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Unseen Souls

von

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17

Die Niederlande begrüßten mich mit eisiger, frischer Morgenluft, als ich aus dem kleinen Bahnhof Amsterdams trat.

Wieder einmal war der Mantel von Nöten und erneut hüllte ich mich in ihn ein, während meine Schritte eilig in eine bestimmte Richtung führten. Meine Hände suchten bereits. Sie tasteten die Taschen der Uniform ab, wurden fündig und durch den weißen Dunst, in den sich mein warmer Atem verwandelte, blickte ich auf jene Karte, die mir der leitende Finder des belgischen Lagers vorbereitet hatte. Eine Karte, die die Stadt zeigte. Auch ein deutliches, rotes Kreuz, das über ein scheinbar größeres Gebäude gezogen war.

Möglicherweise eine Lagerhalle.

Nach plagenden und unsicheren Stunden, hatte ich es nun umso eiliger. Ich wusste nicht, was gerade in jenem Gebäude geschah und bahnte mir meinen Weg durch die Straßen. Zu dieser frühen Stunde, kurz nach der Morgendämmerung, traf ich nur auf wenige Menschen. Zeitungshändler, die mir nachspähten. Vereinzelte, die es in der Kälte ebenso eilig hatten. Nur wenige, unter denen ich in meiner Hektik auffiel.

Es war ein langer Weg, der mich erwartete, mehrere Kilometer, die ich in dieser Stadt hinter mich zu bringen hatte und die Augen stets auf die Karte gerichtet, verfiel ich bald einem umso schnelleren Schritttempo. Ich war mir nicht sicher, ob mir mein Verstand fälschlicherweise ein schlechtes Gefühl einhauchte.

Meine Intuition war so vorbelastet, dass sie mich irre leiten könnte und so gab ich mir Mühe, bald an nichts mehr zu denken.

Was auch immer gerade bei Kanda geschah, ich hatte keinen Einfluss darauf. Noch nicht.

Es war eine verlassene, unbewohnte Gegend, in die mich die Karte führte, bestehend aus leeren Läden, kleinen Lagerhäusern, freien, unbenutzten Flächen, umrandet von hässlichen, kahlen Stahlzäunen. Ein Gewirr aus Schächten und Türen, Gassen und Durchgängen. Der Überblick ging sofort verloren, als ich mich mit all dem konfrontiert sah und ohne zu zögern sprang ich hinauf und auf ein tiefliegendes Dach.

Ich brauchte eine Übersicht, spähte dort oben um mich und erreichte mit einem weiteren Satz ein höheres Dach. Flink nach der Regenrinne gegriffen, ebenso schnell hinaufgezogen und schon kam ich auf die Beine und hob die Karte. Ich drehte sie, hielt sie näher an mein Gesicht, verengte die Augen und sah mich um.

Konnte es sein?

Wieder starrte ich auf das Blatt, blickte auf und unter einem tiefen Atemzug ließ ich das Papier sinken.

Da war es. Direkt vor mir, doch einen solchen Anblick hatte ich nicht erwartet. Das kahle Haus erhob sich bis zur vierten Etage in die Höhe, ragte so finster auf, als entspränge es einem Alptraum, in dem die finsteren, fensterlosen Löcher pechschwarz gähnten.

Kein Glas, nicht einmal eine Tür und mit offenem Mund besah ich mir die finsteren Verfärbungen. Über jeder Öffnung, die die Fassade unterbrach, über jedem leeren Türdurchgang. Es war ausgebrannt.

Raschelnd zerdrückte ich die Karte in der Hand, ließ sie fallen und trat zur Kante des Daches.

Was hatte ich davon zu halten?

Ich spürte eine schneidige Böe, die meinen Schopf zerzauste und sprang in die Tiefe. Annähernd lautlos setzte ich auf und kam auf die Beine. Dieser Ort wirkte nicht wie der Platz, an dem es etwas zu tun gab. Alles schien tot und leer, so unbenutzt und wertlos. Dreckig, finster und kalt.

Ich erreichte den alten Maschendrahtzaun, der das Gebiet umrandete. Er war an so einigen Stellen marode und so war es leicht, sich hindurch zu schieben und jenes Gelände zu betreten. Trocken knirschte dunkler Kies unter meinen Schuhsohlen, als ich aufblickte und mir das Gebäude aus der Nähe besah. Die Fassade war altersgrau und rissig. Hie und da bröckelte bereits der Putz. Es sah so marode aus, als würde ein schneidiger Wind genügen, um es dem Erdboden gleichzumachen.

Mein Atem fiel gedämpft, als ich die Fassade erreichte.

Ich wusste nichts über diesen Ort. Es bot sich an, unauffällig zu bleiben und so fuhr ich mit den Fingerkuppen über eine verrußte Stelle der Außenmauer. Ein dünner Film blieb am Stoff des Handschuhes haften und kurz rieb ich ihn zwischen den Fingern und roch. Was für ein Feuer hier auch immer gelodert hatte, viel Zeit war seitdem nicht vergangen.

Ein Kampf? Hatten Explosionen dieses Gebäude in Brand gesteckt?

Leise trat ich zur Seite, näherte mich dem Eingang und lugte um die Ecke. Der Innenraum war beinahe schwarz. Kaum ein Lichtstrahl fiel in das fensterlose, enge Treppenhaus, doch es war nicht die Dunkelheit allein, die mir ein seltsames Gefühl schenkte. Gefahr. Ein Instinkt, den ich nicht hinterfragte.

Ich hatte es so eilig gehabt, diesen Ort zu erreichen.

Jetzt hier zu stehen und zu grübeln, gefiel mir nicht und kurz wandte ich mich zu Tim um, bettete den Zeigefinger auf den Lippen und er schien es zu verstehen. Zu meiner Schulter flatterte er und kaum schob ich mich in den finsteren Eingang, ließ er sich auf ihr nieder und unterdrückte seinen Flügelschlag.

Erwarten konnte mich hier in diesen engen Gängen alles. Ich achtete auf jeden Dreck des Bodens, auf Gegenstände, die mich verrieten, sobald ich auf sie trat und vertieft in diese sorgfältige Aufmerksamkeit kam ich letztlich nur langsam voran und erreichte die Treppe.

Die Stufen bestanden aus Holz und größtenteils aus verkohlter Materie. Zu gefährlich, verräterisch und nachdem ich nach oben gespäht hatte, stieg ich auf das Stahlgeländer und zog mich hinauf.

Die erste Etage hielt einen breiten Gang für mich bereit. Ein leerer, ausgebrannter und schwarzer Flur, der in einen großen Lagerraum mündete. Auch ihn musterte ich, als ich auf dem Geländer kauerte, die Hand stützend auf der Unterseite der nächsten Treppe. Ich meinte etwas zu hören und vorsichtig neigte ich mich zur Seite, verengte die Augen und starrte weiterhin in diesen Lagerraum. Ein Geräusch, ein leises Knacken und so zügelte ich meinen Atem und wartete.

Doch nicht lange. Es war ein großer, runder Schatten, der sich über eine Wand des Raumes hinwegbewegte. Fließend, schwebend und bevor der Akuma den Flur erreichte, griff ich erneut hinauf und zog mich in die nächste Etage. Ich stahl mich aus seinem Blickfeld, verschaffte mir auch in der zweiten Etage einen Überblick. Sie ähnelte der anderen überhaupt nicht. Diesmal waren es zwei breite Gänge, die von dem Treppenhaus abgingen.

Zwei Flure, in denen sich teils offenstehende Türen reihten. Allesamt ausgebrannt. Ich hatte das Gefühl, mich in einem völlig schwarzen Haus zu bewegen, doch es war nicht so leblos, wie es schien. Hier bewegte sich so einiges und das erneute Knacken, das an meine Ohren drang, hatte ich diesmal nicht zu hinterfragen. Die Schatten schienen sich überall in diesem Gebäude zu bewegen und auf Eindringlinge zu lauern. Das gesamte Haus war eine einzige Falle und wieder zog ich mich hinauf.

Wenn Kanda irgendwo war, so war er es nie längere Zeit gemeinsam mit Akuma.

Letzten Endes blieb nur er übrig.

Ich atmete tief ein und lugte in die nächste Etage und erkannte einen ähnlichen Aufbau wie im zweiten Stock. Zwei Flure, mehrere Zimmer und eilig ließ ich mich zurück hinter das Geländer rutschen, als aus einem dieser Räume der runde Körper eines Akuma driftete. Er schwebte hinaus in den Gang, wandte sich ab und bewegte sich auf ein größeres Zimmer zu, welches das Ende des Ganges bildete. In seinem Rücken hangelte ich mich zum vierten und letzten Mal hinauf.

Ich hatte Kanda zu suchen. Wo sollte er sein, wenn nicht hier?

Ich wusste so wenig über seine Mission. Das einzige, was ich kannte, war dieser Ort und die Tatsache, dass ich hier auf ihn treffen sollte. Ich musste ihn suchen und ich würde ganz oben beginnen. Im vierten Stock, den ich nun erreichte und in ähnlicher Weise vorfand.

Das Treppenhaus war das Mittelstück zwischen zwei Gängen. Gefährlich, wie sehr man hier ausgeliefert war und so schob ich mich vom Geländer, bevor sich in meinem Rücken etwas aus den Zimmern schob, was ich lieber vor mir hatte. Die Umgebung machte einen Kampf kompliziert. Nur wenige Explosionen, schätzte ich, mehr würde dieses Gebäude nicht aushalten, bevor es in sich zusammenstürzte. Es war lange her, dass ich so vorsichtig war, als ich in einen der Gänge trat.

Es fiel mir nicht schwer, einen Akuma in meiner Nähe zu erspüren und so spähte ich in den ersten Raum, fand ihn leer vor und tastete mich weiter zum nächsten. Gegenstände auf dem Boden umgehend, mich oft umdrehend und den anderen Gang im Auge behaltend. Auf so vieles hatte ich zu achten, während ich mich weiterpirschte und im nächsten Gang geradewegs den Rücken eines Akuma vor mir hatte. Er bewegte sich abgewandt durch das Zimmer und lautlos schlich ich an ihm vorbei, tauchte kurz im Türrahmen auf und genauso schnell im Flur unter.

Es waren vereinzelte, blecherne Türen, die das Feuer überstanden hatten und es mir schwer machten. Die Angeln drohten zu quietschen, wenn ich sie öffnete, über den Boden zu kratzen, mich zu verraten und so zog ich leisen Schrittes an der ersten dieser Türen vorbei.

In die offenen Zimmer wollte ich zuerst einen Blick werfen. Die nächsten Schritte würden folgen und oft hatte ich abrupt zurückzuweichen, um den Augen eines Level-1 zu entgehen. Sie waren überall, schienen so auffällig in diesem Gebäude postiert, als handle es sich wirklich um eine Falle.

Für wen war sie gedacht? Für die Verstärkung oder denjenigen, für den sie gedacht war?

Es waren Fragen, für die ich mir keine Zeit nehmen durfte und es vergingen so einige Minuten, bis ich den ersten Flur verließ und mich in den anderen schlich. Reglos hielt sich Tim noch immer auf meiner Schulter. Es war eine angespannte Atmosphäre, in der ich mich bewegte. Eine knisternde Stille, die jederzeit von einem krachenden Geräusch durchdrungen werden konnte. Es war viel zu still und aufmerksam umging ich einen Haufen herabgerieselten Putzes.

Das nächste Zimmer, an dem ich mich vorbei stahl, offenbarte mir keine Gefahr. Im Gegensatz zu den nächsten und umso angespannter blickte ich in den Flur zurück, als ich das Endes des Ganges erreichte und somit die letzte Tür. Jederzeit könnte einer von ihnen ein Zimmer verlassen, jederzeit hier auftauchen und mit zusammengepressten Lippen nahm ich diese blecherne Tür in Augenschein. Sie verwehrte mir den Blick in den Raum und die Bewegung, in der meine Hand zu ihrer Kante fand, war unentschlossen und zögerlich. Es war nicht der einzige Raum, der sich hinter einer solchen Tür verbarg.

Wie sollte ich nach Kanda suchen, wenn ich diese Zimmer umging?

Erneut spähte ich zurück, fasste Tim an den Flügeln, klemmte sie unter den Gürtel und ließ ihn baumeln. Die Vorkehrung war getroffen, ein letzter Blick zurück und schon schloss sich meine Hand um die Kante des dicken Bleches. Entweder es quietschte oder es funktionierte. Im schlimmsten Fall hatte ich es mit einem Mal mit etlichen Akuma zu tun, die in ihrer Raserei das Haus zum Einsturz brachten.

Dennoch begann ich die Tür zu bewegen. Sie regte sich lautlos und ebenso geräuschlos trat ich zum Spalt und schob mich unter einem letzten Blick zurück in den Flur in das dahinterliegende Zimmer. Vorsichtig hielt meine Hand die Tür umschlossen, als ich den Rahmen passierte, aufblickte und inne hielt.

Mein Körper erstarrte, denn plötzlich sah ich Kanda vor mir.

Er saß dort inmitten des Raumes und nicht zu nachlässig an einen Stuhl gefesselt. Seine Beine, seine Arme. Selbst um seinen Oberkörper, der lediglich mit einem Hemd bekleidet war, spannten sich die festen Stricke. Er war fixiert und in dieser Haltung in sich zusammengesunken. Tief war sein Kopf geneigt, wirr streifte sein halboffenes Haar die zum Teil freiliegende Brust und es musste dieser Anblick sein, der mir jede Bewegung verweigerte. Offen gähnte hinter ihm ein Fenster und wie eisig zog mir die Luft entgegen, die auch ihn erfasste.

Stockend bewegten sich meine Lippen, erst jetzt gelang mir ein Blinzeln und es war das Schaben meiner Stiefel, das ihn zum Leben erwachen ließ. Abrupt hob sich sein Kopf. Alarmiert starrte er direkt zu mir, ohne dass sein Blick durch das schwarze Tuch drang, das seine Augen unter sich verbarg.

Er war blind, bewegungsunfähig und Gott weiß, weshalb sich meine Stimme nicht erhob.

Weshalb ich nicht zumindest flüsterte, um mich zu erkennen zu geben und nichts an seiner deutlichen Anspannung änderte.

Er wusste nicht, wem er ausgeliefert war.

Einem Menschen. Einem Akuma. Nein, mir.

Es war eine beklemmende Lage, denn für jede Sekunde, die ich mit Schweigen zubrachte, hätte ich mich später zu rechtfertigen. Wie still musste er in dieser klirrenden Kälte ausgeharrt haben, um keinen der Akuma auf sich aufmerksam zu machen. Wie viel Geduld und Stärke musste es ihn gekostet haben, in dieser Eiseskälte nicht den Verstand zu verlieren.

Er musste befreit werden und stockend glitt meine Hand vom Blech der Tür, senkte sich und ballte sich zur Faust, während sich mein Hals unter einem trockenen Schlucken bewegte.

Was geschah mit mir?

Was tat oder unterließ ich?

Wie gleichgültig war mir seine Lage im Gegensatz zum Anblick, den er bot. Er war ausgeliefert.

Bislang nur meinen Augen, die zu seinen bläulich verfärbten Lippen fanden. Er war stark unterkühlt, doch zu spät bemerkte ich, wie wenig ich mich für diese Tatsache interessierte. Viel eher verfolgte ich, wie sich seine Lippen aufeinander pressten. Eine einfache Bewegung, die so interessant war, während ein Zucken durch sein bleiches Gesicht fuhr.

Fürchtete er sich? Wen sah er hier vor seinem geistigen Auge?

Jemanden, der ihm Schaden zufügen, der seine Lage ausnutzen würde?

Lautlos atmete ich ein, spürte nur beiläufig die Regung Tims unter meinem Mantel und zwang ihn mit einem Griff zur alten Regungslosigkeit. Nicht hier. Nicht jetzt. Es war grenzenlose Freiheit, die ich spürte und Möglichkeiten, mir weitaus mehr an ihm zu betrachten, als sich meinen Augen jemals bot.

Ohne dass er es wusste. Ohne dass er es sah.

Wie sehr war ich hier im Vorteil und alles Menschliche schien mich zu verlassen, als sich mein Blick zu seinem Schlüsselbein senkte, zu seiner Brust. Wie stark musste das Herz in ihr schlagen.

Sein Haar. Der Zopf saß locker, seit längerer Zeit schien das Band nicht mehr jede Strähne unter Kontrolle zu haben. Eine bewegte sich vor seinem Gesicht, wiegte sich unter jedem Atemzug, den er ausstieß. Stockend senkte sich mein Kopf zur Seite. Meine Augen verengten sich und ich blieb still, doch setzte mich in Bewegung. Nur ein Schritt und abrupt schien sich sein Leib zu verkrampfen.

Er offenbarte eine Vorsicht, die ihm nichts nützte.

Er war nicht mehr alleine hier und die Augen nicht von diesem Haar lösend, trat ich näher, schien geradewegs angezogen zu werden von seiner Reglosigkeit. Ich taumelte, schwankte ihm entgegen, während ich meinen noch immer geöffneten Lippen jede Feuchtigkeit nahm. Und ich wurde größer und größer, baute mich kurz darauf vor ihm auf und blickte auf ihn hinab.

Kaum hatte sich sein Gesicht gewandt, kaum sein Körper einen Fluchtversuch unternommen, denn er wusste um die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens.

Vielleicht nicht von Anfang an aber er musste lange genug hier sitzen, um die Stärke der Stricke zu spüren und die ausweglose Lage. Was konnte ich tun? Was wollte ich tun?

Es war erschreckend, wie mir jede Möglichkeit offenstand. Ich war zu allem fähig und während ich dort stand, fast Knie an Knie mit Kanda, betrachtete ich mir wieder sein Haar. Eine Facette, die mir früh aufgefallen war. Früh hatte ich diesem Haar Aufmerksamkeit geschenkt, wie früh über diese Länge gestaunt und mich gefragt, wie es sich wohl anfühlte.

Es juckte in meinen Fingern und nervös spreizte ich sie, lauschte versunken dem zitternden Atemzug, der über seine Lippen drang. Er war zu kalt, um in der Luft zu beschlagen und dennoch wollte ich ihn einatmen, Grenzen überschreiten, Fehler begehen und Respekt verlieren.

Alles, indem ich den Bewegungen folgte, in die sich mein Körper versetzte.

Es war so unendlich falsch, doch welcher Fehler schreckte ab, wenn er keine Folgen nach sich zog?

Ich hob die rechte Hand, hob sie zum Mund und biss nach dem Handschuh.

Ich wollte es spüren. Nur ganz kurz. Und ich zog die Hand ins Freie, spürte sofort die Kälte, die sich auf meine Haut legte.

Alles in mir pulsierte so wild und zitternd hob ich die Hand und streckte sie seinem Gesicht, seinem Haar entgegen.

Ich tat es wirklich und es fühlte sich so verlockend an, dass ich alles vergaß und völlig entrückt diese eine Strähne berührte. Es war nur eine kurze Begegnung, die meine Fingerknöchel dabei mit seiner Wange hatten. Ein unbeabsichtigter Kontakt, unter welchem Kanda merklich in sich zusammenzuckte.

Wer erwartete schon eine simple Berührung in einer solchen Lage?

So schmerzlos, so leicht und tief atmete ich ein, als ich diese seidige Glätte auf meiner Haut spürte, als ich die Strähne durch meine Finger gleiten ließ, nach ihr tastete, sie umgriff und mich an diesem leichten Kitzeln ergötzte.

Es sprengte etwaige Erwartung und ich schluckte, bevor ich das Ende der Strähne von meiner Hand gleiten ließ. Nahe an seinem Gesicht verharrte sie. Beinahe glaubte ich die Kälte zu spüren, die von diesem ausging, doch meine eigene Wärme dadurch nur umso mehr. Er war verwirrt.

Was wusste er schon von seiner Wirkung?

Nahe an seinem Gesicht ballte ich die Hand zur Faust. Das Gefühl war so vergänglich und doch so atemberaubend.

Sein Gesicht. Ich sah nicht die Augenbinde, nicht den angespannten Ausdruck. Nur seine Wangen und seine ebenmäßige Stirn.

Das Gesicht, das sich zu so finsteren Ausdrücken verzog - wie fühlte es sich an?

Durfte ich es wagen?

Ich wagte es.

Wie würde er mich hassen, sollte er es erfahren. Wie würde er mich verachten und wie gleichgültig war es mir.

Ich ließ alles außer Acht zugunsten dieses Augenblickes.

Langsam löste ich die Faust und streckte die Finger zu seinem Kinn. Reglos blieb sein Kopf erhoben und in meine Richtung gewandt, als erwarte er mit der richtigen Entschlossenheit durch jenes Tuch blicken und mich sehen zu können. Ein trauriges Unterfangen und ich belächelte es, während ich die Fingerkuppen auf sein Kinn setzte und er abrupt zurückwich, der Berührung nachdrücklich entging.

Wie musste die Wut in ihm pulsieren, die Irritation. Sie drang nicht zu mir, drang nicht durch den warmen Sog, der mich mit sich zog und meine Hand dazu aufforderte, seinem Gesicht zu folgen. Ich wollte es berühren und kaum strich ich über seine Wange, da zuckte sein Gesicht zur anderen Seite.

Er war es nicht gewöhnt, berührt zu werden und umso verlockender wirkte diese unschuldige, reine Haut.

Hatte es jemals Fingerkuppen wie meine gegeben, die ihn voller Begeisterung erforschten?

Sich interessierten?

Mein Körper entwickelte ein Eigenleben. Sein Widerstand kam mir in die Quere und kaum nahm ich wahr, wie sich meine Hand zu seinem Hinterkopf senkte, ihn packte, fixierte und aufzischen ließ. Er sollte einsehen, dass ein anderer Macht über diesen Augenblick besaß.

Wie nachdrücklich ich zugriff. Kaum darauf achtend, ihm keinen Schmerz zuzufügen und mit einem Mal versenkte ich die Finger tiefer in seinem Haar und zog seinen Kopf zurück. Wie wurde ich gelenkt, wie fieberhaft verschaffte ich mir diesen Genuss und folgte einer undurchsichtigen Leidenschaft, in der ich mich hinab neigte und ohne einen Gedanken seinem Hals entgegen strebte.

Er bot sich mir dar, es gab keine Grenzen und wie vertieft suchte ich nach dem Geruch, den ich schon einmal wahrgenommen hatte.

Es war nicht lange her und im Krankenflügel geschehen, als er an mir vorbeizog. So nahe, dass es ein Leichtes gewesen wäre, ihn zu packen. Doch es war eine Lage, die es mir lediglich erlaubte, in der Brise, die er nach sich zog, tief durchzuatmen. Er hatte rein gerochen, nach Seife und doch ganz speziell. Ein ihm eigener Geruch, nach welchem ich an seinem Hals suchte.

Er regte sich unter einem Schlucken. Eine anziehende Regung und kitzelnd streifte ich seinen Adamsapfel mit der Nasenspitze.

Und ich atmete ein. Tief und nachdrücklich und spürte diesen Ausdruck, zu dem sich meine Lippen verzogen.

Ein Lächeln. Da war er.

Genau das war der Geruch, der mich schon einmal einen nicht geringen Teil meiner Aufmerksamkeit gekostet hatte.

Ich regte die Finger. Schon die ganze Zeit und in seinem Schopf, als wäre ich darauf aus, ihn zu graulen, während ich den nachdrücklichen Griff dennoch aufrechterhielt.

Es war eine fordernde, zwingende Liebkosung, zu der sich meine Hand ohne etwaigen Gedanken meinerseits entschloss und mit leicht gesenkten Lidern verfolgte ich die erneute Regung seines Halses. Auch ihn wollte ich berühren, wollte diesen Moment auskosten und etwaige Möglichkeiten nutzen, die mir gegeben waren. Meine Finger wurden von einem Punkt zum nächsten gelockt. Einer war interessanter als der andere und fürsorglich löste ich den Griff in sein Haar bezeichnete mich nicht als überrascht, als er diese zurückgewonnene Freiheit sofort nutzte.

Wie ruppig er den Kopf zur Seite wandte und zurückstreckte. Jede Berührung schien die Wut in ihm zu schüren, doch meine Hand war allmählich geübt. Jedes Zögern war von ihr gefallen und wenig später setzte ich die Finger schon auf seinen Hals. Die Haut war viel glatter, als es den Anschein hatte. So makellos.

Auch sein Hals wurde von keiner Narbe geziert. Keine Schramme, so rein und kalt, als hätte der klirrende Wind bereits den Großteil seiner Körperwärme davon getrieben.

Doch wie seltsam war die Tatsache, dass diese Kälte zu ihm passte.

Wie seltsam hätte es sich angefühlt, auf Hitze zu treffen. Man vermutete es nicht. Als wäre sein Körper stets in diesem einen Zustand. Abrupt wich er erneut zurück. Zuckend und allmählich wirklich aufgebracht, ohne die Stimme erheben zu dürfen.

Weshalb hätte er auch ausharren sollen, wenn er sich nun mit einem Mal in eine solche Gefahr brachte?

Es war nicht sein Leben, das hier auf dem Spiel stand. Es war meine Unschuld und somit nichts, das ihn zu interessieren hatte und wieder reagierte mein Körper, bevor ich ihm den Befehl gab.

Meine Zähne erfassten auch den anderen Handschuh, zogen ihn ins Freie und lautlos wandelte sich meine Hand zu jener Klingenbesetzten Klaue. Sein Protest missfiel mir. Ich wollte ihn anpassen, so gefügig machen, wie er es nur sein konnte und gnadenlos senkte ich eine der Klingen zu seinem Hals, setzte sie an seine Kehle und ließ ihn den kalten Stahl spüren. Es könnte ein Messer sein, irgendeine Waffe. Alles außer meiner Hand, die ihn hier in seine Schranken wies. Es war eine Drohung, die Früchte trug, die seinen Widerstand zum Erliegen brachte und ihn dazu, reglos zu verharren.

Ein leichter Druck. Noch ein wenig und auf der Flucht vor der spitzen Klinge senkte sich sein Hinterkopf abermals in den Nacken. So wie ich es wollte und nur kurz kratzte ich mit der Klinge über seine Haut, beinahe zärtlich, und postierte sie unter seinem Kinn. Ich brauchte einen weiteren, tiefen Atemzug, als ich realisierte, wie ausgeliefert er mir war.

Bis zu diesem Punkt, an dem er völlig unterlag und neben der Klinge doch lieber meine Hand zu spüren bekam.

Es wären keine Berührungen, die schmerzten. Vielleicht litt sein Stolz.

Flach bettete ich die Hand auf seiner Kehle, umschloss sie, jeden Druck verhindernd. Ich wollte ihm nicht wehtun.

Und wie fesselnd war die erneute Regung seines Halses unter meiner warmen Hand. Ich wärmte ihn, kümmerte mich um ihn und letztendlich doch nur um mich selbst, als ich mit der Hand tiefer strich und ehrfürchtig sein Schlüsselbein erreichte.

Es war von so einer wunderbaren Form, dass sich meine Finger dazu verleiten ließen, ihr zu folgen. Ich strich zur Seite, zurück zu seiner Brust und kaum hatte ich bemerkt, wie ich selbst die Augen schloss, während mein Gesicht seinem Hals entgegen strebte. Meine Lider senkten sich, als genüge es meiner Nase, für meine Wahrnehmung zu sorgen.

Sein Geruch ließ beinahe einen Schwindel in meinem Kopf ausbrechen. Wie eine Fährte führte er mich zu jener kalten Haut und wieder atmete ich tief ein, streifte sie mit der Nase und erzitterte von Kopf bis Fuß. Seine Brust. Wie rasch war meine Hand tiefer gesunken, wie schnell hatte sie sich nicht mehr mit dem Schlüsselbein zufrieden gegeben und wie viel Genuss brachte mir jeder dieser Flecke, die ich erforschte. Unruhig bewegte ich die Lippen und presste sie aufeinander.

Es schien, als wären sie es, die noch unzufrieden waren. Als wollten sie teilhaben und mein Leib erschauderte unter einer fließenden Kälte, als ich mich näher an ihn schmiegte und mit den Lippen seine Haut streifte. Und mit einem Mal zog es mich mit sich, zog mich näher an seinen Hals und ließ mich entrückt nach ihm beißen. Ich küsste ihn, schabte mit den Zähnen über seine Haut, schmiegte mich an ihn und schloss die Augen. Beinahe trunken bewegte ich mich an ihm, nachdrücklicher verstärkte sich mein Griff an seiner Brust und rauschend nahm ich meinen Atem wahr.

So heftig, so erregt, während dieser Sog an Hitze und Stärke zuzunehmen schien. Es nahm mir den Verstand und keuchend riss ich mich kurz darauf von ihm los und stolperte zurück. Nur undeutlich nahm ich seine Bewegungen wahr. Wie verschleiert war mein Blick und verkrampft verbarg ich meinen keuchenden Mund hinter der Hand.

Was war geschehen?

Das Herz raste in meiner Brust, stieß so dumpf gegen meine Rippen, dass ich die Schläge im gesamten Körper spürte.

Nichts stimmte mehr. Mein Körper spielte verrückt und zittrig fuhr ich mir durch den Schopf.

Es war zu viel. Ich hatte zu viel von diesem kostbaren Wein gekostet, auf dass ich nun völlig trunken und ohne Verstand zurückblieb. Auch Kandas Atem erhob sich kurz darauf in jenem Zimmer. Mit einem Mal brach er hervor, war so lange zurückgehalten worden. Wutentbrannt bissen auch seine Zähne aufeinander. Die Stricke wurden zu meiner größten Sicherheit und ich war mir dieser Tatsache bewusst, als ich das Innocence deaktivierte und mit beiden Händen über meine Brust fuhr.

Alles in mir bebte und angestrengt wandte ich mich ab und löste den Blick von ihm.

Ich durfte nicht weitergehen, denn ich würde stolpern, Fehler machen und mich in Gebiete begeben, in denen ich mir selbst nicht mehr gut tat.

Ohne einen weiteren Blick drehte ich mich um und griff nach der Tür. Schon einmal hatte sie nicht gequietscht und tatsächlich bewegte sie sich auch jetzt, als würde sie meine finsteren Vorgehensweisen decken.

Es war so schwer, meinen Atem zu zügeln, als ich wieder im Flur stand und hektisch um mich blickte.

Hatten die Akuma es gehört? Waren sie aufmerksam geworden?

Ich starrte zur einen Seite, zur anderen underspähte knapp über mir eine Luke. Sie musste zum Dach führen und ohne zu zögern sprang ich hinauf, umklammerte die Kanten, zog mich in die Höhe und stieg auf die leere Fläche des Daches.

Luft.

Ich rang nach ihr, als hätte ich lange Zeit nicht atmen können, sank auf die Knie und blieb kauern.

Verworren rasten die Gedanken in meinem Kopf und führten mir die letzten Momente vor Augen.

Was hatte ich getan?

Dumpf ging meine Hand auf den Kies nieder, erschöpft neigte sich auch mein Kopf und keuchend schloss ich die Augen. Ein Gefühl überkam mich. So mächtig, dass es mit der größten Angst einhergehen könnte. Ich musste atmen und mein Herz beruhigen. Ich fühlte mich in diesem Kampf annähernd wehrlos.

Beinahe hätte ich nicht aufhören können. Beinahe hätte ich es nicht einmal gewollt.

Langsam blickte ich auf und betrachtete mir die vereinzelten Schneeflocken, die von Himmel taumelten. Nur leicht begann es zu schneien und ich blinzelte, als eine Schneeflocke auf meiner Nasenspitze schmolz. Von hier unten sah es nach dichtem Schnee aus.

Seltsam, wie wenig von ihm letztendlich den Erdboden erreichte.

Ich blieb kauern und bald verfiel mein Herz dem alten Rhythmus sowie sich mein Atem legte und unter einem letzten Ächzen fuhr ich mir über das Gesicht. Abrupt erinnerte ich mich daran, dass ich mich inmitten einer Mission befand. Kanda saß dort unten, noch immer gefesselt und unfähig, etwas auszurichten. Ich hatte den ersten Schritt zu tun, ihm zu helfen, mich anzukündigen und so zu tun, als hätte ich ihn gerade erst gefunden.

Ich schlüpfte in meine Handschuhe, befreite Tim aus seiner Lage und kam auf die Beine.

Es war vorbei.

Diese Mission brauchte meine Konzentration. Jene Gedanken durften nicht in die Realität hineinreichen, mussten verschwinden. Wenigstens für die Augenblicke, die ich benötigen würde, um Kanda zu befreien.

Jäh kam mir dieses offene Fenster in den Sinn und sofort drifteten meine Augen zum Rand des Daches.

Es wäre so einfach, so nachvollziehbar und ohne zu zögern trat ich zur Kante, beugte mich nach vorn und spähte hinab zu jenem offenen Fenster. Es lag nicht tief, war leicht zu erreichen und so stieß ich mich ab, sprang über die Kante des Daches und drehte mich.

Problemlos schlossen sich meine Hände um die Regenrinne, doch diese gab mir nur kurzen Halt. Kaum hielt sie meinem Gewicht stand, ließ mit einem Mal nach und sackte tiefer. Doch die Zeit genügte, um mich zurückzuschwingen und mit einem Satz glitt ich durch das offene Fenster und setzte auf dem Boden auf.

Dieses Erscheinen war geräuschvoller und kaum setzten meine Füße auf, da fuhr Kanda in die Höhe.

Ein überraschtes Ächzen kam über meine Lippen.

„Kanda.“ Erleichtert keuchte ich seinen Namen.

„Bohnenstange?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Fauchen.

„Allen." Leise trat ich um ihn herum.

Ich tastete nach dem Tuch und wie hatte ich mich zu konzentrieren, die Berührungen lieblos wirken zu lassen. Schon zog ich das Tuch von seinem Kopf. Sofort öffnete er die Augen und verfolgte mit unglaublich abstruser Miene, wie ich mich an den Fesseln zu schaffen machte und ihm die alte Freiheit schenkte. Kaum waren die Stricke gelockert, da riss er sich los.

„Was ist hier passiert?“ Kurz darauf flüsterte ich diese Frage und erhielt zur Antwort nur ein Zischen. „Das ganze Haus wimmelt von Akuma."

Wie wütend er war und wie aufgebracht.

So unruhig, dass sein Körper diesem Zustand kaum gewachsen war.

„Geht dich nichts an.“ Seine Stimme bebte und kurz fragte ich mich, ob ich seinen Zustand nicht unterschätzte. Nur ein kurzer Moment, in dem ich mich damit befasste, bevor ich um mich blickte.

Mugen lag im Dreck des Bodens und nahe der Wand. Wie ein bedeutungsloser Gegenstand, den man fortgeworfen hatte.

Es war mir nicht aufgefallen, denn bei meinem ersten Besuch hatte andere Dinge im Vordergrund gestanden.

Ächzend kam Kanda auf die Beine. Es sah mühevoll und schwerfällig aus und die ersten Schritte, die er tat, waren eher ein Straucheln und Stolpern.

„Alles in Ordnung?“ Ich reichte ihm seine Waffe und bemerkte das starke Zittern der Hand, die nach ihr griff. Er suchte Halt an der Wand, stützte sich gegen sie und flüchtig zweifelte ich daran, ob er dem Kommenden gewachsen war.

Es blieb wohl bei Level-1, doch derzeit schien es ihm selbst schwerzufallen, sich auf den Beinen zu halten.

Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, da löste er sich von der Wand, riss die blecherne Tür auf und strauchelte in den Flur. Ein Quietschen begleitete ihn. Dieser Wucht war die Tür nicht gewachsen und wie verdrehte ich die Augen, als ich den Stoff von der linken Hand streifte.
 

Keuchend standen wir kurz darauf vor den rauchenden Trümmern des Gebäudes und umgeben von Schneeflocken.

Mit einem Mal hatte es zu schneien begonnen und so würde es nicht lange dauern, bis die Kadaver der Akuma gelöscht würden. Die verlassene Umgebung bestand beinahe vollständig aus Gebäuden wie diesen. Verrotteten und leeren, in denen sich kein Mensch aufhielt. Nicht zu dieser Stunde. Niemand, der Augenzeuge dieses Schauspieles wurde.

Der letzte Staub stieg von dem maroden Lehm und dem Putz auf, wurde von den Schneeflocken jedoch zärtlich unterjocht und gen Erdboden zurückgedrängt. Ich blieb stehen, blickte zum Himmel auf und von einem leisen Knarren gelockt, zurück zum Gebäude, in welchem der letzte Stahlträger zur Seite sank und donnernd im Schutt liegen blieb.

Neben mir erhob sich ein langer, zitternder Atemzug und so spähte ich zu Kanda.

Sein Hemd flatterte unter einer eisigen Böe und sein Gesicht machte den Eindruck, dass er bei einer solch finsteren Laune war, wie ich sie nur selten an ihm wahrgenommen hatte. Noch immer waren seine Lippen blau, während er am gesamten Körper bebte.

Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich wieder dem Haus zu.

„Wie konnte das passieren?“, hob ich an und beobachtete Tim, der sich über den Trümmern bewegte. „Dich so vorzufinden, habe ich nicht erwartet.“

Zitternd hob sich sein Arm und so wurde Mugen unter dem Gürtel verstaut. Kanda stieß ein Zischen aus, dann wandte er sich ab.

„Und die Mission?“, erkundigte ich mich.

„Es gibt keine mehr.“

Ich hob die Schultern, ließ sie sinken und schüttelte den Kopf, bevor ich ihm folgte.

Ich beobachtete die Hand, die er als Stütze nutzte, um an einer Wand vorbeizukommen. Er stemmte sich ab und zog durch den knöchelhohen Schnee.

Es war, als hätte es sich bei dem, was vor kurzem zwischen uns geschehen war, lediglich um einen Traum gehandelt.

Ich drohte rasch in meine alte Verhaltensweise zurückzufallen, in der ich mich unschuldig fühlte und nicht danach, seinen Zorn über mich ergehen zu lassen. Doch es war geschehen.

Nur langsam holte ich zu ihm auf. Vermutlich hatte ich jede Facette seiner Wut verdient und noch so viel mehr. Wie musste ich ihn verletzt haben, doch das Schuldgefühl fehlte. Vermutlich war ich auch jetzt so egoistisch, wie ich es sonst verschleiert und unauffällig gegenüber anderen war.

„Hey.“ Seine Stimme riss mich aus meinen prekären Grübeleien. Er wandte sich nicht um und unter einem Seufzen schloss ich zu ihm auf. Auch wenn es nicht so war, ich konnte immer noch so tun, als hätte ich all das nicht verdient.

„Was?“

„Bevor du das Haus betreten hast.“ Er spannte die Schultern an, als uns eine eisige Böe erfasste. „Hast du jemanden gesehen?“

Eine flüchtige Verblüffung befiel mich.

Er erkundigte sich tatsächlich, doch so funktionierte es nicht, denn ich wusste, dass er nicht weiterfragen würde.

Er war der Unwissenheit ausgeliefert, während ich vor Reue eigentlich im Boden versinken müsste.

„Wie meinst du das?“, erwiderte ich, doch seine Hand hob sich nur zu einer abwertenden Geste.

„Vergiss es.“

Damit war ich zufrieden und da er mich nicht ansah, sah er auch nicht mein Schmunzeln.

Mir blieb jedoch nicht viel Zeit, mich in der Bestätigung zu suhlen, denn abrupt verfing er sich in einem entkräfteten Straucheln. Er tat einen unsicheren Schritt und kaum versah ich mich, da sank er auf die Knie. Sein Körper schien ihm jede Bewegung zu erschweren. Selbst sein Atem war noch immer nicht warm genug, um in der eisigen Luft zu beschlagen. So blieb er kauern, starrte zu Boden und schien in absehbarer Zeit nicht vorzuhaben, wieder auf die Beine zu kommen.

Es war ein Anblick, den ich nicht ertrug. Ihn leiden zu sehen, hatte ich nicht vor und so schlüpfte ich aus meinem Mantel und reichte ihn ihm. Ohne Worte. Ich meinte, es wäre das Beste, wenn er ihn nahm, ohne einer Bitte nachkommen zu müssen. Es dürfte seinem Stolz weniger zusetzen.

Er hob den Kopf. Ich sah erneut diese sterbensbleiche Haut zwischen den schwarzen Strähnen seines Haares und die Augen, die sich ungläubig auf den Mantel richteten. Er war abgeneigt, hielt sich nicht lange mit der Beobachtung auf und dann machte er tatsächlich Anstalten aufzustehen. Es war ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt war und kaum sank er zurück in den Schnee, da kauerte ich mich vor ihn und bettete den Mantel auf meinem Schoß.

„Das ist nie passiert, okay?“ Ich flüsterte es ihm zu, bevor ich seinem Husten lauschte. „Du bist stark unterkühlt und musst nur zugreifen.“

Somit reichte ich ihm den Stoff erneut.

Bis zum Bahnhof würde er es nicht schaffen. Selbst der Mantel wäre wenig, doch so konnten wir es seinem Körper erleichtern. Ich wusste nicht, wie dieser talentierte Leib mit Kälte umging und wie er sich von Erfrierungen heilte, doch es darauf ankommen zu lassen, war keine Möglichkeit, die ich uns gab.

Und endlich sah ich seine Hand, die sich aus dem Schnee hob und nach dem Stoff tastete.

Als er sich den Mantel zitternd über die Schultern zog, war ich um eines erleichterter und ohne seine Zustimmung ein weiteres Mal einzuholen, packte ich ihn am Arm und zog ihn auf die Beine. Er schwankte, riss sich los und so setzten wir unseren Weg fort.
 

-tbc-



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