raum trat. Dieser Lagerkomplex bestand nur aus zweien und im Hinteren war noch genug Platz. Die Hälfte der Regale war leer und schematisch wurde ich meine Akten gleich neben dem Durchgang los. Wenn man hier auf dieser Seite begann, so dachte ich, würde man die Ordnung der Akten nicht durcheinanderbringen, vorausgesetzt oben in der Wissenschaftsabteilung gab es so etwas.

Ich schob die Akten in das Regal, trat zurück und genoss flüchtig die Sicherheit und Ruhe, doch Kanda war mir auf den Fersen und so erwachte ich sofort zu altem Leben. Kaum trat ich in den ersten Raum, betrat auch er ihn und nur kurz trafen sich unsere Augen, bevor ich mich an ihm vorbei schob.

Dieser Blick. Ich sinnierte über ihn, als ich mich auf den Rückweg machte.

Was hatte er beinhaltet? Welche Emotionen ausgedrückt?

Ich runzelte die Stirn und blickte zurück.

Die Intensität seiner Fixierung hatte an Kraft verloren und so meinte ich, er hätte mich soeben einfach nur angesehen, ohne den Anschein zu erwecken, in der Abgeschiedenheit dieser Räume etwas klären zu wollen. Als wie irritierend empfand ich diesen Fakt, doch gleichzeitig stellte ich mir die Frage, ob ich mir Dinge dieser Art nicht auch gerne nur einbildete. Gerade in Momenten, in denen ich mir wünschte, es wäre wirklich so.
 

Es war das Treppenhaus, in dem wir uns wieder begegneten. Wieder hörte ich seine Schritte, wieder näherten wir einander und wieder hätte er mich nur packen müssen. Es hätte ihm nicht viel abverlangt aber er wirkte so entspannt, dass mich dieser Fakt während jeden Schrittes von neuem beschäftigte.

Legte er es darauf an, dass ich mich in Sicherheit wiegte, um mir meine Dummheit in einem unerwarteten Moment vor Augen zu führen?

Ich verstand es nicht. Sein Verhalten oder das scheinbare Verblassen seiner berechtigten Wut bis hin zu diesem Gebaren, als wäre nichts vorgefallen zwischen uns. Wie in einer parallelen Trugwelt bewegte ich mich, irritiert und im Grunde doch erleichtert über jede ausbleibende Handgreiflichkeit. Ich tat vermutlich gut daran, mich auf sein Spiel einzulassen, mich in der Sicherheit zu wiegen, die er mir vermittelte und nichts zu erwarten, weil es höchstwahrscheinlich nichts zu erwarten gab.

Traf ich etwa auf Vergebung?

Nein.

Ächzend wurde ich die Akten los und wie überrascht konnte ich mich nennen, als ich bemerkte, dass er sich meinem Schema angepasst hatte. Seine Akten standen neben meinen und nachdenklich trat ich zurück und ließ das Bild auf mich wirken.

Hatte er seine Akten nicht aus dem höchsten Fach des Regals?

Ich streckte die Hand aus, berührte beinahe seine Akten und hielt doch inne.

Musste ich ihm einen Grund geben, sich an die alte Wut zu erinnern?

Ich schluckte und zog die Hand zurück. Seine Akten woanders hinzustellen wagte ich nicht. Ich rückte nur an ihnen, schob meine dazu und wie plötzlich nahm ich neben mir eine Bewegung wahr. Unerwartet früh erreichte Kanda den Lagerraum. Es war eine hölzerne Kiste, die er durch den Türrahmen trug und zum erneuten Mal wandten wir uns voneinander ab. Als er sich in meinem Rücken bewegte, schob ich meine Akten doch um ein Stück zur Seite. Ein dumpfes Geräusch zeugte davon, dass er die Kiste abstellte und wie versucht war ich, mich umzudrehen.

Als wüsste meine Hand von meinen Absichten, schloss sie sich um das stählerne Gestell des Regals und bot mir einen Punkt, an den ich mich klammern konnte. Nur langsam löste ich mich kurz darauf und kehrte zum Durchgang zurück.

Es juckte. Das tat es wirklich. Es rief mich, zog mich hinein in diesen Sog, in welchem ich nicht umhin kam, doch zu ihm zu spähen, bevor ich die Wand zwischen uns brachte. Er kehrte mir den Rücken, hockte vor der Kiste und nicht zuletzt fiel mir sein schwarzes Haar auf, das beinahe bis zur blanken Haut reichte, die das Hemd an seinem Steiß freigab. Entrüstet von diesem Anblick schloss ich kurz die Augen.

Es konnte ihm nicht aufgefallen sein. Nicht dieser Bruchteil meiner Aufmerksamkeit.

Ich bemerkte, wie ich mich allmählich wieder hinauswagte aus meinem schützenden Panzer. Fast übermütig war ich soeben geworden und kaum umgab mich wieder die kühle Luft des Treppenhauses, da wollte ich mich für diesen Blick ohrfeigen.

Alles, was ich sah, gehörte mir nicht und würde mir niemals gehören.

Was tat ich anderes, als mir Schmerzen zuzufügen?

Ich musste verrückt geworden sein.

‚Nicht noch einmal!’, ermahnte ich mich, als ich die nächsten Akten an mich nahm und umkehrte.

‚Nicht ein einziges Mal!’

An jeder Berührung würde ich mich versengen, unter jeder seiner Brisen hemmungslos erweichen.

Was für ein Genuss. Die verbotenen Früchte schmeckten immer am besten.

Aber ich verstand es oder glaubte es jedenfalls und nie hätte ich es ihm zugetraut, dass er so eine Rache an mir übte. Dass er mir mit falschem Wohlwollen all das offenbarte, was mir niemals gehören würde.

Dabei wirkte es so alltäglich, wie er sich später kurz mit seinem Haar befasste, seine Ärmel bis zu den Ellbogen streifte und seine Unterarme entblößte. Das filigrane Handgelenk, dieses rote Armband sowie seine gepflegten Hände. Es waren gewöhnliche Bewegungen, doch in diesen Tag versetzt, wirkten sie wie ein Schauspiel.

Er forderte mich heraus, stellte mich und meine Selbstdisziplin auf die Probe und wusste vermutlich nicht, dass ich bereits auf dem Zahnfleisch kroch. Es wurde schwieriger, mit jedem Mal und wie gnadenlos machte mich mein Kopf bald darauf aufmerksam, dass ich ihn gefügig machen könnte. Ich könnte ihn packen, fixieren und anschließend das tun, was mein Schicksal besiegelte.

Noch einmal würde er nicht so zurückhaltend reagieren. Der nächste Rückprall wäre wohl äußerst schmerzhaft und würde unseren Umgang miteinander für immer verändern. Wenn es nicht längst schon der Fall war.

Mein Atem. Ihn zu beruhigen fiel mir bald so endlos schwer.

Wie versteckt brach er hervor, wenn ich ihm begegnete. Wenn wir im Treppenhaus aneinander vorbeizogen und mich die Wärme seines Körpers erfasste. So vergänglich, so höhnisch, dass ich sie spürte und doch nicht von ihr profitierte.

Abwesend nahm ich die nächsten Akten an mich, klemmte sie unter meinen Arm und griff nach zwei weiteren. Meine Arme. Mir fiel diese Gänsehaut auf, die sich über sie zog wie über meinen gesamten Leib, der allein unter den Fantasien heiß und kalt erschauderte. Eine geringe und durchaus tückische Abhilfe.

Wie tobte ich mich innerlich aus, führte mir vor Augen, wie es wäre, ihn zu packen und dabei nicht an die Zukunft zu denken.

Ich stellte mir vor, wie leicht es wäre und wie sinnlos jedes Aufbegehren seinerseits.

Jedes Wort, jede Verwünschung sowie Androhung würden in meinen Ohren versiegen, noch bevor sie in mein Bewusstsein drangen, das fähig war, auf Fehler hinzudeuten. Wie oft verzogen sich meine Lippen zu einem hinterhältigen Schmunzeln, als ich nicht den Weg vor mir sah sondern die Bilder meiner Begierde.

Das Treppenhaus verblasste vor meinem geistigen Auge, meine Ohren kreierten dieses Keuchen mit Kandas Stimme und wie klammerte ich mich an die Akten, wenn ich mir vorstellte, wie es sich wohl anhörte, doch nichts davon würde in die Realität dringen.

Viel eher würde ich seine Strafe über mich ergehen lassen und so leiden, wie er es wollte. Ich würde mich quälen, während er sich wünschte, ich täte es noch elendiger.
 

Wieder betrat ich den hinteren Raum des Lagerkomplexes und wieder sah ich ihn dort kauern. Er hatte sich meinem Weg nicht angeschlossen, befasste sich mit dem Inhalt der Kiste, ohne mir Beachtung zu schenken. Natürlich spähte ich zu ihm, natürlich schadete ich mir weiterhin und begann allein dieses kleine Stück seines Steißes zu lieben.

Zum dritten Mal sah ich es, zum dritten Mal zog es mich in seinen Bann und wie beiläufig befeuchtete meine Zunge meine trockenen Lippen, als ich mich dem Regal zuwandte.

Ein leises Knirschen. Er kam auf die Beine und wie gepeinigt schloss ich die Augen, als er an mir vorbeizog und dieser Duft ein weiteres Mal zu mir drang. Wie ein verlockender Fetzen meiner Vorstellung. Als würde etwas aus meiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit straucheln und verfliegen, noch bevor ich danach greifen konnte. Neben mir trat er an das Regal und wie versteckt drifteten meine Pupillen zur Seite, als er sich hinauf streckte und seinem oberen Fach treu blieb.

Wieder regte sich mein Hals unter dem trockenen Schlucken. Ein Zittern erfasste meine Hände, bevor ich mich abermals abwandte und ging.

Ich rieb mir das Gesicht und wie entsetzt hörte ich kurz darauf diese Schritte hinter mir.

Nun ging er diesen Weg doch zum erneuten Mal?

Wie sehnte ich mich danach, seine Rolle einzunehmen und derjenige zu sein, der die Kehrseite des anderen vor sich sah. Wie würde ich mich austoben, wie wenig Zurückhaltung walten lassen, doch er hielt sich hinter mir. Langsam tastete ich nach meinen Kragen und lockerte ihn. Ich befürchtete, schmählich zu ersticken in der Rolle, in der ich ihm ausgeliefert war.

Wie befreiend war es, als wir uns wieder unter das Gemenge der Wissenschaftsabteilung mischten. Das Schweigen und die Stille waren weitaus erträglicher, wenn die Umwelt von Stimmengewirr erfüllt wurde. Worte umströmten uns, Gelächter und Stöhnen. Das Schlürfen, wenn einer der Wissenschaftler an seiner Kaffeetasse hing, das Rascheln der Unterlagen, die zur Hand genommen wurden und das Quietschen der Stühle.

Ich konzentrierte mich gerne auf diesen äußeren Tumult, blickte um mich und lenkte mich ab.

Rokujugo, River, selbst Johnny, der sich in letzter Zeit nicht viel geregt hatte. Er schien wirklich zu schlafen und in diese Gedanken vertieft, griff ich nach den nächsten Akten, zog an Kanda vorbei und ging jenen Weg zum erneuten Mal.

Er würde mir folgen, distanzierte sich nie weit genug von mir, um mich vergessen zu lassen, dass er hier war.

Und wieder nahm ich es auf mich. Seine Schritte und das Pochen meines Herzens erhoben sich annähernd schmerzhaft, als ich zurück in die beiden Zimmer trat und strauchelnd das Regal erreichte.

Ich musste mich beruhigen und abermals rang ich nach Atem, als ich die Akten verstaute und Kandas Bewegung hinter mir wahrnahm. Meine Finger klammerten sich um die Akten und mit einem Mal war ich bereit zur Kapitulation, senkte den Kopf und schloss die Augen.

Er konnte es ruhig sehen. Seinen Triumph, mein Resignieren sowie die Verkrampfung meines Körpers, der mich wahnsinnig werden ließ in dieser Lage. Mein Leib schien sich unter seiner Wärme zusammenzuziehen. Zögernd atmete meine Nase seinen Geruch und nur leicht öffnete ich die Augen und spähte zu ihm.

Verstohlen, unauffällig, und ich sah ihn so nahe neben mir stehen wie noch nie zuvor.

In meinem Hals bildete sich ein Druck, zuckend verhärtete sich mein Griff in die Akten und verbissen schloss ich die Augen erneut. Er sollte sich fernhalten, sollte verschwinden!

Ich presste die Lippen aufeinander und es brauchte nur eine annähernd unmerkliche Berührung, um mich in die Höhe fahren zu lassen. Sein Hemd streifte meine Schulter, als er sich beiläufig in meine Richtung neigte und wie erschreckend war die Leichtigkeit, mit der mir der Rest meiner Kontrolle entwich.

Die Macht über meine Hände, die sich abrupt von den Akten lösten und zur Seite schnellten. Sie bewegten sich blind, doch erreichten Kanda zielstrebig und wie unerbittlich und stark war der Griff, als ich seinen Arm zu fassen bekam. Mein Leib entwickelte ein Eigenleben, als wäre er meinen Gedanken weit voraus und meinem Willen überlegen. So handelte er ohne meine Erlaubnis und wie dröhnten die Regale, als ich Kanda herumzog und gegen sie rammte.

Er wehrte sich nicht, ließ mich herrschen und wie gnadenlos klammerte ich mich an ihn und ließ ihn die Kanten der Fächer im Rücken spüren. Laut brach mein Atem hervor, als ich ihn fixierte, Stück für Stück zu mir zurückfindend, realisierend, und doch nicht von ihm ablassend.

Wie benebelt erkundeten meine Augen seine reglose Gestalt und wie stechend drang die Tatsache zu mir, dass er sich tatsächlich in keiner Weise zur Wehr setzte. Er hatte sich unterworfen, sich formen lassen und wie verbittert stemmte ich mich gegen ihn, presste die Lippen aufeinander und erwiderte bald darauf seinen bizarren Blick.

Es war keine Wut, die mir entgegenschlug. Keine Bestürzung. Weshalb auch?

Er hatte doch gewusst, dass meine Selbstdisziplin niederzuringen war.

Es war still geworden. Ich keuchte in der völligen Lautlosigkeit des Raumes und klammerte mich an ihn.

Nun hatte ich ihn dort, wo er sich so oft in meiner Fantasie befand. Zwischen mir und dem Regal, doch es war anders als erwartet. In meiner Vorstellung hatte er sich zur Wehr gesetzt, doch hier stand er völlig regungslos. Den Kopf etwas zurückgeneigt und die leicht geöffneten Augen auf mich gerichtet.

Hinnehmend, doch gleichzeitig lauernd und analysierend, den Griff meiner Hände unbeachtet abtuend.

Und wie trieb es meinen Leib zu ihm!

Wie wurde er angezogen, wie stockend neigte er sich ihm entgegen, während ich mich gleichsam von ihm loszureißen versuchte! Ich durfte es nicht, ich wollte es dennoch und wie windete ich mich in meinem kläglichen inneren Kampf!

Seine Reglosigkeit war nicht viel mehr als bloßes Austesten!

Ich verzog das Gesicht, als sein warmer Atem betörend meine Haut streifte und mit einem Mal stieß ich mich zurück und fort von ihm. Ich siegte und widerstand, entfernte mich von ihm, doch nur ein Stück, da erwachte er zum Leben und tat es so rasch, dass ich seinen Bewegungen weder folgen noch beikommen konnte.

Kaum zog ich mich zurück, da bekam er mich zu fassen und nur ein abgehacktes Ächzen drang über meine Lippen, als er die Herrschaft an sich riss und unsere Positionen wechselte.

Ich verlor das Gleichgewicht, strauchelte und wie schmerzhaft traf ich kurz darauf selbst auf die Kanten des Regals. Er drängte mich gegen sie. Abrupt und gnadenlos, fixierte mich an der Stelle, der er mühelos entkommen war und wie kläglich blieb mein Versuch, mich zu befreien.

Es war die erste unüberlegte Reaktion auf diesen Schrecken. Meine Hände fuhren in die Höhe, doch kaum erreichten sie Kandas Leib, da zuckten sie schon zurück vor dieser Berührung.

Ich war wehrlos, trotz all meiner Kräfte und Fähigkeiten und regte mich nur stockend an den spitzen Kanten. Er reagierte so schnell, als hätte er diesen Zeitpunkt vorausgesehen.

Als wäre ich der einzige, der hier und jetzt überrascht wurde.

Fassungslos starrte ich in seine annähernd schwarzen Augen, die meinen verstörten Blick erwiderten.

Sie waren undurchdringlich wie eine finstere Mauer und noch immer konnte ich nicht einmal annähernd erahnen, was in ihm vor sich ging. Nur beiläufig spürte ich, wie sich seine Griffe an meinen Schultern lockerten und seine Hände meine Arme hinab glitten.

Seine Berührungen wirkten abgrundtief irreal, doch gleichzeitig so intensiv und präsent, dass sie mich das Fürchten lehrten. Keiner meiner Alpträume war jemals finster genug, mir ein solches Trugbild vorzusetzen. Dass es seine Hände waren, die sich streckten und mich erreichten. Dass nur eine dünne Schicht Stoff meine Haut von seiner trennte.

Was für ein vollendeter armseliger Idiot ich war.

Vor kurzem noch thronte ich auf meinem süßen Wissen und seiner Ahnungslosigkeit und nun lag ich im Dreck zu seinen Füßen. Nur eine Bewegung hatte mich zu Boden gerissen und ihn emporgehoben und wie erbärmlich spielte ich nun die Rolle der Hülle, als hilf- und wehrloser Teil der Situation.

„Verrate mir eines.“ Seine Stimme erreichte mich leise und doch zuckte ich merklich zusammen.

Wie abgrundtief sehnte ich mich danach und fürchtete mich gleichzeitig davor, dass er diese abstruse Situation auflöste, mich verhöhnte und beleidigte, da ich mich hier und jetzt so offensichtlich nach ihm verzehrte.

Was auch immer er mir gab, ich würde es ertragen. Eine andere Wahl blieb mir nicht.

Nur zitternd und dünn sickerte der Atem über meine Lippen, als er seine schürzte, den Blickkontakt gnadenlos aufrechterhaltend.

„Wie dumm müsste ich sein“, flüsterte er dann, „um auf dich hereinzufallen?“

Mein Mund war trocken und nur beiläufig spürte ich die Regung meines Halses, als ich ein Schlucken hinabwürgte.

„Wer in dieser Welt Verstand besitzt, bemerkt und sieht viel, aber zeigt es nicht. Auch sich selbst gibt man nicht preis.“ Er verengte die Augen und abermals versuchte ich mich kläglich darin, diese Regung zu deuten. Es war zu viel. Die Momente machten mich klein und ließen mich grenzenlos frieren. Ein Schauer durchlief meinen gesamten Körper, als ich eine untergründige Verschlagenheit in seiner Mimik auszumachen glaubte. „Gerade du dürftest das doch wissen.“

Meine Augen machten mich darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr blinzelte und konfus tat ich es.

Seine Finger hatten meine Handgelenke erreicht und wie haltlos verkeilte und zerwarf sich mein klarer Gedankenfluss bei den beiläufigen Berührungen.

‚Wie erbärmlich‘ war das einzige, das ich begriff.

Als er von meinen Alpträumen erfuhr, lüftete sich in meinen Augen dramatisch der Vorhang meiner Maskerade, dabei schien er für ihn niemals vorhanden. Offenbar war es mir nie gelungen, ihn zu täuschen, ohne dass ich es wusste. Er war und blieb der Sieger, während ich mich für undurchschaubar hielt und somit lächerlich machte.

Geweitet fanden meine Augen zu seinen Lippen, als sie sich verzogen, dezent und verborgen ein Grinsen andeutend. Der Puls schlug dumpf in meinen Ohren.

„Du hast für reichlich Abwechslung gesorgt aber ich denke, an diesem Punkt genügt es.“ Seine Hände lösten sich von mir, hoben sich und wie gnadenlos kerkerten mich seine Arme ein, als sie sich zu meinen Seiten gegen das Regal stemmten. Hörbar erhob sich gleichzeitig sein tiefes Durchatmen, unter dem sich seine Schultern hoben und senkten. „Wir sollten uns mal unterhalten.“
 

Vor kurzem spürte ich noch, wie meine Knie zitterten und meine Muskeln spannten. Vor kurzem fühlte ich mich noch wie eine Statue aus Stein, die sich nicht bewegen könnte, hätte sie es gewollt, doch mit jedem Moment zentrierte sich mein Bewusstsein mehr und mehr in dem Bild, das mir meine Augen boten.

Ich sah sein Gesicht, sah jede Feinheit, die ich so lange aus der Ferne bewunderte, nicht immer daran denkend, was die Distanz meinen Augen verwehrte. Auch in jenem ausgebrannten Haus besaß ich nicht die Ruhe, jeden seiner Züge zu würdigen. Zu gierig war ich, zu erpicht darauf, alles an mich zu reißen, was mir so lange verwehrt blieb.

Hier jedoch war er mir nah, hier blieben seine Augen auf mich gerichtet, so unausweichlich und energisch, dass ich bald glaubte, mich in seinen schwarzen Pupillen selbst zu erkennen. Sein Mund schwieg erst seit wenigen Augenblicken, doch selbst eine Sekunde schien sich abrupt zu strecken und machte das kurze Schweigen zu einer Ewigkeit, in der die Regungen meines Inneren nur schleppend zum Leben erwachten.

Während ich seinen Blick erwiderte, unbeugsam und nicht weniger ausdrücklich, da spürte ich, wie das schmerzhafte Rasen meines Herzens an Kraft verlor, wie Stärke und Ruhe in meine Knie floss und eine unpassend erscheinende Entspannung in meine Muskeln.

Als wäre dies der richtige Moment, sich fallen zu lassen, dabei war ich doch weit davon entfernt zu kapitulieren. Meine Hände, soeben noch zu verkrampften Fäusten geballt, lockerten sich. Unter einem tiefen Ausatmen sanken meine gestrafften Schultern und ein einziges Blinzeln schien die Ewigkeit enden zu lassen. Was sie zurückließ, war ein dumpfer, warmer Strom, der durch meine Glieder floss und das seltsame Gefühl, die Kontrolle zurückerlangt zu haben.

Als wären all meine Angst und Aufregung in das Bild vor meinen Augen geflossen und somit aus meiner Seele hinaus. Sein Gesicht zog mich in seinen Bann und erinnerte mich daran, wodurch dieses lächerliche Spiel seinen Anfang nahm.

„War es das wert?“ Seine Stimme ließ mich abermals blinzeln und löste mich um ein Stück von dem Bann, unter dem ich stand. Noch immer keine Regung in der Mimik, die ich so akribisch erforschte. „Wenn du dich der Welt so zum Fraß vorwirfst, wird sie zum Vorschein bringen, was du wirklich bist.“

„Was bin ich denn?“ Meine Stimme reagierte, bevor es meine Gedanken taten. Als hätten sich Puppenfäden um mich geschlossen, deren Führung ich mich unterwarf. Noch immer hielt ich seinem Blick stand, noch immer suchte ich mich in dieser bodenlosen Schwärze und wie seltsam war es, dass ich mich annähernd ebenbürtig fühlte, obwohl er mich vor wenigen Momenten zu Boden und in den Dreck zu seinen Füßen schmetterte.

„Dunkel“, hörte ich in dem Moment sein Flüstern und wie entfernt wirkte das Grinsen, das flüchtig an meinem Mundwinkel zog. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, der unter einem kapitulierenden Schmunzeln seine Maske fallen ließ, da man ihn hinter ihr erkannte.

Während ich Atem schöpfte, regten sich meine Finger. Sie wurden unruhig, als wäre es nicht die Luft dieser kleinen Kammer, die sie berühren wollten.

„Vermutlich bin ich das wirklich.“ Ich spürte die Trockenheit meiner Lippen, spürte auch die Bewegung meines Armes. Er hob sich, folgte der Hand, die sich stockend Kanda näherte und ich hinderte sie nicht daran. Meine Aufmerksamkeit blieb seinem Gesicht treu und suchte abermals nach dem verräterischen Zucken, dem ich mich zu beugen hätte. „Aber wenn ich dunkel bin, macht dich das nur noch heller.“

Immer weiter näherten sich meine Finger seinem Gesicht. Ich glaubte einzutauchen in seine warme Nähe und noch immer tat er nicht viel mehr, als mich anzusehen, ohne Regung oder Zurückweichen. Wie ein Raubtier taxierte er mich, doch gleichzeitig mit unpassend erscheinender Nachgiebigkeit.

Es hatte viele Gelegenheiten gegeben und er hatte nicht nur die erste verpasst.

Was blieb mir anderes übrig, als mich voranzudrängen, wenn er mir den Raum gab?

Erneut atmete ich tief ein, schluckte gegen die Gewaltigkeit der Worte, die in mir höher stiegen, erschauderte unter der Kälte, die flüchtig durch meinen Körper kroch und dann beugte ich mich ein weiteres Mal den Dingen, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Stockend setzten sich meine Fingerkuppen auf seine Wange. Ich hatte ihn tatsächlich erreicht und wie stimmlos brachte ich letztendlich über die Lippen, was in mir emporwucherte.

„Du bist überwältigend“, ächzte ich.

Ich glaubte, eine Regung in seiner Miene zu erkennen, war aber nicht genug bei Sinnen, um sie einzufangen und zu hinterfragen. Ich berührte ihn tatsächlich und hatte dafür noch weder Wort noch Schlag geerntet. Ich spürte die Wärme seines Körpers, als meine Finger höherdrifteten, über seine Wange, bis hin zum Ohr und als ich die Handfläche auf seiner Haut bettete, da verlor so viel an Wert.

Ob er bemerkte, wie ich erschauderte. Ob er sah, wie ungläubig ich blinzelte. Selbst die Tatsache, dass er sich immer noch nicht bewegte. All das spielte keine Rolle mehr. Ich befeuchtete meine trockenen Lippen mit der Zunge, ehrfurchtsvoll drangen meine Fingerkuppen in sein Haar.

„Ob es das wert war?“ Wieder spürte ich das Zucken an meinem Mund. „Ich zeige dir so viel meiner Dunkelheit, wie du erträgst. Du hast mich durchschaut? Ich verrate dir noch etwas.“ Langsam löste sich mein Rücken von den Kanten des Regals. Nur um ein kleines Stück, um sich ihn zu nähern. Meine Stimme senkte sich erneut zum Flüstern, während er seiner Starre treu blieb. „Wenn dein Widerstand zu halbherzig ist, kommst du nicht von mir los. Zeig mir meinen Platz oder ich werde warten, bis du mir wieder ausgeliefert bist.“

Seine Lippen bewegten sich. Es machte den Eindruck, als wolle er etwas sagen, doch letztendlich blieb er weiterhin still und flüchtig drifteten meine Augen zu seinen weißen Zähnen. Jedes Fragment, das er mir bot, machte es mir unmöglich, loszulassen, was ich nach so langer Zeit zu fassen bekam. Hier und jetzt würde ich ihn verschlingen, wenn er mir nicht endlich eine deutliche Schranke aufzeigte.

Ich tat einen Schritt, unauffällig und langsam, doch jeder Zentimeter, den ich überwand, war so unsagbar bedeutungsvoll. Absent driftete meine Hand über seine Wange und bedeckte sein Ohr, während die andere versteckt seinen Leib erreichte. Meine Finger berührten den Stoff des Hemdes und hielten inne, als ein warmer Atemzug mein Gesicht streifte.

Ein tiefer Atemzug, der als Kapitulation gewertet werden konnte, doch gleichzeitig auch als Ringen um Beherrschung. Als wären seine Hände kurz davor, sich zu Fäusten zu ballen. Und wie faszinierte mich diese Ungewissheit, das mir überwiegend unbekannte Gespinst seines Charakters, das mich tagtäglich überraschen konnte.

„Wehr dich“, drang das eigene Flüstern an meine Ohren.

Es klang wie eine Bitte, doch überwiegend wie eine Drohung, denn er wusste, was geschehen würde, würde er seiner Starre weiterhin treu bleiben. Nicht zuletzt las er es in meinen Augen, die seinen Stück für Stück näher kamen. Ich erkannte die feinen Strukturen seiner annähernd schwarzen Iris, doch ebenso ein unscheinbares Zucken seiner Mimik und der Traum schien zu zerreißen, der warme Strom zu erstarren, als er tatsächlich eine Hand vom Regal löste. Während sich meine Finger noch immer ehrfürchtig mit dem Stoff seines Hemdes zufrieden gaben, setzte sich seine Hand ohne jedes Zögern auf meine Brust und trieb mich zurück gegen die Kanten des Regals.

Langsam und sachte, jedoch unerbittlich vergrößerte sie den Raum zwischen uns. Meine Hand glitt von seiner Wange, während die andere unscheinbar den Stoff seines Hemdes zu fassen bekam. Sie blieb ihm nahe, klammerte sich an ihn und würde es auch weiterhin tun.

Ich hatte ihm gesagt, was geschehen würde, wenn sein Widerstand halbherzig war.

„Ich bin überwältigend?“, erhob sich endlich wieder seine Stimme und wenn auch unterschwellig, ich glaubte, einen Vorwurf in seinen Worten wahrzunehmen. Eine kühle Mauer schien sich zwischen uns zu erheben, als ich die Regung seiner Miene als leisen Zorn deutete. „Was weißt du schon von mir?“

„Du erkennst Masken, weil du selbst eine trägst“, antwortete ich. Er drängte mich zurück, doch meine Beherrschung blieb dieselbe. „Bei mir ist es nicht anders. Der Unterschied zwischen uns ist der, dass du etwas Wunderschönes versteckst.“ Absent begann ich mich mit seinem Hemd zu befassen, fühlte den Stoff, bewegte ihn zwischen den Fingern. „Letztendlich bist du wohl ein besserer Mensch als ich, denn es ist viel nobler, ein gutes Wesen zu verstecken, als ein schlechtes. Das ist der Grund. Man kann nicht verleugnen, was man gesehen hat. Und ich habe viel gesehen.“ Ich spürte ein unwillkürliches Lächeln auf meinen Lippen. „Einen Lügner zu täuschen ist schwer.“

Ich begriff es nicht - das Grinsen, das kurz an seinem Mundwinkel zog. Er schien amüsiert, doch gleichzeitig spürte ich in dieser Geste noch immer die kühle Präsenz des Zorns. Als würde es ihn nicht besänftigen, dass ich ihn als ‚nobel‘ bezeichnete. Vielleicht legte er wirklich so großen Wert darauf, nicht als guter Mensch gesehen zu werden.

„Wer sollte dich kennen, wenn nicht ich?“, fuhr ich fort. „Mein Charakter macht mich zu besten Mitwisser, denn ich bin viel zu habgierig, um dich zu verraten. Ich nehme, was du mir gibst und gebe es nicht wieder her. Es ist nicht rückgängig zu machen. Nichts von alledem. So oder so, du wirst mit meiner Zuneigung leben müssen.“

Ich sprach weiter, denn es gab so viel, das ich ihm sagen wollte und wieder hätte er eine deutliche Grenze zu ziehen, wenn er wollte, dass ich schwieg. Während ich tiefen Atem schöpfte, zog meine Hand an seinem Hemd, als wäre mein Körper selbst diese geringe Distanz leid.

„Wie hast du das geschafft?“, flossen weitere Gedanken aus mir. „Bei allem, was du erlebt hast.“ Unschlüssig suchte ich nach Worten. „Wie konntest du nur so rein bleiben?“

Wieder sah ich es, dieses seltsame, angedeutete Grinsen, unter dem er kurz den Kopf senkte. Doch sein Zorn war kaum noch spürbar, bildete ich mir ein.

„Jeder Mensch wird ein Heiliger, wenn er mit dir verglichen wird.“

„Lass uns so sein, wie wir sind.“ Zielstrebig fand meine Hand zurück zu seinem Gesicht, inniglich zu seiner Wange und mit einem Schritt hatte ich ihn erneut erreicht. Sein Rückzug war nur zu erahnen, so dezent lehnte er sich zurück. Nicht einmal annähernd weit genug, um meiner Nähe zu entkommen.

Inständig neigte ich mich zu ihm, brauchte nur zu flüstern. „Gib nach. Wenigstens mir gegenüber. Ich werde dir zeigen, wer ich bin. Es wird keinen Zwang oder Grenzen geben. Wie sieht Freiheit aus, wenn nicht so?“

Soeben noch auf den Boden gerichtet, drifteten seine Augen zurück zu mir. Nur ein Blinzeln unterbrach den Blickkontakt, als ich über seine Braue strich, über die Wange. Meine Hände nutzten jede Freiheit, die er mir durch seine Untätigkeit schenkte.

„Ich will nicht nur nehmen.“ Ich streckte mich ihm entgegen, die Hand auf seinem Hals, und wie gedankenlos schmiegte ich mich an ihn. Es schien richtig, der einzig mögliche Weg und ich schloss die Augen, Wange an Wange mit ihm und tief in seinem Kern voll Wärme und dem Duft, den ich so lange verehrte. Sein Haar streifte meine Nase, als ich tief durchatmete, die Hand auf seiner Haut regte, neu bettete.

Er hatte sich nicht bewegt, doch diese Tatsache existierte nur noch am Rande. Spätestens jetzt hätte er zurückweichen müssen. Es war, als wäre sie verstrichen – die letzte Gelegenheit, mich zu stoppen. Hier lehnte ich mich an ihn, ihn berührend wie das fragilste Glas, völlig ergeben.

„Ich gebe dir alles“, hauchte ich nahe an seinem Ohr, während meine andere Hand die Grenze des Stoffes hinter sich ließ. Sie bettete sich auf ihm, bettete sich auf seinen Rippen. „Gib nach.“

Ich hielt ihn fester, strich in seinen Nacken, in sein Haar, umarmte den Körper, der sich noch immer nicht bewegte. Wie eine Mauer, die sich nichts daraus machte, berührt zu werden. Trotzdem tat ich es, schloss den Arm um ihn und labte mich so endlos an diesen Augenblicken.

Wenn er eine Fähigkeit besaß, erwachten die Gedanken stockend in mir zum Leben, dann war es die, zu zeigen, was ihm nicht gefiel. Er tat es mit eindeutigen Gesten, eindeutigen Worten, so direkt, dass es mitunter taktlos wirkte und es wäre ihm nicht schwer gefallen, meine Hände von sich fernzuhalten. Seine Reaktion wäre verständlich gewesen, denn es lag ihm, Schranken zu ziehen. Doch hier zeigte er mir keine und wie endlos würde ich ihn festhalten, wie endlos daran arbeiten, ihn weicher zu machen, ihn zärtlich zu brechen, damit er mir Raum in seinem Leben gewährte.

All die Gesten, die er mir zukommen ließ, wollte ich erwidern. Ich wollte mich üben in seiner Raffinesse, die die Dinge anzugehen, wollte mehr erkennen als die wenigen Punkte seines Bildes, die sich vom Schwarz in ein tiefes Grau erhellten. Ich wollte ihn studieren wie die komplexeste Kunst, um den Umgang mit ihm zu perfektionieren und ihn soweit zu umsorgen, wie er es zuließ und brauchte.

„Gib nach“, formten meine Lippen erneut.

Mittlerweile umarmte ich ihn so fest, dass ich spürte, wie er atmete, wie sein Herz schlug, wie er zögerte.

Vielleicht kannte er sie nicht. Vielleicht hatte er sie verlernt – die Nähe und Wärme, in die ich ihn einschloss und er regte sich nicht, als würden sie ihn lähmen. Dabei war er nicht gefesselt oder wehrlos. Es stand ihm frei, alles zu tun, doch sein Herz schlug ruhig, langsam und regelmäßig. Selbst seine Muskeln waren entspannt. Ich fühlte kein Zucken, keine Regung, und ebenso wenig die seines Armes.

Mit geschlossenen Augen schmiegte ich mich an ihn, restlos berauscht durch die pure Nähe und ich blieb ihr treu, mich um keinen Deut von ihm entfernend. Alles war lautlos, alles war still und wie abrupt setzte sich alles in Bewegung, als ich eine Berührung auf dem Rücken spürte. Vorerst nur das Kitzeln des Stoffes, doch ein leichter Druck folgte und wie gefror der Atem in meiner Brust, als sich eine fremde Hand auf meinen Rücken bettete.

Nicht unentschlossen, nur langsam senkte sie sich hinab, keinen großen Druck aufbauend, jedoch spürbar und wie unwillkürlich verstärkte sich meine Umarmung. Es war das letzte fehlende Teil und endgültig schloss ich ihn in die Arme.

Wie faszinierend war allein diese dezente Berührung.

Faszinierend, da sie so widersprüchlich war wie der Rest seiner Persönlichkeit.

Kanda tat nichts, ohne die absolute Überzeugtheit, es zu tun. Ich sah ihn noch nie zögern, sein Handeln nie unterbrechend und auch diesmal tat er es nicht. Seine Hand blieb ihrem Platz treu. Kurz darauf spürte ich ihre Wärme, die durch den Stoff meines Hemdes drang und wie genüsslich reagierte mein Körper mit einem tiefen Durchatmen.

So harrten wir aus. Weitere Worte schienen nicht mehr nötig. Er gab mir mehr, als ich erwartet hatte und wie atmete ich seinen Geruch. Wie wünschte ich mir, er würde mir von jetzt an gehören und ein Teil von mir werden. Meine Finger verloren sich in einem leichten Kraulen, als hätten sie noch nie etwas anderes getan und die Welt schien so endlos weit entfernt, während wir nur dort standen.

Während er endlich nachgab.

Es machte wohl oft den Anschein, doch hier ging es nicht nur um mich. In gewissen Gebieten war ich gierig, doch der Kontakt zu ihm machte mich teilweise absolut selbstlos und pflanzte mir den Willen ein, ihm mindestens ebenso viel zurückzugeben, wie er mir gab. Auch ich würde mich fallen lassen. Ich hatte es ja schon längst, wenn er den Gegenpart darstellte.

Meine Alpträume waren ihm kein Geheimnis mehr. Meine finsteren Abgründe ebenso wenig. Ich würde den Vorhang lüften und daran arbeiten, dass er es ebenso tat.

Verschwommen drangen Geräusche in den engen, warmen Radius meines Bewusstseins. Ich glaubte, es waren Schritte und ich schenkte ihnen nicht viel Beachtung. Sie erhoben sich in der Nähe, wurden lauter und trübe blinzelte ich, als ich begriff, dass sie zu uns führten. Jemand drang ein in unseren Kern, jemand zerstörte die Stille und gedankenlos umarmte ich ihn fester, als wolle ich ihn nicht loslassen. Dabei hatte ich doch längst begriffen, dass ich es musste.

Stimmen erreichten uns und kurz darauf löste sich die Hand von meinem Rücken. Ich verlor ihre Wärme, verlor ihren spürbaren Druck und ein letztes Mal versenkten sich meine Finger im Stoff seines Hemdes, bevor ich mich von ihm losriss.

Kälte drang zwischen uns, als ich zurücktrat, die Hände in die Hüften stemmte und dann blickte ich zur vorderen Tür der Lagerräume. Die Schritte endeten vor ihr, kurz darauf öffnete sie sich und herein traten zwei Finder. In ein heiteres Gespräch vertieft und beladen mit Akten, die mir bekannt vorkamen.

Da standen wir nun, als sie sich zu uns gesellten.

„River hat uns gebeten, Ihnen zu helfen“, begrüßte uns der eine, während der andere seinen Stapel ausbalancierte. Sie zogen an uns vorbei, traten an das Regal und vorerst wortlos verfolgte ich, wie sie sich ihrer Last entledigten. Erst jetzt erinnerte ich mich an die Aufgabe, die zu diesen Momenten führte.

Zuerst hatte es nur Kanda und mich getroffen und jetzt kam River doch auf die Idee, Verstärkung zu senden.

Ich rümpfte die Nase. „Soweit ich mich erinnere, meinte er, vier Hände wären für die Aufgabe genug, also könnt ihr es doch auch komplett übernehmen.“

Im ersten Moment perplex drehten sie sich zu uns um, nickten aber im nächsten.

„Sehr gerne. Das ist kein Problem.“

„Danke.“ Ich atmete tief ein, tief aus, rieb mir den Mund und begriff, dass es hier und jetzt keine Fortsetzung geben konnte. Der Augenblick war zerrissen, auch Kandas Wärme spürte ich nicht mehr auf meiner Haut und ein seltsamer Druck in meinem Kopf wies mich darauf hin, dass ich Abstand brauchte und Ruhe für Gedanken und Ordnung. Ich hatte so endlos viel bekommen und versuchte mich davon zu überzeugen, dass man nichts verschlingen musste, wenn man es auch stückweise genießen konnte.

Diese Gelegenheit stand mir offen, sagte ich mir. Kanda war näher gerückt. Die Entfernung war gesunken und so würde es mir leichter fallen, ihn zu erreichen. Hier endete nichts. Hier begann alles.

Zielstrebig fanden meine Augen zu ihm zurück. Sein Gesicht hatte ich in den letzten Augenblicken nicht mehr gesehen, doch es zeigte dieselbe Beherrschtheit, die ich von ihm gewohnt war.

Sein Herz schlug ruhig und die Gedanken hinter seiner entspannten Miene konnte ich nicht lesen.

Wie ich es gewohnt war.

Vorerst würden wir uns trennen. Vorerst musste ich ihn loslassen.

‚Zieh dich nicht zurück‘, versuchte ich ihm wortlos zu sagen, bevor ich mich abwandte.

Ich kehrte ihm den Rücken, winkte den beiden Findern und rieb meinen Nacken, als ich hinaus in den Flur trat.
 

-tbc-

24

Ich ließ mich von meinen Beinen tragen, war zuerst auf dem Weg in mein Zimmer, doch erreichte letztendlich den Onsen. Er war verlassen zu dieser Zeit und wie träge ließ ich mich auf eine der Bänke sinken und begann mich auszuziehen. Würden Missionen warten, würde Komui sich melden, ging es mir durch den Kopf. Es blieb ihm überlassen, denn ich tat alles lieber, als mich ihm auszuliefern und ihm die Gelegenheit zu bieten, sich an weitere, unsinnige Aufgaben zu erinnern, die er mir übertragen könnte. Also versteckte ich mich und widmete mich der Eigennützigkeit.

Träge streifte ich mein Hemd über den Kopf und wie abrupt hielt ich inne, als es kitzelnd meine Nase berührte. Wie ein Anker erreichte mich die Brise des allmählich vertrauten Geruches und wie ehrfürchtig nahm ich ihn auf. Reglos, das Gesicht im Stoff versenkt und tief atmend.

Wie genoss ich diesen Duft und ließ mir Zeit, da ich befürchtete, er würde zu schnell verfliegen.

Ich wurde nicht gestört, während ich ausharrte und wie schwer fiel es mir nach endlosen Momenten, mich zu lösen und unter die Dusche zu treten. Ich wusch mich automatisiert und ebenso gedankenlos stieg ich in den Onsen und ließ mich sinken, um dem Schlagen meines Herzens zuzuhören.

Ich erinnerte mich daran, wie ich am Morgen aufstand und schmunzelte unwillkürlich unter den Gedanken, die ich zu diesem Zeitpunkt führte. Wie angespannt ich gewesen war, wie nackt unter der Hülle der Entschlossenheit, die binnen der dunklen Stunden von mir bröckelte. Wie hatte ich mich hinausgeschlichen, mich in einem Rahmen bewegt, in dem nur Kanda existierte und unsere derzeitige Situation. Ich wusste nicht, was mich erwartete und hätte es nie geglaubt, hätte man mir diesen Verlauf prophezeit.

Dieser Tag schien so unpassend, wenn ich das bisherige Schema bedachte. Er war nicht kompatibel mit meiner Realität und doch glaubte ich ihn noch zu spüren, den warmen Druck der Hand, die sich vor kurzem auf meinen Rücken bettete. Es war geschehen und wie tief atmete ich durch.

Mein Körper hatte sich bisher nicht weniger bewegt als meine Gedanken. Fortwährend war ich auf den Beinen gewesen, hatte Akten getragen, war Treppen auf- und abgestiegen und kam erst jetzt wirklich zum Stillstand. Meine Muskeln lockerten sich, meine Glieder schienen schwer zu werden und erst jetzt erinnerte ich mich daran, die vergangene Nacht kaum geschlafen zu haben. Ich war nicht tief abgedriftet, hatte mich viel eher gedreht und gewendet, hatte mich am Morgen auch nicht ausgeschlafen gefühlt oder als wäre ich dem Tag gewachsen.

Diese Boten waren es, die Stück für Stück zu mir zurückdrifteten. Die Müdigkeit und Schwäche nach schlechten Nächten machten für gewöhnlich permanent auf sich aufmerksam, nur heute wurden sie vorübergehend begraben unter einem warmen, absolut irrealen Schleier. Jetzt schien er sich zu lüften und ließ mich gähnen.

Ich wurde schwer, wurde träge und während ich dort lag, glaubte ich zu spüren, wie sich meine Gedanken ebenfalls diesem seltsamen Sog unterwarfen. Als hätte es heute kein Gegengewicht gegeben. Als wären die Nacht und der fehlende Schlaf alles, was von Bedeutung war. Ich rieb meine geschlossenen Augen, suchte in der Dunkelheit, die ich vor mir sah, nach jenem warmen, hellen Schleier, doch fand ihn nicht.

Er war zu besonders, viel zu heilig, um immer und leichtfertig greifbar zu sein.

Wieder atmete ich tief ein, tief aus, öffnete die Augen und betrachtete die mit Holz verkleidete Decke.

Mit einem Mal fühlte ich mich entkräftet.

Der Sturz war tief und nicht zu begreifen. Vor kurzem schwebte ich noch in den allerschönsten Höhen. Mein Herz schlug so lebendig in meiner Brust, während ich jeden Augenblick und Kandas Nähe genoss, doch mit meinen Schritten schien mich ich mich von alldem entfernt zu haben.

Meine Stimmung sank und ich konnte es mir nicht erklären.

Hatte ich nicht gerade ein unrealistisches Ziel erreicht?

War zwischen Kanda und mir nicht gerade etwas geschehen, dessen Wirkung mich länger leicht machen müsste?

Weshalb diese Schwere? Wusste mein Geist dieses Geschehnis gar nicht zu schätzen?

Flüchtig und ziellos spreizte ich die Finger, bevor ich sie um meinen Unterarm schlossen. Der Wasserdampf erschwerte mir das Atmen, abermals rauschte mein tiefes Luftholen in dem Raum, als ich das Gesicht wendete und nach Bequemlichkeit suchte.

Wie lange hatte in meinem Kopf dieses Gewitter getobt? Dieser Wirrwarr aus Unsicherheit und Grübeleien, wochenlang so fixiert auf ein- und denselben Menschen, der nicht einmal wusste, dass er für mich zum Zentrum wurde. Wie endlos hatte ich gedreht und gewendet, was aus all der Nachdenklichkeit entstand, hatte Vermutungen hinterfragt, bald wieder begraben und nach den nächsten gesucht. Mein Kopf war beschäftigt, war abgelenkt und wie seltsam fühlte ich mich nach dem Verlust dieses Ballasts.

Als wären meine Gedanken rein gewaschen, denn zurück blieb in Bezug auf Kanda nur noch ein Fakt.

Er ließ mich vordringen und ich würde es tun, bis er mir eine Grenze aufzeigte.

Das Chaos war mit einem Mal simpel. Auch Kandas Gedanken würde ich nie erahnen können, weshalb mir auch in diesem Gebiet nichts andere blieb, als es auf mich zukommen zu lassen.

Noch immer die Strukturen des Holzes erforschend, bettete ich die Hand auf meiner Brust und spürte unter ihr das Schlagen meines Herzens. Es schlug dumpf und schwer und stirnrunzelnd konzentrierte ich mich auf meine Atmung.

Ich glaubte, ein alter Bekannter würde mich erreichen und mir Vorwürfe machen, da ich ihn für längere Zeit vergaß. Seit Tagen quälten mich keine Alpträume mehr, seit Tagen nahm auch mein Körper nicht mehr an ihnen teil. Kein rasendes Herz, kein rasender Atem, keine abstrusen Gedanken, die sich von dieser Wirklichkeit abkapselten und mir eine andere zeigten. Wie fixiert war ich gewesen und wie wohl hatte ich mich gefühlt mit den anderen ungewohnten Problemen. Absent rieb ich meine Brust, glitt mit der Hand bis zu meinem Hals und schluckte konzentriert gegen den Druck, der sich schwelend in meiner Kehle aufbaute.

Es war, als wäre ich schutzlos zurückgeblieben, sobald sich der helle, warme Schleier von mir hob. Als hätte er mich ebenso geschützt vor all dem, das außerhalb lauerte.

Ich räusperte mich, atmete langsam, doch hatte das Gefühl, bereits verloren zu haben, nur indem ich wusste, was mich erwartete.

Manchmal geschah es, dass mein Körper auf etwas reagierte, das ohne mein Bewusstsein emporstieg und meine Aufmerksamkeit an sich band. Als wäre es ein Irrglauben, dass ich nur in der Nacht erreichbar war.

Ächzend richtete ich mich auf, rieb meinen Nacken, räusperte mich erneut und schloss die Augen.

Es war schwer sich zu wehren, wenn man seinen Feind nicht kannte. Ich spürte nicht, woraus die Beklemmung bestand, spürte nicht die Richtung, aus der sie drang.

Ein drückender Kopfschmerz war mein plötzlicher Begleiter und bald darauf schob ich die Hände in das Haar und rieb meine Schläfen. Ich sollte mich in Bewegung setzen, dachte ich mir, mir einbildend, dem Schauer dadurch zu entkommen. Wenn mich meine Beine trugen, fand ich vielleicht einen Ort, der mir weiteren Aufschub erlaubte.

Mit einem Mal fühlte ich mich müde, marode und dünn, als würde sich ein anderer Schleier über mich legen und wie träge versuchte ich ihn von mir zu streifen, stemmte mich in die Höhe und stieg aus dem Becken.

Meine Knie trugen mein Gewicht nur unwillig. Ich strauchelte, bevor ich nach dem Handtuch griff und es um meine Hüften schlang.

Meine Kehle schien sich weiterhin zuzuschnüren und wie gefüllt war ich mit einem Mal von schwarzen Frust. Der höhnische Schlag des Schicksals könnte nicht schmerzhafter sein und wie verbittert zog ich mich zurück, mich abzutrocknen und anzukleiden.

Als wäre ich übermütig geworden. Als müsste das Leben mich stoppen, bevor ich den Boden unter den Füßen verlor! Dabei waren es nur wenige Momente des puren Glücks, die ich meinte, verdient zu haben.

Meine Sinne stürzten sich in Chaos und mein Körper beteiligte sich daran.

Ich musste mich beruhigen, doch der Wille war nicht mehr als ein mattes Flüstern, das einem Schwindel unterlag. Abermals ein Straucheln, ein Schwanken und flüchtig suchte ich Halt an den kalten Fliesen der Wand, bevor ich die Räume verließ und hinaustrat in den Gang.

Die Schuhe pendelten an meiner Hand, doch meine Füße spürten die Kälte des Bodens nicht. Finster blieben meine Augen an ihn genagelt, als meine Schulter eine Ecke schrammte.

Ich wollte mich hinlegen und lachte im nächsten Augenblick schon über diesen Plan. Als hätte es mir überwiegend gut getan, die Decke über mich zu ziehen und die Augen zu schließen.

Doch etwas anderes blieb mir nicht. Nichts anderes außer dem alten Hoffen, dass ich diesmal Ruhe fand.

Meine Flucht blieb ungestört und nur knapp gelang es Tim mir zu folgen, bevor ich die Tür hinter mir schloss und auf die Matratze sank. Seine Flügelschläge drangen kaum zu mir und auch auf seinen Anblick legte ich keinen Wert. Ich tastete nach der Decke, verbarg mich unter ihr und kroch in mich zusammen.

In diesem dunklen, weichen Kern, in den ich mich so gutgläubig flüchtete.

Nur wenige Stunden Schlaf und Stille brauchte ich, um meine Sinne zu bereinigen, doch es blieb bei unendlichen Flüchen, mit denen ich mich selbst vergiftete, während ich mich windete und drehte, unruhig und unzufrieden mit jeder Position.

Man störte mich nicht. Niemand klopfte an meiner Tür und durchbrach die Stunden, die ich mit mir selbst vergeudete, ohne zu wissen, ob ich nicht zumindest etwas aus der Wirklichkeit driftete. Irgendwann öffnete ich abrupt die Augen und stemmte mich in die Höhe. So rasch, als hätte man mich gerufen oder ein Knall mich erschreckt.

Das Zimmer umgab mich in demselben Licht und wie lange starrte ich auf die Konturen des Gesteins.

Hinter meinem Fenster lag die Helligkeit des Tages und sofort stellte ich mir die Frage, ob es schon der nächste war.

Hatte ich vielleicht wirklich geschlafen?

Mein Bewusstsein war so zerstreut und vernebelt.

Wirr fiel das Haar in meine Stirn, als ich den Kopf sinken ließ und meine Augen rieb.

Es war nicht außergewöhnlich. Mit dem, was geschehen war, wusste ich mittlerweile umzugehen und versuchte erst gar nicht nach Gründen zu suchen. Es war passiert und auch wenn es mir schlecht ging, war es dennoch vorbei.

Ein leichter Hunger forderte meine Aufmerksamkeit. Es war wie ein einziger, deutlicher und gleichzeitig erleichternder Hinweis, dem ich in jedem Zustand folgen konnte und so befreite ich mich aus der Decke und quälte mich abermals auf die Beine.

Ich beschloss, mich keiner Hast auszusetzen.

An das Wesentliche würde ich mich entsinnen, wenn mein Magen gefüllt und ich vollständig bei mir war. Stockend begann ich mich neu einzukleiden und nach meinen Schuhen zu suchen. Ich durchquerte mein Zimmer teilweise ziellos, doch irgendwann ließen meine Bewegungen nach. Meine Augen blieben an einem unbedeutenden Punkt hängen und eine flüchtige Teilnahmslosigkeit überkam mich, bevor ich die die Lippen aufeinander presste.

Kanda.

Ich erinnerte mich mit einem Mal und wie seltsam fühlte es sich an, dieses schüchterne, warme Gefühl, das doch nicht wirklich zu mir durchdringen wollte. Meine Augen senkten sich zu meinem Oberkörper und wie tief atmete ich durch, bevor ein müdes Schmunzeln an meinen Lippen zog.

Ein kleines Licht erwachte in meiner Dunkelheit. Nicht mächtig genug, um über sie zu siegen, doch ich liebte es für seine bloße Existenz.

Als ich in das Treppenhaus trat, zog mir Kälte entgegen. Keine Menschenseele war unterwegs. Nicht einmal Geräusche drangen zu mir und das Klicken des Schlosses schallte an dem Gestein wider, als ich die Tür schloss und mich in Bewegung setzte. Zumindest die körperlichen Beschwerden hatten nachgelassen, dachte ich auf meinem Weg, doch es waren nur wenige Schritte, bis ich innehielt und mir meine Füße betrachtete. Ich regte die Zehen in völliger Freiheit.

Wo waren meine Schuhe?

Ich stand barfuß dort und grübelte eine Weile, bevor ich mich auf den Rückweg machte.

Kurz darauf war das Problem gelöst und nach weiteren suchte ich nicht, als ich mich abermals auf den Weg zum Speiseraum machte. Nur wenige Geräusche erwarteten mich dort zu dieser frühen Abendstunde und ebenso still musterte ich die Anwesenden. Nur wenige Finder, die sich in kleinen Gruppen zusammengefunden und auch nicht viel zu bereden hatten. Und unter ihnen…

Meine Miene erstarrte, als Lavi mich bemerkte.

„Allen!“ Er winkte mir, doch mir gelang kein Lächeln.
 

Meine Höflichkeit hatte sich schon oft gegen mich gewendet. Selbst in dieser Situation trieb sie mich zu Lavi, obwohl seine Gesprächigkeit mich in meinem Zustand nur weiterhin zersetzen würde.

Auch Jerry war besorgt, er fragte nach und natürlich tat ich so, als wüsste ich nicht, wovon er sprach. Dabei war ich blass und wusste es auch.

„Allen.“ Seufzend registrierte auch Lavi mein Aussehen. „Du solltest etwas mehr schlafen, findest du nicht?“

Resigniert sah ich ihn an, sah ihn kauen und sein Essen genießen.

„Dann sähst du nicht mehr aus wie ein wandelnder Toter.“ Er wies mit der Gabel auf mein Essen. „Und hättest auch mehr Appetit.“

Es stimmte. Der Appetit fehlte, mein Tablett war ungewohnt leicht beladen und auch nach dem Löffel griff ich wenig enthusiastisch.

„Wenn ich mit dem Opa unterwegs bin, sagt er mir das auch oft“, fuhr Lavi da schon fort. „Schlaf und iss ordentlich. Das predigt er, obwohl er sich überwiegend von Tee ernährt. Und Schlaf bekommt man hier auch nicht immer.“

„Mm“, murmelte ich nur, während ich mich bitterlich für meine Höflichkeit verdammte.

Weshalb reagierte ich nicht so, wie ich es brauchte?

Welchen Schein hatte ich mit diesem Gesicht zu wahren?

Und war es nicht normal, dass es schlechte Tage gab?

Nein.

Meine Schultern wurden schwer bei der plötzlichen Einsicht.

Ich zeigte meine schlechten Tage nicht, denn ich lächelte und war freundlich, ganz gleich, was unter meiner Hülle tobte. Dabei wäre es nicht schlimm gewesen. Nicht so schlimm wie die Maskerade, durch die ich mir nicht nur in diesem Moment mein Grab schaufelte.

„Wusstest du, dass ich gestern mit dem Panda in Montpellier war?“

„Nein.“ Ich senkte den Kopf und rieb meinen Nacken. Wie verspannt er war. Mein gesamter Körper wirkte so matt und im seltsamen Gegensatz verzerrt und steinern. Ich schloss die Augen und schöpfte tiefen Atem und wie beruhigend warm floss abrupt ein Gedanke in mich. Wie ein wohlwollender, inniger Strom.

Ich wollte Kanda sehen.

„Jedenfalls war da dieser Herbergenbesitzer und der hat...“

Ich wollte ihn sehen, doch fühlte mich ihm gleichzeitig nicht gewachsen, denn ich wollte seinen Anblick grenzenlos genießen, wollte mich daran erinnern, was im Schutz der abgelegenen Lagerräume geschah. Derzeit waren meine Gedanken zu finster, um seinem Licht zu begegnen und meine Sinne zu gehemmt, um richtig zu handeln.

Was auch immer er dachte, es lag mir viel daran, ihm auf jede erdenkliche Weise zu antworten. Dass es kein Fehler war, sondern eine Richtung, in die ich genüsslich zog, jeden Schritt liebend.

Doch wohin führte sie uns?

„Das hat er wirklich gesagt.“ Lavi brach in Lachen aus. „Schwer zu glauben, nicht wahr?“

Kanda tat nichts Unüberlegtes, ging es mir durch den Kopf.

Die Suppe tropfte vom Löffel und absent verfolgte ich es.

Was er tat und unterließ, war steinern und begründet und traf er eine Entscheidung, so konnte man sich auf sie verlassen. In all ihrer Endgültigkeit.

Ich versenkte den Löffel im Mund und schluckte die warme Suppe.

Es fühlte sich gut an, wie sich ihre Wärme in meinem Körper ausbreitete.

„Du hörst mir gar nicht zu“, drang unterschwellig Lavis Brummen zu mir. „Dabei ist die Geschichte so lustig.“

„Sie interessiert mich nicht.“

Mit einem Mal flossen diese Worte in die Freiheit und nicht nur ich hielt kurz inne. Stockend ließ Lavi die Gabel sinken und er regte sich nicht, während ich bereits weiter aß.

„Sie interessiert dich nicht?“, fragte er nach wenigen Momenten perplex.

„Überhaupt nicht.“

„Okay.“ Verstört rückte er sich zurecht. „Dann vielleicht eine andere?“

„Nein.“

Er schnitt eine flüchtige Grimasse und kratzte sich im Schopf. „Was ist denn heute mit dir los?“

Heute war es recht leicht, dazu zu stehen, da ich mit weitaus größeren Problemen umzugehen hatte und diese hier deshalb in ihrer Größe und Bedeutung schrumpften.

Wir waren zu zweit. Einer wollte reden, der andere nicht zuhören, also konnte der erste getrost den Mund halten. Und das tat Lavi, wenn es ihm auch schwerfiel.

Es entstand eine Stille, die ihm sichtlich unangenehm war und während er mir immer wieder skeptische Blicke schickte, war ich mit meinen Gedanken längst wieder woanders.

Ich hatte darauf zu achten, wie sich Kanda verhielt. Wie wach und penibel hatte meine Aufmerksamkeit zu sein, mit der ich seinen Worten und seinem gesamten Gebaren begegnete. Wie wollte ich ihn erforschen, wie wollte ich ihn verstehen und wie liebte ich die Freiheit, die ich mit einem Mal zu besitzen glaubte.

Ich aß auf, verabschiedete mich von Lavi und kam auf die Beine.

Mein Körper fühlte sich gestärkt aber meine Nerven hatten wenig Besserung erfahren. Doch es war ohnehin schon spät am Abend. Bald würde ich mich wieder hinlegen und wenn die Sonne morgen aufging, begann ein neuer Tag.

Nur wohin ging ich jetzt? Wonach war mir?

Zurück in mein Zimmer? Nein, ich brauchte Ablenkung.

Die Wissenschaftsabteilung war immer dafür geeignet, denn dort hatte man keine Zeit, sich zu sehr mit mir zu befassen und der Gedanke, den Leuten als Unbeteiligter bei der Arbeit zuzusehen, war nicht schlecht.

So wandte ich mich um und machte mich auf den Weg.

Johnny war wieder wach und mit einem Stapel von Kopien beschäftigt. River diktierte Rokujugo einen Brief und auch der Rest der Wissenschaftler war fleißig. Es war ein Treiben, in dem ich kaum auffiel und so suchte ich mir eine kleine, abgeschiedene Ecke. Es war ein kleiner Schreibtisch, auf den ich aufmerksam wurde. Am äußersten Rand der Abteilung und mit so einigen Unterlagen belastet. Aber da gab es auch einen ganz gemütlichen Stuhl und kurz darauf saß ich schon dort, legte die Beine hoch und verschränkte die Arme.

So ließ es sich aushalten.

Man konnte sprechen, soviel man wollte, solange man es nicht mit mir tat.

Ich schöpfte tiefen Atem, ließ mich tiefer rutschen und bettete den Hinterkopf auf der Stuhllehne.

Nicht weit entfernt war Johnny immer noch an den Kopien zugange. Die Arbeit schien ihm nicht sehr zu gefallen, denn es dauerte nicht lange, da spähte er zu mir. Er schien über etwas nachzudenken und durchdacht spähte ich in die andere Richtung.

Ich durfte nicht aussehen, als würde ich mich langweilen, doch scheinbar tat ich es längst, denn es vergingen nur wenige Momente, da gesellte sich Johnny zu mir.

„Allen?“ Nur leise sprach er mich an, heimlichtuend, doch gleichzeitig aufgeregt und freudig. „Du hast doch gerade Zeit, oder?“

Hatte ich das?

Die Zeit der Direktheit schien vorüber. Aus irgendeinem Grund konnte ich Johnny nicht zurückweisen.

„Folgendes.“ Er rieb sich die Hände. „Jerry, ich und ein paar andere machen uns gerade Gedanken über die neuen Sommeruniformen.“

Ich rümpfte die Nase.

„Sie sollen schlicht und trotzdem schön sein, weißt du? Dazu befrage ich derzeit alle, die die Uniformen tragen werden.“

„Mm.“ Ich bewegte den Kopf auf der Rückenlehne und starrte zur Decke der Abteilung auf.

„Wir dachten an eine dunkle, weinrote Uniform mit gelben Säumen.“ Eifrig schob Johnny die einen oder anderen Unterlagen zurück, bis er sich auf die Kante des Schreibtisches setzen konnte. Scheinbar wollte er länger bleiben. „Oder vielleicht mit goldenen Säumen?“

Ja, Gold war wirklich sehr schlicht.

„Was hättest du lieber? Es ist uns wichtig, uns nach euren Wünschen zu richten.“

„Was war das?“ Ich sammelte meine letzte Kraft für die Frage, mit der ich Interesse heuchelte. „Gold oder Weinrot?“

„Nein.“ Johnny lachte. „Gelb oder Gold.“

„Warum nicht grün?“ Es passierte wieder. Ich wurde gehässig, doch Johnny verstand es glücklicherweise nicht.

„Grün?“ Er war völlig perplex. „Grün?“

„Oder blau.“ Resigniert sah ich ihn an.

„Blaue Uniformen?“ Johnny schnitt eine Grimasse. „Wenn ich Jerry das vorschlage…“

„Dann lasst sie rot.“ Ich unterdrückte ein Gähnen. „Und lasst die ganzen Säume einfach weg, dann stellen sich solche Fragen gar nicht.“

„Meinst du das ernst?“

Ich rieb mir die Augen, rieb mir die Wange, da drang eine Bewegung in mein Bewusstsein und während Johnny noch lachte und sprach, da lehnte ich mich zur Seite und starrte an ihm vorbei. Mit einem Mal war ich so weit entfernt, dass er nicht mehr nach mir greifen könnte. Mit einem Mal war ich wach und aufmerksam, denn soeben hatte Kanda die Abteilung betreten und ich ihn gespürt, als würden meine Sinne schon von weitem auf seine Präsenz reagieren.

Seufzend kratzte sich Johnny am Kopf. „Zum Glück bist du nicht für die Uniformen zuständig, Allen.“

Ich konnte und wollte meine Augen nicht von ihm lösen. Allein ihn zu sehen tat so unendlich gut und schien mich auf seltsame Weise zu ordnen. Nur einen Moment später bemerkte ihn auch Johnny und somit löste sich seine Aufmerksamkeit von mir.

„Kanda!“ Er winkte ihm, ließ ihn innehalten und schmunzelnd realisierte ich das Déjà-vu. „Hast du einen Moment Zeit? Ich mache eine Umfrage zu den neuen Sommeruniformen.“

„Sommeruniform.“ Kanda deutete das Kopfschütteln nur an, bevor er seinen Weg zu Komuis Büro fortsetzte. „Ich habe nicht einmal eine Winteruniform, also könntest du dich erst einmal darum kümmern?“

„Oh, stimmt.“ Johnny schnappte nach Luft. „Das habe ich ganz vergessen!“

Während ich Kanda nachsah, wandte sich Johnny an mich. „Es tut mir Leid, Allen. Aber ich glaube, das hat Vorrang.“

Alles hatte Vorrang, wenn es darum ging, mich zu nerven.

Langsam schob ich mich vom Stuhl. Tim ruhte auf einem Bücherstapel und beiläufig bekam ich seinen Schweif zu fassen und zog ihn hinter mir her. Ich ging. An diesem Punkt bemerkte ich, dass es mir genügte. Kein Gespräch mehr, kein Essen. Selbst Kanda war ich bereit, zugunsten eines neuen Versuches ziehen zu lassen. Vorläufig. Nun brauchte ich wirklich Schlaf, wenn auch nur wenige Stunden.

Ich setzte mich nicht mehr der Gefahr aus, in Gespräche verwickelt zu werden. Mein Magen war gefüllt und meine Beine nicht mehr bereit, große Wege hinter sich zu lassen. Auch Komui schien nichts von mir wollen. Insgesamt sah es nicht danach aus, als würde man mich brauchen und so zog ich mich abermals zurück.

Draußen war es noch so grau wie in den letzten Tagen auch. Die Sonne versteckte sich irgendwo hinter dieser trostlosen Schicht aus Wolken. Nur kurz lugte ich zum Fenster, bevor ich mich hinlegte und herzhaft gähnte.

Hoffentlich war diese Müdigkeit ein gutes Zeichen. Mein Kopf suchte sich seinen Platz neben Tim auf dem Kissen und in den ersten Augenblicken drehte und wälzte ich mich auf der Suche nach der richtigen Bequemlichkeit. Dann lag ich dort, den Kopf auf den Oberarm gebettet und die Augen absent auf das Fenster gerichtet.

Auf der anderen Seite des Glases wurde es immer dunkler. Ich betrachtete es mir lange und oft, während es die Nacht offenbarte und irgendwann die nahe Dämmerung.
 

„Kaffee?“ Mit großen Augen starrte Jerry mich an. „Liebes, meinst du nicht, du bist dafür zu jung?“

„Ich brauche irgendetwas.“ Zermürbt stemmte ich mich auf den Tresen. „Irgendetwas, Jerry. Mach mich wach.“

„Hast du schlecht geschlafen?“ Jerry schloss sich mir an. Er seufzte, als würde ihn mein Zustand ins Herz treffen. Nachdenklich rieb er sich das Kinn, brummend kratzte ich mich im Schopf und plötzlich hatte er eine Idee.

„Weißt du was?“ Sein Gesicht entgleiste ihm vor Freude. „Ich mache dir einen Cappuccino!“

„Einen Cappuccino?“, wiederholte ich skeptisch. „Das hilft?“

„Und wenn nicht“, Jerry bekam meine rechte Hand zu fassen und drückte sie liebevoll, „dann mache ich dir noch einen und noch einen! Bis du zufrieden bist!“

„In Ordnung.“

„Und was magst du sonst noch zum Frühstück?“

„Alles, wo Eier drin sind“, entschied ich mich, fest entschlossen, diesmal der zu sein, der die Eier-Vorräte wegaß.
 

Diesmal genoss ich das Essen in aller Ruhe. Es gab niemanden, der sich genötigt fühlte, abstruse Geschichten zu erzählen. Auch keinen anderen, obwohl mir ein schweigsamer, ruhiger Zeitgenosse nichts ausgemacht hätte. Doch nun konnte ich mich auf mein Essen konzentrieren, musste nicht vorgeben, aufmerksam zu sein oder zu nicken, obwohl ich kein Wort verstand. Ich blieb für mich und auch der Kopfschmerz schien sich zu legen, als ich mir den Magen füllte.

Es wurde wirklich besser und spätestens als ich den Mangosaft trank, entrann mir dieses Seufzen, das fast von Zufriedenheit zeugen könnte. Ich fuhr mir über die Lippen und griff nach meinem Cappuccino. Er schmeckte so sehr nach Schokolade, dass eigentlich nicht viel mehr drin sein konnte aber ich vertraute Jerry. Er war so wunderbar heiß, dass ich die Hitze bis in den Bauch spürte.

Einige Zeitlang befasste ich mich nur mit dieser Tasse, schlürfte und nippte, bis es sich besser trinken ließ. Von da an ging es schnell.

Diesen Cappuccino, ging es mir durch den Kopf, den konnte ich vielleicht zur Gewohnheit machen.

Bequem tastete ich wieder nach dem Besteck und mit jedem Bissen schrieb ich diesem Tag vorsichtig mehr Chancen zu. Er hatte recht neutral begonnen.

Was mir jetzt noch fehlte, war eine Möglichkeit, Ablenkung zu finden.

Tim saß auf dem Tisch und nahe der Curry-Eier, weshalb ich diesen Teller kurz darauf argwöhnisch zu mir zog, doch gerade hatte ich ihn in Sicherheit gebracht, da erhob sich dieses Rauschen und Tim schlug mit den Flügeln. Da rief mich jemand. Langsam tastete ich mit der Gabel nach den Curry-Eiern.

„Allen?“ Es war Komui und langsam verstaute ich ein Ei im Mund. „Kommst du bitte zu mir?“

„Mm.“ Ich begann zu kauen. „Mach ich.“

„So ist‘s fein.“

„Kriege ich eine Mission?“ Schon tastete ich nach dem nächsten Ei und die folgende Zustimmung ließ mich ungläubig inne halten. Was für ein Zufall. Ich sehnte mich nach Abwechslung und schon kam sie herbei. Dieser Tag war gruselig.
 

Als ich Komuis Büro betrat, wirkte er aufgewühlt.

Nur flüchtig winkte er mich näher und war sonst damit beschäftigt, in wahllosen Unterlagen zu wühlen. Die schwarzen Mappen schob er zur Seite, eine andere Akte zog er hervor und während ich auf dem Sofa Platz nahm, begann er in ihr zu blättern. Ein tiefes Durchatmen drang an meine Ohren. Etwas schien ihn zu belasten und was das war, erfuhr ich rasch.

„Es ist passiert.“ Er starrte mich entrüstet an. „Allen, es ist tatsächlich passiert.“

„Was ist passiert?“, fragte ich und ächzend legte er die Akte zur Seite.

„Kanda hat eine Mission abgelehnt. Was mache ich nur, wenn alle anfangen, mir auf der Nase herumzutanzen?“

„Ich kann nicht tanzen“, beruhigte ich ihn und plötzlich griff er nach einer der schwarzen Mappen.

„So ein Rüpel“, regte er sich auf, als er sie mir reichte. „Meinte, ich soll dir die Mission geben, weil du angeblich faul bist.“ Perplex sah er mich an. „Bist du das?“

„Nein, ich bin sehr fleißig.“

„Das denke ich auch.“ Er stöhnte. „Du nimmst die Mission doch an, oder?“

Wie tief war er gesunken, dass er jetzt schon bettelte?

Ich wusste nicht, warum er es bei mir tat. Ich sah bestimmt nicht so aus, als würde ich mich über eine Mission ärgern. Nein, eher war ich erleichtert, das Hauptquartier zu verlassen, möglicherweise Ablenkung zu finden und so auch zur Besserung. Wie interessant.

Schmunzelnd öffnete ich die Mappe. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass mir eine Mission gut täte und plötzlich schob mir Kanda eine zu. Ich verstand es, war wohl langsam geübt darin, die Kehrseite der Kehrseite zu erblicken und Verständnis zu entwickeln.

„Es ist nicht viel“, seufzte Komui und lehnte sich zurück. „Im spanischen Lager wurde ein Innocence sichergestellt. Gerade sind dort leider nur Finder stationiert, weshalb du dich sputen solltest. Wir können es uns nicht leisten, das Innocence zu verlieren.“

„Heißt, ich soll es nur abholen“, schloss ich aus seinen Worten und sah ein Nicken.

Plötzlich beschlich mich die Befürchtung, Kanda hatte doch andere Gründe, diese Mission abzulehnen.

Die Aufgabe als Laufbursche war ihm vermutlich ebenso lieb wie die eines Dolmetschers.

Aber es war in Ordnung. Ich freute mich darauf, unterwegs zu sein.

Komui winkte mir erleichtert, als ich die Mappe unter den Arm klemmte und sein Büro verließ.
 

Ich kehrte in mein Zimmer zurück, streifte die Uniform über und als ich dann in das Treppenhaus trat, bereit zum Aufbruch, da erfasste mich eine Idee, viel eher ein Sehnen und wie lange blickte ich anschließend zu dieser Tür, nicht weit entfernt von meiner.

Konnte ich ihn nicht noch einmal sehen, bevor ich aufbrach?

Möglicherweise gab mir allein sein Anblick die Kraft, die mir derzeit fehlte.

Ich wollte doch herausfinden, wie weit ich bei ihm gehen durfte.

Ihm nahe sein. Ihn nur kurz wahrnehmen, ihn nur kurz fühlen.

Ich wartete nicht darauf, dass Zweifel in mir erwachten und machte mich auf die Suche.

Im Speiseraum erreichte ich ihn längst nicht mehr. Er erwachte früh, aß früh, war mir stets voraus.

Doch was tat er sonst, wenn er sich nicht auf Missionen vorbereitete?

Training hieß eine der Möglichkeiten und in diesem Gebiet herrschten keine weiteren Fragen, denn die kleine Übungshalle schien es ihm angetan zu haben und suchte man ihn, dann fand man ihn dort.

Der schiere Gedanke, ihn zu sehen, trieb mich zur Eile und ernüchterte mich umso mehr, als ich die Halle leer vorfand. Ich lehnte mich hinein, blickte auch zur oberen Etage und trat letztendlich zurück.

Wenn er seinen Körper nicht trainierte, trainierte er vielleicht seinen Geist und so folgte ich sofort dem nächsten Weg. Wo er für gewöhnlich meditierte vergaß ich nicht, seit ich ihn eines Tages ungewollt und nach allen der Regeln der Kunst störte.

Doch durfte ich es wagen?

Hatten sich die Dinge soweit gerändert, dass er meine Anwesenheit nun akzeptierte?

Der selten genutzte, kleine Besprechungsraum, den er nutzte, war nicht weit entfernt und wie vorsichtig griff ich nach dieser Klinke und drängte sie hinab. Ein leises Quietschen erhob sich, bevor ich in den Raum spähte und wie abrupt entspannte sich meine Mimik, entspannte sich mein gesamter Körper. Der Griff meiner Hand um die Klinke löste sich, langsam folgte ich ihrem Verlauf mit den Fingern und spürte dieses Schmunzeln auf meinen Lippen.

Ich hatte ihn gefunden.

Dort saß er, schien mit seiner reglosen Gestalt geradezu mit diesem Raum zu verschmelzen. Auf einer kleinen Anhöhe hatte er sich niedergelassen, verharrte im Schneidersitz, die Hände im Schoß versenkt und den Kopf leicht geneigt. Eine simple Haltung, die mich dennoch faszinierte wie einen dummen, verliebten Jungen.

Und dann zog es mich zu ihm. Ohne Gedanken oder Befürchtungen trat ich in den Raum und schloss die Tür hinter mir. Nur kurz wollte ich ihm Gesellschaft leisten und aus diesen Augenblicken und seiner Gegenwart Kraft ziehen. Leisen Schrittes trat ich näher.

Hörte er mich? Nahm er mich wahr?

Ich musterte sein Gesicht, erwartete Regung, erwartete eine Reaktion, denn ich tat ein weiteres Mal nichts anderes, als meine Grenzen auszutesten.

Hier war ich, um von ihm zu profitieren, wie ein Parasit von seiner Wärme zu zehren.

Ich tat diesen Schritt hinauf auf seine Anhöhe und noch immer regte er sich nicht. Selbst als ich neben ihm innehielt, war er entrückt und so nutzte ich die erneute Gelegenheit, ihn mir unverfroren zu betrachten.

Wie ordentlich sein Haar gebunden war. Der Zopf saß tief, keine Strähne genoss Freiheit, während sich das blaue Band über seinen Nacken schlängelte. So säuberlich und gepflegt, wie es seiner Gewohnheit entsprach. Er gefiel mir.

Meine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Durchatmen und wie leicht fiel es mir daraufhin, mich neben ihn zu setzen. Ich ließ mich sinken, ohne ihn zu berühren, doch auch nicht zu entfernt, suchte nach Bequemlichkeit und schenkte meinem Körper bewusste Entspannung.

Und ich fühlte mich gut. So leicht und unbeschwert und schloss die Augen.

Nur das leise Flattern Timcanpy’s erhob sich über uns, während ich vollkommen reglos verharrte.

Er erinnerte mich daran, dass wir aufzubrechen hatten, doch der Augenblick war zu heilig und meinen Beinen nicht danach, mich eilig davonzutragen. Zeit spielte keine Rolle und so wusste ich nicht, wie lange ich dort saß, ihn bald darauf abermals betrachtend. Keine Regung ging durch seine Mimik und trotzdem blieb sein Gesicht ein Fluch, dem ich mich nur beugen konnte.

Irgendwann tauchte er auf aus seiner Tiefe, irgendwann blinzelte er und öffnete die Augen, um sie auf einen unbedeutenden Punkt zu richten. Ich vermutete, er spähte zur Tür, ohne mir jemals Beachtung geschenkt zu haben. Noch immer keine Regung, noch immer kein Wort und so saßen wir nebeneinander und schwiegen uns aus. Die Sprache wurde überflüssig, denn es gab nichts zu sagen.

Er akzeptierte meine Anwesenheit und gestattete sie still.

Der Deut eines Schmunzelns zog an meinen Lippen, während ich mir den Boden betrachtete.

Er zeigte, wie weit er mich gehen ließ.

Ich beging keinen Fehler, wenn ich nach ihm und seiner Wärme suchte.

Noch immer ruhelos bewegte sich Tim über unseren Köpfen und eine Weile erstickte ich sein Drängen in Nichtbeachtung, bevor ich kapitulierte. Ich glaubte, allmählich aufstehen und gehen zu können. Es war schwer, doch der Zweck meines Besuches erfüllt und so richtete ich mich auf und schöpfte tiefen Atem.

„Ich muss los.“ Erneut blickte ich zu ihm, geradlinig und offenherzig und sah ihn noch immer diese Tür mustern.

Vielleicht trennten uns nur wenige Tage, vielleicht waren es auch mehr und absent blieb ich meiner Betrachtung treu, als ein seltsamer, unbekannter Strom in mir erwachte.

Vielleicht sah ich ihn auch zum letzten Mal.

Die Befürchtung, mit der wir alle zu leben hatten, war spätestens jetzt herangewachsen zu einer eiskalten Angst. Die Distanz zwischen uns war nicht mehr vorhanden. Wie nahe waren wir uns gekommen und natürlich hatten wir die Konsequenzen zu tragen.

Ich kannte seine Wege nicht, war auch nicht immer an seiner Seite und so blieb nur das Vertrauen in seine Instinkte und Fähigkeiten. Auch die Hoffnung, dass er ein ums andere Mal wohlbehalten Nachhause zurückkehrte.

Meine Hand näherte sich seinem Gesicht. Ohne mein bewusstes Zutun hatte sie sich gehoben und zögerte auch nicht, bevor sie sein Kinn erreichte. Ich berührte ihn mit allerlei Ehrfurcht, berührte die Haut, mit der ich noch immer nicht vertraut war und nur einen sachten Druck brauchte es, sein Gesicht zu mir zu wenden. Er ließ sich durch mich bewegen und kaum fanden seine Augen zu mir, da neigte ich mich näher.

Und wieder zögerte ich nicht, denn die Dinge waren klargestellt. Ich hatte ausgesprochen, was er zu tun hatte, um all das zu beenden, doch abermals wich er nicht zurück. Dabei kannte er meine Gier. Auch die Tatsache, dass auf einen Schritt immer der Nächste folgte und ich würde viele von ihnen gehen, solange er mich nicht bremste.

Langsam folgten meine Finger dem Verlauf seines Unterkiefers, während ich abermals das dunkle Gespinst seiner Augen studierte. So neigte ich mich noch näher, streckte mich ihm entgegen und wie aufmerksam fühlte ich seine Haut, wie feinsinnig wartete ich auf das winzige, verräterische Zucken seines Körpers, auf das Zurückweichen vor dieser neuen Grenze, doch das einzige, das ich wahrnahm, war das ungläubig triumphale Schmunzeln meiner Lippen, bevor sie seine Wange erreichten.

Ich küsste sie einmal, flüchtig und doch innig, bevor ich den Duft seiner Haut mit einem tiefen Atemzug in mich aufnahm. Soviel wie möglich von ihm wollte ich mit mir nehmen, doch es blieb bei einer Brise und dem Gefühl auf meinen Lippen und wie riss ich mich anschließend von ihm los. Meine Finger streiften sein Kinn ein letztes Mal, bevor auch sie sich lösten und so kam ich auf die Beine und verließ die Halle ohne zurückzublicken.
 

-tbc-

25

Ich bereute diesen Umweg nicht, fühlte ich mich der folgenden Mission weitaus gewachsener als zuvor. Kanda hatte mich entsandt, entschieden, dass sie für mich einen Nutzen hatte und ich war derselben Meinung. Ich zog nicht an die Front, erwartete auch nicht, mich in große Gefahr zu begeben.

Es war ein leichter Weg, der vor mir lag, doch mir Luft und Zeit schenkte. Auch etwas Abgeschiedenheit, Ruhe und Distanz, um die finsteren Gedanken und schweren Gefühle aus meinem Inneren zu verbannen.

Ich konnte mich erholen. Ich hoffte zumindest darauf.

So trat ich hinaus in die Kälte, erreichte den Bahnhof und suchte mir ein ruhiges Abteil im Zug. Mehrere Stunden standen mir bevor und somit genug Gelegenheit, den alten Grübeleien zu verfallen.

Hätte man mir damals erzählt, Kanda sorge sich unauffällig und permanent um seine Kameraden, hätte ich nur Belustigung für die Anmaßung übrig gehabt.

So verhielt man sich in einer Rolle, in der man die Augen schloss und Ohren versiegelte. So verhielt man sich, wenn man nichts mitbekam und die Meinung sowie die Reaktion nur nach eigenen Erfahrungen formte.

Kanda tat so etwas nicht, Kanda war zu sehr auf sich selbst konzentriert, denn er trug eine eigene Last.

Niemals war er zu ertappen, wie er jemanden besonders musterte oder wie nachdenklich er war. Wie er sich mit fremden Angelegenheiten auseinandersetzte und dementsprechend handelte oder reagierte.

Seine Sensoren waren so empfindlich, aufmerksam und feingliedrig.

Er sah mein schlechtes Befinden und reagierte so ungewöhnlich ruhig, als ich meinen Saft über seinen Füßen verschüttete.

Ich war es nicht gewohnt, dass man sich um mich sorgte, da ich niemandem einen Anlass dazu bot.

Doch es fühlte sich gut an, das zuvorkommende Verhalten meines schweigsamen, abweisenden Kameraden.

Ich spürte diese Wärme, ich kostete von ihr und um nichts in der Welt wollte ich in von nun auf sie verzichten. Ich wollte seine Hilfe annehmen, seine Worte und sein Handeln durchschauen und ihm stille Dankbarkeit entgegenbringen, wenn ich wieder Daheim war. Ich wollte ihm ein Lächeln schenken, das so unbeschwert und ehrlich war, dass der die Früchte seines Handelns vor sich sah.

Einen besseren Dank konnte ich ihm nicht geben, einen anderen Dank würde er nicht annehmen.

Er war so einfach, so direkt und geradlinig ehrlich, unkompliziert und umgänglich.

Soviel anders als ich.

Permanent ruhte dieses Schmunzeln auf meinen Lippen, während ich die Beine von mir streckte und mich mit Tim befasste, der es auf meinem Schoß bequem hatte. Ich war annähernd zufrieden in diesen Momenten. Für eine lange und anstrengende Mission fehlte mir noch immer die Kraft, doch hier hatte ich nichts zu befürchten. Ich hatte die einsamen Stunden zu nutzen, um alte Stärke zurückzuerlangen und alten Schrecken von mir zu streifen. Nicht weniger die Panik, die jäh in mir aufstieg und mich einem Teil meines Bewusstseins beraubte.

All die Dinge, die sich in letzter Zeit verschlimmerten.

Wusste Kanda davon? Sah er mehr, als oberflächlich besorgte Augen?

Wusste er von dem Ausmaß meiner Schäden?

Ich tastete nach Tims Flügeln, zog sie in die Länge und blickte unterdessen aus dem Fenster.

Es schneite und ich hatte das Gefühl, dass es das seit Tagen tat. Wie wild sich die Schneeflocken tummelten, sich umspielten. Wenigstens sie hatten ihre Freude. Ich atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Und ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt aus ganzem Herzen lachte.

Es fiel schwer. Als hätte es so einen Moment nie gegeben.

Kannte man mich so oder sah man mich als einen ewigen Melancholiker?

Seit wann war ich nicht mehr der Junge, der selbst die eigene Finsternis mit seiner Stärke in die Flucht schlug? Wann hatte ich mein Veto eingereicht? Wann gegen sie verloren?

War sie stärker geworden oder ich nur schwächer?
 

Irgendwann löste ich mich schweren Herzens von dem angenehmen Polster. Der Zug erreichte Saragossa und ich den Punkt, an dem ich umzusteigen hatte. Das spanische Lager befand sich in der Nähe Tarragonas und war in weiteren drei Zugstunden zu erreichen. Noch vor dem Abend wäre ich am Ziel, stieg an einer abgelegenen Station aus und zog durch einen kahlen Wald und Schneegestöber, bevor ich die Zelte des Lagers vor mir sah und ebenso das Ziel meiner Reise.

Es fühlte sich gut an und wie heiter begrüßten mich auch die in Spanien Stationierten.

Schon von weitem erkannten sie mich und wie oft wurde meine Hand geschüttelt, nachdem ich das Hauptzelt erreichte. Man war glücklich über meinen Besuch und hatte auch Grund dazu, denn man hielt ungern ein Innocence versteckt, wenn man nicht imstande war, es zu verteidigen.

Nachdem die anfängliche Freude an Kraft verlor, fand ich die Gelegenheit für eine warme Mahlzeit.

Der Koch des spanischen Lagers war etwas langsam und lethargisch aber sein Essen war gut. Es wäre noch besser, hätte ich meine Ruhe, doch es waren so einige Finder, die mir Gesellschaft leisteten und Fragen hatten.

Was sich im Hauptquartier tat. Wie es meinen Kameraden ging.

Fragen, auf die ich eifrig antwortete, da ich die Hoffnung hegte, man würde mich in Ruhe lassen, sobald man seine Antwort hatte, doch die meisten schienen es sogar zu mögen, mir beim Essen zuzusehen und so wurden meine Nerven alles andere als geschont.

Ernüchternd.

Man hielt mich immerzu für einen offenen und freundlichen Menschen. Es mochte an meinem falschen Lächeln liegen, an meiner Bescheidenheit und dass ich selten etwas sagte, das andere in ihre Schranken wies. Bei all meinen Fähigkeiten war ich in Gebieten wie diesen doch völlig unfähig.

Ich hatte noch nie anders gelebt, obwohl ich allmählich den Ernst der Lage sah und die Notwendigkeit, zumindest etwas ehrlicher zu werden. Aber an diesem Tag schwieg ich und akzeptierte alle, die mir Gesellschaft leisten wollten.

Und es war so anstrengend und lästig. Das Lächeln fügte meinem Gesicht Schmerzen zu.

Ich spürte Verspannungen in meinen Wangen und dass meinem Inneren nicht nach dieser Geste war.

Wie immer verursachte ich meine eigenen Schmerzen teilweise selbst. Tief in meinem Inneren, das sich nach Ruhe und regungslosen Lippen sehnte. Kein vorgetäuschtes Wohlbefinden, kein Schmunzeln oder Heiterkeit. Und kaum verließ ich die Runden der Finder und trat in mein kleines, abgelegenes Ruhelager, bröckelte etwaige Freude aus meiner Miene wie trockener Putz und wie ausdruckslos und müde blieb mein wahres Angesicht zurück.

Ich stand vor diesem Bett und die Ohren schmerzten mir. Meine Lippen waren zu erschöpft, um nur ein weiteres Mal zu lächeln und ächzend begann ich mich von der Uniform zu befreien. Hier hatte ich meine Ruhe. Träge warf ich meine Uniform zu einem nahen Stuhl, ließ mich auf die Pritsche sinken und tastete nach meinen Stiefeln.

Das war er wieder – der Kopfschmerz.

Stöhnend ließ ich mich auf die Matratze fallen. Das Bettgestell quietschte, als ich träge das Kopfkissen richtete und nachdem ich lange auf die Plane des Zeltes starrte, schloss ich die Augen. Draußen wurde es allmählich dunkel und je eher ich mich um Schlaf bemühte, desto eher könnte ich wieder aufbrechen, desto eher zurückkehren und Kanda wiedersehen.
 

Langsam schritt ich durch den engen Flur des Wagons. Hinter den Fenstern, die an mir vorbeizogen, lag das vertraute Umfeld, während der Zug in den Bahnhof einfuhr. Meine Hand tastete nach dem Geländer, schloss sich um das kühle Metall und so blieb ich stehen und starrte auf die hölzerne Verkleidung der Tür.

Ich war zurück und die Heimat begrüßte mich ebenso trostlos und grau wie sie mich verabschiedete.

Wir waren uns noch immer zu ähnlich.

Was hinter mir lag war ein unruhiger, kurzer Schlaf, aus dem ich plötzlich und schweißgebadet erwachte, ohne Erinnerung, was mir in meinen Träumen widerfuhr. Ich war konsterniert und das einzige feste Bewusstsein in mir war die Tatsache, dass mein Problem zu einem solchen angewachsen war, das ich nicht länger missachten konnte.

So hünenhaft und schwer baute es sich vor mir auf, dass mich meine Gedanken bereits zur Krankenstation führten, wo nach etwas zu bitten, das mich schlafen ließ. Es wäre ein tiefer Fall.

Unter anderen Umständen undenklich, doch ich war am Ende.

Mein Kopf war leer und meine Seele so schwer und zermartert, dass ich seit Stunden nichts anderes tat, als gegen den Druck in meinem Hals zu schlucken. Alles war verengt und verstopft.

Die Mission war erfüllt, doch es spielte keine Rolle mehr.

Erbärmlich führten mich meine Beine zurück in die steinernen Bauten und wie unauffällig suchte meine Schulter Halt an der Wand des Fahrstuhles, während er mich in das tiefste Geschoss und zu Hevlaska brachte. Die Augen absent auf einen nicht existenten Punkt gerichtet harrte ich aus, bis sich die Türen öffneten und ich meine Beine weiterhin nötigen musste.

Ich sprach kaum ein Wort, während ich Hevlaska das Innocence überreichte und ihre gleißende, aus Licht bestehende Hand jenes Fragment entgegennahm. Trübe verfolgte ich, wie sie es verinnerlichte, wie es hinab sank und seinen Platz inmitten der Sammlung einnahm.

Ein schöner Moment, der mich stets in seinen Bann zog, doch diesmal wandte ich mich nur ab und stellte mich dem vorerst letzten Weg, der zu Komui führte. Ich betete, dass er mich rasch genug gehen ließ, damit ich weiterhin verzweifelt und bemitleidungswürdig nach Lösungen suchen konnte.

Es war eine angenehme Stille, die mich in der Wissenschaftsabteilung erwartete. Jeder war in seine Arbeit vertieft und nur River löste sich kurz von seinen Unterlagen, um grüßend die Hand zu heben. Ich erwiderte die Geste nur andeutungsweise, bevor ich nach der nächsten Klinke griff und sie unscheinbar als Stütze nutzte. Ich hatte sie nötig, diese kleine Absicherung und spürte das Schwanken meines Leibes, als ich mich von ihr löste. Die am Boden liegenden Unterlagen raschelten, als sich Komui auf seinem Stuhl zurechtrückte.

„Komm rein“, winkte er mich näher, rückte wieder zur Seite und lehnte sich zurück, um ein Blatt anzustarren, das sich in dem hinteren Bein seines Stuhles verfangen hatte. Er kapitulierte kurz darauf, griff nach seiner Tasse und runzelte die Stirn, als diese leer war. „Du bist aber schnell wieder da.“ Er sandte mir einen knappen Blick, bevor er sich den Unterlagen zuwandte, jedoch inne hielt. Er runzelte die Stirn, blickte abermals auf und schenkte mir seine vollendete Aufmerksamkeit. Nichts, das ich begrüßte.

Ich wusste, wie ich aussah.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich kurz darauf.

„Alles in Ordnung.“

„Mm.“ Komui schürzte die Lippen. Ein flüchtiges, unangenehmes Schweigen brach über uns herein und wie erleichtert war ich, als er es mit einem leisen Seufzen beendete. „Würdest du mir einen Gefallen tun, Allen?“

„Mm?“

„Geh schlafen.“

Er hatte ja keine Ahnung, was er da verlangte.

Ich verließ die Wissenschaftsabteilung und fühlte mich dabei so teilnahmslos. Kaum drangen die Eindrücke der Umwelt in mein Bewusstsein. Die Kälte des Ganges, das Gefühl der Klinke unter meiner Hand, Tims Flügel, der meine Schulter streifte. Als geschehe all das in einer parallelen Welt, in die ich nicht hineinreichte.

Alles war zu weit entfernt, zu laut, zu anstrengend. Meine Sinne schienen sich abgeschaltet zu haben und meine Lider waren so schwer, als wollten sie mich tückisch zu meinem Bett führen. Sie hatten sich mit dem Alp verbündet, als arbeiteten sie Hand in Hand an meiner Vernichtung.

Ich wollte mich nicht fügen, doch kannte ebenso wenig ein anderes Ziel. Abrupt blieb ich stehen, blickte auf und musterte meine Umgebung. Ich war in der falschen Richtung unterwegs und so machte ich kehrt. Vielleicht, dachte ich mir währenddessen, konnte ich mir wirklich etwas besorgen, das es mir einfacher machte. Ich war kein Freund der Medizin, doch auch kein Freund dieser abgrundtiefen Erschöpfung.

Meine Schritte zogen mich zur Seite, leicht schrammte ich mit der Schulter eine Ecke und bog zur Seite. Ich betrat einen weiteren Gang und mit einem Mal verlangsamten sich meine Schritte.

Meine verzerrte Miene entspannte sich. Mit einem Mal richtete sich auch mein Körper auf und wie fest und wach wurde mein Blick, als ich stehen blieb.

Mir kam jemand entgegen. So stark und zielstrebig, dass ich dem nicht gewachsen war. Diese Uniform, dieser Mantel. Wie ehrfürchtig musterte ich auch die stolze, gefestigte Haltung und die sicheren Schritte.

Kanda.

Er wirkte, als wäre auch er soeben zurückgekehrt von einer Mission, nicht viel ausgiebiger als meine.

Leichter Schmutz haftete auf seinem Gesicht, während er mich ansah und unter einem beschämten Lächeln sehnte ich den Blick.

Wie erbärmlich.

Ich rieb meinen Nacken, als er mich erreichte, starrte auf seine Stiefel, die vor mir innehielten. So standen wir voreinander und wie schwer fiel es mir, seinem Blick zu begegnen und mich aufzurichten.

Er hatte es deutlich vor sich.

Ich musste ihn enttäuschen. Die Mission, auf die er mich schickte, verfehlte ihren Zweck.

Wie gerne hätte ich ihm ein kraftvolles, vertrauenswürdiges Lächeln geschenkt, ihm einfach zugenickt und vor Augen geführt, dass sich seine Fürsorge auszahlte. Wie gerne würde ich so aufrecht und gestärkt hier stehen wie er es tat.

Seine annähernd schwarzen Augen tasteten sich über mein Gesicht. Ich sah es, verfolgte jede Regung und auch, wie sich seine Mimik andeutungsweise verzog.

Ich wusste, was er sah und das einzige was ich tat, war mit den Schultern zu zucken, müde und ratlos.

Ich wusste nicht, was mir fehlte oder helfen würde. Ich wusste es wirklich nicht.

Wie könnte er es also?

Er war nicht allmächtig. Auch nicht in Bezug auf mich, doch es war in Ordnung.

Er hatte es versucht und ich wusste es zu würdigen. Mehr konnte ich mir nicht wünschen und doch blieb er bei mir, ohne ein Wort zu verlieren. Augenblicke vergingen ohne jede Regung und umso einschneidender war es, als er sich dann in Bewegung setzte.

Ich hörte das leise Kratzen seines Schrittes, mit dem er die letzte Distanz überwand und wie erstarrte ich, als er mich erreichte. Sein Körper berührte mich innig, als er einen Arm über meine Schulter hob und wie starr lehnte ich kurz darauf an ihm und in seiner Umarmung.

Mein Leib verspannte sich flüchtig unter seiner Wärme, die mir entgegendrang und an die ich mich noch nicht gewöhnte. Nicht weniger fremd fühlte sich der Druck seiner Hand an, als sie sich auf mein Kreuz bettete und mich näher zog.

Was geschah?

Meine Wange traf auf seine Schulter und wie erstarrt ergab ich mich seiner Führung.

Er hielt mich, stützte mich, gab eine stumme Antwort auf meine Erschöpfung und unter einem tiefen Durchatmen verlor ich jegliche Verspannung und sank gegen ihn. Meine Lider wurden schwer, trübe verblasste das Bild vor meinen Augen und kurz darauf schloss ich sie und atmete den vertrauten Geruch.

Er rettete mich innerhalb weniger Augenblicke und wie dankbar und genüsslich nahm ich die Bewegungen seiner Hand auf meinem Rücken wahr.

Streichelte sie mich?

Ich schmiegte mich an den robusten Stoff seiner Uniform und wie müde wurde ich in dieser Umarmung. Eine Schwere angenehmer Art überkam mich, doch bald darauf spürte ich, wie sich seine Umarmung lockerte. Mein Körper lehnte sich ihm nach, als er zurücktrat, doch fand eigenen Halt. Seine Hand glitt von meiner Schulter, bevor sich unsere Blicke abermals begegneten.

Noch immer kein Wort, noch immer keine eindeutige Miene, doch nichts davon gehörte in diesen Moment. Es war perfekt und kein Wort ihm würdig. Meine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Durchatmen, als er ein Nicken andeutete. Wir verstanden einander. Alles war gesagt und wie genießerisch schloss ich die Augen, als er an mir vorbeizog und sich seine Hand flüchtig auf meine Wange bettete.

Kitzelnd glitt sie von meiner Haut, verlor den Kontakt und auch als sich seine Schritte in meinem Rücken erhoben, stand ich noch dort, betäubt vor Glück und unfähig jedes düsteren Gedankens.

Ich sah ihm nicht nach und hörte seinen leiser werdenden Schritten zu. Wir entfernten uns voneinander und dann wurde es wieder still. In dieser Stille erreichte ich mein Zimmer und trat zum Bett. Ein weiterer Versuch lag vor mir. Möglicherweise verzweifelt und zum Scheitern verurteilt, doch es gab keinen anderen Weg, denn viel länger würde dieser Zustand nicht erträglich bleiben.

Meinen Armen fiel es schwer, sich aus dem robusten Stoff zu befreien. Ebenso träge warf ich die Uniform in die Richtung des Stuhles, traf daneben und sank auf die Matratze, bereit für die weitere Blamage. Allmählich war es lachhaft, doch ich lachte nicht, als ich bald darauf schweißgebadet in die Höhe fuhr und mich in die Decke klammerte.

Mein feuchtes Gesicht glühte, während ich mit Leib und Seele fror und für einige Momente nur auf die gegenüberliegende Wand starrte. Das Haar haftete auf meiner Haut und wie trocken wurde mein Mund binnen kürzester Zeit unter dem Keuchen.

Eine Gänsehaut ließ mich erschaudern. Ich zuckte zusammen, versuchte den Griff meiner Hände zu lockern, doch er war so verkrampft, dass es schmerzte. Als bräuchten meine Hände irgendeinen Halt. Meine Augen brannten noch immer unter den Bildern des Albtraumes, doch noch immer zu nahe war.

Mana.

Wie lange ich hatte ich nicht mehr von ihm geträumt.

Wie lange nicht mehr mein damaliges Vergehen vor Augen gehabt.

Alle Fehler, die ich begangen, jeder Gedanke, den ich unüberlegt führte.

All das suchte mich soeben heim und ich schluckte, würgte es regelrecht hinab und spürte den erbärmlich vertrauten Druck in meinem Hals. Um mich herum war es dunkel, war es still und die Hürde groß, bis ich dazu imstande war, den Kopf zu wenden und zum Fenster zu blicken.

Es war ein Fluch und auf mir lastete nicht nur einer. Es waren mehrere, die sich abwechselnd zu Tage förderten, gnadenlos, und mich in dieser Nacht zu Boden rangen. Ich war alleine, als mein Blick unter jener dumpfen Nässe verschwamm und sich das Kitzeln seinen Weg über mein erstarrtes, bleiches Gesicht bahnte.

Wie viel Kraft hatte es mich gekostet, mich von diesen Bildern loszureißen und wie benommen hob ich die Hand zu meiner Wange und ertastete die Feuchtigkeit. Meine Fingerkuppen badeten in ihr, bevor ich die Beine regte und, bis in die tiefsten Grundfesten ermattet, die Decke zu mir zog. So rückte ich zur Kante des Bettes und sank in dieser Haltung doch nur abermals in mich zusammen.

Meine Ellbogen trafen auf die Oberschenkel, die Stirn sank in meine Hände und so blieb ich kauern, bebend und abgrundtief verbittert. Ich wusste nicht, wie lange die letzte erholsame Nacht zurücklag. Der letzte Schlaf, der nichts anderes bereithielt als das schwarze, warme Nichts.

Die Hand an meiner Stirn regte sich, ballte sich und ein Zittern suchte meine Lippen heim, bevor ich sie aufeinander presste und abermals gegen den Druck in meinem Hals an schluckte.

Mein Inneres zog es hinab in fürchterliche Abgründe.

Ich hatte den Tiefpunkt erreicht, den absoluten, vollkommenen.

Die Bilder und vertrauten Stimmen hatten mich so schmerzhaft getroffen, wie es keine Waffe könnte. Auch Manas letzte Worte, bevor mein sehnsüchtiger Verstand jenes Desaster einleitete.

Ein Fehler, wie er nicht wieder gut zu machen war. Für den keine Buße reichte.

Stockend umschloss ich meinen Leib mit den Armen. Es tat so unsagbar weh.

Auch ich konnte mich nicht an alles gewöhnen.

Jedes Fragment in mir wehrte sich bis zum heutigen Tag gegen jene Tatsachen. Das Verstehen war da, nur keine Kraft für die permanenten Wiederholungen.

Hieß es nicht Vergangenheit, weil die Dinge vergingen?

Wie nannte man dann das, was hinter mir lag?

Gegenwart. Zukunft. Es war anwesend. Immer.

Irgendwann schmerzten meine Augen vor Trockenheit. Die Tränen waren versiegt. Nach einer endlos erscheinenden Zeit, die mich weitere Kräfte kostete.

Woher ich diese nahm, das wusste ich nicht, denn ich meinte, meine Grenze längst überschritten zu haben. Aus dem jetzigen Gebiet ließ sich nicht mehr schöpfen.

Stockend richtete ich mich auf und rieb meine Augen. Ich musste mehrfach blinzeln, bevor sie mir das dunkle Bild meiner Umgebung preisgaben. Nur leichte Umrisse in der Nacht und auch zu meiner Tür blickte ich. Dunkel zeichneten sich ihre Strukturen ab.

Ich wollte mein Zimmer verlassen. Wie so oft verzweifelt und ohne Ziel.

Meine Schuhe und Tim ließ ich zurück, streifte mir auch nichts über und verschränkte fröstelnd die Arme vor dem Bauch, als mich die Kälte des Treppenhauses erreichte. Mein verschwitztes Gesicht entflammte kühl und bebend blickte ich um mich.

Wo entlang?

Wohin sollte ich in diesem Zustand?

Nicht unter fremde Augen, doch welcher Ort brachte mir das, was ich brauchte?

Es war kalt und umso dringlicher war mir danach, weiterzugehen, mich zu bewegen.

Nur wohin?

Ich rieb mir die Arme, vertrat mir die Füße auf dem kühlen Boden und presste die Lippen aufeinander, da zog es meine Augen zu dieser nicht sehr weit entfernten Tür und wie starr blieb ich dieser Beobachtung treu.

Was trieb mich zu ihr?

War es in diesen Momenten richtig, auf sie aufmerksam zu werden?

Ich quälte mich durch Grübeleien, soweit mein Kopf es zuließ, suchte nach der richtigen Frage und deren Antwort und glaubte sie doch recht bald zu finden. Er hatte mich oft gestützt. In Momenten, in denen ich es brauchte. Momente, wie dieser einer war.

Nie hatte ich um seine Hilfe gebeten, bevor ich sie erhielt, doch Stolz spielte keine Rolle mehr.

Ebenso keine Frage oder Zweifel.

Er würde mich retten.

Abrupt setzte ich mich in Bewegung. Meine Beine entwickelten ein Eigenleben, als wären sie mein sinnloses Sinnieren leid. Sie führten mich durch das Treppenhaus, führten mich zu dieser Tür und ich wollte sie erreichen sowie ich mich von ihr fernhalten wollte.

Es war ein nicht geringer Anteil an Respekt vor diesem Handeln, der mich aufhielt und eine schier unbegreifliche Sehnsucht, die mich anzog wie das Licht eine verlorene Motte.

Ich taumelte ihm entgegen, sah mich um, befürchtete Schritte und Augen.

Niemand sollte mich sehen. Ich wusste nicht einmal selbst, was ich tat und dann stand ich vor dieser Tür. Die Arme um den Bauch geschlungen, auf müden, weichen Knien und einerseits so entschlossen wie ich unsicher war.

Inwieweit würde ich ihn stören? Was ließ mich zögern?

War es die Angst vor einer Abweisung?

Angst vor seinem Zorn oder davor, etwas zu zerstören und uns im Keim zu ersticken?

Schritte!

Sofort blickte ich auf, vermutete sie jedoch in einem der höheren Stockwerke.

Ich presste die Lippen aufeinander, als die Schritte sich entfernten und wenige Momente später realisierte ich das Bild, das ich bot. Wie dümmlich musste ich wirken. Ich wusste doch stets, was ich tat.

Ich fürchtete auch nichts und nun fürchtete ich diese Tür?

Es wurde so kalt. Meine Füße waren wie Eis und kurz blickte ich zu meinem Zimmer zurück.

Mein Herz schlug dumpf in meiner Brust und den Blick noch immer auf meine Tür gerichtet, hob sich meine Hand und klopfte an die andere. Das leise Geräusch ließ mich zusammenzucken, als hätte ein anderer es verursacht und wie abgrundtief war die Reue, als ich in meiner Haltung erfror, mit noch immer erhobener Hand auf die Klinke starrend.

Wenn ich mich nun abwandte und ging, würde er niemals erfahren, wer inmitten der Nacht vor seiner Tür stand. Vorausgesetzt er hörte es überhaupt.

Unscheinbar setzten meine Beine zu einem Schritt an. Der Rückzug begann bereits nach wenigen Augenblicken. Ich entfernte mich, brachte mich in Sicherheit, doch kaum setzte ich den Fuß zurück, wurde die Stille von einem leisen Klicken zerrissen. Entsetzt lebte das Herz in meiner Brust auf, während meine Finger tiefer in den Stoff des Hemdes drangen.

Vermutlich hatte er geschlafen. Vermutlich störte ich ihn tatsächlich.

Mit stockendem Atem verfolgte ich, wie die Tür sich öffnete und das matte Licht des Flures ihn preisgab.

Sein Haar bahnte sich offen seinen Weg über seine Schultern, die von einem simplen, weißen Hemd gewärmt wurden und nur andeutungsweise trafen sich unsere Blicke, bevor er sich in den Türrahmen lehnte und sich die Augen rieb.

Er hatte tatsächlich geschlafen und wenn es etwas zu sagen gab, würde er es tun, sobald sein Bewusstsein die Situation realisierte. Mir gelang kein Blinzeln, als er sich eine Strähne aus der Stirn streifte und mich abermals in Augenschein nahm. Wie akribisch und alarmiert starrte ich ihn an, um das fragilste Fragment von Wut abzupassen. Ich würde reagieren, sobald er mir diese Schranke offenbarte, würde mich zurückziehen, doch in dem matten Licht erkannte ich keinen Zorn. Seine Mimik war entspannt, seine Lippen schwiegen und auch ich kannte keine richtigen Worte.

Dabei riss ich ihn aus dem Schlaf und stand nun vor ihm in all meiner Erbärmlichkeit.

Wie endlos erschienen mir die wenigen Momente, in denen wir nur voreinander standen und er mich mit seinen schwarzen Augen ergründete.

Plötzlich und endgültig erwachte er jedoch zu altem Leben. Seine Hand bettete sich auf den Türrahmen. Er zog sich zurück in die Dunkelheit seines Zimmers und wie perplex bemerkte ich die beiläufige Geste, in der er die Tür weiter öffnete und mir den Weg freigab. Das Licht des Flures erreichte ihn längst nicht mehr, während ich mich noch immer nicht regte, mit brennenden Augen auf den Spalt starrend.

Es war offensichtlich, doch die Hürde immens.

Ich hatte keine Erwartungen, denn die Situation war so widerwärtig abstrus, dass ich wie eine untaugliche Marionette auf fremde Führung angewiesen war. Kein Laut drang durch die geöffnete Tür, doch kurz darauf abermals Schritte in meiner Nähe. Eine Tür quietschte, jemand schien es eilig zu haben und wie angestrengt spähte ich zu diesem Gang. Fast meinte ich schon den Schatten zu sehen.

Es war dieselbe Etage und eine geringe Distanz. Mit einem Mal fehlte jede Zeit. Mit einem Mal hatte ich zu reagieren und wie zielstrebig waren die zwei Schritte, mit denen ich die Schwelle überquerte, in den fremden Raum trat und die Tür hinter mir schloss.

Eine Flucht führte mich zum ersten Mal in dieses Gebiet, das für mich niemals existierte und dann stand ich dort vor der geschlossenen Tür und lauschte meinem Atem, während ich perplex mein Umfeld betrachtete. Nur beiläufig achtete ich auf Kandas Bewegungen. Er war zurück in sein Bett gesunken, zog die Decke über sich und suchte kurz nach der alten Bequemlichkeit. Als wäre ich nur ein Schatten, den er nicht bemerkte, da er sich heimlich einschlich. Ich fühlte mich annähernd transparent, da diese Momente ausschließlich aus Überforderung und Ungläubigkeit bestanden.

Ich gehörte nicht hierher, doch sollte es offenbar.

Meine Augen drifteten zu dem Fenster und über das verschiedenfarbige Glas, bemerkten auch den Riss, der es durchzog und nicht viel später blickte ich zu jener Sanduhr.

Ich sah sie schon einmal, während ich Kanda das Essen brachte. Dort auf dem Tisch präsentierte sie sich noch immer als unverständlicher Mittelpunkt des ansonsten kargen Raumes. Nur der Tisch, ein Stuhl, Kleiderschrank und Garderobe.

Mehr Dinge gab es hier nicht und man könnte meinen, das Zimmer wirke kühl und leblos, doch für mich war es angereichert mit dieser innigen, präsenten Persönlichkeit, nach der ich mich verzehrte. Sein Geruch umgab mich, sein Dasein.

Absent rieb ich mir den Arm. Die Kälte war noch immer nicht von mir gewichen und ebenso wenig begriff ich, wie lange ich schon dort stand auf dem unbedeutenden kalten Punkt nahe der Tür.

Doch was sollte ich tun? Was durfte ich?

Die erste Hürde hatte mich alles an Entschlossenheit gekostet und wie ratlos blickte ich abermals zu den undeutlichen Konturen Kandas.

Durfte ich mich setzen? Die Nacht hier verbringen?

Er schien müde und für Gespräche blieb kein Raum. Sie gehörten nicht hierher und ich dachte mir nicht viel, als Kanda sich abermals zu regen begann. Offenbar fehlte noch immer die Bequemlichkeit. In den Schlaf zu finden war obendrein vermutlich schwer nach einer solchen Störung und ich dachte mir noch immer nicht viel, als sich die Decke bewegte. Seine Hand tastete nach ihr und hob sie an.

So öffnete sich ein Weg und wie schwer schluckte ich, als ich befürchtete, es zu begreifen.

Unmöglich war es, dass er es ernst meinte, doch mein Körper setzte sich sofort in Bewegung. Meine Schritte führten mich zu diesem Bett, als symbolisiere es den Ort der Rettung, von dem mich kein Zögern trennen durfte. Und hilflos blieb ich stecken in dieser Hülle, die sich fliehend unter den Stoff schob und neben Kanda auf die Matratze.

Er empfing mich in seinem warmen Kern, schützend sank das leichte Gewicht der Decke auf meinen Körper und wie benommen bettete ich den Kopf auf diesem Kissen, stets dem anderen zugewandt und mich dumpf schlagendem Herzen spürend, wie die Decke über meine Schulter gestreift wurde.

Flüchtig berührten sich unsere Beine, bevor sein Arm sich unter dem Stoff auf meinen Rippen bettete. Er rückte näher, nur um einen Deut, zog mich zu sich, als handle es sich um Gewohnheit, für die er die Augen nicht zu öffnen brauchte. Ich hingegen blinzelte nicht, während ich in sein entspanntes Gesicht starrte.

Kitzelnd sank eine Strähne in meine Stirn, doch ich wagte es nicht, mich zu bewegen.

Ein endloses Entsetzen fügte mir einen Schlag zu, der mich wehr- und hilflos zurückließ. Warm und spürbar erreichte mich Kandas Atem, als er bereits in den Schlaf zurückzusinken schien.

Das schwache Licht des Mondes erlaubte es mir, seine Züge zu mustern und ich tat es.

Es gab keinen Druck mehr in meinem Hals oder Pein in meiner Seele. Auch die Tränen schienen so endlos entfernt, während jede Verspannung aus meinem Körper floss. Unkontrolliert strauchelte ich in diesen neuen Zustand, in dem nichts anderes existierte als das Bild des schlafenden Gesichtes vor mir.

Wie fasziniert und versunken betrachtete ich mir seine Brauen und Wimpern, seine Nase und die regungslosen Lippen. Ein wunderschönes Antlitz umrandet vom tiefen Schwarz des offenen Haares.

Bald zeugten seine tiefen Atemzüge davon, dass er tatsächlich schlief und ich begann sie zu zählen, mich ihnen gar anzupassen, bis selbst die Luft meinen Körper so gelöst und befreit durchströmte. Alles wurde ruhig, alles blieb still und irgendwann erhob sich dieses tiefe Seufzen, das mir so fremd war, dass ich es nicht sofort als mein eigenes realisierte.

Mit der Tür zu Kandas Zimmer schloss ich die Grenze zwischen mir und allem, was mir schadete.

Hier war ich sicher und an der Quelle aller Kraft.

Meine Lippen verzogen sich, ohne dass ich sie zu lenken hatte. Kurz darauf lächelte ich, als würde die Freude mich so exzessiv anreichern, dass sie aus mir floss.

So musste sich Glück anfühlen, dachte ich, als ich die Hand auf seiner Kandas bettete, die Umarmung vorsichtig, doch ohne jedes Zögern erwiderte. Wie verzweifelt suchte ich es Jahr um Jahr und nun gab er es mir, ohne ein Wort zu verlieren. Was für ein Wahnsinn, dass er stets zu wissen schien, was ich benötigte und mir diese absolute verzweifelte Sehnsucht beiläufig erfüllte.

Ich bettete die Hand auf dem Stoff seines Hemdes, spürte seine Haut, selbst die Bewegungen seiner Atemzüge und ertappte mich bei einem leichten Kopfschütteln. Er war vollkommen, ich nur ein vollkommener Narr, der die entsprechende Demut zu zeigen hatte.

Ich grübelte endlos, während er schlichtweg handelte.

Irgendwann senkte ich die Lider, irgendwann wurde ich mir ihrer Schwere wieder gewahr, doch ich fühlte ihn weiterhin, strich absent über seinen Rücken und folgte dem Stoff mit den Fingern. Der Moment war zu heilig, um zu schlafen, doch dumpf senkte sich die flüchtig vergessene Kraftlosigkeit über mich und so selbstsüchtig ich auch war, ich kapitulierte.

Sicher und geradlinig offenbarte sich mir der Weg in das warme, dunkle Gebiet, das ich so oft verfehlte und ich spürte kaum, wie ich tiefer sank, ummantelt und geschützt.

Ich schlief.
 

-THE END-
 

Anmerkung der Autorin:

Ich danke den Kommentatoren und freue mich auch über die, die inoffiziell Gefallen an meinem Werk gefunden haben. :)

'Unseen souls' ist hiermit beendet und wer Lust auf die Fortsetzung hat, kann sich mit 'Last verse of dawn' vergnügen.

Da dieser Teil schon existierte und ich ihn 'nur' abänderte und meinen Vorstellungen anpasste, konnte ich die Kapitel recht zügig uppen. 'Last verse of dawn' muss erst entstehen, heißt: mehr Geduld und längere Wartezeiten.

Hoffentlich wird euch das Werk trotzdem genauso viel Spaß bereiten wie mir.
 

Einen guten und vorsatzlosen Start ins neue Jahr wünscht euch - Asche. :)



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)

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Von:  Kiya
2018-08-22T19:47:35+00:00 22.08.2018 21:47
Wie versprochen habe ich auch diese FF von dir verschlungen. Ich weiss bestimmt nicht mehr alles aber trotzdem möchte ich so gut wie möglich ein wenig Feedback geben.

Erstmal wow, was für ein kollossales Werk mit 25 langen Kapiteln, da habe ich eine Weile gebraucht, auch wenn ich die letzten Tage sehr viel daran gelesen habe. Mir hat auch diese Geschichte sehr gut gefallen, dein Schreibstil liest sich hier schon ähnlich gut wie bei der Fortsetzung, weswegen ich auch hier leicht reingefunden habe.

Ich mag die ausführlichen Schilderungen über Allens Charakter und wie er langsam das Interesse an Kanda entwickelt, dadurch wirkt die Entwicklung natürlich und nicht herkonstruiert, zudem beschreibst du die Beiden sehr in Character (nix ist schlimmer, als unnatürliches Verhalten, so wie es nie möglich wäre) und die Geschichte wirkt alles in allem sehr stimmig und komplex.

Aber ich muss schon sagen, du hast den armen Allen ganz schön leiden Lassen, bis er endlich bekommt was er verdient^^ Es war spannend zu sehen wie er von leichter Neugier in absoluten Kontrollverlust verfallen ist. Kandas Verhalten war auch sehr interessant, dass er nach und nach nur kleine dezente Signale gesendet hat, passt sehr gut zu ihm. Das Highlight war natürlich die Szene im Archiv, das war auch sehr ansprechend geschrieben. Ich fand lediglich, dass Kandas Aussage (er hatte Genug Spaß mit Allen, sonst wirds langweilig) hat nicht so richtig gepasst. War das ernst gemeint oder eher im Spaß? Das wirkte finde ich doch etwas zu gemein/überheblich, obwohl er sich gerade in diesem Moment zu Allen bekannt hatte und ich ihn eigentlich nicht für so hinterhältig halte.

Die Szene im Lagerhaus hat mich auch ganz schön überrascht, ich hätte fest damit gerechnet, dass Allen einen Rückzieher macht und es nicht wirklich tut. Hat Kanda dann eigentlich sofort gemerkt, dass es sich um Allen handelt? Seinen Geruch müsste er ja schon vorher gekannt haben. Ich finds nur etwas schade, dass diese doch sehr entscheidende Szene nicht mehr zur Sprache gebracht wurde. Zum Einen frage ich mich wer Kanda da gefesselt hat und warum? Akuma würden doch für gewöhnlich nicht ihre Zeit mit sowas verbringen und gleich zum töten übergehen. Zum anderen wundert es mich etwas, dass weder Kanda noch Allen das nochmals zum Gespräch gebracht haben (aber okay, ich weiss ja nicht ob du in der Fortsetzung eventuell nochmal darauf zu sprechen kommst^^).

Mir haben auch die einzelnen Missionen und deine Ideen für Allens Albträume gut gefallen. Gerade die schnelleren Aufträge wirken grad echt entspannend. Ich weiss nicht ob du den Manga gerade aktuell verfolgst, aber der Veröffentlichungsrhytmus in Japan ist derzeit extrem langsam und die extrem schwere Stimmung macht mich regelrecht fertig, da tut es gut sich wieder in die Zeit zurückzuversetzen, in der es noch nicht so krass war...

Das Ende fand ich auch sehr schön, dass Allen bei Kanda endlich die Wärme und Geborgenheit gefunden hat, die er so lange gesucht und gebraucht hat, es ist auch eine sehr schöne Idee, dass sich die Zwei einfach wortlos verstehen (auch wenn ich ehrlich gesagt fest damit gerechnet habe, dass sie es noch miteinander tun würden und fast etwas enttäuscht war, dass dann doch nix mehr kam, was aber dem schönen Ende keinesfalls einen Abbrruch tun soll!).

Soa, ich hoffe ich konnte einigermaßen meine Eindrücke in Worte fassen. Wie gesagt nochmals, es ist eine ganz tolle Story die du geschrieben hast und ich hoffe du fasst die Kritikpunkte nicht zu harsch auf - eigentlich ist es nicht wirklich eine Kritik, sondern einfach meine Eindrücke - ich habe ja schon gelesen, dass du diese Geschichte wohl schon etwas länger her geschrieben hast und ich habe auch nicht die anderen Kommis komplett gelesen, drum entschuldige falls ich mich wiederhole.
Ich hoffe du schreibst noch eine Weile am Sequel weiter, mach weiter so!

P. S. Eine Sache würde mich noch interessieren, hast du festgelegt wieviel Zeit zwischen den Beiden Geschichten vergangen ist?

Liebe Grüße :)

Antwort von: abgemeldet
22.08.2018 23:27
Wow... jetzt hast du mir aber den Abend versüßt. Da du mir so viel Zeit geopfert hast, gebe ich das gern zurück. :)
Zuerst möchte ich sagen, dass es sich hier um eine etwas veraltete Version handelt. Die Version, mit der ich nun wirklich zufrieden bin, habe ich auf fanficition.de veröffentlicht. Dort ist auch die Szene im Archiv überarbeitet, weil ich mich im Nachhinein genauso daran störte wie du. Kandas Worte passten nicht komplett ins Bild aber ich habe mir die Arbeit erspart, hier alles zu aktualisieren, weil ich bisher sehr wenig feedback bekam und dadurch tw etwas frustriert war. Vll werde ich mich doch noch dran setzen, jetzt wo ich weiß, dass es doch noch fleißige Leser gibt, die sich sogar melden.
Du hast das Monsterprojekt echt schnell durchgearbeitet. Respekt. Und ich fühle mich geehrt. :)

Die Grundstory entstand vor vielen Jahren und war unerträglich. Was man eben so schreibt, wenn man jung ist. ôo'' Das habe ich so gut wie möglich ausgebadet, allerdings blieb das, was du (zu Recht) kritistiert hast = die Mission in den Niederlanden. Damals als spätpubertärer Mensch habe ich nach einem Weg gesucht, der dazu führen konnte, was dann auch geschah und die Logik spielte leider eine untergeordnete Rolle (oder es wirkte damals logisch auf mich). Mit meiner aktuellen Fantasie konnte ich die Szene nicht umschreiben und retten. Der Grundgedanke bestand darin, dass Kanda sich einem Broker näherte, durch falsche Infos aufflog (keine Ahnung, wer ihn hätte übermannen können) und sein gefesselter Aufenthalt in dem Raum eher als Hinrichtung gedacht war. Die Akuma wussten nichts von seiner Gegenwart und entweder hätte er sich verraten oder wäre erfroren. Die Szene ist die Plot-Schwachstelle - absolut. Das bitte ich als Jugendsünde zu verzeihen. XD
Die Mission kam nicht noch einmal zur Sprache, weil ich es für unnötig hielt. Allens Verhalten passte einfach zu dem, was Kanda hinter seiner Maske entdeckte. Die Wahrheit brachte die Antwort auf alle Fragen und durch die allgemeine Entwicklung gegen Ende kam Kanda wohl ganz gut darüber hinweg. Letztlich kannte er ja auch die Gründe, weshalb Allen tat, was er eben tat, da er Allens 'Gnadenlosigkeit' erkannte. Dazu musste sich Allen nicht noch einmal äußern. Mal sehen, ob ich es in Teil 2 nochmal anschneide, wenn es irgendwie passt. Reizt mich ja schon ein bisschen.

Meine Allen-Version ist wirklich sehr finster. Danach hatte ich das Verlangen, weil ich den Anime teilweise oft viel zu kitschig und blumig fand. Klar wurde das schlimme Schicksal der Exos beleuchtet aber letztendlich überwog oft das Herumgekaspere, dabei ist es eine wundervoll dunkle Welt, die man endlos ausbauen kann. Ja, ich habe Allen leiden lassen. Das musste sein und ja~ es machte mir Spaß und macht es heute noch, wobei Allen in Teil 2 schon ganz gut therapiert ist.

Nochmal zu der Szene in den Niederlanden...
Ich denke nicht, dass Kanda es sofort begriffen hat. Er kennt Allens Geruch, ja, aber in dem Moment war er, denke ich, wirklich völlig überfordert und 100% pissed. Aber als wieder Ruhe in ihn einkehrte, hat er die Puzzleteile schnell zusammengesetzt, da auch er aufmerksam ist und, wie beschrieben, Allen ihn nie wirklich täuschen konnte.

Ich verfolge den Manga, ja... aber nicht mehr wirklich begeistert.
Der Plot wird zu verwirrend, mehr neue Fragen gestellt als Antworten geliefert und allgemein habe ich die Befürchtung, dass es ein Endlos-Werk wird, an dem man zwangsäufig irgendwann die Freude verliert. Klar freue ich mich darüber, dass Allen und Kanda füreinander doch so wichtig Rollen zu spielen beginnen, aber es ist mir inzwischen wirklich zu komplex und mit jedem neuen Kapi bin ich noch irritierter.
Deshalb spielt meine Story auch nach dem Edo-Arc und bevor die Noah so an Bedeutung gewinnen. Da war alles wirklich noch sympathischer. Die Exos hatten ihre Missionen, kamen Nachhause, zogen wieder los etc. pp. Ich denke, es wäre schwer, eine Story im aktuellen Manga-Plot zu schreiben. Würde mich auch nicht reizen. Würde ich auch nicht lesen, außer man beantwortet einige Fragen auf simple Art.

Sooo~ ich weiß und kann es nachvollziehen... das yaoi-Level war niedrig und ich weiß es zu schätzen, dass man die Story trotzdem liest und so geduldig ist, obwohl kaum was körperliches passiert. Ich denke jeder hätte erwartet, dass es am Ende zum 'Höhepunkt' kommt und das habe ich ganz bewusst nicht bedient. Ich hätte den Plot dafür ausweiten müssen, da Allen am Ende nicht wirklich in der Stimmung für Sex gewesen wäre. Die ganze Story über hätte er sich fast auf Kanda gestürzt aber am Ende brauchte er nur Wärme und Nähe. Für eine erste Nacht hätte ich weitaus mehr schreiben müssen, d.h. Allen erholt sich, dann vielleicht noch eine Mission, wieder Annäherung und allgemein hätte ich einige Sprünge gemacht, denn ich könnte mir vorstellen, dass die beiden bei jeder Entwicklung viel Zeit brauchen, weshalb es für mich unrealistisch war, dass sie wenige Tage nach der Klärung im Bett landen.
Die Story war beendet, als Kanda ihn in seinen engsten Kreis ließ. Das war der Höhepunkt.
Die schrittweise Annäherung der beiden, nachdem es zur Beziehung kam, habe ich auch großzügig übersprungen, weil ich da nach dem Werk auch keine Lust mehr drauf hatte. Dafür habe ich mich in Teil 2 so gut wie möglich ausgetobt.
Als die beiden da zum ersten Mal miteinander schliefen habe ich es dargestellt wie eine Sache, in der sie schon ordentlich Übung haben. Also kein dramatisches 1. Mal.
Im Allgemeinen gehen die beiden sehr vertraut miteinander um, also würde ich mir als Zeitspanne zwischen den beiden Teilen 4-6 Monate vorstellen.

Ich hoffe, es ist soweit alles beantwortet. Für Logiklöcher und Rechtschreibfehler übernimmt die Uhrzeit die Verantwortung. ^____^
Gute Nacht ~ Asche
Antwort von:  Kiya
30.08.2018 18:36
Soa leider komme ich erst jetzt zum antworten, sorry :D
Japp ich hatte gesehen, dass du es inzwischen aktualisiert hast und ich habe mir die neue Fassung auch durchgelesen und finde es jetzt auch viel besser, da die Beiden jetzt auch einen richtigen Dialog haben.
Das mit dem wenigen Feedback finde ich auch sehr, sehr schade, deine Story hätte viel mehr verdient! Aber ich kenne das auch aus dem Fanart und Cosplaybereich auf Mexx, es ist sehr schade, dass hier immer weniger los ist. Aber ich möchte wieder mehr bewusst hier unterwegs sein, da ich von vielen anderen Seiten inzwischen sehr frustriert bin. Ich habe auch schon meine Frau auf deine FFs angesetzt und sobald sie dazu kommt wird sie auch zu lesen anfangen :)

Mich macht ja im Manga die ewige Wartezeit so fertig und ich sitze jedesmal mit nem halben Herzinfarkt vorm PC während ich ein neues Kapitel lese, weil es trotzdem so irre spannend ist und mir Allen (und auch Kanda) so leid tut was ihm in letzter Zeit so krasses passiert. Es stimmt schon die Grundstimmung ist eine andere geworden. Aber ich denke die Story musste langsam an Fahrt gewinnen damit es nicht zu eintönig wird, auch wenn ich die gutgelaunten Zeiten vermisse.

Wie gesagt ich finde das Ende sehr passend und gut wie es ist und ich sehe das auch so wie du. Es war wohl eher ein "man ists so von anderen Storys gewohnt und erwartet es deshalb so", aber eigentlich ists mal ganz interessant wenn das erste Mal komplett ausgespart wird und man nur das davor und das danach kennt :D

Von:  Otogi
2017-10-04T17:09:31+00:00 04.10.2017 19:09
Sooo~

Also erstmal muss ich sagen, ich bin kein guter Kommischreiber, aber ich weiß jedes Werk, dass ich lese und das mich beeindruckt zu schätzen, also lasse ich jetzt doch ein Kommi da.

Zugegeben, ich bin für gewöhnlich kein Fan von ausschweifenden Beschreibungen einer Szene oder der Umgebung, die sich so ausführlich in die Länge ziehen, weshalb ich beim ersten Kapitel doch erst schlucken musste und mich wirklich überwinden musste, das zweite Kapitel zu lesen.
Aber danach habe ich deine FF ja fast nahezu in wenigen Tagen verschlungen. Denn was bei dir er Unterschied zu anderem Geschrieben ist, dass du die Dinge von Allens Sicht aus so ausführlich beschrieben hast, und das gibt dem ganzen dann doch einen ganz eigenen Stil. Man kann sich so richtig in den Charakter einfühlen und das wahrnehmen, was er wahrnimmt undzwar genauso, wie er es wahrnimmt. Das finde ich wirklich faszinierend und das hat mich wirklich gefesselt.

Was mir auch noch sehr daran gefällt ist, dass jemand hier mal meiner Meinung ist. Also dass Allen nach innen hin garnicht so der "Sonnenschein" ist, wie er sich immer gibt. Diese nüchterne Art, mit der du seine Gedanken beschrieben hast, spiegeln genau meine Gedanken über ihn wieder, was noch ein Fakt ist, warum mir die Geschichte zusagt.

Meine persönliche Lieblingsstelle in der FF ist ja die, wo Allen auf Kanda in dem leeren, ausgebrannten Haus trifft. Ich war richtig schockiert, dass Allen tatsächlich die Situation ausnutzt. Aber nicht eher, weil ich es ihm nicht zugetraut hätte, sondern eher viel mehr, weil er sich ja im Grunde selbst in dieser Lage schutzlos ausgeliefert hat.

Noch eine Stelle, die mir wahnsinnig gut gefallen hat, war die Mission im Lager von Belgien. Mit welch einer Strategie Allen sein Ziel verfolgt hat und wie geschickt er den Broker enttarnt hat. Noch dazu diese direkten und gnadenlosen Gedanken, die er dabei empfindet. Ist auch sehr schön beschrieben.

Dann zu Kanda. Ich gebe zu, dass ich - wohlmöglich meinen eigenen Schwachpunkt - in der FF sehe, dass ich Kanda bis zu Ende nicht wirlkich durchschaut habe. Was vielleicht daran liegt, dass ich nur die Sichtweise von Allen zu lesen bekam und mir immerwieder den Gegenpart von Kanda dazu gewünscht habe. Wie gern wollte ich wissen, was auch in seinen Gedanken vor sich geht, konnte aber nur spekulieren. Vielleicht macht es auch gerade den Reiz dieser Geschichte aus, dass man eben nur in Allens Innerstes blicken konnte und nicht in Kandas.
Jedenfalls muss ich für mich persönlich sagen, dass mir die Wendung am Ende zu abrupt erschien und ich das Gefühl habe, ich habe etwas verpasst, als ich sie buchstäblich im Lager plötzlich im Zungengefecht erwischt habe. (Deine Beschreibungen sind übrigens wirlich so schön, dass man es direkt vor sich sieht, das habe ich auch sehr selten bei FFs, da ich kein bildlicher Vorstellungstyp bin. Hut ab also auch dafür, mal so beiläufig ^^)

Was ich noch wirlkich unheimlich süß und hererwärmend fand, war die ständige Begleitung von Timcampy~ Wie Allen ihn immer um sich hat und mit ihm spielt und sie sich gegenseitig ärgern. Ich liebe Timcampy und habe diese Stellen sehr sehr gerne gelesen, die kommen meist immer zu kurz. Nicht so bei dir.

Allerdings, jetzt kommt dann doch etwas Kritik, aber nur meiner Ansichtssache.
Deine Kämpfe in den Missionen waren wirlich super beschrieben, aber meiner Meinung tatsächlich etwas mager bestückt, was ich eben aufgrunddessen, dass sie so schön beschrieben waren, doch etwas schade fand. Ich habe den Manga so in Erinnerung, dass die Angriffe der Akuma stetiger waren. Vor allem, wenn sie ein Innocence geborgen hatten. Warum haben keine Akuma mehr angegriffen, obwohl sie noch mit dem Innocence unterwegs waren?
Besonders ist es mir bei Allens Rückkehr wegen seiner Verletzung aufgefallen. Es wäre doch gerade da ein leichtes gewesen, ihn anzugreifen, wenn er sich allein auf den Rückweg machte.
Aber gut, auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass es viel wichtiger war, Allens Gefühle und Gedanken zum Ausdruck zu bringen, da ist das weniger schlimm. Es ist mir nur so während des Lesens in den Sinn gekommen.
Andererseits wars ja auch spannend zu lesen, dass eben auch mal nichts passiert :D

Nunja, jetzt weiß ich nichts mehr zu schreiben, obwohl mir noch sovieles über die FF im Kopf rumgeistert. An und für sich finde ich deine Geschichte sehr gut gelungen und bin sehr gereizt, auch deine Fortsetzung zu lesen, da ich das Gefühl habe, es ist hier erst der Anfang und nicht das Ende. Es ist schon der Wahnsinn, was du für ein Schreibtalent besitzt und ich mir vorstelle, wie diese Worte von dir niedergeschrieben werden.

Ich wollte wirklich mal was ausführliches und anspruchsvolles von Allen und Kanda lesen und ich wurde nicht enttäuscht, sodass ich froh bin, dass der Zufall mich zu deiner Fanfic gelotst hat. ^^
Vielen lieben Dank dafür, du hast mir damit mein Gemüt erheitert~
Ich habe deine FF schon einigen meiner Freunde empfohlen :)

In dem Sinne, liebe Grüße ^^
Antwort von: abgemeldet
04.10.2017 21:08
Tagchen Otogi, dafür dass du dich für einen schlechten Kommi-Schreiber hältst, hast du einen sehr schönen Kommi geschrieben. :)
Danke dafür und für die Zeit, die du dir genommen hast. Freut mich sehr.

Die 'ausschweifenden' Beschreibungen, die du gelesen hast, sind schon die gekürzte Fassung. Die Grundfassung war knapp 50 Seiten länger und herausgeschnitten habe ich nur solche Ausschweifungen. :D Ich weiß, dass ich in diesem Gebiet sehr gewöhnungsbedürftig bin und noch an mir arbeiten muss. Danke für deine Geduld und toll dass ich nicht die Einzige im düsteren Team 'Allen' bin.
Wenn er verkuppelt wird, endet er nicht selten als schüchterner Quietsch-Uke, der unter anderen Händen zerfließt. So habe ich ihn nie gesehen. Seine finstere Tiefe bietet sehr viel Futter für die, die der Meinung sind, dass sie vorhanden ist und gerade das reizte mich so. Dass der sonnige Junge auch eine andere Seite hat, die oberflächliche Augen nie in ihm vermuten würden. :)
Es macht mir bis heute Spaß, mich mit ihr zu befassen.

Die Kritik bezüglich Kanda ist absolut verständlich. Man konnte wirklich nur spekulieren. Vielleicht habe ich durch sein Handeln zu wenig verraten und der Schritt am Ende war vielleicht wirklich etwas zu groß. Immerhin bekam der Leser die ganze Zeit über nur kleine Brocken und Warheiten über seinen Charakter zugeworfen und plötzlich lässt er alle Hüllen fallen. Im 2. Teil bin ich noch darauf eingegangen aber das war vielleicht etwas spät.
Kurzum: Kanda wird von Allens versteckter Dunkelheit angezogen und Allen von Kandas verstecktem Licht.
Wäre Allen wirklich das sonnige, gutherzige Kerlchen, hätte Kanda niemals so ein Interesse an ihm gefunden. Bei Kanda ist es dasselbe. Die versteckten Eigenschaften haben Allen gelockt und kaum hatte er eine entdeckt, da leckte er Blut und wollte die Nächste.
Allgemein ist es wohl so, wie du sagtest. Da ich nur aus Allens Sicht schreibe, blieb Kanda undurchschaubar, also ist es teilweise leider auf Spekulation begrenzt. Du hast Recht, es ist der Anfang und die Beziehung zwischen den beiden wird im 2. Teil vertieft/auf die Probe gestellt/noch etwas erklärt. Aber es wird diesbezgl. keine/kaum Dialoge zwischen den beiden geben, da sie IC bleiben müssen und vieles zwischen ihnen auch ohne Verständigung funktioniert.

Zu den Kämpfen:
Die sind schwer/anstrengend zu beschreiben und da habe ich nicht immer Lust drauf. ><
Die Kämpfe, die stattfinden, gehören immer in den Plot und haben etwas zu bedeuten. Am Rande gibts die nicht in meiner Welt aber du hast Recht, im Anime/Manga gab's mehr davon, aber die haben Zeit und kriegen Geld dafür. XD

Danke für dein Lob, deine Zeit, deinen Aufwand. Das hat mir auch das Gemüt erheitert.
Grüße - Asche
Antwort von:  Otogi
04.10.2017 21:48
Oh bitte bitte ^^
Ich schreibe immer viel zu wenig und drücke mich nicht sonderlich gut aus, in dem, was ich eigendlich sagen will. Aber ich gebe mir Mühe :D

Und ja... das Qutisch-Uke... so habe ich Allen nie gesehen. Um genau zu sein, kann ich mir gerade bei diesem Paar nicht vorstellen, dass Kanda der "offensive Seme" ist. Ich habe in dieser Beziehung immer Allen als den aktiven Part angesehen. Und gerade diese tiefe und dunkle Seite an ihm ist es, was ich auch für ich so reizvoll macht~ Später können sie immernoch switchen, wenn Kandas Eis eben von Allen durchbrochen ist und es sich dann durchaus mal erlauben kann.
Und genau deswegen habe ich deine FF so genossen, weil eben einfach: Team "düster Allen"~ XD

Oh ja, das mit Kanda trifft es wirklich auf den Punkt, wie du es sagst XD Aber das passiert mir als Schreiber oft genauso, weil ich ja in meinem Kopf genau weiß, was das gegenüber denkt.
Aber umso dankbarer bin ich für deine Erklärung, denn das ist in wenigen Worten genau das, was ich zu meiner vollständigen Erklärung noch gebraucht hab. Es klingt schlicht, aber entspricht einfach der Wahrheit und ich spüre auch jetzt wieder, wie es ein wohliges Gefühl in mir auslöst. Also auch wenn du nen kurzen Satz schreibst, schaffst du es, mich zu bannen. Sie interessieren sich für das tiefgründige Gegensätzliche, das beide vergerben~ Allen seine Dunkelheit und Kanda sein Licht. Oh wie schön das klingt *_*
Die wenigen Worte zwischen ihnen stören mich auch garnicht, denn ich denke, dass ist es auch, was die Beziehung zwischen ihnen ausmacht ^^
Im Endeffekt war ich wirklich nur darüber verwundert, dass Kanda eben von einem auf den anderen Augenblick seine Hüllen fallen gelassen hat und ich dachte, warum denn gerade jetzt, wo er sich die ganze Zeit über versteckt gehalten hat? Wo war der Knackpunkt? Etwa, weil Allen sich endlich getraut hatte, vor seinen Augen offensiv zu werden und er es genau darauf angelegt hat? Hab ich das jetzt richtig verstanden? Oô
Siehst du, ich könnte noch ewig über die beiden nachdenken XD

Ja, die Kämpfe. Ich weiß selbst, wie schwer die zu schreiben sind und gerade deswegen ließt man sie so selten. Da haben mich deine wohl noch mehr gepackt *_* Aber am Ende hat es der gesammten Geschichte auch keinen Abbruch getan ^^

Und PS, das wollte ich ja auch noch dazu schreiben. Es gibt eine Szene in deiner Geschichte, die eigentlich total belanglos ist, aber so ausführlich beschrieben ist, dass sie mir wohl am tiefsten im Gedächtnis sitzt XD Gerade, weil ich keinen Kakao mag und mir die Vorstellung so ekelig erscheint, hat es mich aber gleichzeitig so fasziniert. Undzwar, wie Allen den Kakao trinkt und die Klumpen in seinem Mund zerspringen lässt, die dann trocken auseinanderfallen. Ich spüre sogar jetzt, wenn ich daran denke, genau den Geschmack und die Konsistenz davon... Ist schon cool, dass nur Worte das so in mir auslösen können XD Da hat du wirklich ein Talent dafür!
Gut, das nur mal so am Rande erwähnt, damit du weißt, dass auch deine Beschreibungen von so simplen Dingen seine Wirkung haben können ;)

Aber gut, jetzt schwafel ich nicht weiter drum herum ^^
Ich werde mir deine andere FF definitv auch zu Gemüte führen, da ich mich total über die Fortsetzung freue und gespannt darauf bin ^^ Denn ich kann mir ein "Friede-Freude-Eierkuchen" der beiden im Orden unter all den wachsamen Argusaugen zwischen den Beiden nicht vorstellen.
Und ja, auch der Stil gefällt mir und es wird mir auch weiterhin gefallen, Kandas Gedanken zu erahnen~

Danke auch dir nochmal, denn immerhin nimmst du dir vielmehr Zeit, um uns mit den FFs zu beglücken ^^
Liebe Grüße
Von:  Kanda-Lavi
2017-08-10T17:39:58+00:00 10.08.2017 19:39
So wie versprochen bin ich wieder da~
Ich sehe gerade du hast schon geantwortet. Da macht es doch glatt noch mehr Spaß einen Kommi zu schreiben XD
Eigentlich hätte ich ja alles zusammen in einem Kommi hochgeladen, aber da ich gesehen habe, dass du so wenig Feedback bekommst dachte ich mir, dass ich das einfach schon mal früher hochlade und dir damit halt zeige, dass doch Jemand Interesse an deiner Geschichte hat. Sehr viel Interesse sogar. Und ich hoffe sehr, dass du Teil 2 auch beenden wirst. Das wäre ein Traum, denn mittlerweile liebe ich die Geschichte mega.


Ja, ich fange mal wieder mit etwas an was mich stört, aber da wirst du mich wieder etwas Besseren belehren schätze ich.

Hmmmmm, eigentlich ist es ja ein wenig unlogisch...
Allen wird von der Mission abgezogen weil er eine starke Verletzung hat und soll umgehend zum Hauptquartier gehen. Er ist ganz ALLEIN zurück gefahren mit all den Schmerzen. Was wäre wenn er bewusstlos geworden wäre weil der Schmerz zu stark wäre? Was wäre wenn Akuma auf der Reise Bekanntschaft mit ihm gemacht hätten? In dem Zustand hätte Allen nie und nimmer überlebt, deswegen hätte Komui logischerweise entweder Tiedoll/Chaoji zur Begleitung mitschicken müssen oder aber noch einen Exorzisten hinterher, der ihn begleiten würde dann. So robust Allen auch ist... er ist nicht unsterblich. Also entweder war es beabsichtigt von dir, dass Komui tatsächlich so unverantwortliche Befehle durchgibt, oder du hast das warum auch immer nicht wirklich mit bedacht.

Soviel zum Thema Gesellschaft XD. Allen bekommt mein tiefstes Mitleid, dass sich bei ihm momentan wirklich nichts bessern möchte ist schön heftig. Und dann möchte er mit Miranda sprechen um sich abzulenken und diese wirkt eher wie ein Geist denn ein Mensch. Schade, dass er nicht zumindest gelächelt hat als sie sich wieder hingepackt hat, aber dazu ist er wohl kaum noch in der Lage, was?

Uiiii was für ein geniales Kapitel. So komplett voller Spannung. Die Telefone alle besetzt um die Exorzisten in der Nähe allesamt nach Russland zu Kanda zu lotzen, der mit den ganzen Findern dort ganz schön in der Tinte sitzt. Klar, dass Allen sich da enorm viel Vorwürfe macht, immerhin hätte er dort sein können wenn seine Verletzung nicht gewesen wäre. Was anderes außer Däumchen drehen und bangen bleibt ihnen allen nicht übrig. Vor allem denke ich, dass Allen jetzt ganz genau weiss wie sich Komui jedes Mal aufs Neue fühlen muss dort zu sitzen und nicht viel mehr machen zu können als Befehle zu erteilen. Er kann nicht kämpfen, kann seiner „Familie“ nicht mit einer Waffe unter die Waffe greifen, sondern nur mit Wissen und Worten. Denn ich bin mir sehr sicher, dass auch Komui sich zu solchen Zeiten immer mies fühlt, so wie Allen eben.


Ich muss echt gestehen, dass ich momentan gar keine Lust auf das Lesen habe, deswegen wird das mit dem Kommi wohl noch eine ganze Weile dauern und hoffe, dass du mir das nicht zuuuu krumm nimmst. Hab einfach keine Lust gerade irgendwas mit Buchstaben anzurühren und werde erst dann wieder lesen wenn ich soweit bin. Warum ich das gerade schreib weiss ich nicht XD. Immerhin bekommst du den Kommi eh erst später... egal... weisst du zumindest Bescheid warum es gedauert hat.

Eine Frage hätte ich da mal: Animexx ist in Sachen DGM eigentlich recht Tod und Fanfiktion dagegen eigentlich noch manchmal halbwegs lebend. Warum lädst du deine Story zusätzlich nicht dort auch noch hoch? Ich glaube es würde einige geben, die das dort lesen würden, allein weil ich einige von dort kenne. Musst du natürlich nicht machen aber irgendwie wäre das cool. Dann würdest du denke ich sogar mehr Feedback bekommen als nur von mir halt. Und ausserdem gibt es da viele Yullen Fans neuerdings.

Hahahaha. Allen fragt wie es ausgegangen ist und Komui quatscht fast nur über Lenalee wie es ihr geht. Aber ob Mari & Kanda irgendwelche Schäden davon getragen haben das juckt keinen :D. Gut, dass Allen da noch mal nachhakt.

Ich mag die Szene als Allen essen bestellen möchte und sich mit einem anderen Koch als Jerry herum schlagen muss. Es ist gut mal zu sehen wie überfordert Köche auch mal sein können, gerade wenn die Bestellung so dermaßen groß ist wie die von Allen. Ob du wohl mehrmals nachschauen musstest bei dem Essen was Allen bestellte als er es wiederholte? Ich jedenfalls hätte es gemusst, weil ich sonst vermutlich nicht klar gekommen wäre mit der ganzen Sache. Es ist faszinierend wie sehr seine Laune sich dann auch verändert hat, also die von Allen, dass er dann plötzlich doch sehr resginiert war von dem jungen Koch ihm gegenüber was ich nicht ganz verstehen kann. Er ist es gewohnt, dass er seine Bestellung aufgibt und sie sofort gemacht wird, aber so ein Kerl, der kaum die Welt gesehen hat wird sich das wohl nicht alles merken können schätze ich. Er hätte ruhig ein klein wenig mehr Rücksicht nehmen können, also gedulgier sein XD. Wie gesagt war aber eine geniale Szene.

Warum hat der Mann den Laden verlassen als die beiden sich angesehen haben? Hatte er Angst vor Allen sein Mal? Oder hab ich irgendwie wieder nicht ganz richtig aufgepasst und die Hälfte verpasst?

Einen Fehler muss ich dir aber unter die Nase reiben. Es heißt Cordon Bleu. Oder hast du es absichtlich Gordon Bleu immer geschrieben, weil das son Nebenprodukt von dem Cordon Bleu ist?

Allen wird ja depressiv XD. Ne Spaß, aber neuerdings ist seine Laune echt im Keller was ja selbst die Finder gut mitbekommen haben und sich darüber wunderten.

Ich werde den Teil es Kommis jetzt schon hochladen. Einfach weil ich danach eine wirklich gaaanze Weile weg sein werde und ich nicht riskieren will, dass der Kommi irgendwie abhanden kommt. Deswegen sag ich mal ich „beglücke“ dich jetzt und bin mega gespannt darauf was du so antworten wirst und wie du dich erklären wirst.
Ansonsten einen schönen Abend.
LG
Yuki-kun
Antwort von: abgemeldet
11.08.2017 09:36
Huuimuui :D
Erst einmal danke für den Tipp. Hab die Story jetzt auch auf Fanfiktion veröffentlicht.
Und zu deiner Kritik... du machst mich echt auf Sachen aufmerksam, auf die ich nie gekommen wäre. Im Fall von Allens Verletzung habe ich gar nicht daran gedacht. Ich meine, er ist zwar verletzt aber nicht komplett hilflos, eben nur nicht einer Mission gewachsen, zu der es 100%tig zu Kämpfen kommen wird. Klar hätte er angegriffen werden können aber wenn es kein Großangriff gewesen wäre, wäre es wohl damit zurecht gekommen. Am Ende wird es sich wohl um eine Angelegenheit handeln, die durch den Plot und die allg. Länge der Story zu kurz gekommen ist. Das wird vermutlich noch öfter vorkommen. Ändern werde ich es nicht. Wäre zuviel Arbeit und bisher bist du auch die Einzige, die darauf aufmerksam geworden ist. :P

Und ja, bei der Bestellung musste ich nachschauen. Wäre ich ein Koch, dann könnte ich mir das auch nicht merken.
Jedenfalls hat Allens Laune bis dahin schon einen tiefen Abstieg genommen und die Bestellung war ein weiterer Faktor. Klar hätte er rücksichtsvoller sein können aber es ging darum, dass er es eben nicht mehr sein kann, weil er am Ende ist und ich ihn aus dieser anderen Perspektive beleuchten wollte. Natürlich kennt man Allen als geduldigen Menschen etc. aber meine Version ist der Story angepasst. Mein Allen ist etwas angeschlagen und zeigt dadurch Verhaltensmuster, die man eigentlich nicht von ihm kennt. Sowieso bin ich ein Fan des Zynismus'. :D
Das war auch nicht das letzte Mal.

Der Mann verließ den Laden, nachdem sie sich ansahen - jupp. Damit wollte ich darauf hinweisen, wie Allens Gesicht zu dem Zeitpunkt aussah. Nämlich nicht sehr lustig und neben dem Schreck, eben keinen alten Mann vor sich zu haben, wird der Typ das gesehen haben. Allen war im Badassmode und ich denke, das ist schon eindrucksvoll.

Gordon Bleu ist kein Nebenprodukt, sondern einfach nur falsch geschrieben. :D
Werde ich ändern. Nobodys perfect.

Wieder einmal danke für das feedback und deine Zeit.
Wenn ich die Story auf Fanfiktion uppe, werde ich darauf achten, die Kaugummi-Szenen etwas zu kürzen.

Grüße - Asche
Von:  Kanda-Lavi
2017-07-16T11:52:30+00:00 16.07.2017 13:52
Guten Tag ^^
Nun bin ich endlich soweit diese Geschichte zu lesen und weiss jetzt schon, dass ich gefühlte Jahrhunderte dran sitzen werde xD. Deswegen werde ich das Review auch neben dem Lesen schreiben damit auch ja nichts verloren geht. Das wäre glaub ich auch nicht Sinn und Zweck der Sache. Und ich will ja zeigen, dass ich mich damit auseinander gesetzt habe. Ob du es je lesen wirst und Antworten wirst weiss ich nicht, aber ich kann nicht lesen ohne meinen Senf dazu zu geben sonst habe ich dann immer ein schlechtes Gewissen bei. Wie dem auch sei... ich stürze mich einfach mal in die Geschichte und schaue was auf mich zukommt.

Ich liebe DGM und bisher ist es immer meine Lieblingsserie/Manga gewesen und da bin ich irgendwie auch ganz froh drum. Ich meine dort herrschen so viele Gefühle, so viel Leid und die verschiedensten Charaktere treffen aufeinander. Wenn man Geschichten schreibt und gerne einen Hang zum Drama hat kann hier super geschrieben werden.

Normalerweise mag ich die Ich-Perspektive in Geschichten überhaupt nicht und doch gefällt sie mir hier mega gut. Ich mag es wie du Allens Umgebung beschreibst, seine Gedanken und seine Gefühle. Ich mag es auch, dass das Drama mit in deinem Schreibstil einfließt, welchen ich übrigens super finde! Also ich bin arg begeistert von wie du hier schreibst und wie du alles rüber bringst. Ich hab viel gelesen doch das hier ist mir vollkommen neu und da bin ich froh auf dieser Geschichte gekommen zu sein. Es wirkt als würdest du die Worte spielend leicht einfließen lassen als hättest du überhaupt keine Probleme mit dem Shreiben gehabt und das gefällt mir. Eigentlich habe ich immer sehr viel Kritik noch parat, aber bei dir fehlen mir schlichtweg die Worte. Diese Beschreibung is einfach der Wahnsinn und ich werde deine Story auch auf meiner Autorenseite empfehlen!

Haha. Wie du Kanda beschreibst ist ja mal herrlich genial. Einfach nur göttlich. Dass er von einer Mission  gerade zurück gekommen war sieht man deutlich und dann noch das unordentlich Haar... ich staune dass er es nicht gleich wieder in Position gebracht hat. Er ist doch sonst nicht so. Oder hatte der gute Kanda etwa einen zu großen Hunger?
Allen seine Sichtweise ihm gegenüber war richtig interessant. Wie er sich ihm gegenüber zu verhalten hat. Wie er Kanda einschätzt und und und... einfach Wahnsinn.

Kanda und Essen.
Allen und Essen.
Ich glaube wenn sie beide richtig Hunger haben könnten sie unausstehlich werden. Und das nicht nur zueinander sondern auch zu ihren Mitmenschen. Allein, dass Kanda relativ ruhig geblieben ist zeugt davon, dass sein Hunger nicht so gigantisch war um beleidigend zu werdem.

Allerdings habe ich nun doch Kritik. Je weiter ich bisher voranschreitet desto schwerer wird es das erste Kapitel zu lesen. Sprich du hast viel zu wenig Absätze drin, was schnell unübersichtlich wird und ich bin gezwungen das in einem Zug zu lesen sonst komme ich durcheinander und das passt mir irgendwie nicht da ich immer auf Arbeit lese. Ausserdem sieht es in der Optik besser aus wenn du Absätze reinmachst.

Ich mag deinen Schreibstil und deine Art wie du alles beschreibst keine Frage, aber du umschreibt dann doch etwas ZU viel für meinen Geschmack. Einige Szenen ziehen sich teilweise wie Kagummi, gegen viel länger als sie eigentlich müssten. Und das hat neben der Sache mit den Absätzen das Lesen enorm erschwert meiner Meinung nach. Viel beschreiben ist ja schön und gut, nur muss irgendwo eine Grenze sein und die fehlte bei dir. Du hast alles seeehr lang geschrieben als wenn es dein Ziel war etwas zu schreiben was länger ist als alles andere.

* "Du kannst dir nicht vorstellen, was für Gemeinheiten er Lenalee an den Kopf geworfen hat"
Öhm... das passt mal ganz und gar nicht dieser Satz. Ich meine Kanda beschützt Lenalee wo er nur kann und würde sie niemals beleidigen also was war der Grund dass er es dieses Mal doch getan hat?
Das passt einfach nicht. Sprich die Sache die Lavi erzählt ist mehr als OOC. Denn Kanda macht jeden nieder aber keine Lenalee... hmmmm...


Das ist etwas sinnlos... Am Vorabend noch sagte er, dass sein Zimmer recht penibel war abgesehen von den Kleidern deren er sich entledigen hatte. Nach der Versammlung kehrt er wieder zurück uns plötzlich ist es unordentlich? Versteh ich irgendwie nicht ganz...

Ich musste wahnsinnig viel lachen als ich gelesen hab was Kanda zu Allen sagt. Dass er ihm nicht stören soll beim Tee trinken. Auf Japaner passt das irgendwie finde ich. Und auch wenn der Anime/Manga inzwischen weiter ist und Kanda eigentlich nie wirklich in Japan war finde ich diese Version hier besser. Angenehmer. Da er hier nicht allzu viel Leid durchgemacht hat denke ich. Nur eines frage ich mich: ihre Mission ist nicht direkt in Edo oder? Denn Edo wurde ja im Anime komplett zerstört.

Hmmm die Frage ist wirklich berechtigt und noch bevor Allen sie gedanklich ausgesprochen hatte kam sie mir schon in den Sinn: Warum macht er nichts?
Er wird offensichtlich von einer fremden Gestalt bedroht, nicht wissend ob es ein Mensch, Akuma oder gar Noah war. Sonst ist er doch auch nicht so, also warum ist er so gelähmt vor Angst, dass er einfach nur da liegt in der Dunkelheit und die Gestalt lieber beobachtet als zu Handeln? Das passt nicht zu ihm. Aber neuerdings (in deiner Geschichte) ist er sowieso nicht ganz bei sich und hängt mit seinen Gedanken immer woanders rum also kann ich das irgendwie nachvollziehen weswegen er da nichts macht.
Er tut mir ja irgendwie Leid, wie er immer wieder diesen „Albtraum“ von Alb vor sich sieht und keinerlei Chance hat dem zu entrinnen. Lenalee würde sich zu viel Sorgen und Lavi würde zu viele Fragen stellen. Beides würde ihn bedrängen. Und Kanda... naja mit dem kann man zwar gut seine Probleme los werden, aber Allen muss das unendlich peinlich sein, dass Kanda ihn in solch einem Zustand erwischt hat was durchaus verständlich ist.

Hmmm da ist wieder eine Sache, die nicht zu den Charakteren passt. Es mag sein, dass Allen und Cahoji sich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen haben, dennoch denke ich nicht, dass Chaoji einfach so Allen umarmen würde. Immerhin hatte er ihn einst als Verräter abgestempelt und solcher Hass vergeht nicht innerhalb von ein paar Monaten. Tief in sich muss Chaoji Allen immer noch hassen, also passen die Gesten überhaupt nicht zu ihm. Vielleicht wirst du mich auch vom Gegenteil überzeugen wer weiss~
Falls du das jemals liest XDDDD.

Oh Gott wie süß ist das denn. Wie Tiedoll von Kanda einfach mal eine niedliche Geschichte erzählt wo dieser noch kleiner war. Hätte ich ja nicht gedacht, dass Kanda da so ruhig bleibt und nichts weiter macht als zu murren. Ich stelle es mir bildlich vor wie Kanda sich über die Reling erbricht und dabei sicher noch ein paar Flüche vom Stappel lässt... oh ja er ist ein interessanter Charakter.

Wäre ich an Allen seiner Stelle hätte ich mich wohl auch zu Tode gewundert, denn von Kanda ging wirklich eine extrem hohe Wärme aus, die man auch durch deine Worte mitbekommen hat und es war schön zu lesen wie gut Meister & Schüler sich doch verstehen auch wenn gerade Kanda nach außen hin gar nicht so wirkt. Und dann kommt da wieder sowas Niedliches, dass Kanda Tiedoll sein Kram verunstaltet hat und von Kanda nur ein Trotziges:,, Das haben Sie sich verdient“, kommt.<3

Diese Szene werde ich niemals vergessen, die hat sich in meinen Kopf eingebrannt wie keine andere und ich bin wahnsinnig begeistert von dieser Stelle. Einfach wie Kanda ins Eis eingebrochen ist und Allen versucht hat ihn mit aller Macht dort rauszuzerren, obwohl ein Akuma Kanda ebenfalls an der Angel hatte. Ich glaube Kanda hat dabei trotzdem noch unglaublich sexy ausgesehen und sich kaum was anmerken lassen, obwohl das Gezerre ja eigentlich sehr schmerzhaft gewesen sein müsste. Und ganz er selbst sorgt er mit Mugen dafür, dass ihn dieses Biest los lässt. Ich bin gespannt wie lange sie noch auf Eis sein werden, denn immerhin ist Kanda komplett nass und draußen ist es nicht gerade warm. Also müsste er sich eigentlich erkälten.
Generell die Kampfszene hat endlich mal richtig derbe Spannung aufgebaut und ich fand es toll wie du sie beschrieben hast. So ausführlich.

Puuuuh ohne Tiedoll & Cahoji wäre gerade Allen sehr aufgeschmissen gewesen. Nur verstehe ich nicht ganz weswegen er so abgeneigt ist zurück zu kehren in den Orden. Ist es, weil er das Angefangene beenden will? Oder ist es vielleicht, weil er Kanda ungern alleine weiter ziehen lässt? Jedenfalls hat er Recht, Komui hat es befohlen also wird er wohl zurück müssen. Schade aber auch. Ich hab die Kapitel mit Kanda sehr genossen.
So ich werde dir diesen Teil des Kommis schon mal rüber schicken, damit du wenigstens etwas zu lesen hast XD. Und es sonst wirklich lang werden könnte. Ich werde auf jeden Fall weiter lesen und weiterhin fleißig kommentieren, immerhin bin ich erst bei Kapitel 10, aber es wird eine ganze Weile dauern. Bis dahin bin ich gespannt ob du antwortest (wäre schön, einfach weil ich mir extra für dich die Mühe mache XD)
Also bis dann erst einmal~
LG
Yuki-kun
Antwort von: abgemeldet
16.07.2017 19:42
Tagchen, Yuki :)
Natürlich habe ich deinen Kommi gelesen und natürlich antworte ich, denn ich weiß dein Feedback sehr zu würdigen. Vor allem die Genauigkeit und das Ausmaß. Es ist ganze Arbeit, so etwas zu verfassen und ich habe mich sehr darüber gefreut. Wenn man schreibt, braucht man konstruktives Feedback. Es wirkt auch wie ein Ansporn, wenn ich weiß, dass Leute die Story lesen und mögen und sich freuen, wenn ich neue Kapitel uppe. Auf kurze Quietsch-Kommentare verzichte ich gerne, ich brauche etwas Konstruktives und das habe ich von dir bekommen. Danke dafür. :)

Die Ich-Perspektive bevorzuge ich generell, weil ich das Gefühl habe, Emotionen so besser beschreiben und Persönlichkeiten ebenso besser vertiefen zu können. Die 2. Person schafft irgendwie eine Distanz, mit der ich sehr ungern arbeite. Etwas anderes als die Ich-Perspektive findet man bei mir nicht.

Zu Kanda.
Ich denke, gerade wenn man den Manga verfolgt, bemerkt man, dass Kanda alles andere ist als ein oberflächlicher Charakter, der bei jeder Gelegenheit explodiert. Bei ihm war es mir auch sehr wichtig, tiefer zu gehen und wenn man FF`s schreibt, muss man prinzipiell persönliche Ansichten hinzufügen, wie der Chara sich in einer Situation verhalten würde, die weder im Anime noch im Manga vorkommt. Da fehlt das vorgegebene Muster. Spätestens da scheiden sich die Geister. Bleibt eben immer subjektiv.
Und er hat Linali nichts Übles an den Kopf geworfen. Das hat Lavi so interpretiert, da er teilweise etwas überfürsorglich ist und der 'Angriff' auf Linali ihn persönlich mitnahm. Kanda wollte Linali in Schutz nehmen (was er natürlich nicht auf eine direkte, zärtliche Weise zustande bringen kann). Linali ist noch angeschlagen und er versuchte sie zum Aufhören zu bewegen, indem er sagte, es wäre das erste Mal, dass ein Exorzist von einer Pflanze besiegt würde. Vor allem in Lavis Gegenwart könnte er niemals sagen, das er besorgt um sie ist und sie sich doch bitte schonen soll, also blieb es bei diesem Kommentar, der Lavi sicher mehr aufgeregt hat als Linali. Diese wird die Botschaft verstanden haben, da sie Kanda kennt. Später in der Story beschreibe ich auch die Vertrautheit zwischen Kanda und ihr.
Wie geschrieben, Linali ist vor Kandas Zynismus sicher. :) Das habe ich bedacht. Anders wäre es wirklich OOC und das versuche ich zu vermeiden.

Wegen dem unordentlichen Zimmer... eijeijei... aufmerksame Leser bemerken sowas. Bei so einem Monsterprojekt passiert das schnell mal. So penibel zu sein, kann ich mir nicht leisten aber stören tuts mich auch nicht, denn die Wichtigkeit verteile ich anders.

Und die Japan-Mission spielt wie beschrieben auf Okinawa.
Ich kann und will auch nicht sagen, wann im Anime meine Story ungefähr beginnen würde. Ich habe mir zwar die Welt und die Charaktere geborgt aber ob es vor Edos Zerstörung oder danach war, das spielt für mich keine Rolle. Man sollte vielleicht gar nicht versuchen, den Beginn festzulegen. Da Chaoji schon dabei ist, ist Edo wohl längst kaputt und Allens Fähigkeiten deuten auch auf einen späteren Zeitpunkt hin. Halte dich damit trotzdem nicht auf. :)

Zu Allens Alpträumen und 'Warum macht er nichts'?
Der Alp ist eine Traumgestalt, die man nicht bekämpfen kann. Er ist nicht greifbar, nicht verwundbar und lässt sich ebenso wenig zurückdrängen oder abschrecken. Und ich finde es sympathisch, dass Allen zwar in der Wirklichkeit ebenso unantastbar und stark wirkt, im Schlaf aber verletzlich ist und durchaus fähig zu bodenloser Angst. Das ist wie ein düsteres Geheimnis und Allen war es nicht nur peinlich, dass Kanda ihn sah. Es ist ein Schritt in seinen intimsten Radius, eine weitere Wunde etc.
Bzgl. Chaojis Verhalten Allen gegenüber...
Ich befasse mich nicht viel Chaoji, weil er mich herzlich wenig interessiert. Er bleibt ein Nebenchara, der zwar dazugehört aber keine wichtige Rolle spielt, also habe ich mich wenig damit befasst, seine Persönlichkeit zu durchleuchten. Mag sein, dass er Allen damals gehasst hat aber im Manga geht er bald darauf auch recht entspannt mit Allen um. Da ist jedenfalls keine Spannung mehr wahrzunehmen. Vielleicht, weil er das Leben als Exorzist ungeschönt selbst kennengelernt und sich seine Denkweise verändert hat. Groll zwischen Chaoji und Allen ist einfach kein Teil der Story. Ich hab ihn einfach so genommen, wie er sich größtenteils zeigt. Ist okay, das OOC zu finden. Doesn´t matter. :P

Und Kanda erkältet sich? Echt? :D
Ist das eine Anspielung auf die Winteruniform und Johnny´s Aussage?
Ein Kanda erkältet sich nicht.

Du bist auch noch darauf eingegangen, weshalb Allen nicht in den Orden zurückkehren will. Ich dachte, auch das hätte ich so ausführlich beschrieben, wie ich es leider immer mache. Er will nicht schwach wirken und es ist ihm wichtig, dass es ihm gelingt, sich vor anderen zu verstellen und ihnen ein falsches Bild zu verkaufen. Es frustrierte ihn, dass Tiedoll und Kanda ihn durchschauten und dass er gezwungen war, sich zurückzuziehen. Natürlich ging es auch darum, dass er Kanda unterstützen will, auch wenn das hintergründig war. Darüber hinaus hasst er es, wenn er nicht selbst über seinen Weg entscheiden kann und von seiner Bahn abgebracht wird.
Außerdem heißt Heimkehr wiederum zuwenig Zerstreuung und die braucht er und findet sie größtenteils auf Missionen. Im HQ ist er zu alleine mit seinen Gedanken und hat zu wenig zu tun und wenn er zu grübeln beginnt, führt das zu nichts Gutem. So in etwa.
Und zu meiner Ausführlichkeit: Ich bin schuldig! Ich bin sowas von schuldig, aber Unseen Souls ist die überarbeitete Variante und fast 50 Seiten kürzer als das Original, weil ich viele Situationen verkürzt und viele Beschreibungen rausgenommen habe. Das heißt, das Original war noch schlimmer und was du bemängelst, stimmt absolut, ist aber schon die verbesserte Variante. Ich arbeite an mir aber sowas braucht Zeit. :D
Ich bitte um Geduld.

Was ich insgesamt mit der Story zum Ausdruck bringen will, ist, dass Allen und Kanda nicht so sind, wie sie nach außen hin scheinen. Allen hat viele düstere Gedankengänge, die er nicht ausspricht und verhält sich teilweise berechnend, ohne dass es böse Ausmaße annimmt. Trotzdem ist er nicht so sonnig, wie er aussieht. Bei Kanda ist es genau umgekehrt. Er wirkt nach außen hin sehr glatt und kühl (<- ich mag das Wort nicht), ist aber sehr reich an Gefühlen, was er z.B. Tiedoll gegenüber zeigt, da sie sich lange kennen und sehr vertraut sind. Tiedoll nimmt in gewissem Sinne wirklich die Vaterrolle ein, ohne dass es einer von ihnen je zugeben würde.
Allen offenbart sich also unfreiwillig als weitaus düsterer und Kanda ebenso unfreiwillig als weitaus wärmer und gefühlvoller. Der Gedanke hat mich damals so begeistert, dass dieses Monster daraus wurde. :)
Und ich bin begeistert, wie die Eis-Szene für sich herausstach. Ich finde es wirklich interessant und ich freue mich, dass du soviel Spaß mit dem hattest, was ich halbwegs beiläufig geschrieben habe. So unterschiedlich sind die Ansichten.
Schön, dass die Story gefällt. Und ja, weiteres Feedback ist erwünscht und wird mit Antworten zelebriert. :)

Schön fleißig sein auf Arbeit und nen schönen Abend
Asche :)
Antwort von:  Kanda-Lavi
17.07.2017 10:57
Ich bin selbst Schreiberin, allerdings auf einer anderen Plattform wo DGM noch nicht so ausgestorben ist wie hier und ich kenne es wenn Leser ankommen und ein knappes Review schreiben von wegen es sei eine geile Geschichte und das war es dann. Damit können wir einfach nichts anfangen und deswegen versuche ich immer mein Kommentar neben dem Lesen zu schreiben, damit auch nichts abhanden kommt und ich wirklich auf alles detailiert eingehen kann, Fragen stellen kann, loben kann und kritisieren kann. Somit weiss der Schreiber dann: Aha sie hat sich wirklich damit auseinander gesetzt und macht sich etwas aus dem was ich hier gerade schreibe. So jetzt weisst du n bisschen den Grund für mein langes Review immer XD

Das mit der Ich-Perspektive ist schon okay. Ich kann verstehen warum du sie anwendest. Ich persönlich finde sie zwar immer noch schwerer als die ErzählerPerspektive, aber da hat jeder immer eine andere Meinung drüber und du kannst das in der Ich-Perspektive auch recht gut. Ich würde da versagen ^^

Naja Kanda wirkte halt sehr OOC als er das sagte. Aber jetzt wo du es mir noch einmal erklärt hast verstehe ich worauf du damit hinaus wolltest. Einer der Gründe weswegen ich da immer auf vieles eingehe um Dinge die unklar sind dann zu erfragen. Du hast Recht, Kanda ist ein sehr spezieller Charakter, der innen drin eine weiche Schale hat, die ja mehr zum Vorschein kommt seid der Sache mit Alma. Aber jetzt mal davon abgesehen stimmt das schon. Bei Kanda bin ich immer sehr pingelig und sag meine Meinung frei heraus, weil er mein absoluter Lieblingscharakter ist und ich meine Vergangenheit sehr gut mit ihm identifizieren kann, gerade was das Verhalten anbelangt. Persönlich glaube ich zwar dennoch nicht, dass er seine Sorge mit diesen Worten Lenalee gegenüber ausdrückt, aber da das nicht wirklich überaus deutlich ist wie er mit ihr umgeht kann jeder das anders interpretieren. Gibt zu wenig Szenen wo die beiden wirklich unter sich sind und man sie studieren kann.

Gut so penibel wäre ich auch mit Nebencharas gewesen aber why not XD wenn er dich nicht interessiert sei es drum, ich nörgel trotzdem drüber :D

Mit deiner Aussage hast du nicht ganz unrecht: Ein Kanda erkältet sich nicht.
Das liegt einfach nicht in seiner Natur: Allerdings wenn ich wieder mal das Ganze aus dem Mange beleuchten darf. Ein Kanda wird auch nie betrunken und dann ist er es doch plötzlich. Also so gesehen wäre es nicht ganz unmöglich. Aber ein erkälteter Kanda würde nicht passen. Ich weiss gar nicht mehr... als sie klein waren gab es glaub ich eine Szene in der entweder Alma oder Kanda permanent geschnieft hatte bei einer Szene und das nicht weil derjenige geheult hatte. Ich glaub da war einer Krank. Also wirklich nicht ganz unmöglich.

Ich habe Geduld, sehr viel Geduld sogar. Und ich hoffe wirklich, dass du DGM nicht so schnell überdrüssig wirst, denn so gute Schreiber wie dich findet man neuerdings sehr selten *seufz *
Wenn ich mir dagegen mal meine „Cursed Fighter“ Geschichte ansehe... ich glaub die zieht sich auch elendig wie Kaugummi also bist du da nicht allein XD. Es liest sich halt nur extrem schwer und gerade weil auch die Kapitel sehr lang sind das macht es nicht leichter. Aber wie gesagt Geduld habe ich da definitiv~

Sehr interessant mal zu erfahren worauf diese Geschichte basiert und was du eigentlich damit zum Ausdruck bringen willst. Das gefällt mir ganz gut.
So und nun hab ich mit meiner Antwort mal wieder so stark übertrieben, dass dieses Review auch extrem lang wird... verzeih mir XD
Ich danke auf jeden Fall für deine Ausführlichkeit hinter deiner Antwort~
Antwort von: abgemeldet
17.07.2017 21:22
Da fällt mir gerade ein... im Manga sagte Kanda einmal zu Linali, dass sie hässlich geworden ist (als er nach der Alma-Sache in den Orden zurückkehrte, die Kinder Ball spielten etc.). :D
Also kriegt sie doch das eine oder andere ab, kann aber damit umgehen. Dagegen war er bei mir noch sehr freundlich.
Cheers~ Asche
Von:  EminaVurden
2016-12-23T19:10:38+00:00 23.12.2016 20:10
Du hast mir gerade die elend lange Zugfahrt versüsst *.* ...einfach genial das Kapitel.
Wie schon zuvor ist es super geschrieben und ich mag die art wie sich die Geschichte entwickelt ;-) schreib bitte schnell weiter ><
Von:  EminaVurden
2016-12-22T19:15:47+00:00 22.12.2016 20:15
Also ich fand die Geschichte verdammt gut.
Du triffst die Charakteren sehr gut und dein Schreibstil gefällt mir sehr ;-) mach weiter so^^
Von:  Ayane87
2016-11-06T12:11:24+00:00 06.11.2016 13:11
Ich liebe diese Geschichte und freue mich wenn ein neues Kapitel erscheint.
Schreib bitte weiter.
Von:  Streber_Nr1
2016-08-21T10:35:00+00:00 21.08.2016 12:35
Ich verstehe nicht wieso niemand deine supi dupi gute story kommentiert.
Mach weiter so :)
Freu mich schon aufs nächste Kapitel :-)
Lg streber


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