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Unseen Souls

von

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18

Irgendwann rückte der Bahnhof in unsere Sichtweite. Wir waren langsam vorangekommen, doch die Schritte meines teuren Kameraden wirkten endlich so sicher, dass ich mich nicht mehr zu sorgen hatte.

Ich achtete auf ihn, wachte über seine letzten Kräfte und vor ihm trat ich an die Tür heran und hielt sie ihm auf. Dieser Bahnhof war um einige Grade wärmer und geduldig wartete ich, bis auch Tim an mir vorbeiflatterte. Nach dem kurzen Studieren des Fahrplanes blieb Kanda in Bewegung und auch während ich es dann auf einer Bank bequem hatte, blieb er auf den Beinen, um sich aufzuwärmen.

Wie viele seiner wunden Punkte mochte ich wohl getroffen haben?

Er wirkte nahezu konsterniert neben seiner anhaltenden Wut und Schweigsamkeit.

Wie mochte er innerlich fluchen und wie verbissen nach einer Erklärung suchen?

Wer hätte es tun sollen, außer einem erbarmungslosen Verehrer, wie ich es war?

Wer hätte einen Grund gesehen, seinen Zustand so für sich zu nutzen?

Er hatte ja keine Ahnung. Ich selbst konnte mir nur schwerlich erklären, weshalb er mir nicht einmal jetzt Leid tat.

Was ich erlebte, was ich fühlte und ertastete, war zu wertvoll, um Bedauern zu zeigen und zu intensiv, um es anzuzweifeln.

Ich hatte es getan und jeden Moment meiner Schandtat genossen. Bei Gott, das hatte ich und allein der Gedanke an das Vergangene ließ mich heiß und kalt erschaudern und den Blick von ihm abwenden.

Wenn ich ihn sah, was blieb mir übrig, außer den Wunsch zu spüren, ihn erneut zu berühren?

Ich hatte von ihm gekostet. Von ihm, der Droge, der ich verfallen würde, sobald meine Selbstdisziplin erneut nachließ.

Ich hatte mich zurückzuhalten, einfach so zu sein, wie immer und einzusehen, dass es sich um eine einmalige Gelegenheit handelte.

So ausgeliefert würde er mir nie wieder sein. Es war ernüchternd und dann rieb ich mir das Gesicht. Langsam und bedächtig und wie verstohlen drifteten meine Augen zwischen den Fingern erneut zur Seite.
 

Die Reise verlief, wie ich es erwartete. Wir sprachen kein Wort, doch sein Gesicht und die Blicke, die mich trafen, verrieten mir, dass er weit von Beruhigung entfernt war. Es hatte mich nicht zu wundern. Ich rechnete sogar damit, dieses abgrundtief finstere Gesicht noch weitere Tage zu sehen. Eine geringe Strafe.

In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages erreichten wir das Hauptquartier. Was mich anging, ich war der Reise müde und freute mich in der Zwischenzeit auf mein Bett. Wieder hatte ich zu keiner Minute Schlaf gefunden, war wach und unruhig geblieben und voller Gedanken, die ich zu verhindern versuchte. Ein Scheitern auf ganzer Strecke. Der richtige Abstand würde vermutlich erst glücken, wenn ich die Tür hinter mir schloss und mich von Kanda abschottete. Wenn ich ihn nicht mehr sah.

Kaum hatten wir das Tor passiert und kaum das Treppenhaus erreicht, da wurde mir mein Mantel beiläufig zugeworfen. Er hatte ihn nicht mehr nötig. Auf eine Danksagung hatte ich nicht gehofft und ich verdiente sie auch nicht.

„Allen! Kanda!“ Mit großen Augen richtete sich Jonny auf, sobald wir die Wissenschaftsabteilung betraten. „Da seid ihr ja! Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

„Mm?“ Mit müden Augen lehnte sich River hinter einem Stapel hervor. „Ah.“ Ein Winken. „Komui erwartet euch schon.“

Nicht einen Blick hatte Kanda für die Wissenschaftler übrig. Mit derselben verbitterten Miene zog er weiter und so blieb es wiederum an mir hängen, freundlich und gesprächig zu sein. Lächelnd winkte ich zurück.

„Schön, wieder da zu sein.“

„Alles in Ordnung?“ Jonnys Frage richtete sich an Kanda. Er war verwundert und mit einem Mal auch niedergeschlagen und das vermutlich nicht, weil Kanda gefroren hatte. Nein, die maßgeschneiderte Uniform war verschwunden. Rivers Gähnen drang noch zu mir, bevor ich hinter Kanda die Tür passierte und in Komuis Büro trat.

„Willkommen zurück.“ Komui war bei bester Laune, als er die Tasse hob, doch Kandas zielstrebige Schritte ließen nichts Gutes vermuten. Wahrscheinlich erfuhr ich nun etwas über die gescheiterte Mission und wirklich, er baute sich auf der anderen Seite des Schreibtisches auf.

„Was war das?“ Schneidig erhob sich seine Stimme und unter einem Räuspern ließ Komui die Tasse sinken.

„Es tut mir Leid, aber du kennst das doch, Kanda. Es sollte nicht sein aber hin und wieder werden wir falsch informiert.“

„Das nennst du falsche Informationen?“ Zischend neigte sich Kanda über den Schreibtisch und Komui hob die Brauen. „Ich nenne das ein erbärmliches Desaster. Wer ist dafür verantwortlich?“

Komui zuckte nur mit den Schultern und während sich das nächste Zischen erhob, ließ ich mich auf dem Sofa nieder, streckte die Beine und verfolgte das interessante Schauspiel.

„Wie kannst du mich auf eine Mission schicken, der jede Grundlage fehlt?“

„Hätte ich es gewusst, hätte ich es nicht getan.“ Komui drehte an seiner Tasse. „Was regst du dich auf? Es ist doch gut ausgegangen. Du bist da, Allen ist da. Was ist denn nun genau passiert?“

Ruppig verschränkte Kanda die Arme vor der Brust. Eine Kopfbewegung zur Seite zeugte davon, dass er sich Besseres vorstellte, als davon zu erzählen und so blieb es an mir hängen. Ich juckte mich im Schopf.

„Als ich am Ziel ankam, fand ich nur ein ausgebranntes Haus vor, in dem es vor Akuma wimmelte. Und ihn mittendrin.“ Mit einer knappen Geste wies ich auf Kanda. Noch immer schweigend starrte er zur Seite.

Dass ich nicht ausführlich über die Lage berichtete, in der ich ihn vorfand, schien er mir nicht zu danken. Als wäre ihm an diesem Punkt alles gleichgültig. Als könnte er ohnehin nicht mehr tiefer sinken.

„Verstehe.“ Komui gönnte sich noch einen Schluck. „Um ehrlich zu sein, habe ich mir wirklich Gedanken gemacht. Pass auf, Kanda. Es gibt etwas, über das du dich freuen wirst.“ Er hielt inne. „Hörst du zu?“

Erst jetzt und verspätet wandte sich Kanda ihm zu.

„Der Broker, an den du nicht mehr herankommen konntest, wurde zehn Kilometer östlich von Crowley und Miranda erwischt.“

„Und darüber soll ich mich freuen?“, entgegnete Kanda. „Das war meine Mission.“

„Ja doch.“ Komui seufzte. „Wir können nichts mehr daran ändern, ja? Du konntest nichts dafür aber die nächste Mission kommt und diesmal achte ich besser auf die Informanten.“

„Tatsächlich?“

„Ja.“ Komui nahm es mit seiner einmaligen Gelassenheit und nach einem weiteren, genüsslichen Schluck seufzte er. „Ihr könnt gehen. Schlaft euch ordentlich aus. Wir werden morgen sehen, wie es weitergeht.“

Er erlaubte uns den Rückzug und Kanda nahm diese Möglichkeit sofort wahr.

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und kaum kehrte er Komui den Rücken, schnitt dieser eine irritierte Grimasse. Die Geste war an mich gerichtet, doch mir blieb nicht vielmehr übrig, als mit den Schultern zu zucken.

Was mit Kanda los war? Gerade ich sollte das wissen?

Komui kapitulierte, befasste sich Kopfschüttelnd mit seinem Kaffee und so machte auch ich mich auf den Weg. Ein kurzes Winken und schon folgte ich meinem nächsten Ziel.

Ich stattete Jerry einen Besuch ab. Mir fehlte noch etwas Herzhaftes, bevor ich schlafen ging und in Windeseile wurde es mir zubereitet. Nicht nur rasch sondern auch mit der üblichen Liebe, worauf Jerry mich aufmerksam machte. Es sah auch recht lecker aus und mit dem gewohnt schweren Tablett machte ich mich anschließend auf die Suche nach einem freien Platz und fand jemand ganz anderen.

„Allen.“ Linali strahlte über das ganze Gesicht, als ich ihr Gesellschaft leistete, neben ihr über die Bank stieg und mein Tablett loswurde.

„Hallo.“ Ich erwiderte ihr Lächeln und ließ mich nieder.

„Hast du die letzten Missionen gut überstanden?“

„Problemlos“, beruhigte ich sie und verschaffte mir einen Überblick auf meinem Tablett. „Und selbst?“

„Mit mir ist alles in Ordnung.“ Seufzend griff sie nach ihrem Milchreis, neigte sich zur Seite und hob ein anderes Schälchen an. „Wo ist mein Zucker?“

„Ich wünsche mir nur, dass es wieder warm wird“, murmelte ich und reichte ihr meinen Zuckerstreuer.

„Ah, danke.“

„Aber stattdessen wird es immer kälter, als hätte es das Wetter auf mich abgesehen.“ Ich runzelte die Stirn und lugte zu einem der Fenster.

„Ich mag diese Kälte auch nicht“, pflichtete sie mir bei. „Und im letzten Sommer hatten wir soviel zu tun, dass wir von der Wärme kaum etwas mitbekommen haben.“

„Richtig.“ Ich schnappte mir meinen Auflauf und schubste Tim zur Seite. Er hatte sich der Auflaufform bedrohlich genähert. „Und wenn jemand bemerkte, wie warm es war, dann gab es Beschwerden und Gejammer. Ach, wäre es doch kühler. Die Sonne ist zu hell und die Luft schwirrt. Wie undankbar. Natürlich war es viel zu warm.“ Ich zückte die Gabel. „Es ist unsympathisch, sobald es zu extrem wird. Schnee ist in Ordnung aber es wäre noch besser, wenn er im Sommer fallen würde. Im Winter hingegen könnte die Sonne ruhig mehr Kraft haben, dann sähe nicht alles so weiß und langweilig aus.“ Ich schluckte hinter und versenkte die Gabel erneut in der dicken Käseschicht. „Man weiß gar nicht, wo man hinsehen soll, was eigentlich egal wäre, weil wirklich alles gleich aussieht.“ Ich hob die Brauen, als Linali in Lachen ausbrach. „Was ist?“

Sie lachte weiter, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah mich freudig an.

„Es kommt selten vor, dass du so gesprächig bist.“

„Stimmt doch gar nicht.“

„Doch, doch.“ Sie schmunzelte in sich hinein. „Aber ich mag es, wenn du viel zu erzählen hast und zufrieden bist.“

Zufrieden. War ich das?

Ich begann darüber nachzudenken und verfiel der alten Schweigsamkeit. Kurz darauf aß ich weiter und spähte erst auf, als Kanda an unserem Tisch vorbeizog. Und während Linali neben mir ihren Milchreis löffelte, sah ich ihm nach. Auch sie wurde auf ihn aufmerksam, ihr Lächeln vertiefte sich und kurz darauf wandte sie sich wieder an mich.

„Ich habe gehört, du hast dich um das belgische Lager gekümmert?“

Ich nickte, hielt nach Tim Ausschau und fand ihn auf Linalis Schoß.

„Dafür dürften dir viele dankbar sein.“ Kurz tätschelte sie meinen Golem. „Es ist ein gutes Gefühl, dort hingehen zu können und nichts befürchten zu müssen.“

Schweigend verbrachten wir die nächsten Augenblicke mit unserem Essen. Wir ließen es uns schmecken, schnitten und löffelten, tranken und aßen und natürlich entging mir dabei nicht, wie sich Kanda nicht weit entfernt mit seinem Tablett niederließ. Er aß das Gewohnte und bewusst lenkte ich meine Augen zurück auf mein Essen. Ich übte mich in dieser Distanz, doch es war Linali, die ich dabei erwischte, wie sie immer wieder zu jenem jungen Mann spähte. Ich leerte die Auflaufform, schob sie zur Seite und als ich gerade mit meiner Suppe beschäftigt war, hielt es sich nicht länger in mir.

„Was hast du?“

„Mm.“ Unentschlossen besah sie sich ihren Milchreis, spähte erneut an mir vorbei und rieb sich die Wange. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihm“, flüsterte sie dann.

„Ah ja?“ Ich gab mich erstaunt und sie nickte.

„Es passiert selten, dass ihn etwas aus der Fassung bringt.“

Langsam hob ich den Löffel zum Mund. Die Hälfte der Suppe tropfte runter, denn ich starrte schon wieder zu Kanda. Was sich mir bot, war nur noch die abgeschwächte Form seiner vorherigen Wut, doch Linalis Gespür war offenbar darüber erhaben.

„Du warst doch mit ihm auf Mission. Du weißt nicht zufällig…“, sie sprach nicht weiter, denn ich schüttelte längst den Kopf.

In was für einer prekären Lage sich Kanda tatsächlich befand, das wusste nicht einmal Komui, denn von ihm wäre es geradewegs zu Linali gerutscht. Was Linali wusste, wusste anschließend auch Lavi und sobald Kanda den einen oder anderen Kommentar zu dieser Sache hörte, konnte ich mir ausmalen, was er mit mir tat.

„Wer weiß, was für eine Laus ihm diesmal über die Leber gelaufen ist.“ Damit tat ich es ab und zuckte mit den Schultern. Offiziell war es nicht mein Problem und Linali begriff es, denn sie begann wieder zu löffeln.

Wir löffelten beide und dann gähnte ich.

„Was bin ich müde.“ Ich rieb mir die Wange und lugte kauend zu Linali. Sich mit ihr zu unterhalten, machte wirklich Spaß, wenn Lavi nicht da war. Amüsiert sah sie mich an.

„Ich habe das Gefühl, dass allein die Kälte schon müde macht. Immerhin ist man die ganze Zeit verspannt und friert.“

„Das kenne ich“, stimmte sie zu und streute noch mehr Zucker auf ihren Milchreis. „Das Aufstehen wird auch immer schwerer.“

„Wenn draußen die Sonne scheint und es warm ist, kann man es gar nicht eilig genug haben, an die frische Luft zu kommen“, quatschte ich weiter und zog ein Schälchen mit Pudding zu mir. „Im Sommer kriege ich nie genug vom Reisen.“

„Lavi hat es gut. Er ist in Amerika, wo es warm ist.“

„Das ist ungerecht“, bemerkte ich Stirnrunzelnd und neben mir brach Linali in Lachen aus.

„Irgendwie schon.“

Somit versenkte ich den ersten Löffel mit Pudding im Mund und es war ein seltsamer, innerer Trieb, der meinen Blick abermals zur Seite driften ließ. In der Zwischenzeit beließ Kanda es dabei, untätig auf seine Nudeln zu starren.

„Ach“, seufzte Linali und mit großen Augen wandte ich mich ihr zu. „Ich wäre so gern bei Crowleys Feier gewesen. Wie war sie?“

„Sie war toll. Ich habe bei den Vorbereitungen geholfen.“

„Was macht man nicht alles für seine Kameraden.“ Lächelnd beschäftigte sich Linali wieder mit Tim. Sie streichelte ihn und kraulte seine kleinen Hörnchen. „Was mache ich nur?“, murmelte sie nebenbei. „Ich habe so einen Appetit, ich könnte noch einen Teller von diesem Milchreis essen.“

Sofort wurde ich auf den Teller auf meinem Tablett aufmerksam. Ich hatte noch Milchreis und hoffentlich kam sie nicht darauf, nach ihm zu fragen. Ich leerte das Schälchen und kaum langte ich nach meinem Milchreis, kam Linali auf die Beine.

„Ich kann nicht anders. Bin gleich wieder da.“

Ich winkte ihr mit dem Löffel und ließ es mir schmecken.

Wir genossen diesen Abend. Fast die gesamte Zeit während ich aß, leistete sie mir Gesellschaft und irgendwie schien sie sich anzustecken, denn sie kapitulierte erst bei dem dritten Teller Milchreis und anschließend auch vor dem Rest des Abends. Sie wäre müde, meinte sie und so verabschiedeten wir uns für diesen Tag und zogen uns zurück. Linali blieb vorerst im Hauptquartier und so konnte ich auch das nächste Frühstück mit ihr verbringen. Und nicht nur mit ihr.
 

„Das belgische Lager?“ Nachdenklich blickte Crowley von seinem Fruchtsalat auf. Der Name sagte ihm etwas und er begann zu grübeln, während Miranda neben ihm auf ihr Brötchen starrte. Was mich anging, ich war zerzaust und noch etwas müde aber es ging mir gut. Die Nacht hatte mir neue Kräfte geschenkt. Ich fühlte mich wohl und die Runde, die mir jetzt zuteil wurde, verstärkte dieses Gefühl.

Neben mir schlürfte Linali einen Milchshake.

„Ja, ich erinnere mich.“ Crowleys Gesicht erhellte sich und Miranda seufzte. „Dort war ich erst vor einem Monat.“

„Wurdest du auch angegriffen, als du wieder aufgebrochen bist?“, erkundigte sich Linali, doch Crowley verzog nur das Gesicht.

„Nein“, gab er zu. „Ich bin von meiner Route abgekommen, weil ich mich verlaufen habe.“

Ein Grinsen zog an meinen Lippen und amüsiert griff ich nach dem nächsten Croissant.

„Was mache ich nur auf mein Brötchen?“ Neben ihm schwankte Miranda. „Ich habe solche Kopfschmerzen. Sogar so eine Entscheidung kann ich kaum treffen.“

„Nimm Kirschmarmelade“, sagte ich, während ich das Croissant zerrupfte. „Die ist gut.“

„Ah, danke.“ Sofort griff sie nach dem Schälchen und ich begann zu kauen.

„Ich habe vor kurzem Marie getroffen“, begann Linali neben mir zu erzählen. „Vor zwei Tagen in Marokko.“

Seufzend schmierte sich Miranda ihr Brötchen, während Crowley und ich aufblickten.

„Er meinte, er hätte noch eine Kleinigkeit zu erledigen und würde dann auch gleich kommen.“

„Auch?“, wunderte sich Crowley. Und wirklich, da war etwas faul dran.

Ich runzelte die Stirn und hielt inne. Das roch doch nicht etwa nach einer weiteren Besprechung?

„Scheinbar sammeln sich die Exorzisten“, grübelte Crowley und lutschte an einem Stück Ananas, bevor er den Kopf schief legte. „Ich habe Kanda vorhin gesehen. Er schien es eilig zu haben. Gehen wir etwa doch wieder auf Mission?“

„Nein.“ Linali konnte ihn beruhigen und selbstverständlich war auch ich ganz Ohr. „Soweit ich es mitbekommen habe, ist er in der kleinen Trainingshalle.“

„Wenn das so ist.“ Crowley begann in dem Salat zu rühren und nach etwas zu suchen. „Dann kommen Lavi und Bookman doch bestimmt auch bald.“

„Ich denke schon“, antwortete Linali.

Heiter wurden die Gespräche fortgesetzt, doch ich begann mich zurückzuhalten, gedanklich abzudriften.

Absent aß ich so weiter, nahm nur hin und wieder Mirandas Seufzen wahr. Auch das Lachen Linalis und Crowleys. Alles war gut, nur mir fehlte etwas.

Ich mochte den Gedanken, den Vorwand zu nutzen, um ihm näherzukommen und ohne es zu bemerken begann ich hastiger zu essen. Ich hatte mir etwas vorgenommen, ich plante etwas und recht zeitig kam ich auf die Beine und verließ die Gruppe.

Wohin ich ging?

Trainieren.
 

Langsam griff ich nach der Klinke und öffnete die schwere Tür.

Schon früh waren die Geräusche zu mir gedrungen und als ich in die Halle spähte, sah ich den Sand, der aus einem Riss des großen Boxsackes rann. Raschelnd sammelte er sich auf dem Boden und keuchend ließ Kanda den Bokken sinken, bevor er zu mir spähte. Sich an ihn heranzuschleichen, war ein unmögliches Unterfangen und als ich eintrat und seine Mimik deutete, fragte ich mich abrupt, ob ich dieses Risiko wirklich eingehen sollte.

Sein Zorn hatte nicht an Kraft verloren

Einen Schritt tat ich, da fuhr er herum und knackend vergrößerte sich der Riss am Unterboden des Sackes. Was für eine Schnelligkeit, was für eine Kraft und erst jetzt schien es ihm aufzufallen. Sein Gesicht senkte sich und mürrisch bemerkte er den Schaden, bevor er sich abwandte und zu den Bänken trat.

Meine Augen folgten ihm und als er eine Wasserflasche zum Mund hob, trat ich näher und gab mich so entspannt, wie ich es längst nicht mehr war.

Allein sein Anblick sorgte dafür, dass sich mein Leib verspannte. Ich spähte zu dem Gestell mit den Bokken.

„So früh am Tag schon so in Fahrt?“ Gelöst erhob sich meine Stimme in der steinernen Halle und Kanda ließ die Flasche sinken, doch es blieb bei einer kurzen Aufmerksamkeit, bevor er weiter trank. Er antwortete nicht und ich wagte mich näher. Näher an ihn heran, bis ich neben ihm stand und zu jenem bedauernswerten Box-Sack spähte.

„Wie wär’s mit einem Gegner, der dir würdig ist?“ Ich provozierte ihn, doch bemerkte indessen, wie er die Distanz zu mir mit einem Schritt zur Seite wieder herstellte. So beiläufig, als wäre es eine mechanisierte Bewegung. Schon wurde die Flasche zurück zum Kleiderbündel geworfen.

„Dann geh mir mal so einen suchen, Bohnenstange.“

„Das war unfein.“ Ich grinste, begeistert von seiner Bereitschaft, sich auf den Zank einzulassen. Er schwang den Bokken und trat zurück zum Box-Sack. „Bis zum heutigen Tag bist du noch keinem Kampf ausgewichen. Wie kam es zu der Schrumpfung? Ist es Ehrfurcht, weil ich mich in der Schwertkunst verbessert habe?“

„Ts.“ Kopfschüttelnd zog er weiter und ich musste nur kurz grübeln.

„Oder hast du nur Angst davor, schon so früh am Morgen zu weinen?“

„In Ordnung.“ Prompt wurde mir der Bokken entgegengestreckt. „Ich werde dir den Hintern so versohlen, dass du dir wünschst, du hättest keinen.“

„Alles klar.“ Auf mehr war ich nicht aus, doch als ich ihm den Rücken kehrte und zu dem Gestell schlenderte, zog ich eine Grimasse. War das klug?

Auch wenn ich die Mehrheit meiner Kämpfe ebenso mit einem Schwert führte, waren unsere Fähigkeiten wie Tag und Nacht. Er war ein geschickter und schneller Schwertkämpfer und so wusste ich längst, wie die nächsten Momente verlaufen würden.

Ich war ein schweres und großes Schwert gewöhnt, das man soviel anders handhabte als solch einen Bokken, der Mugen so ähnlich war, wie er es nur sein konnte. Tief durchatmend griff ich nach einem von ihnen, bewegte ihn in der Hand und schlüpfte aus meinen Schlappen. Auch die Weste streifte ich von meinen Schultern und strich mein Hemd glatt. Eigentlich sinnlos, denn am Ende wäre ich ohnehin verschrammter als der Stoff. Lauernd hatte Kanda meine Bewegungen verfolgt und kaum hatte ich mich ihm zugewandt, da wurde surrend der Bokken geschwungen.

„Komm her, Bohnenstange!“ Er winkte mich näher. „Ohne Zähne fallen dumme Sprüche schwer.“

„Konzentrier dich bitte.“ Auch ich schwang den Bokken, näherte mich Kanda und schöpfte tiefen Atem. „Mut siegt immer über Zorn und ich will dich nicht verletzen.“
 

„Verdammt!“ Zischend schüttelte ich die Hand, entkam dem nächsten Schlag nur knapp und stolperte zur Seite.

Ich war es nicht gewohnt, dass die linke Hand bei einem Kampf im Weg war. So konzentrierte ich mich zu sehr auf sie und sammelte die Prellungen ab der rechten Schulter abwärts. Ein Schritt zur Seite, schon wirbelte Kanda herum und knallend trafen die Bokken aufeinander, als ich den Schlag parierte. Bisher hatte ich ihn kein einziges Mal getroffen.

Was ich befürchtete, trat ein und kaum konnte ich seiner Schnelligkeit folgen, da spürte ich die Spitze seines Bokken, die schmerzhaft meine Seite streifte.

„Du bist schon wieder tot!“ Keuchend erhob sich seine Stimme nahe an meinem Ohr, als er sich in meinem Rücken an mir vorbei schob. „Streng dich endlich an!“

Das sagte er so einfach. Für ihn war es leicht und für mich so kompliziert.

Ich war doch nicht darauf aus, mit ihm zu kämpfen und bildete mir auch keine Ebenbürtigkeit mit dem Schwert ein. Das einzige, was ich wollte, bekam ich längst. Die Wärme seines Körpers, wenn er sich an mir vorbeipirschte. Seine Stimme, die mir bisweilen so nahe war. Sein Duft, der mich streifte, wenn wir aufeinandertrafen. Sein Haar, das auf meine Schulter traf, wenn er herumfuhr.

Alles, was so betörend war und mir jede Konzentration nahm.

Möglicherweise hätte ich bisher weit weniger abbekommen, würde ich nicht dieser neuen Fixierung unterliegen und mich nicht wehrlos in seiner Gegenwart fühlen. Erinnerungen bekamen mich zu fassen und führten mich zu jenem Moment zurück und kaum sah ich diese Bilder vor mir, kaum nahm ich die alten Gefühle wahr, da wurde ich bitter mit der Realität vertraut gemacht.

Kanda hielt sich natürlich nicht zurück und gehetzt kam ich ihm bei, als er sich auf mich stürzte. Mit einem kraftvollen Hieb, den ich mit einem Schlag fehlleitete und mich dadurch endlich in einer gewissen Sicherheit wiegte. Doch wie plötzlich trat er noch näher an mich heran, wie plötzlich spürte ich seine Hand auf meiner Schwertführenden und kaum versah ich mich, da wurde mir der Arm verdreht und ich wirbelnd zu Boden gerungen.

Ich schlug auf, bekam nur beiläufig mit, wie er über mich hinweg stieg und gerade bemerkte ich, dass mir das Schwert aus der Hand gerissen worden war, da landete es schon vor mir auf dem Boden.

Was für eine Präzision. Ich hatte den Verlust kaum mitbekommen und so rappelte ich mich auf und tastete nach dem Bokken.

„Wo bleibt mein würdiger Gegner?“

„Ja ja.“ Ächzend rieb ich mir eine der schmerzenden Stellen und kam auf die Beine.

Mehr als das würde er nicht zu sehen bekommen. Vermutlich war er anschließend noch wütender, doch das war es wert.

Wie sehr vergaß mein Körper die Schmerzen, wenn meine Sinne nach ihm trachteten und alles nahmen, was er mir gab. Jeden Schlag nahm ich gern auf mich für einen Moment, in welchem wir uns nahe waren und ohne Zögern ging ich in den Angriff über.

Wenn er mir schon Schmerzen zufügte, dann sollte es sich wenigstens lohnen.

Sein Schlag. Wie eilig drehte ich mich aus seiner Reichweite, näherte mich ihm ebenso schnell und nur beiläufig spürte ich seine Hand, die auf meine Schulter niederging, als mein Rücken auf seine Brust traf und mein Ellbogen kurz darauf seine Rippen. Kaum hatte ich ihm diesen Schlag versetzt, da wurden mir die Beine weggerissen. Die Hand an der Schulter zog mich zurück und haltlos ging ich erneut zu Boden.

Ich fühlte mich, als würde ich mich blind und taumelnd bewegen, ohne Sinn und Verstand.

„Was ist mit dir los?“, wurde ich angefahren und begann mich ein weiteres Mal aufzurappeln.

Wollte er das wirklich wissen?

Ein Grinsen zog an meinen Lippen, als ich mich auf dem Bokken in die Höhe stemmte.

„Ich mache mich warm.“

„Dann werde mal fertig damit!“

Ich war ihm heute nicht würdig. Nicht im Geringsten. Und mein Kreuz tat höllisch weh.

Ich stand völlig neben mir und fragte mich allmählich wirklich, was ich mir eingebrockt hatte.

Tief atmete ich aus, atmete ein und fasste den Bokken sicher.

Wenigstens einen Schlag, wenigstens einen Treffer, damit er nicht noch mehr Misstrauen schöpfte.

Mir gegenüber wurde der Bokken gehoben. Leicht ging Kanda in die Knie, stets achtsam und voller Erwartung.

Scheinbar nahm er mich doch ernst. Wenn auch nicht komplett, er bereitete sich auf meinen Angriff vor. Diesmal würde er zu Boden gehen. Wenn er seine Waffe benutzte, würde ich nichts anderes tun und kurz spreizte ich die Finger der linken Hand, presste sie zu einer Faust und lockerte sie wieder.

Und los.

Ich setzte mich in Bewegung, sofort tat er es mir gleich und wie schnell überwanden wir die Distanz, wie schnell trafen wir aufeinander und nur kurz begegneten sich unsere Bokken. Ein lauter Knall erhob sich in der Halle, als sie übereinander hinwegschlitterten und wie eilig hatte ich es, mich gegen Kanda zu drängen, an seinen Schwertführenden Arm zu gelangen und mich mit meinem Linken in ihm zu verkeilen.

Es war eine scheinbar ungeschützte Stelle, in die ich mich schob. So rasch, wie ich ihn zur Seite zerrte und seinen Schritt mit dem Bokken blockierte. Sofort zog es ihn nach unten, sofort zog ich den Arm zurück, doch wie gesperrt war meine Freiheit mit einem Mal.

Ich konnte mich nicht lösen, irgendwas zog mich mit hinab. Es war sein Bokken, der plötzlich in meinem Nacken lag und keuchend gingen wir zu Boden. Er schlug auf, ich stürzte ihm nach und nur knapp gelang es mir, mich abzustützen, bevor ich vollends auf ihn sank. Es war nur ein Moment, in dem ich über ihm kauerte und fast fluchtartig stieß ich mich ab und rollte mich zur Seite. Zuviel. Viel zu viel.

Fast war ich erschrocken von dieser plötzlichen, intensiven Nähe und mein Herz raste schmerzhaft in meiner Brust, als ich aufblickte. Kanda entrann ein Keuchen, bevor er auf die Beine kam. Sein wirres Haar verbarg einen Teil seines Gesichtes und mit einem Mal überkam mich die Gewissheit, dass es genügte. Weiter konnte und wollte ich nicht gehen und kaum traf mich sein Blick, da richtete ich mich schlagartig auf. Er war bereit für die Fortsetzung, doch ich hatte meinen Bokken verloren und würde nicht wieder nach ihm greifen.

„Ich denke, das reicht mir für heute“, meine Stimme versank im Keuchen, als ich mich auf die Beine quälte.

„Wir haben gerade erst angefangen!“ Er war entrüstet. „Jetzt willst du kneifen?“

„Oh ja.“ Unter einem beschämten Lächeln rieb ich mir den Steiß und wich bereits vor ihm zurück. „Wenn wir so weitermachen, schlägst du mich nur grün und blau.“

„Diese Einsicht kommt erst jetzt?“ Endlich ließ er den Bokken sinken und betrachtete mich verächtlich. „Wo ist dein Selbstvertrauen hin, Bohnenstange? Ist es in das Nichts zurückgekehrt, aus dem es kam?“

„So in der Art.“

Es war mir egal. Meine Beweggründe waren wichtiger als eine Blamage und düster verfolgte er, wie ich zu meinen Schuhen trat.

„Wir holen das nach.“ Ächzend schlüpfte ich hinein, erschauderte heiß und kalt.

„Und wenn ich keine Lust darauf habe?“

„Das wirst du schon.“ Flüchtig winkte ich ihm.

Es war ein Rückzug, wie er im Buche stand, doch ich ließ die Schmach gern über mich ergehen, denn mein Körper zeigte mir, dass es allerhöchste Zeit war. Ich war nicht mehr weit davon entfernt, mich völlig fallen zu lassen und ich wechselte kein weiteres Wort mit Kanda, bevor ich fluchtartig aus der Halle trat.
 

-tbc-



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