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Cold Case

Anthologie
von

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Cold Case - Frühling. Um was es geht

„Es geht nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Pause.

Wohl überlegt. Sie wusste, wie man Spannung erzeugte. Wie man schockierte.

Alyssa.
 

Scott Valens stellte nicht zum ersten Mal in seinem Leben fest, dass Lilly Rush die Gabe besaß, jene Dinge auszusprechen, die er sich selbst nicht eingestand. Nicht eingestehen wollte. Ging es nur ihm so? Mit großer Wahrscheinlichkeit war er nicht der Einzige, der sich immer wieder von ihrer Intuition überraschen ließ.

Die Luft im Büro schien plötzlich zu dick – nicht atembar. Alyssa. Selbst nach all den Jahren ließ dieser Name sein Herz noch immer stocken und der dumpfe Schmerz legte sich wie ein Ring um ihn.

Alyssa.

Seine beste Freundin, seine Gefährtin, seine Geliebte... Seine einzige wirkliche Begleiterin seit einer Zeit, an die er sich nicht mehr zurückerinnern konnte. Und seit Jahren auch wieder nicht mehr so wirklich. So lebhaft er auch ihr Bild – ihre dunklen Augen, unergründlich tief, ihre lockigen Haare, weich wie Samt, den süßen Geschmack ihrer Lippen, den Duft ihrer Haut – noch in sich tragen mochte, so lebhaft der Gedanke an sie auch war. Nichts änderte die Tatsache, dass sie selbst alles andere als lebendig war.

Alyssa war tot.

Seit über fünf Jahren.

Und noch immer weigerte sich sein Kopf, zu glauben, dass ihr Verschwinden und ihr Tod von ihr selbst geplant gewesen sein sollte. Alyssa hätte ihm so etwas niemals angetan.

Woher weißt du das, sagte die leise und verhasste Stimme in seinem Inneren. Alyssa wusste manchmal nicht mehr, was sie tat. Sie war nicht mehr sie selbst. Wenn sie beschlossen hat, nach draußen zu gehen, nur mit einem Pullover bekleidet, dann hat sie das auch getan...

Und nicht beachtet, dass draußen Schnee lag. Oder vielleicht gerade deshalb? An der Brücke waren ihre Fußspuren zugeschneit. Nichts wies darauf hin, dass sie hier hinuntergestürzt war. Ihren geschundenen, erfrorenen Körper fand man nie. An dem Abend war sie einfach verschwunden, ungeachtet der Tatsache, dass es 10° unter Null war, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, ohne ihn anzurufen. Sie war einfach verschwunden.

Nein. Nicht Alyssa.
 

Zäh floss der morgendliche Berufsverkehr an ihm vorbei.

Ein neuer Tag begann in Philadelphia, das Leben ging weiter. Die Menschen gingen ihrer Arbeit nach. Niemand sah sich nach dem hochgewachsenen Mann um, der scheinbar ziellos die Straße entlangwanderte, in dem dunklen Mantel, der ihn zu einem Teil der anonymen Masse machte. Scotty war das nur Recht.

Lils Worte geisterten ihm noch immer im Kopf herum – nun schon seit dem Wochenende. Seit Freitag, genauer gesagt, seitdem er sich geweigert hatte, den Fall auf sich beruhen zu lassen. Sein Instinkt hatte ihm gesagt, dass da mehr war. Nicht nur eine Frau, deren Geist sich verwirrte – wie er dieses Wort hasste. Nein, da war eindeutig mehr gewesen. Er hatte Recht gehabt. Aber langsam begann er sich zu fragen, ob es wirklich sein Instinkt gewesen war oder nicht doch etwas anderes. Aber wenn, dann was? Selbst, nachdem er das gesamte Wochenende Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken – er hatte noch immer keine Lösung gefunden.

“Es geht hier nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Ihre Worte liessen ihn einfach nicht los – so hartnäckig wie diejenige, die sie geäußert hatte. Wie kam es, dass er sich sogar noch heute, Tage später, an jedes ihrer Worte, an jede Geste, jeden Blick erinnern konnte, mit dem Lil ihn bedacht hatte? Wahrscheinlich lag es ganz einfach daran, dass sie von Alyssa gesprochen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, dass Lil jemals von ihr gesprochen hatte.
 

Sein Magen knurrte.

Ein Blick auf die Uhr bestätigte Scotty, was sein Körper längst schon wusste: es war langsam an der Zeit, ein kleines Frühstück zu sich zu nehmen. In Eile hatte er heute Morgen seine Wohnung verlassen, hatte nur eine schnelle Tasse Kaffee hinuntergestürzt. Am liebsten hätte er sich in eines der kleinen Cafés gesetzt, die den Boulevard säumten. Leider hatte er eine Verabredung... Aber Lilly Rush würde es sicher nichts ausmachen, wenn er sich zuvor einen Donut und einen heißen Kaffee besorgte. Es wurde deutlich heller, jeden Morgen... Aber dass es langsam Frühling wurde, bedeutete nicht, dass es schon morgens frühlingswarm war. Eine heiße Tasse Kaffee würde jetzt genau das Richtige sein. Schließlich waren sie nicht zum Frühstück verabredet. Sondern schlicht dienstlich.
 

Ein Problem am Schlange stehen war, dass man einfach nichts zu tun hatte. Man konnte zwar zum Hundert ersten Mal die Speisekarte und die Preislisten an den Wänden studieren, aber Scotty war anderweitig abgelenkt. Man hatte einfach zu viel Zeit zum Nachdenken. Und heute liessen ihn selbst die kleinsten Andeutungen an seine Partnerin wieder ins Grübeln verfallen.

Alyssa.

Alyssa hatte Lil gemocht. Ein Mal hatten sie sich getroffen, danach vielleicht noch öfter, ohne sein Wissen. Er wusste es nicht. Er hatte es verhindern wollen. Alyssa hatte sich durchgesetzt. Hatte er ernsthaft geglaubt, Lilly Rush würde nicht verstehen?

“Ich mag sie“, hatte Alyssa ihm an dem Abend lächelnd gesagt. “Sie ist schön. Und sie ist...“ „Stark“, hatte er erwidert, ohne nachdenken zu müssen. Stark – das erste Wort, das ihm einfiel, wenn er an seine Partnerin dachte. Das erste Attribut, welches ihm in den Sinn kam, wenn es um sie ging. “Stark?“ Alyssa runzelte angestrengt die Stirn, verzog ihr Gesicht zu der vertrauten Grimasse der Konzentration. Er liebte sie so sehr... “Stark...“ Sie schien das Wort zu testen, zu schmecken, ob es dasjenige war, welches sie suchte. “Nun... Nein.“ „Nein?“ “Nein.“

Und dann lachte sie. “So siehst du sie also? Nun – es ist nicht weiter wichtig.“

Wie immer hatte sie Recht gehabt.

Er hatte die Gelegenheit gehabt, Lilly Rush näher kennenzulernen. Hatte miterlebt, wie sie verletzt wurde und verletzte – mit Worten. Ihrer schärfsten Waffe, die sich so leicht auch gegen sie selbst richtete. Und auch durch Taten: Wie sie angeschossen wurde. Wie sie schoss. Um der Gerechtigkeit Willen. Dabei war ganz sicher keine Gerechtigkeit im Spiel gewesen, als sie selbst um ihr Leben hatte kämpfen müssen. Wie lange hatte sie den Anblick ihrer Dienstwaffe, ja sogar den eines schlichten Halfters, nicht ertragen? Wie lange war sie zusammengezuckt, wenn im Raum etwas knallte?

Sie hatte immer noch Alpträume.
 

Warum machte er sich jetzt Gedanken um Lilly Rush?

Wütend über sich selbst schüttelte Scotty den Kopf und nahm sich vor, aufzuhören, über sinnlose Dinge nachzudenken. Vielleicht sollte er beginnen, Sport zu treiben... Es würde ihn ganz sicher von solchen Gedanken erlösen.

„Einen schwarzen Kaffee ohne Zucker und zwei Donuts mit Zimt.“

„Kommt sofort.“
 

“Hier geht es nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Natürlich war es bei dem Fall nicht um Alyssa gegangen. Was hatte sie ihm da vorgeworfen? Es sprach nicht gerade für sie, dass sie solche Kommentare einfach nur in den Raum warf. Vielleicht sollte er sie darauf hinweisen. Es war schließlich kein Fall gewesen, der mit Alyssas Verschwinden vergleichbar gewesen wäre.

Nancy Peters war eine einsame, verängstigte junge Frau gewesen, mit einer Menge Talent zum Schreiben – in einer Zeit, in der Frauen nun einmal nicht schrieben. Sie war von ihrem Ehemann ermordet worden – nachdem er versucht hatte, sie mit Hilfe der Haushälterin in den Wahnsinn zu treiben, ihr vorzugaukeln, dass sie den Verstand verlor... Nein, Nancy Peters und Alyssa hatten nichts gemeinsam.

Wie war Lil nur darauf gekommen, sie zu verbinden?

Es war wahrscheinlich wieder eine ihrer fixen Ideen gewesen. Er hatte oft genug erlebt, wie sie jene Technik im Verhör anwandte: in dem sie so tat, als hätte sie den Angeklagten durchschaut. Als wüsste sie, was er dachte, an was er dachte, und an wen er dachte... Und sobald dieser auch glaubte, sie habe ihn durchschaut, hatte sie gewonnen.

Lil war gut.

Sie war brillant – ohne Zweifel. Beinahe wäre Scotty auch auf ihren Trick hereingefallen.
 

„Morgen, Scotty“, sagte neben ihm Lils Stimme und er fuhr ertappt herum. Beherrschte sich noch rechtzeitig, um nicht laut zu fluchen, als heißer Kaffee aus dem Becher herausschwappte und ihm auf die Hand spritzte.

„Und dabei haben diese Dinger schon einen Deckel“, kommentierte seine Partnerin.
 

“Warum nennt ihr Lil eigentlich deine Partnerin?“, fragte Alyssa. “Will und Nick arbeiten doch auch zusammen, aber niemand spricht von Partnern.“

Ja, genau, Alyssa. Warum? Warum, Lil? Scotty musste passen: er hatte keine Ahnung. Warum waren sie alle Kollegen, aber Lil seine Partnerin?
 

„Guten Morgen“, sagte er stattdessen und betrachtete sie genauer, während er einen Schluck von dem heißen Kaffee nahm, sich beinahe die Kehle verbrannte und sich weigerte, das zu zeigen.

„Gut geschlafen?“

Der Blick aus ihren grauen Augen war vernichtend und sprach für sich selbst. Scotty konnte sich ein kleines, selbstgefälliges Grinsen nicht verhindern: seine eigene, kleine und – wenn er zugab – nicht sehr befriedigende Rache für die Grübeleien, die sie ihm tagtäglich bescherte. Schnell unterdrückte er es zusammen mit der Aufwallung des Schuldgefühls, welches immer aufkam, wenn er sie so sah.

Lil warf einen Blick auf den Becher in seiner Hand.

„Gute Idee. Ich hole mir auch eben noch einen.“

Und schon war sie, elegant wie eine Raubkatze, in der Menge der morgendlichen Passanten untergetaucht.
 

Scotty betrachtete das Treiben um ihn herum, bis sie so schnell wieder vor ihm stand, wie sie verschwunden war. In ihrer Hand dampfte der Kaffee in den frischen Frühlingsmorgen hinaus.

„Sollen Wir?“, fragte sie, aber er antwortete nicht.

Wie magisch wurde sein Blick vom Hinterkopf einer Frau nicht weit vor ihm angezogen.
 

Braunes, lockiges, schulterlanges Haar, eher unordentlich hochgesteckt...

Schmale Schultern und eine robuste, wenn auch kleine, Statur...

Hände, die sich beim Sprechen mitbewegten, nie stillzustehen schienen...
 

„Was ist?“, fragte Lil und folgte seinem Blick mit gerunzelter Stirn. Scotty brachte kein Wort heraus. Nur ein Wort entkam seinen Lippen.
 

„Alyssa...“
 

Dann drehte sich die Frau um.
 

Scotty nahm die Welt um sich herum erst wieder war, als Lil ihre Hand sacht auf seinen Arm legte.

„Das ist nicht Alyssa, Scotty. Sehen Sie doch.“
 

Das tonnenschwere Gewicht der Luft legte sich wieder auf seine Schultern. Der Lärm der Straße drang aus allen Richtungen auf ihn ein. Scotty stand da wie angewurzelt. Erst langsam, eine ganze Zeit nach dem Hören und Sehen, wurde ihm auch die Kälte wieder bewusst... Und die Wärme einer kleinen, zarten Hand, die auf seinem Arm lag. Weil sie das einzige war, was ihn gerade hielt, drehte er sich mit Mühe um und versuchte, den Besitzer der Hand ausfindig zu machen.

Lil.

Sie zog ihre Hand weg, als sie merkte, dass er sie ansah, dass er die Welt wieder wahrnahm. Sie fragte nicht, was. Und nicht warum. Sie sah ihn nur prüfend an.

„Es ist spät“, sagte sie schließlich. „Wir müssen los.“

Und als sie sich sicher war, dass er ihr folgte, setzte sie sich in Bewegung. Eine Zeit lang lief er hinter ihr her, seinen Blick auf ihren geraden Rücken vor sich gerichtet, nichts anderes wahrnehmend als die feinen Schulterblätter und das Wippen ihres Pferdeschwanzes während sie ging. Der Rest seines Verstandes, der noch korrekt arbeitete, arbeitete verzweifelt, um etwas zu sagen, etwas...

Er öffnete gerade den Mund, um auszusprechen, wovon er noch nicht wusste, was es sein würde, da blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um.

„Oder doch?“, fragte sie ihn mit zusammengekniffenen Augen.

Scottys Kopf war leer. Deshalb schloss er den Mund wieder und erwiderte nichts. Irgendwann ging er einfach weiter, und Lil folgte ihm.
 

Freitag.

“Es geht hier nicht um Sie, Scotty. Und auch nicht um Alyssa.“

Graue Augen bohrten sich tief in seine Augen hinein.

“Oder doch?“
 

Warum ärgerte ihn das plötzlich so sehr?

Warum?

Verdammt. Sollte Lil sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern.

Cold Case - Sommer. Eyes of a Child

Titel nach: Reamonn - Through the Eyes of a Child
 

Cold Case – Frühling. Eyes of a Child
 

Das Blatt Papier war schon arg zerknittert, weil Nerissa es so eng an sich gedrückt gehalten hatte. Es hatte Lieutenant John Stillman, Leiter der Abteilung für ungelöste Mordfälle der Mordkommission Philadelphia, mehrere Stunden gekostet, dem Kind die Zeichnung abzunehmen, welche es mit vier verschiedenen Buntstiftfarben und einem Kugelschreiber angefertigt hatte.

Kat Miller war der Meinung, dass der Rest des Teams – ihr selbst mit eingeschlossen – vermutlich noch viel länger gebraucht hätte als der älteren Herrn mit der halben Glatze, der ihr Vorgesetzter war. Sie selbst hatte eine Tochter – aber weder ihr noch Scott Valens, Nick Vera oder Will Jeffries war es gelungen, das verängstigte und verstörte Kind zu beruhigen.

Und ihnen allen fehlte es an Erfahrung mit psychisch gestörten Kindern.

Nicht einmal Lilly Rush wäre mit dem Kind klargekommen – aber sie war nicht da und deshalb verschwendete Kat den Gedanken nicht.

Einer nach dem Anderen waren sie kläglich gescheitert.

Alle – außer Lil. Hat sich mal wieder zur Rechten Zeit aus dem Staub gemacht, dachte sie mit beißendem Spott, jedoch nicht unfreundlich. Lil wirkte nun einmal so kalt und unnahbar, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, wie sie mit einem kleinen Mädchen klar kam.

Als Scotty es versucht hatte, hatte Nerissa einfach geschwiegen und ins Leere gestarrt. Als Will sie am Arm berühren wollte, hatte sie begonnen zu schreien und um sich zu schlagen. Vor Nick war sie sogar weggelaufen... Und bei Kats Versuch hatte sie einfach nur stumm geweint. Erst John Stillman hatte sie erlaubt, ihr die Tränen zu trocknen und sie an die Hand zu nehmen. Er hatte mit ihr sprechen dürfen – wenn sie auch keine Antwort gab – und ihm hatte sie das Bild gegeben, welches die Detectives nun seit zwei geschlagenen Stunden anstarrten und sich den Kopf darüber zerbrachen.
 

„Was soll das nur darstellen?“, fragte Scotty und beugte sich über ihre Schulter, um die krakelige Kinderzeichnung genauer in Augenschein zu nehmen.

„Eine riesige Sonne über einer Wiese mit einem Hasen?“

„Nein“, rief Nick herüber, noch immer mit einer sauertöpfischen Miene.

„Das habe ich schon gesagt.“

„Und?“

„Sie hat nein gesagt“, informierte ihn Kat. Scotty zog die Brauen hoch.

„Na ja, sie hat den Kopf geschüttelt“, korrigierte sie sich sofort und seufzte.

„Herrgott! Warum spricht das Kind nicht mit uns! Wir wollen ihr doch nur helfen!“

„Sie hat einen tiefgehenden Schock erlitten“, belehrte sie die Psychologin, die vom Jugendamt zu ihnen geschickt worden war, um sich Nerissas anzunehmen – und die noch weniger erreicht hatte als die Detectives. Daraufhin war sie in eine Ecke des Großraumbüros verbannt worden.

„Bei einer solch traumatischen Erfahrung dürfte Sie das nicht weiter verwundern. Sie kann nicht sprechen – aber sie hat Ihnen doch einen Hinweis gegeben. Hören Sie endlich auf, das arme Kind zu quälen! Die Mordkommission ist kein Aufenthaltsort für ein kleines, verschrecktes Mädchen!“

Kat warf der Frau („Arrogante Tussi!“) einen drohenden Blick zu. („Ich will gar nicht wissen, an welchen schrecklichen Ort Sie Nerissa bringen werden... Da ist sie hier auf jeden Fall hier sicherer.“)

„Wenn Sie schon in Ihrer Arbeit versagt haben, lassen Sie uns wenigstens die Unsrige tun!“

Die Psychologin war sich zu gut um Kat zu antworten und schwieg beleidigt. Aber nicht lange.

„Das ist ein Tisch“, sagte sie hochnäsig.

„Darauf liegt ein...“

„... Ein gebratener Hase“, beendete Will Jeffries ihren Satz ironisch.

„Natürlich. Das ist, was ich gestern zu Abend gegessen habe. Woher konnte Nerissa das nur wissen?“

„Ich versuche Ihnen zu helfen und Sie...“

Vor Wut wurden die Lippen der Frau bleich. Diesmal schwieg sie endgültig.

Ratlos starrten Nick, Scotty, Will und Kat auf das Papier vor ihnen.

„Sie will uns etwas sagen“, sagte Nick und warf einen Blick durch die offene Tür in John Stillmans Büro, in dem Nerissa zusammengerollt in einer Ecke des Sofas saß und ins Nichts starrte.

„Aber was?“

„Vielleicht ist das ein Baum?“, vermutete Scotty.

„Von oben gesehen...“

Unwillig schüttelte Kat den Kopf.

„Warum von oben? Das ergibt keinen Sinn! Nichts ergibt hier Sinn!“

Sie raufte sich die Haare.

„Wenn Lil doch nur hier wäre“, murmelte Scotty.

„Das würde uns nichts nützen. Niemand kann sich weniger in ein Kind hineinversetzen als Lilly Rush“, sagte Will Jeffries überzeugt.

„Ein Kind bräuchte man“, seufzte Kat.

„Aber das einzige Kind hier redet nicht mit uns.“
 

„Was gibt es Neues?“, fragte eine wohlbekannte Stimme hinter ihnen und als sie sich umdrehten, sahen sie, wie Lilly Rush mit weit ausgreifenden Schritten ins Großraumbüro trat.

„Nichts weiter“, sagte ihr Partner und hielt ihr das Blatt entgegen. Lil trat näher.

„Ist das das Bild, von dem Sie am Telefon gesprochen haben?“

„Ja.“

Lil ignorierte Kats skeptischen Blick und nahm das Papier. Eine ganze Weile lang starrte sie einfach nur darauf, dann liess sie es abrupt sinken.

„Wo ist sie?“, fragte sie ruhig.
 

„Sie hat es doch nicht herausgefunden“, sagte Nick Vera ungläubig und starrte Lil und Scotty hinterher, die bereits auf dem Weg in Johns Büro waren. Kat stand auf.

„Das glaube ich nicht“, sagte sie und folgte ihrer Freundin. Nick und Will schlossen sich ihr an.
 

Lil kniete auf dem Boden vor dem Sofa in John Stillmans Büro, auf einer Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen. Nerissa umklammerte die Decke und starrte sie aus großen, ängstlichen Augen an.

„Du kannst wirklich schön zeichnen, Nerissa“, sagte Lil und lächelte.

„Wirklich gut.“

Nick, Will und Kat tauschten ob des sanften Tonfalls erstaunte Blicke aus. Nur Scotty nahm den Blick nicht von seiner Partnerin. Nerissa musterte sie, nunmehr ernst und erwartungsvoll. Lil hob das Bild an, so dass sie es sehen konnte.

„Damit willst du uns helfen, nicht?“

„Das wussten wir auch schon“, flüsterte Kat und verdrehte die Augen. Normalerweise hätte ihr das einen tiefgekühlten Blick von Lil eingebracht – diesmal nicht.

„Das hast du gesehen, in der Nacht, in der die Männer gekommen sind, die deine Eltern getötet haben. Es war nicht dort, wo wir dich gefunden haben... Du musst weit gelaufen sein, Nerissa. Du warst sehr tapfer. Deine Eltern sind nicht in dem Wald gestorben – sondern auf dem Meer.“

„Was?“, sagten Kat, Will und Nick gleichzeitig ungläubig. In der Delaware Bay? Das war ungefähr 10km weit von dem Ort entfernt, an dem man Nerissa aufgefunden hatte.

In den Augen des Mädchens standen Tränen und sie zog die Decke fester an sich.

Lil konzentrierte sich auf das Bild.

„Du warst in einem Boot, in der Kajüte. Deine Eltern waren draußen. Dann sind die Männer aufgetaucht.“

Die Lippen des Kindes zitterten.

„Das ist das Meer.“

Lil zeigte auf eine merkwürdig gezackte Linie.

„Du hast aus dem Fenster geschaut. Und der eine Mann hat deinen Vater getötet.“

„Er trug eine Hasenmaske...“

Langsam dämmerte es jedem im Raum.

„Und was ist das hier?“

Kat hielt es nicht mehr aus: sie beugte sich über Lil und deutete auf einen kleinen Kreis mit einem merkwürdigen Inneren in der rechten unteren Hälfte des großen Kreises.

Nerissa sah Lil an. Lil schaute zurück.

Als würde das Kind sie testen.

„Das ist das Wichtigste. Das ist ein Baum und eine Feder in einem Kreis...“

Sie machte eine Pause.

„Es war auf die Bootswand gepinselt. Es ist das Zeichen der...“

„Green Arc Umweltaktivisten!“

In Scottys Augen blitzte stolzer Triumph. Kat streckte die Faust in die Luft.

„Yeah!“

Aber Lil war noch nicht fertig.

„Diese Leute haben deine Eltern auf ihr Boot gelockt, in dem sie dich entführt haben... Und dann haben sie sie getötet. War es so, Nerissa?“

Das Gesicht des Mädchens verzog sich vollends, als sie begann zu weinen. In Kat regte sich sofort der Impuls, sie zu umarmen – aber sie hatte gesehen, was das letzte Mal geschehen war, als jemand versucht hatte, das Kind in die Arme zu nehmen..

Aufgeschreckt durch Kats Ruf, stürmte die Psychologin in den Raum.

„Was tun Sie da?“, kreischte sie.

„Nerissa, Liebes, nicht weinen!“

Kat bewunderte die Art, wie ihre Stimme von „hochnäsig-hektisch“ zu „süßlich-ölig“ umschlug, fand aber, dass es alles in allem nicht besonders echt klang.

Lil fiel gegen Scotty, als die Frau an ihr vorbeirauschte und sie bei Seite stiess. Scotty fing sie auf, damit sie ihr Gleichgewicht wiedergewinnen konnte.

„Nerissa“, sagte sie leise und streckte dem Kind eine Hand entgegen. Und das weinende Mädchen warf sich ihr um den Hals.
 

She has the eyes of a child...

Cold Case - Sommer. Wenn die Katze weg ist

Zwei Männer saßen im Abendsonnenlicht auf dem kleinen Balkon und genossen die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut.
 

„Meinst du nicht, dass das dämlich aussieht?“

„Was?“

„Na – wie wir hier sitzen.“

„Nö. Warum?“

„Nun – wegen dem da.“

„Ist etwas dagegen einzuwenden?“

„Nur die Farbe, vielleicht. Warum zum Teufel Rosa?“

„Frag meine Ex-Frau.“

„Hm.“
 

Will Jeffries, Detective der Mordkommission Philadelphia, schwieg und liess seinen Blick über die Aussicht gleiten. Neben ihm nahm sein Kollege Nick Vera einen Schluck aus dem Glas, welches neben ihm auf der Brüstung des Balkons stand.
 

„Ich meine mich zu erinnern, dass du ihn gekauft hast, Nick.“

„Wie kommst du denn auf den abwegigen Gedanken? Als ob ich etwas von dieser Farbe kaufen würde!“

„Hm. Ich weiß auch nicht. Aber ich kann plötzlich ein bisschen mehr verstehen, warum sie deine Ex-Frau ist und nicht mehr deine Ehefrau.“

„Danke. Vielen Dank.“

„Keine Ursache. Dafür sind Freunde doch da.“

„...“
 

„Hey, Nick.“

„...“

„Nick?“

„Ich rede nicht mehr mit dir. Es ist sinnlos, darauf zu warten, dass ich wieder ein Wort in deiner Gegenwart von mir gebe.“

„Gott Sei Dank. Dann bin ich wenigstens an dem Tag nicht zugegen, an dem du dich um Kopf und Kragen redest.“

„Willst du mich verarschen?“

„Wie käme ich dazu!“

„Also was willst du?“

„Meinst du, der Boss hat hiergegen nichts einzuwenden?“

„Ach wo! Warum sollte er? Das Wetter ist schön, die Menschen sind guter Laune, die Arbeit macht sich quasi von selbst... Wir geniessen lediglich die freie Natur. Sollte jeder mal machen.“
 

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„Lil – bitte sag mir, dass ich spinne.“

„Wieso sollte ich?“

„Hey, Lil. Hi, Miller. Sind Sie auch schon wieder zurück?“

„Schon ist gut! Und dafür, dass wir so viel Zeit dabei verbracht haben, nach diesem Typen zu suchen, waren wir ziemlich blamabel erfolglos. Nicht einmal Kat hat einen Hinweis entdeckt.“

„Sie vielleicht nicht, aber ich. Stellen Sie sich vor, da hat doch tatsächlich...“

„Lil!“

„Irgend so ein Spinner hat sein Auto am Rande des Central Park im absoluten Parkverbot abgestellt, ungefähr gestern Nachmittag...“

„Und er wurde natürlich abgeschleppt.“

„Hey, Lil...“

„Natürlich. Man hat den Wagen ins Depot gebracht und dort ist dem Aufseher aufgefallen, dass am linken Kotflügel Blut klebte... Genauere Nachprüfungen haben dann tatsächlich bewiesen, dass das das Auto unseres Kidnappers sein muss.“

„Nein!“

„Lil! Scotty!“

Energisch unterbrach Kat ihre Freundin und deren Partner.

„Ich freue mich ja, dass ihr euch so gut unterhaltet und dass wenigstens Einer nach einem langen Tag einige Erfolge aufweisen kann... Aber jetzt schaut doch mal bitte da hin!“

„Wohin?“

„Na – dorthin!“
 

Stille.

Jetzt endlich sahen auch Lil und Scotty, was Kat ihnen die ganze Zeit hatte zeigen wollen. Nach einer langen, langen Schweigeminute fand Lilly Rush als Erste ihre Stimme wieder.
 

„Bitte sag mir, dass ich träume“, seufzte sie, ohne ihre Augen abzuwenden.

„Das kann ich nicht“, hauchte Kat und zwirbelte eine Locke unbewusst immer wieder und wieder um ihren rechten Zeigefinger.

Synchron drehten sich beide Frauen zu Scotty um und der erlebte einmal, was es bedeutete, wenn sich zwei weibliche Wesen auf der Suche nach Hilfe an ihn wandten. Er stellte fest, dass er die selbständige Lil und die besserwisserische Kat lieber mochte, denn im Moment...

„Ich fürchte, ich muss gestehen, dass ich diesen Traum dann wohl auch träume“, sagte er vermied es, den zwei Paar Augen – blau und braun – zu begegnen.

„Weiß der Boss davon?“

„Er ist im Urlaub“, erinnerte Lil ihn.

„Oh – ich wusste, dass so etwas geschehen würde!“

„Deine Intuition hätte ich gerne“, witzelte Kat mit finsterem Gesichtsausdruck. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf.

„Aber eines muss man ihnen lassen. Das ist...“

„Das ist unglaublich“, stimmte ihr auch Scotty zu und schüttelte den Kopf.

„Diese Beiden!“
 

Auf dem winzigen, grauen Balkon der Mordkommission Philadelphia saßen die restlichen Mitglieder ihres Teams. Sie waren in weite Hawaihemden gekleidet und trugen Bermudashorts. Verspiegelte, übergroße Sonnenbrillen saßen auf ihren Nasen, sie selbst hatten als Sitzangelegenheit zwei grün- und orange gestreifte Liegestühle gewählt. Eine Plastikblumenkette wand sich um das graue Metallgeländer.
 

Das alles nahmen Lilly, Scotty und Kat ebenso auf wie die langen Strohhalme, aus denen die beiden Herren ihre Getränke zu sich nahmen.
 

Aber das Beste – das Aller-, Allerbeste an dem gesamten Bild, welches sich ihnen bot, blieb schlicht und ergreifend der rosafarbene Sonnenschirm, der sich über den Köpfen der Männer in den blauen Sommerhimmel der grauen Großstadt Philadelphia wölbte.

Cold Case - Herbst. Schauspielern können ist alles

Absperrband, gelb mit schwarzer Aufschrift. Polizeisirenen, blinkende Lichter, Streifenwagen. Überall. Nicht gut.

Streifenpolizisten überall.

Wirklich nicht gut. Sehr schlecht sogar.

Sehr schlechte Bedingungen für den Fahrer eines Drogenschmugglerkartells, wenn dieser an den Ort kommt, an dem er einen wichtigen Mann absetzen soll, damit dieser wichtige Informationen von einem wichtigen Informanten erhalten kann. Denkbar schlechte Voraussetzungen. Wenn nicht sogar die Allerschlechtesten überhaupt.
 

„Oh-oh“, sagte der Mann, den er nur unter dem Namen Diego kannte, vom Rücksitz aus.

„Das sieht nicht gut aus. Umdrehen, Alvaro.“

Der Angesprochene reagierte, ohne die Miene zu verziehen. Er war solche harschen Kommandos gewohnt. Als Mitglied eines Schmugglerkartells fing man ganz unten an – das war sogar noch eine Stufe unter der Stufe, auf der er sich gerade befand. Aber da man nicht höher stieg, wenn man die Klappe hielt, wagte er das Risiko.

„Sollten wir nicht lieber herausfinden, was los ist?“

„Aus dem Auto heraus? DU spinnst wohl, amigo. Wir werden die Karre irgendwo parken und dann näher rangehen.“

„Buena idea.“

Gute Idee. Und ihre einzige, wie es aussah. Diego war nicht der Typ, der sich lang und breit über seine Situation Gedanken machte. Alvaro hatte ihm den Anstoß gegeben – er würde sie in die Tat umsetzen. Und darin war er nicht schlecht.
 

„Komm schon, Alvaro!“, seufzte Diego und liess ihm einen mitleidigen Blick angedeihen.

„So schwer ist es doch nicht!“

„Das sagst du“, gab der zähneknirschend zurück und musste um sein Gleichgewicht kämpfen, als Diego ihm knallhart auf die Schulter schlug.

„Du bist jetzt ein Amerikaner, amigo. Geh wie einer. Sprich wie einer. Sei einer.“

Wenn Diego nur wüsste, wie Recht er hatte, dachte der schwarzhaarige Mann düster und versuchte, sich aufrecht hinzustellen und sich so zu halten. Mit dem Anderen war eine Verwandlung vor sich gegangen: er hatte die Lederjacke mit einem leichten Mantel vertauscht, hatte sein Hemd ordentlich zugeknöpft und trug eine Sonnenbrille auf dem Kopf. Auch die goldenen Ketten um seinen Hals waren verschwunden. Vor Alvaro stand ein männlicher amerikanischer Staatsbürger in den besten Jahren – es fehlte nur noch die Aktentasche. Diego musterte ihn kritisch.

„Du hast nicht viel Talent zum Schauspielern, Alvaro.“

Er verkniff sich die Antwort. Wenn ich es hätte, wäre ich zum Theater gegangen... Stattdessen nahm er es als Kompliment an. Aber im Vergleich zu Diego würde er immer nur Alvaro, der Mexikaner, bleiben.

„Keine Zeit für Lektionen“, sagte das Chamäleon und sah auf seine Uhr.

„Wir finden heraus, was da passiert ist. Und denk daran – auf keinen Fall auffallen!“
 

Zuerst mischten sie sich in einen stetigen, aber kleinen Strom Passanten, der sich an der eher schäbigen Absteige vorbeischob, auf dem Weg nach Hause von der Arbeit, und dabei immer wieder neugierig den Kopf reckte, um zu sehen, was hinter dem gelben Absperrband geschah. Für einen Außenstehenden sah die Szene vor ihnen sehr chaotisch aus: Polizisten riefen sich über die Streifenfahrzeuge hinweg Botschaften zu, Sanitäter liefen kreuz und quer über den offenen Platz vor Haustür und Krankenwagen und Statik und unverständliche Laute drangen aus den Funkgeräten. Aber weder Diego noch Alvaro waren Außenseiter, was diese Art von Schauplätzen anging.

Und das Rätsel löste sich auf, als drei Sanitäter mit einer Bahre aus dem Haus kamen, auf der eine verdeckte Person still und unbeweglich dalag. Offensichtlich war sie tot. Einige Meter vor ihnen steuerte ein junger Polizist auf seinen Vorgesetzten zu.

„Das Opfer.... 24... spanisch oder mexikanisch... glatter Kopfschuss“, hörten sie nur. Aber es reichte aus, um zu erfahren, was sie wissen wollten.

Diego ging weiter und Alvaro schloss sich ihm an.

„Hijo de Puta!“, fluchte der Drogenboss höchst unchristlich und wenig amerikanisch. Der Informant war also tot. Und mit ihm waren die Namen der nächsten zehn Mulis, derjenigen, welche die Drogen aus Mexico in ihrem Magen einschmuggelten, für sie gestorben. Langsam, um um keinen Preis aufzufallen, blieben sie stehen und taten so, als seien sie in ein reges Gespräch vertieft.

„Damit ist dein Job hier zu Ende, Alvaro. Hau ab – ich werde dich kontaktieren. Und lass den Wagen da."

Klasse. Jetzt konnte er nach Hause laufen.

Alvaro nickte, drehte sich um, hob die Hand zum Gruß und ging. Wie konnte Diego angesichts des brutalen Mordes an einem seiner Informanten nur so ruhig bleiben? Am liebsten hätte er sich den Mann geschnappt und ihn gegen die nächste Wand geschleudert. Das Einzige, das Diego interessierte, war der Profit, der Profit und noch einmal der Profit... Wer dabei starb, war ihm gleich. Mit geballten Fäusten schob Alvaro sich durch die Menge, schaute weder nach Links noch nach Rechts. Zu spät bemerkte er die Bewegung an seiner rechten Seite – und die Frau, die ihm in den Weg trat. Zu schnell gelaufen. Verdammt. Eine junge Frau mit blonden, hochgesteckten Haaren, grauen Augen und der dunkelblauen Weste mit den gelben Buchstaben Philadelphia Police.

Ein Cop.

Verdammte Scheiße.

„Einen Moment“, sagte sie scharf und musterte ihn prüfend und misstrauisch. Der kalte Blick ging ihm durch und durch.

„Dürfte ich Ihre Papiere sehen, bitte?“

Alvaros Herz raste. Was sollte er tun? Ihr seine Papiere zeigen – natürlich nicht die Echten – damit man ihn identifizieren konnte? Oder einfach abhauen? Panisch suchte er nach einem Ausweg...
 

... Da trat ein stämmiger Mann an die Frau heran und legte ihr eine schwere Hand auf die Schulter.

„Rush – Sie werden gebraucht. Kommen Sie.“

Jetzt war ihr Misstrauen erst recht angefacht.

„Was soll das, Mahone?“

„Ich sagte, lassen Sie den Mann in Frieden und folgen Sie mir!“

Sie versuchte es ein letztes Mal und dafür zollte er ihr Respekt – auch wenn er mit Anspannung versuchte herauszufinden, wie die Konfrontation enden würde.

„Sir, dieser Mann ist verdächtig. Ich will nur seine Papiere überprüfen und...“

„Sie werden gar nichts tun, Rush“, schnitt ihr Vorgesetzter ihr scharf das Wort ab und seine Stimme klang sehr bestimmt.

„Sie kommen einfach nur mit mir mit und hören auf, Passanten in die Ermittlung hineinzuziehen, die damit nichts zu tun haben. Ich selbst habe diesen Mann gerade erst kommen sehen.“

Alvaro gab ihr noch einmal Punkte dafür, dass sie ihn lange und genau musterte, um ihn notfalls beschreiben zu können – und unter ihrem kalten Blick fühlte er sich zunehmend unsicherer. Wenngleich er auch die amüsante Seite durchaus begriff... Plötzlich war er froh über den Bart, der das Zucken seiner Mundwinkel verdeckte.

„Auf Wiedersehen.“
 

„Rush“, sagte Special Agent in Charge Mahone und legte ein beachtliches Tempo vor.

„Ihre Instinkte sind gut. Sie müssen nur lernen, instinktiv zu wissen, wann Sie ihnen nicht folgen sollen.“

„Was bedeutet das, Sir?“

Ohne darauf einzugehen, warf er ihr einen braunen Aktenordner zu.

„Wenn Sie den gelesen haben, melden Sie sich morgen wieder bei mir. Einen schönen Nachmittag noch, Rush.“

Dann verschwand er im Haus.
 

Alvaro sah zu – diesmal aus der sicheren Entfernung – wie die Frau den Ordner misstrauisch betrachtete und dann noch einmal in seine Richtung sah. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, ihre grauen, kalten Augen bohrten sich in die Seinen – aber dann wandte sie sich ab und ging schnellen Schrittes die Straße hinunter. Alvaro seufzte leise. Er beneidete SAC Mahone nicht darum, mit dieser willensstarken Frau zusammenarbeiten zu müssen.
 

Mit zusammengepreßten Lippen lief Agent Rush die Straße hinunter zu ihrem Wagen, den sie an einem Straßenrand geparkt hatte. Die Begegnung mit diesem Fremden hatte ein... unangenehmes... Gefühl in ihr hinterlassen. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass sie ihn jemals wiedersehen würde... Diese Mexikaner kannten alle Tricks, wenn es um das Verstecken oder Verstellen ging. In ihrer Tasche schien der Aktenordner von Agent Scotty Valens, alias Alvaro, immer schwerer und schwerer zu werden.

Cold Case - Frühling. Der wahre Kern der Geschichte

Es begann an einem Dienstag Morgen.

(Nicht, dass Dienstage sowieso nicht schon zu den schlimmsten Tagen der Woche gehörten – abgesehen von Mittwochs vielleicht.)

Es traft sich, dass es in einer Abteilung der Mordkommission der Philadelphia Police an diesem besagten Dienstag (leider) nicht so viel zu tun gab...
 

Dienstag, 7Uhr 46Minuten

„Rate mal, wen ich am Sonntag Abend in der neuen Bar an der Ninth Avenue gesehen habe!“

„Keine Ahnung. Aber ich schätze, du wirst es mir gleich sagen.“

„Kannst du nicht einmal weniger sarkastisch sein?“

„Das ist kein Sarkasmus. Warum redest du überhaupt mit mir über solchen Klatsch? Kannst du dir nicht eine andere Frau suchen?“

„Leider ist gerade niemand außer dir in der Nähe, also rede ich mir dir, auch wenn du ein Mann bist. Wie auch immer – es war Lilly Rush.“

„Wie – die Lilly Rush?“

„Ja, genau. Die aus dem Team für ungelöste Fälle.“

„Was soll daran so besonders sein?“

„Hast du sie schon einmal in einer Bar gesehen?“

„Nein, aber ich bin auch selten in Bars unterwegs. Und warum sollte sie es nicht sein... Sie ist eine Frau, sie darf doch ausgehen. Ich zumindest hätte nichts dagegen, mit ihr...“

„Erspar mir die Details. Jeder weiß, dass du eine Freundin hast... Und jeder weiß, dass Lilly Rush meistens bis zum späten Abend im Büro bleibt und kaum ausgeht. Deshalb ist es ja so merkwürdig.“

„Sie war aber doch einmal mit diesem einen Typen liiert... Der war doch sogar mal hier.“

„Ja, dieser Biker. Merkwürdiger Typ.“

„Sie war also immer schon so komisch.“

„Hmm-hm.“
 

Dienstag, 8Uhr 57Minuten

„Hast du gehört, dass Rush am Sonntag in dieser Bar an der Ninth gewesen sein soll?“

„Nee – echt? Alleine oder in Begleitung?“

„Mit so einem Biker-Typen, munkelt man. Wahrscheinlich hat der die Menge kräftig aufgemischt. Solche Leute kennt man ja – die haben in Bars nichts als Schlägereien im Kopf.“

„Mit einem Biker... Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Rush wirkt sowieso viel zu kalt für eine Beziehung. Die lebt doch nur für ihre Arbeit... Wie Valens, Vera und Jeffries das aushalten, mit ihr zusammenzuarbeiten?“

„Frag sie doch.“

„Besser nicht. Von dem, was man hört, ist Rush deren Königin.“

„Ja, aber wenn – dann eine Eiskönigin.“

„Haha! Der Staatsanwalt, mit dem sie letztens auf der Department-Feier war, hat da wahrscheinlich besser zu ihr gepasst?“

„Nicht wirklich. Der war herzensgut, der Mann... So, wie Rush auf ihre Arbeit fixiert ist, müssen alle Beziehungen ja scheitern.“
 

Dienstag, 10Uhr 22Minuten

„Hey – stimmt es, dass am Sonntag ein Biker die Cleve Bar in der Ninth Ave alles kurz und klein geschlagen hat, weil Rush sich von ihm getrennt hat?“

„Das hab ich auch irgendwie gehört. Irgendwas war da auch noch mit einem Staatsanwalt...“

„Das ist aber schon lange vorbei.“

„Woher weißt du das?“

„Hab da so meine Quellen... Die Frau verschleißt Männer echt wie unsereins Kleenex.“

„Da du mal wieder erkältet bist, ist dein Verbrauch wohl nicht mit dem ihrigen Männerverbrauch zu vergleichen, Veronica.“

„Na und? Ich wäre froh, wenn ein gutaussehender Biker für mich eine Bar kurz und klein schlagen würde...“

„Leider bist du Single. Wie ich.“

„Tja, Larissa, das scheint unser Schicksal zu sein.“
 

Dienstag, 10Uhr 46Minunten

„Ja, sie hat ihn sitzenlassen wie diesen Staatsanwalt. Keith – erinnert ihr euch noch? Der war mit auf der Party vom Department. Verführt und dann fallengelassen – genau wie ihren Verlobten davor. Das war auch ein toller Mann...“

„Bist du seit Neustem schwul, Cole?“

„Willst du mich verarschen? Nein! Interessiert mich doch nicht, was Lilly Rush in ihrer Freizeit mit ihren Männern macht...“

„Aber du hättest bestimmt nichts dagegen, sie auch mal flachzulegen, oder?“

„Und vielleicht wäre das gar nicht so schwierig. Aber pass auf, dass du dich nicht in sie verliebst! Sie wird dich genauso behandeln wie alle anderen Männer in ihrem Leben. Wie den letzten Dreck.“

„Woher wollt ihr überhaupt wissen, wie Rush Männer behandelt?“

„Na, ist doch ganz klar, dass sie sie hasst...“

„Und außerdem arbeitet der Bekannte meiner Exfreundin mit ihrem Ex-Verlobten zusammen. Der weiß Bescheid.“
 

Dienstag, 11 Uhr 05Minuten

„Also war sie am Sonntag in dieser Bar, die Montag Früh in der Zeitung stand?“

„Ja, und ihr Exfreund hat randaliert. Dieser Biker, der letztes Jahr die ganze Zeit vor dem Gebäude herumhing, bis sie rausging...“

„Ich hab gehört, es soll ihr Verlobter gewesen sein.“

„Ex-Verlobter, wenn schon... Den hatte sie doch schon vor Jahren abserviert.“

„Ja, und ihre Schwester war doch der Grund dafür, dass sie ihm den Laufpass gegeben hat, oder nicht?“

„Ihre Schwester – im Ernst? War das nicht diese Barfrau?“

„Die Barfrau, die nebenbei als Scheckbetrügerin und Kreditkartenfälscherin gearbeitet hat. Und wahrscheinlich auch als Diebin.“

„Was für eine Familie!“

„Da fragt man sich doch manchmal, was Rush bei der Mordkommission macht, oder...“
 

Dienstag, 12Uhr 29Minuten

„Warum hat sie ihren Verlobten denn eigentlich sitzen lassen?“

„Angeblich haben sie und ihre Schwester den bedauernswerten Mann bestohlen und haben sich aus dem Staub gemacht... Rush mit einem Biker-Typen. Vielleicht hat sie ihn ja schon lange betrogen.“

„Das hätte ich ihr eigentlich nicht zugetraut...“

„Du glaubst eben nur das Beste von den Menschen, Miranda. Die Welt ist schlecht – sieh es ein.“

„Es ist nur ein Gerücht, vergiss das nicht. Es entspricht sicherlich nicht den Tatsachen.“

„Rede du dir das ruhig ein. Jedes Gerücht basiert auf einem wahren Kern.“
 

Dienstag, 13Uhr 33Minuten

„Irgendwie muss ich Miranda Morrisey zustimmen.“

„Häh? Wer ist Miranda? Und worin stimmst du ihr zu?“

„Na, es läuft doch gerade diese Geschichte durchs Department...“

„Ich weiß, welche du meinst. Die von Rush aus dem Team für Tiefkühlmorde.“

„Lass das Valens und Rush nicht hören! Wie es aussieht, leben sie für diese ungeklärten Fälle. Ich weiß echt nicht, was daran so toll sein soll – es ist doch viel spannender, lebendige Mörder zu fangen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen...“

„Ja, aber zu dem Gerücht. Glaubst du echt, dass Rush und ihre Schwester Rushs Verlobten bestohlen haben könnten und dann abgehauen sind? Sie wirkt eigentlich recht nett. Das würde ich ihr nicht zutrauen.“

„Wie soll es denn sonst abgelaufen sein, hm?“

„Vielleicht war es ja die Schuld der Schwester...“

„Also meine Schwester könnte mich und Rex nur auseinanderbringen, wenn sie mit ihm schlafen würde. Ich lass mir doch von ihr sonst nichts erzählen!“

„Du hast gar keine Schwester.“

„Umso besser.“
 

Dienstag, 14Uhr 45Minuten

„Diese Schlampe!“

„Häh? Wer? Wovon redest du?“

„Na- von Rushs Schwester! Sie war es doch, die mit deren Verlobten geschlafen hat – deshalb hat Rush sich doch von ihm getrennt!“

„Warst du nicht vorhin noch der Meinung, dass es ganz Lilly Rush wäre, wenn sie ihn hätte sitzen lassen und wenn sie mit einem anderen Mann abgehauen wäre?“

„Schon, aber nachdem ich weiß, wie ihre Schwester ist...“

„Wie ist sie?“

„Ein verlogenes, kleines Biest! Deshalb haben sich Rush und ihr Verlobter getrennt.“

„Aber letztens waren sie doch noch in dieser Bar...“

„Ja, da, wo nachher der Biker randaliert hat. Es stand am Montag in der Zeitung.“

„Arme Frau. Eine Schwester, die nicht nur andere Menschen belügt, sondern auch ihre eigene Schwester...“

„Woah. Kein Wunder, dass Rush so kalt geworden ist.“
 

Dienstag, 16Uhr 12Minuten

„Trotzdem ist mir die Geschichte mit dem Biker irgendwie suspekt. Warum hat er denn die Bar auf den Kopf stellen müssen?“

„Vielleicht war er auch ein Ex-Freund?“

„Würde sich Lilly Rush mit einem Biker einlassen?“

„Wer weiß...“

„So hätte er wenigstens ein Motiv. In der Zeitung stand ja darüber nicht viel.“

„Oh ja.“
 

Die Gerüchte über seine Untergebene erreichten John Stillmans Team für ungelöste Mordfälle am Dienstag Abend gegen 17Uhr 46Minuten. Der Lieutenant und Vorgesetzte schüttelte verärgert den Kopf.

„Wenn Gerüchte Brennstoff wären, dann bräuchten wir uns keine Sorge um die kommenden Energieengpässe zu machen, wenn die Erdöl- und Erdgaslager ausgeschöpft sind.“

Am Dienstagabend bekam Lilly Rush nach einem langen Außeneinsatz schliesslich auch das Geflüster zu hören, welches den ganzen Tag lang in ihrer Abwesenheit kursiert war. Bei ihr waren Scotty Valens und Kat Miller, ihr Partner und ihre Freundin und Kollegin.

„Wie bitte?“, wiederholte Kat ungläubig.

„Angeblich warst du verlobt, aber deine Schwester hat mit deinem Verlobten rumgemacht und du hast dich von ihm getrennt. Unter uns, das hätte ich auch gemacht – und ich hätte meiner Schwester, wäre sie auch eine Kreditkartenfälscherin und Betrügerin, einen kräftigen Schlag auf den Kopf verpasst. Und dann hast du dich angeblich am Sonntag mit dem Typen, mit dem dich deine Schwester betrogen haben soll, auch noch in einer Bar getroffen? Und ein anderer Ex-Freund kam vorbei und hat daraufhin ein Fenster eingeschlagen, statt durch die Tür zu kommen wie zivilisierte Menschen? Was für ein absoluter Müll! Da sieht man mal wieder, was für einen Auftrieb diese Gerüchte erleben, wenn sie den ganzen Tag ungehindert zirkulieren. Jemand hätte doch mal seinen Grips einsetzen müssen, dann hätte er mit Sicherheit eingesehen, dass das absoluter Unsinn ist!“

Mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck wandte sie sich Lil zu, die während sie zuhörte, weder ein Wort gesagt noch das Gesicht verzogen hatte. Auch Scotty musterte sie eingehend. Wie immer konnte man Lil einfach nicht ansehen, was sie dachte. Aber von dem, was er von ihr wusste...
 

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. Einem gefährlichen Lächeln. Unwillkürlich wichen ihre Kollegen vor ihr zurück. Den Schwätzern würde es schlecht ergehen... Sie selbst hätten alles vermieden, was ihnen auch nur ansatzweise die Rache der Lilly Rush einbringen würde. Und diese Dummköpfe hatten sie, sich selbst völlig unbewusst, in welcher Gefahr sie schwebten, auf sich hinabbeschworen...
 

„Da haben sie den Kern der Sache ganz gut getroffen...“
 

Ihre Augen funkelten. Ihr Lächeln war kälter als die Hölle. Ihre Kollegen sahen sich außerstande, irgend etwas zu antworten. Die Gerüchte waren wahr. Die Leute hatten über Lilly Rush getuschelt. Sie hatten sich in ihr Privatleben eingemischt. Sie waren tot.
 

„Aber was mich wirklich, wirklich wütend macht...“
 

Scotty und Kat hielten den Atem an und machten sich klein.
 

„Ist, dass sie uns schon wieder die Abteilung für Tiefkühlmorde genannt haben.“

Cold Case - Winter. Licht gegen das Dunkel

Juchuu! Früher als normalerweise hatte ich wieder das Gefühl, ich könnte außerhalb der Regelzeit eine Portion Cold Case vertragen... Das kann daran liegen, dass die letzte Freitags-Folge absolut genial (in meinen Augen) war. Ich befürworte nicht, dass Lil und Scotty sich streiten (wer war der Grund? Chris natürlich...) Aber ihr Konflikt hat mich sehr berührt. Man hat in einer Folge mehr von Lils Gefühlen gesehen als in vielen zuvor... Jetzt warte ich darauf, wie sie sich wieder arrangieren.
 

Ich weiß nicht mehr, wie dieser doofe Typ Saccardo mit Vornamen hieß, also hab ich ihn Eduard genannt. Ich schätze, von meinem Missfallen an ihm ist eine Menge in dieses Kapitel miteingeflossen - aber es hat Spaß gemacht, Lil eine Person mal so richtig nicht mögen zu lassen... In einer FF habe ich Andeutungen entdeckt (sehr, sehr deutliche) dass die beiden eine Beziehung eingehen könnten - und ich bete, dass dies nicht geschieht. Er passt nicht zu ihr - er ist ihrer nicht wert^^ Okay, jetzt dreh ich endgültig durch.
 

Viel Spaß beim Lesen. Wer genaueres über Saccardo weiß und Lust hat, es mir mitzuteilen - ich würde mich freuen. So wie über jedes Kommentar.

Liebe Grüße, june
 


 


 

Licht gegen das Dunkel
 

Für Lilly Rush war ihre Arbeit ihr Leben und der Status eines Detective etwas, dessen man sich als würdig erweisen musste.

Etwas, für das sie lange hatte arbeiten und das sie sich hart hatte erkämpfen müssen.

Ein weiblicher Detective – in einen solchen Rang stieg man als Frau nur auf, wenn man drei Dinge besaß: Köpfchen, Aussehen und Hartnäckigkeit. Und deshalb konnte sie Eduard Saccardo nicht ausstehen. Der verdeckte Ermittler der Philadelphia Police besaß von allen drei Qualitäten wohl nur eines: Hartnäckigkeit. Und dies in einem solchen Übermaß, dass es einfach nicht gesund für ihn sein konnte. Wie hatte er so lange auf den Straßen überlebt, ohne dass irgendwelche Drogenbosse den Wunsch danach verspürten, ihn einfach umzulegen?

Die Art, wie er lässig in die Mordkommission hineinschneite, Grillfleisch und Bier in den Tüten als Bestechung für Vera, Jeffries, Miller und Scotty – die Art, wie er ihr Reich durcheinanderbrachte, mißfiel ihr aufs Schärfste.

Missmutig starrte sie auf den Bericht auf dem Tisch vor ihr, ohne ihn überhaupt zu sehen. Was bildete sich dieser Mann nur ein? Gut, einer seiner Informanten war ermordet worden. Gut, einer seiner Verdächtigen war der Mörder. Gut – er hatte genug Grund gehabt, tagelang in diesem Büro herumzuhängen. Vielleicht – vielleicht! Sie sagte nicht, dass es stimmte – hatte er ihr auch geholfen. Aber nun war der Fall erledigt und er konnte getrost wieder gehen und sie in Frieden lassen.
 

Vom Nachbartisch her erklang das Klirren von aneinanderstoßenden Bierflaschen und gedämpftes Gelächter. Ihre Kollegen schienen es scheinbar nicht angebracht zu finden, den Mann darauf hinzuweisen, dass a) der Genuß von alkoholischen Getränken vor 18Uhr verboten war, b) dass er ihre Arbeit störte und c) dass er sie störte. Nein – sie feierten auch noch mit ihm!

Als hätte er ihren stechenden Blick gespürt, drehte sich Saccardo zu ihr um und grinste sie provozierend an.

„Sind Sie sicher, dass Sie nicht auch eines möchten?“

Kalt erwiderte sie seinen Blick.

„Ziemlich“, antwortete sie tiefgekühlt. „Ich bin im Dienst.“

„Komm schon, Rush“, sagte Detective Nick Vera und hob sein eigenes Bier. „In fünf Minuten ist Feierabend.“

„Schön für Sie“, gab sie so ironisch wie möglich zurück. „Ich wünsche Ihnen viel Freude.“

Achselzuckend wandte der bullige Mann sich ab und tauschte einen Blick mit seinem Freund Will Jeffries, der sie manchmal in den Wahnsinn treiben konnte. Besonders an Tagen wie diesen. Es war der typische „Sie-ist-schlecht-gelaunt-ignoriert-ihren-Sarkasmus-einfach-Blick“. Der sie wie immer nur noch mehr in Rage versetzte als sie bereits gewesen war.
 

In diesem Moment öffnete sich die Glastür am Ende des Großraumbüros und ihr Chef, Lieutenant John Stillman, trat aus seinem Büro, den Mantel über dem Arm. Sein Blick flog über die Versammlung, nahm in Sekundenschnelle alles in sich auf. Unwillkürlich versuchten Vera, Jeffries, Miller und Valens, ihre Getränke irgendwie zu verbergen. Der Boss zog die Brauen hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Er hätte dies nicht zu tun brauchen: Er verliess sein Büro jeden Abend um Zwei Minuten vor Achtzehn Uhr. Sich der plötzlichen Stille nicht bewusst, hob Saccardo seine Flasche.

„Wie steht es mit Ihnen, Chef? Oder tun sie es Ihrer blonden Kollegin gleich?“

Wofür sollte sie ihn mehr hassen – dafür, dass er John respektlos „Chef“ nannte, oder dafür, dass er ihre Haarfarbe absichtlich so betonte, dass es schien, als hielte er blonde Frauen für Minderwertig?

Der Boss schob seelenruhig seine Arme in die Mantelärmel und richtete den Kragen.

„Danke, nein, Ed. Ich habe heute noch etwas vor.“

„Vielleicht ein andermal“, gab der gut gelaunt zurück.

Oh nein. Nur über ihre Leiche.
 

Auf seinem Weg zum Fahrstuhl passierte John Lillys Schreibtisch. Es war nicht zu übersehen, dass sie vor Wut kochte – zumindest nicht für ihn.

„Machen Sie auch Schluss, Lil“, sagte er, und im selben Moment bewegte sich der Zeiger der großen Uhr auf die Zwölf. Miller seufzte hörbar auf.

Schwer lag seine warme Hand auf ihrer rechten Schulter.

Lilly entspannte sich merklich.

Ihre Wut verrauchte. Was sollte es auch... Der Fall war abgeschlossen. Morgen ging Saccardo zurück auf die Straße – verdeckt ermitteln, oder was auch immer er da tat. Es interessierte sie nicht. Und der Gedanke daran, den arroganten Mann nie wieder sehen zu müssen, heiterte sie auf.

„Ist gut, Boss“, sagte sie und lächelte ihm zu. Stillman zog die Mundwinkel Millimeter nach oben und verliess mit langen Schritten das Büro.
 

~***~
 

„Der Weg ist ja gar nicht lang“, sagte Eduard Saccardo und Kat Miller musste lachen.

„Ich habe es Ihnen doch gesagt“, gab sie zurück. Obwohl es erst kurz nach Achtzehn Uhr war, leuchteten die Straßenlaternen bereits matt. Im Sommer stand die Sonne hoch am Himmel Philadelphias – aber im Winter wurde es empfindlich früh dunkel. Und empfindlich kalt.

Langsam näherten sie und ihr Begleiter sich der Haustür, hinter dessen Fenster ein kleines Licht brannte.

„Wie Sie sehen, hätten Sie mich nicht zu begleiten brauchen“, wiederholte Kat und nahm ihre Tasche, um nach dem Haustürschlüssel zu suchen. Saccardo schüttelte gespielt entsetzt den Kopf.

„Ich kann Sie doch im Dunkeln nicht alleine nach Hause laufen lassen! Bei allem, was hier so auf der Straße herumkriecht...“

„Das müssen Sie mir nicht sagen. Ich war auch einmal Undercoveragent, ich kann mich verteidigen“, erinnerte sie ihn.

„Aber auf jeden Fall – vielen Dank, Saccardo. Kehren Sie morgen in den Dienst zurück?“

„Ja.“

Der Mann seufzte so übertrieben, dass sie es nicht ernst nahm. Sowieso konnte man den ganzen Mann wohl kaum ernst nehmen: sein ganzes Benehmen schrie gerade zu nach der Straße. Ungekämmte Haare, eine viel zu weite Hose, die ihm in die Kniekehlen hing, ein verwaschenes Sweatshirt mit einer Aufschrift, die sie nicht entziffern wollte, und ein Baseballcap auf dem Kopf. Er wirkte alles andere als seriös – und mit Sicherheit auch viel jünger, als er war. Kat hatte da ein Auge für.

„Böse Jungs jagen und in den Knast schicken“, fügte er hinzu und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Erwartete er jetzt Bewunderung? Die konnte er haben.

„Spannender als die Mordkommission, da bin ich mir sicher“, gab sie zurück.

„Tja, was sind Sie auch in der Abteilung für Tiefkühlmorde...“

Oh-oh. Das sollte er Rush besser nicht hören lassen.

Statt etwas zu sagen, lächelte sie nur und steckte den Schlüssel ins Schloss. Saccardo starrte sie an, dann erst rückte er damit heraus.

„Miller – darf ich Sie etwas fragen? Es betrifft Ihre Kollegin – Rush. Lilly heißt sie, wenn ich mich nicht irre.“

Kat Miller nahm die Art und Weise zur Kenntnis, mit der er den Vornamen aussprach, und lachte in sich hinein.

„Lilly? Warum denn? Was wollen Sie wissen?“

„Nun...“

Der ansonsten so wortgewandte Cop druckste eine Weile herum, dann platzte er heraus: „In was für einer Beziehung lebt sie gerade?“

„Ich würde sie als Single bezeichnen, denke ich“, antwortete sie belustigt und strich sich eine schwarze, krause Strähne aus dem Gesicht.

„Wirklich? Gut!“

Das Gesicht des Mannes hellte sich in Sekundenschnelle auf.

„Ihnen dann noch einen schönen Abend, Miller. Danke vielmals.“

„Gleichfalls“, sagte Kat. „Aber, Saccardo, wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Lassen Sie es lieber.“

„Warum denn!“

Eine Mischung aus Verwirrung und Empörung.

Männer.

„Lilly ist nichts für Sie. Vergessen Sie es besser gleich.“

„Hat das etwas mit Valens zu tun? Mit Scott Valens?“

Nicht dumm. Aber nicht annähernd klug genug.

„Nein, hat es nicht.“

Zumindest die halbe Wahrheit.

„Trotzdem, Saccardo. Nicht Lilly Rush. Glauben Sie mir einfach.“

Sie konnte sehen, wie die Gefühle in ihm miteinander rangen: der Wunsch, die Frau, die ihn so offensichtlich nicht leiden konnte, für sich zu gewinnen – und der widerwillige Respekt vor Kats Ratschlag. Schliesslich siegte sein Verstand und sie seufzte erleichtert auf.

„Gut.“

„Sehr gut. Dann gute Nacht, Saccardo.“

Sie trat in ihre kleine Wohnung und schaltete das Licht im Flur an.

„Warten Sie!“, rief er ihr hinterher. „Und was ist mit Ihnen, Miller?“

A-ha.

„Ich bin ebenfalls Single,“ antwortete sie und freute sich auf das, was als nächstes kommen würde.

„Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Essen einlade?“, fragte der Mexikaner erwartungsgemäß und setzte sein unwiderstehliches Lächeln auf. Das wohl nur bei zwei Frauen auf der Welt nicht zog – und leider hatte er das Pech, dass beide Frauen in der selben Abteilung der Philadelphia Mordkommission arbeiteten. Bevor Kat antworten konnte, trappelten kleine Füße die Treppe herunter und ihre Tochter warf sich in ihre Arme.

„Mama!“

Der Anblick war sehenswert.

„O-o-oder vielleicht doch nicht“, stotterte Saccardo und sprang einen Schritt zurück, als hielte sie eine Giftschlange und nicht ihre zehnjährige Tochter im Arm.

„Guten Abend, Miller, vielleicht...“

Und dann war er auf und davon. Typisch Männer, dachte Kat amüsiert. Tun so groß, aber wenn sie alleinerziehende Mütter sehen...

„Was wollte er denn?“, fragte Veronica, die um ihre Hüfte herumlinste und nur noch Saccardo ruhmlosen Abgang beobachtet hatte. Kat zog sie in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihnen.

„Tja... Wenn ich das wüsste.“
 

~***~
 

Sanft schaukelte das Boot auf den Wellen des Hafens von Philadelphia.

Mit einem leisen, kontinuierlichen Geräusch schwappte das Wasser gegen den Bug. Eigentlich war es mittlerweile schon zu kalt, um Abends draußen zu sitzen. Aber der sternklare Himmel in der fast schon erfrischend eisigen Nacht...

John Stillman schaute hinauf zu den funkelnden Sternen und atmete tief ein und wieder aus.

Weißer Nebel entwich in die Nacht.

Warum er wohl noch immer Chef der Mordkommission war? Er hatte sich im Sommer so fest vorgenommen, endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu treten. Für ein paar Wochen hatte er es tatsächlich geschafft. Und dann – dann war wieder nichts daraus geworden.

Was Nick Vera, Will Jeffries, Scott Valens und Kat Miller in Wochen nicht gelungen war, hatte Lil an einem einzigen Abend geschafft. Was für ein hundsgemeiner Trick, dachte er, ohne einen Anflug von Wut oder Reue zu spüren. Er wusste, was sie vorgehabt hatte, als sie ihn in der Bar aufgesucht hatte: sie hatte ihn in den Fall hineinziehen wollen, den sie gerade bearbeiteten, hatte ihm zeigen wollen, dass er noch gebraucht wurde. Und dass es ihm noch immer nicht egal war, wenn draußen in der Welt geschah und geschehen war. Und zum Teil hatte sie Recht gehabt. Wenn sie in der Annahme zu ihm gekommen war, dass sie ihn gut kannte, so hatte sich diese Annahme wohl bestätigt. Es war ihm einfach nicht egal, was mit den Menschen geschehen war und noch immer geschah. Aber womit Lil nicht gerechnet hatte, war, dass es eine Sache gab, die ihm noch mehr kümmerte als alle Verbrechen und Morde der Welt... Und das war sie.

Lil.

Er konnte es an der Art sehen, wie sie ging, wie sie sprach, wie sie lächelte: es ging ihr nicht gut. Es war ihr selten schlechter gegangen. Warum kam das Schlimme immer in Schüben, und nicht, so wie das Glück, in kleinen, gut dosierten Häufchen? Erst der Tod ihrer Mutter. Dann die knappe Begegnung mit dem Tod. Dann...

John Stillman seufzte.

Er hatte Lilly Rushs psychologisches Gutachten gesehen, verfasst von der Psychologin, zu dessen Therapie er sie hatte zwingen müssen: sie war wieder voll einsatzfähig. Gut, sie war also wieder fähig zu arbeiten.

Aber ob sie wieder fähig war zu leben?

Schritte ertönten auf den hohlen Planken des Kais, Schritte, die er kannte.

„Abend, Will“, sagte er, ohne sich umzudrehen.

„Abend, John. Ist Ihnen nicht kalt?“

„Wäre mir kalt, wäre ich drinnen. Kommen Sie rauf.“

Will Jeffries kletterte behäbig an Bord des Bootes, umrundete die Kajüte und liess sich neben seinen Vorgesetzten und Freund sinken.

„Saccardo ist schon ein lustiger Typ“, sinnierte er und fing sich einen scheelen Seitenblick ein.

„So?“

„Ja. Er ist sehr... natürlich.“

„Natürlich?“

„Ja.“

„So nennt man das heute also.“

Sehr harmlos ausgedrückt.

„Haben alle anderen auch Feierabend gemacht?“

John konnte sich nicht helfen. Es ging ihn nichts an, wie lange seine Untergebenen im Büro saßen. Aber für ihn, der er lange geschieden war und dessen Tochter sich von ihm entfremdet hatte, hatte nun einmal keine andere Familie als...

„Alle. Bis auf Rush. Saccardo und Miller sind zuerst weg – er wollte sie nach Hause bringen – Nick ist gleich drauf gegangen. Als ich weg bin, war Scotty auch schon fertig.“

Typisch Lil.

Eine Weile herrschte Stille. Nur der Wind strich über sie hinweg.

Dann sagte John leise: „Meinen Ruhestand wollte ich auf diesem Boot hier verbringen. Weit weg von der Stadt, einfach irgendwo hin segeln, keine Morde, keine Toten...“

„Keine Typen wie Saccardo“, beendete Will seinen Satz.

„Wir brauchen Sie hier, John, das wissen Sie. Aber was hält Sie eigentlich überhaupt noch in Philly?“
 

~***~
 

Zwei kleine Lampen.

Zwei Lichter in einem ansonsten leeren und dunklen Büro.

Wo tagsüber viele Menschen lautstark ihren jeweiligen Arbeiten nachgingen, herrschte nun fast unheimliche Stille – bis auf Lilly Rushs Füller, dieses schreckliche, altmodische Ding, mit dem sie immer schrieb. Leise, aber hörbar kratzte die Feder über das Papier. Scott Valens trug bereits seinen Mantel und hatte seine Aktentasche fertig gepackt neben seinem Schreibtisch stehen. Ungeduldig klingelte der Fahrstuhl sein Glockengeräusch und schloss die Türen wieder. Die Dunkelheit wurde noch greifbarer.

Irgendwann hob Lil den Kopf.

„Was ist los, Scotty?“

Ihr Partner fuhr auf, als ihre Stimme die Stille durchschnitt, und zuckte peinlich berührt die Schultern.

„Nichts. Warum?“

„Sie sitzen jetzt schon seit einer Stunde im Mantel hier herum und starren Löcher in die Wände.“

„So lange schon?“

Erschrocken sah er auf die Uhr an seinem Handgelenk. Tatsächlich – es war schon Neunzehn Uhr! Dabei hatte er vorgehabt zu gehen. Normalerweise vermied er es, länger im Büro bleiben zu müssen als notwendig. Die meisten Cops waren so: Man konnte am Tag nur eine begrenzte Menge an Gewalt, Mord und anderen kriminellen Ergüssen ertragen. Nur Lil schaffte ihr Pensum und das ihrer Kollegen dazu..

Was war los?

Kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Lampe auszuschalten und sich auf den Weg nach Hause zu machen. Aber dann würde die Dunkelheit, die so bedrohlich wirkte, sich nur noch weiter an die schlanke, blonde Frau heranschleichen können, die hinter ihrem Schreibtisch saß und nicht so aussah, als würde sie vorhaben, heute noch einmal nach Hause zu gehen.

„Was machen Sie da eigentlich?“, fragte er stattdessen.

„Berichte“, gab sie zurück, ohne aufzusehen. Merkwürdig, wie knapp ihre Antworten immer ausfielen, wenn sie beschäftigt war. Als würde sie nicht gleichzeitig schreiben und reden können – dabei konnte sie es, das wusste er. Der Füller unterbrach seinen rasenden Lauf über das Papier kurz, als sie etwas in dem Papierstapel neben sich nachschlug, dann nahm er wieder an Fahrt auf.

Die Stille wurde fast unangenehm für Scotty.

Im schonungslosen Licht ihrer Schreibtischlampe betrachtete er seine Partnerin und Kollegin: ihr blondes Haar, welches glänzte wie Gold, ihre graublauen Augen, die tiefen Ringe unter ihnen, die man nur sah, wenn das Licht sie von unten anstrahlte...

„Wann gehen Sie nach Hause?“, fragte er und vermied, ihren Nachnamen auszusprechen. „Rush“ hörte sich so fremd an, klang so abweisend, so kalt.

Der Boss nannte sie Lil. Als Einziger. Dabei war das der einzige Name, der ihr wirklich und wahrhaftig zu passen schien.

„Wenn ich fertig bin“, sagte sie, ohne aufzusehen.

Lautlos seufzend stand Scotty auf und griff nach seiner Tasche.

„Dann mache ich mich wohl besser auf den Weg.“

„Ist gut. Bis Morgen.“

„Bis Morgen.“
 

Zielstrebig machte er sich auf den Weg durch das Schreibtischlabyrinth zum Fahrstuhl. Mit einem Klingen öffnete sich die Doppeltür, aber Scotty blieb stehen und drehte sich noch einmal um.

„Haben Sie Lust, etwas zu Abend zu essen?“, fragte er und erschrak im selben Moment. Etwas Essen zu gehen würde bedeuten, eine Linie zu übertreten, die Lil seit dem Beginn ihrer Zusammenarbeit vor einigen Jahren streng gezogen hatte. Eine Grenze, die niemals angesprochen wurde – aber sie war so real wie er und die Dunkelheit vor dem Fenster.

Lil hob den Kopf und sah ihn an – und ihr seltenes Lächeln blitzte über ihr Gesicht hinweg. Versteckt unter einer ziemlichen Menge anderer Dinge – aber es reichte locker aus, um ihm warm werden zu lassen. Tatsache war, dass er eigentlich für den Rest des Winters keinen Mantel mehr brauchen würde...

„Danke, Scotty“; gab sie zurück. „Vielleicht ein anderes Mal, ja?“

Sicher.

„Dann bis Morgen“, sagte er und betrat den Fahrstuhl. Vielleicht war es ohne Mantel draußen doch etwas zu kalt.
 

Erst, als er das Gebäude verlassen hatte und auf der kalten, neon-erleuchteten Straße stand, fiel ihm ein, dass er das Licht seiner Schreibtischlampe hatte brennen lassen. Durch das Fenster im sechsten Stockwerk floß ein gedämpfter Schein.

Sonst waren alle Fenster dunkel.

Cold Case - Herbst. Übergabe

Hi There!

Hallo, farina. Ich beeile mich auch!^^
 

Obwohl es erst wieder Anfang des neuen Monats ist, ist hier ein neues Kapitel meiner Anthologie! Ich hab letzten Freitag die neue Folge von CC im Fernsehen gesehen - die letzte Folge der fünften Staffel. Diese Woche gehts mit der Sechsten los... Ich muss sagen, ich bin ziemlich sauer. Seit wann nennt Scotty Lil "Rush"? Was hat der Mistkerl Saccardo schon wieder da? Warum lässt er Lil nicht in Ruhe? Und warum ist sie so aggressiv? Was hab ich verpasst? Ich will nicht sagen, dass die Qualität von CC-Folgen abgenommen hat, davon hab ich zu wenige gesehen und ich liebe diese Serie - aber was war da los? Ich hab dummerweise nur die Hälfte der Fünften Staffel gesehen. Warum gibt es die Serie nicht auf DVD? (Okay, rhetorische Frage, ich weiß warum, aber das ändert nichts an der Tatsache!!!)

Zu viele rhetorische Fragen in einer Einleitung... Ich hör auf. Und wünsche viel Spaß beim Lesen, BouhGorgonzola, wenn du wieder mal reinschaust!^^ Ich würd mich freuen. *lach*
 

Liebe Grüße, isa/june
 

Cold Case – Herbst. Übergabe
 

Das Fernglas war zielsicher auf das Fenster im zweiten Stockwerk des Hotels gerichtet. Es war eines der besseren Hotels der Stadt, das konnte man bereits an der Art sehen, wie der beflissene Türsteher einer gut gekleideten Dame und ihrer Begleitung die Tür öffnete und sich lächelnd kurz in der Körpermitte faltete. Vier Sterne blinkten über dem verglasten Vordach, vor dem eine Limousine hielt. Der Mann, der das Fernglas hielt, hätte sie ebenso deutlich sehen können wie die dunkelhäutige Frau, die aus dem langen, schwarzen Wagen glitt und die zwei Stufen hinauf schwebte. Aber er wusste, was auf dem Schild neben den Sternen stand, und die Frau in der Limousine interessierte ihn nicht. Er hatte sich gut vorbereitet. Er kannte die Umgebung, in der er operierte. Er hatte alle ankommenden Gäste des Hotels für den Tag bereits gekannt, bevor sie selbst gewusst hatten, dass sie kommen würden. Er wusste, welche Zimmer ein Fenster zur Straße und welche ein Fenster zur Bay hinunter hatten, wo die Nebenausgänge waren und wie lange ein schneller Mensch für den Weg vom Dach bis in den Keller brauchen würde. Der Beobachter war ein Profi auf seinem Gebiet, und nicht nur seine Kollegen erkannten ihm dies an. Aber nun spielte es keine Rolle. Er war gut – und er brachte Aufträge immer zu Ende.

Das Hotelzimmer vor seinen musternden Augen hielt von Innen, was es von Außen versprach: rote Samtvorhänge, ein heller, weißer Teppichboden und elegante, jedoch nicht überstrapazierte Möbel aus Kirschholz. Niemand war in dem Raum zu sehen. Der Mann sah auf die Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern – da. Langsam öffnete sich die Tür und eine Person wurde sichtbar.
 

Weder der Mann, der nun den Raum betrat, eine Schusswaffe in beiden Händen, schien sich besonders wohl zu fühlen, noch die Frau, die ihm auf dem Fuß folgte und die einen schwarzen Aktenkoffer bei sich trug. Obgleich beide ihre Nervosität gut verbargen, war der Beobachter in der Lage, die Anzeichen der Anspannung zu sehen: der prüfende Blick, mit dem Scott Valens seine gesamte Umgebung sondierte. Oder die scheinbar beiläufige Geste, mit der Lilly Rushs Hand hinunter auf ihre Hüfte fiel, bis sie sich daran erinnerte, dass diese Geste ebenso verräterisch wie auch nutzlos war. Das vertraute Gewicht des Halfters fehlte. Ein Grinsen flog beinahe über das Gesicht des Mannes, als er feststellte, dass die Frau nicht aus einem besonderen Grund auf ihre Dienstwaffe verzichtet hatte, sondern lediglich aufgrund der Tatsache, dass man in ihrem Aufzug jede Unebenheit unter ihrer Kleidung würde sofort erkennen können. Aber das hautenge Kleid aus dem hauchdünnen, violetten Stoff betonte ihr Figur sehr vorteilhaft... Zu Vorteilhaft, für seinen Geschmack. Aber das Kleid stand ihr gut.

„Was jetzt?“, fragte sie und drehte sich zu Valens um, nachdem Beide den Raum systematisch durchsucht hatten. Das Mikrophon übertrug die Stimmen deutlich und klar.

„Wir warten“, sagte Valens und zuckte mit den Schultern. Im Gegensatz zu der Frau, die sich in ihrem Kleid unwohl zu fühlen schien, schien er keinerlei Probleme mit dem dunklen Anzug zu haben, den er trug.

Anscheinend unbehaglich standen sich die Beiden gegenüber, bis die Frau begann, unruhig auf und ab zugehen.

„Er soll endlich anrufen“, sagte sie gepresst und ihre Lippen formten eine dünne Linie. Am Fenster hielt sie inne und sah hinaus. Der Beobachter fragte sich, ob sie ihn gesehen hatte, aber scheinbar blicklos starrten ihre Augen auf die Straße unter ihr hinunter.

„Was denkt sich dieser...“

„Lil“, sagte ihr Begleiter und schaffte es tatsächlich, seiner Stimme einen sanften Klang zu verleihen, der seine Partnerin scheinbar beruhigen sollte.

„Regen Sie sich nicht so auf. Am Besten ist Jenni nur geholfen, wenn wir tun, was er verlangt.“

Die Frau kniff die Augen zusammen.

„Aber wofür das ganze Theater? Der Treffpunkt, die Bedingungen... Was soll das Ganze?“

„So will er es – und so machen wie es. Keine Sorge. Der Boss hat alles unter Kontrolle.“

„Das will ich wirklich hoffen.“

Die Frau schloss die Augen und atmete tief durch, dann trat sie vom Fenster weg. Unwillkürlich atmete der Beobachter ruhiger.

Valens hatte in der Zwischenzeit die Aktentasche genommen, die die Frau auf das Bett gelegt hatte, und trug sie zu dem schweren Sekretär in der einen Ecke des Raumes. Seine Partnerin gesellte sich zu ihm. Was in der Tasche war, konnte der Beobachter nicht erkennen, weil zwei Rücken im den Weg versperrten.

„Dieses Arsch“, hörte er nur noch gepresst. Dann war es eine Weile still. Der Beobachter runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf die zwei Personen im Zimmer. Die geraden Rücken strahlten eine für Polizisten untypische Spannung aus...

Da machte die Frau einen Satz zur Seite. Aus dem Wortlos-Nebeneinander-Auf-Einen-Koffer-Starren wurde ein stummes Anstarren zweier Personen. Ob es der Stress war, unter dem die beiden Detectives standen, die Anspannung, welche sich über Tage aufgebaut hatte? Egal was es war, der Mann im Fenster sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu, wie Scott Valens sich vorbeugte und seine Partnerin Lilly Rush küsste.
 

Das Kleid schnürte ihr die Luft ab.

Durch die Klimaanlage war es in dem Raum angenehm kühl, aber ihr war trotzdem warm. Ihr gesamter Körper war angespannt, fieberhaft den Augenblick erwartend, auf den ihre gesamte Abteilung seit Tagen hinarbeitete. Sie hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen. Scotty musste es ähnlich gehen – er sah ungefähr so aus, wie sie sich fühlte.

Seit der Entführung von Jenni Gallagher, einem 12-jährigen Mädchen aus einem Vorort von Philadelphia, waren 3 Tage vergangen. Seitem waren sie über 4 weitere Leichen von brutal ermordeten Mädchen gestoßen, mit der alten Leiche von Miriam Weber, die vor 10 Jahren gestorben war und deren Fall nun erneut aufgerollt wurde, waren das fünf junge Mädchen. Fünf Mädchen, die im Alter von 12 Jahren gestorben waren, die nie die Gelegenheit haben würden, ein Leben zu führen, eine Zukunft zu besitzen.

Die Mordkommission Philadelphia hatte seitdem 2 Anrufe erhalten. Der Täter war gut. Er war ohne Zweifel ein Profi. Er verstellte seine Stimme, er rief aus Telefonzellen an und hielt die Gespräche so kurz, dass sie nicht dazu in der Lage waren, ihn zu orten. Er hatte sich auf keine Verzögerungstaktik eingelassen, keine Kompromisse gemacht und keinerlei Hinweise hinterlassen. Er hatte 500.000Dollar verlangt – nicht wirklich wenig, aber gerade so viel, wie Jennis Eltern würden abheben können, ohne verdächtig zu wirken. Und er hatte strikte Anweisungen erteilt, wie die Geldübergabe würde stattfinden müssen. Und deshalb waren sie heute hier.
 

Es war heiß in Philadelphia, viel zu heiß für den Herbst. Scotty strich sich zwei schwarze Strähnen aus dem Gesicht und blickte auf den Koffer hinab, der die Geldsumme für den Entführer enthielt. Warum der Mann sie hier treffen wollte, war ihnen schleierhaft. Es war sogar die dümmste Idee, die er haben konnte, fand Scotty. In dieses Hotel kam nun niemand mehr herein, der nicht von ihren Leuten gesehen wurde. Der Entführer hatte, ab dem Zeitpunkt, in dem er an ihre Tür klopfte, um das Geld in Empfang zu nehmen, keine Chance mehr auf Flucht.

Das Geld sollte von zwei Detectives der Mordkommission überbracht werden, die mit dem Fall vertraut waren. Sie sollten sich als Teilnehmer des jährlichen Ärztekongresses der Vereinten Nationen tarnen, eine Verkleidung, die Scotty weniger wegen der Menschen schwer fiel, die ihn umgaben, als mehr wegen der Zeit, die der Kongress in Anspruch nahm. Heute morgen waren sie „angereist“, unbekannt und unerkannt, und das würde hoffentlich noch so bleiben. Aber sie hatten am Brunch teilnehmen müssen, der um 12 stattfand, und hatten dort beinahe 2 Stunden verbracht. Dann war eine Sitzung gewesen, die sie nicht hatten verpassen dürfen – und nun das Abendbrot und der Ball. Den Tag hatten sie damit verbracht, zu lächeln, zu nicken, höflich Konversation zu betreiben und so zu tun, als seien sie Dr. Spencer aus Idaho und seine Frau Melanie – und diese Maske zu tragen war nervenzerreissend. Nicht nur Scottys Nerven waren dünner als Nylonfäden und zum Zerreißen gespannt.

Deshalb war der Kuss – so nahmen sie es in dem kleinen Teil ihres Verstandes, der noch funktionsfähig war, an – nur die logische Fortsetzung eines nervenaufreibenden Tages und eines viel zu langen Abends.

Sie hatten nur so viel Wein zu sich genommen, dass es noch als höflich gelten konnte, hatten sich mit Ärzten und Ärztinnen, Ehemännern und Ehefrauen unterhalten und pflichtschuldig gelacht, wenn ein Witz fiel. Hatten gegessen und den Koch gelobt und waren schliesslich auf die Tanzfläche geglitten, um nicht als einzige Zuschauer aufzufallen.

Unvermeidlich.

Sie hatten keine andere Wahl gehabt.

Scotty hatte das Gefühl, als ob ein Teil seines Verstandes nicht mehr zu ihm selbst zu gehören schien. Er konnte immer noch klar denken und rational handeln, aber das spielte keine Rolle mehr. Weil hier, trotz aller Anspannung, trotz dem Druck auf ihnen und trotz der Sorge um Jenni Gallagher nichts mehr zählte als Lil. Lil in seinen Armen, Lil, die mit geschlossenen Augen mit ihm tanzte, in ihrem violetten Seidenkleid und den halboffenen Haaren. Lil an seiner Seite, die leise lachte, während eine Frau einen Kommentar machte, und deren Lachen ihn bis in den innersten Kern seiner Seele wärmte. Lil, deren wachsame Augen niemals stillzustehen schienen...

Als er sie küsste, erwartete er halb, dass sie zurückzucken würde, so wie sie zurückgeschreckt war, als er aus Versehen über dem Koffer ihre Hand berührt hatte. Aber zu seiner gelinden Überraschung wich sie ihm nicht aus. Im Gegenteil – mit einem Mal lehnte sie sich in den Kuss, ihre Arme schlangen sich um ihn und sie drückte ihren schlanken Körper an seinen. Seine Hände glitten über ihre Schultern nach oben und schlangen sich in ihr Haar, ihr wundervolles, seidenweiches Haar.

Der Kuss wurde tiefer.

Wage war sich Lil der Tatsache bewusst, dass sie beobachtet wurde, aber in dem Moment war es egal. Es war alles egal. Ihre Kontrolle war durch die drei Tage andauernder Hektik und Spannung zermürbt worden, ihr Gleichgewicht lag in Trümmern. Scotty war derjenige, der es zerstört hatte, der durch ihre Abwehr gebrochen war und sie schutzlos zurückgelassen hatte. Als er sich zurücksinken liess, folgte sie ihm und spürte seinen warmen Körper unter ihr, seine Hände in ihrem Haar, seine Lippen auf den Ihren...

Schwarze Augen sahen sie an, musterten sie durchdringend und wortlos und was sie in ihnen las, liess ihre natürlichen Reflexe sofort wieder zum Leben erwachen.

„Scotty!“

Blitzartig schob sie sich von ihm weg und war wieder auf den Füßen, während er noch damit kämpfte, eine halbwegs sitzende Position zu erreichen. Ungern gab er sie frei. Noch unfokussiert, glitten die grünblauen Augen durch den Raum und blieben schliesslich an ihm haften. Wortloser Austausch. Dann glitten ihre Augen zu der Badezimmertür. Absichtlich langsam setzte sie sich in Bewegung, um nicht den Verdacht zu erwecken, sie würde fliehen. Scotty musterte ihren Rücken und stellte fest, dass Lilly Rush selbst auf der Flucht wunderschön war.

Beide waren abgelenkt.

Es reichte.
 

Der Beobachter mit dem Fernglas sah die Waffe zuerst, die sich unbarmherzig auf den sitzenden Detective auf dem Bett richtete. Langsam lies er das Fernglas sinken. Dann griff er nach dem Funkgerät neben sich.
 

„Ich dachte, Sie rufen an“, sagte Scotty ruhig und warf einen Blick auf die Tür im Rücken des Mannes, hinter der Lil gerade verschwunden war. Der dunkle Lauf der Waffe zitterte nicht das Geringste Bisschen.

Die Gestalt vor ihm trug eine Strumpfmaske. Unter dem Stoff klang die Stimme verzerrt. Sie würden wieder keine Stimmanalyse machen können.

„Ich gehe selten nach Plan vor“, raspelte die Stimme.

„Deshalb bin ich noch hier.“

Wütend dachte Scotty daran, dass er sich hatte ablenken lassen und das seine Waffe auf dem Sekretär lag – außerhalb seiner Reichweite. Seine nächsten Gedanken galten Lil. Wenn sie von hinten kam, würde es ihnen gelingen, den Entführer abzulenken... Trotzdem. Ganz entgegen seiner Professionalität hoffte – betete – Scotty, dass Lil im Bad bleiben würde, dass ihr nichts geschehen würde...

„Das Geld ist auf dem Tisch dort hinten“, sagte er und machte eine ruhige Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. Der Mann würdigte dem Koffer keinen Blick.

„Um das Geld geht es nicht“, sagte der Mann mit einer Stimme, in der das Grinsen beinahe mitklang. „Es ist sowieso schon zu spät für sie.“

„Du hast sie getötet, du Mistkerl!“

Scottys Stimme wurde unversehens lauter. Der Mann log nicht. Jenni Gallagher war tot. Ihr Mörder, der Mörder von sechs Mädchen, lachte leise.

„Ja, sie ist tot. Aber nicht ich war es, der sie umgebracht hat.“

„Wer war es sonst?“, fragte Lils schneidende Stimme aus dem Durchgang zum Bad. Die Waffe, die sie auf den Rücken des Mörders richtete, zitterte ebenfalls kein bisschen.

Der Mörder blickte sich nicht zu ihr um, aber das Lächeln in seiner Stimme war erneut unüberhörbar.

„Wollen Sie das wirklich tun, Lil? Na los, drücken Sie ab – und ihr Partner ist tot. Das wäre doch schade, oder?“ Jetzt schlich sich auch noch Hohn in seinen Tonfalls.

„Wo er Ihnen doch so viel bedeutet!“

Lil zögerte. Nur eine Sekunde lang, nur Minimal – Scotty konnte es trotzdem sehen. Und die Vorwürfe stürzten auf ihn ein wie ein eiskalter Gebirgsbach.

„Wo ist Jenni?“, fragte Lil, um Zeit zu gewinnen. Im Bad musste sie gehört haben, dass das Kind tot war.

Der Mörder zuckte die Achseln.

„Ich sagte doch: sie ist tot.“

Lils Hände zitterten. Der Mann schien ihre Gefühle zu spüren, der Hass, der aus ihren grünen Augen sprühte.

„Sie nehmen das zu ernst, Lil. Sie setzen sich viel zu sehr ein. Betrachten Sie das Leben aus einiger Entfernung, und Sie werden sehen, es wird viel einfacher. Sie haben doch schon jemanden erschossen. Sie wissen, was es für ein Gefühl ist: man hält das Leben eines Menschen in der Hand. So, wie ich gerade das Leben ihres Partners in der Hand halte. Was werden Sie nun tun?“

Lil machte lautlos einen Schritt auf dem weichen Teppich.

„Halt!“

Ein beinahe militärischer Unterton drängte sich in die Stimme.

„Bleiben Sie sofort stehen, oder Ihr Partner stirbt.“

Lil blieb stehen wie angewurzelt und sah an dem Mann vorbei auf Scotty. In ihren Augen spiegelten sich Qual und Entschlossenheit gleichermaßen. Und dafür liebte er sie nur noch mehr.

„Sie wissen doch, dass wir jeden ihrer Schritte in diesem Hotel folgen werden“, sagte Scotty, um ihn abzulenken. „Sobald Sie das Zimmer verlassen, können Sie nicht mehr fliehen.“

Der Mann fletschte die Zähne unter seiner Maske.

„Ich weiß sogar, dass Sie ihren Boss auf der anderen Seite der Straße in dem Haus postiert haben, um einen Blick auf mich zu haben. Aber das wird Ihnen nichts nützen. Bis ihre Leute da sind, bin ich längst weg. Und dann...“

Er wollte durchs Fenster fliehen, erkannte Scotty. Und dann, nicht, wie alle annahmen, nach unten, sondern nach oben. Das erklärte den Helikopter, der seit einigen Tagen immer wieder über dem Hotel kreiste, so, als wolle er üben...

Nein. So einfach war es nicht, und Lil wusste das. Sie konnte nicht zulassen, dass Scotty erschossen wurde. Andererseits würde dieser Mörder nicht eher ruhen, bis dass er sie beide erledigt hatte. Sie kannte die Berichte. Der Entführer selbst zeigte sich nie, ein Gehilfe holte das Geld ab, tat die Drecksarbeit. Sie hatte die Fotos vom letzten Ort der Übergabe gesehen, die leeren, toten Augen der Cops, die dieser Mann auf dem Gewissen hatte. Und nun blühte Scotty das selbe Schicksal. Umso schlimmer, dass sie ihn mit hineingezogen hatte...
 

Der Mörder legte den Zeigefinger um den Abzug und hob die Hand noch ein wenig, um auf Scottys Stirn zu zielen. Auf seinem Gesicht prangte die Selbstzufriedenheit und die Freude am Töten.

Ein Schuss knallte durch den Raum.
 

Der maskierte Mörder riss die Augen auf und sah hinunter auf seine Brust, aus der das Blut in einem roten Sturzbach quoll. Diesem Fehler hatte er noch nie gemacht. Immer hatte er seine beiden Opfer – immer ein Mann und eine Frau – in dieser Lage vorgefunden: vor seiner Pistolenmündung. Warum hatte Lilly Rush sich heute entschieden, ins Bad zu gehen? Sein Blick wanderte zu dem vor ihm sitzenden Scott Valens und er zog mit letzter Kraft den Abzug.
 

Scottys Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. Mit einem Satz katapultierte er sich vom Bett hinunter und zur Seite, spürte kaum, wie seine Schulter auf dem Boden aufkam und ein scharfer Schmerz hindurch fuhr. Er rollte sich ab und kam wieder auf die Beine. Der Mörder grinste.

„Das war unprofessionell.“

Dann brach er leblos zusammen.
 

John Stillman hatte seinen Beobachtungsposten in der leerstehenden Wohnung zu dem Zeitpunkt aufgegeben, in dem der Mann, der seine beiden Untergebenen bedrohte, keine Gefahr mehr war. Jetzt hastete er die Treppen hinunter und überquerte hastig die Straße, wo ihm Nick Vera, Will Jeffries und Kat Miller entgegenkamen.

„Sperren Sie alles ab!“

Seine Anweisung war nicht nötig. Schon war die Polizei am Werk.

„Warum?“, fragte Kat und furchte ihre Stirn.

„Er ist doch tot.“

„Aber es waren doch zwei“, gab John knapp zur Antwort.
 

Im Flur vor dem Hotelzimmer explodierte die Brandbombe.

Dann, in rascher Folge, ein Sprengsatz im Foyer, an den Treppenaufgängen und an den Aufzügen. Im Rauch und in den Flammen des sich schnell verbreitenden Feuers folgte Scotty auf allen Vieren dem Geräusch des Hustens, fand Lil und presste sie an sich, versuchte vergeblich, sie vor dem Feuer der Brandbombe zu schützen, die nun in ihrem Zimmer explodierte.
 

Einen Tag später
 

Lil hatte schwere Verbrennungen an beiden Armen, ein Muster, welches zu den merkwürdigen, nicht verbrannten Stellen an Scottys Rücken passte, der dort, wo ihre Arme ihn umschlungen hatten, nur wenig verletzt war. Ihr Pony war angesengt. Sie würde es kürzen müssen, aber Kat Miller fand, dass es ihr besonders gut stehen würde. Forschend betrachtete sie ihre Freundin, die in dem weißen Krankenhausbett so klein und verloren wirkte. Nicht die starke Lil, die sie kannte.
 

„Wie fühlst du dich?“

Lils Stimme war rauh und heiser von dem Rauch, den sie eingeatmet hatte.

„Wunderbar. Was sage ich nur ihren Eltern?“

Kat wusste keine Antwort. Jenni war tot. Der Entführer noch auf freiem Fuß, nur, weil es ihnen nicht gelungen war, seinen Gehilfen zu bekommen. Das Lösegeld war verschwunden. Kat konnte sich schon denken, was da geschehen war. Sie machte sich Vorwürfe – sie hätten Jenni retten müssen. Aber wenn sie sich bereits miserabel fühlte – dann wollte sie auf keinen Fall in Lils Haut stecken. Oder in Scottys.

„Oh Gott“, sagte Lil und starrte auf ihre bandagierten Hände hinunter. „Oh Gott.“

„Lil“, sagte Kat eindringlich und versuchte, die Aufmerksamkeit ihrer Freundin auf sich zu ziehen.

„Du hast getan, was du konntest. Du hast den Mann in Notwehr erschossen. Es ist nicht deine Schuld.“
 

Jenni war tot. Der einzige Informant ebenfalls.

So viele Dinge.

So viele Fehler, die sie begangen hatte. So viele Dinge, für die sie sich Vorwürfe machen konnte.

Und das Einzige, woran sie denken konnte, waren Scottys Lippen auf ihren.

Cold Case - Herbst. Wie Hund und Katze

„Sag mal, Lilly.“

Kat Miller tauchte vor ihrem Schreibtisch auf, als sei sie mitsamt dem Drehstuhl, auf dem sie saß, aus dem Boden des Großraumbüros gewachsen. Lässig schob sie einen Stift, der einige Zentimeter neben der Ablage auf dem ansonsten makellos aufgeräumten Schreibtisch lag, beiseite, plazierte ihre Ellenbogen darauf und stützte ihr Kinn in die Hände.

„Hmmm...“

Die blonde Frau am Schreibtisch vor ihr sah kaum auf.

Stattdessen fuhr sie konzentriert fort, zwei Photos, welche nebeneinander auf dem Bildschirm ihres PCs abgebildet waren, miteinander zu vergleichen.

„Warum starrst du immernoch auf die Bilder?“

Kat schüttelte den Kopf. Ihre braunen Locken flogen.

„Irgendwann bist du blind und dann nützt du uns gar nichts mehr.“

„Hmmm...“

Wieder reagierte die Frau vor ihr nur mit einem unverbindlichen Geräusch, also beschloss sie, deutlicher auf sich aufmerksam zu machen. Kat Miller ignorierte man nicht.

„Lilly Rush!“
 

Lilly Rush blickte ungehalten hoch, als eine flache Hand auf ihren Schreibtisch knallte. Auf ihrem Gesicht stand deutlich ein Ausdruck, den Kat mittlerweile kannte: zwei Jahre in der Mordkommission, gemeinsam mit Lilly Rush, hätten jedem Menschen beigebracht, dass man sie besser nicht störte, wollte man den „Wenn-es-nichts-Wichtiges-ist-dann-bist-du-besser-schneller-als-ich“-Blick nicht zu sehen bekommen. Den „Ich-bin-ziemlich-genervt-schalte-um-auf-Eisprinzessin“-Blick. Noch besser: man vermied jegliche Situation, in der dieser Blick auf einen selbst zurückfallen würde. Aber das interessierte Kat nicht.

„Was ist denn?“

Kat grinste und zuckte die Schultern. Sie freute sich auf Lils Ausdruck...

„Ich dachte nur... Was denkst du, wenn du Scotty siehst?“
 

„Häh?“

Vor Überraschung fiel Lil der Füller aus der Hand, den sie fest umklammert hatte.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

Beinahe hätte sie sich umgesehen, sich davon überzeugt, dass niemand in der Nähe war, der sie hören konnte. Kat sah es an der Art, wie sie ihre Schultern und ihr Kinn verteidigend hob. Sie konnte es sich sparen, das wusste sie, und Lilly wusste genauso gut, dass sie allein waren.

Locker zuckte Kat erneut mit den Schultern und genoss ihren kleinen Triumph.

Lilly Rush verwirrt.

„Hat keinen besonderen Grund – ich wollte dich nur immer mal danach fragen. Ich meine – gut, du arbeitest mit ihm zusammen, nicht ich, deshalb stört es mich nicht weiter – aber ich muss jedes Mal an einen Malteser denken, wenn ich ihn sehe. Ob das an seinem Namen liegt?“
 

Jetzt starrte Lil sie unverhohlen irritiert an.

Kat feixte. Das war doch mal was Neues! Lilly Rush – irritiert. Die Sensation – 5 Dollar Eintritt!
 

„Wie – du vergleichst Scotty mit einem kleinen, weißen Terrier?“

„Nja – ein Malteser halt. Klein, weiß, gelenkig und mit einem hohen Bellen...“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Was – wäre dir ein Schäferhund lieber? Groß, gutaussehend und hoffnungslos überzüchtet? Na ja, ich kann sehen, was daran reizvoll währe...“

Sie lachte Lil über den Schreibtisch hinweg an. Die blonde Frau ihr gegenüber liess sich langsam rückwärts in ihren Schreibtischsessel sinken.

„Kat – du vergleichst Scotty mit einem Malteser, weil du einen Malteser Scotty nennen würdest. Vorausgesetzt, du hättest einen.“

Lilsche Logik. Damit hatte sie gerechnet.

„Das kannst du so nicht sagen“, widersprach sie. „Vielleicht würde ich einen Malteser ja auch Scotty nennen, weil ich bei ihm automatisch an Scotty denke?“
 

Lil runzelte ungehalten die Stirn.

„Ha, ha. Kannst du mir jetzt verraten, was das soll?“

„Was siehst du in Scotty?“

„Ganz sicher keinen Malteser!“
 

Kat pustete sich ihr Pony aus der Stirn.
 

„Bist du jetzt sauer?“

„Wieso sollte ich!“

„Du wirkst aber so.“
 

Graublaue Augen blitzten sie an. Lil entwickelte Elan – wenn es um Scotty ging, immer. Oder erschien ihr das nur so?
 

„Himmel! Entschuldige bitte, dass ich wütend bin, weil du meinen Partner mit einem Malteser vergleichst! Aber nein, ich bin nicht sauer. Ich muss arbeiten.“
 

„Und du bist eine Katze.“

Kat liess sich nicht aus dem Konzept bringen – das zog sie jetzt durch.

„Einzelgängerisch und kratzbürstig.“

„Vielen Dank“, knurrte Lil.

Kat legte den Kopf in den Nacken und lachte leise.

„Lilly und Scotty. Scotty und Lilly. Süß, nicht?“

Entsetzt blickte ihre Freundin von dem Papier auf, welches sie verzweifelt zu lesen versuchte.

„Wie bitte?“

„Ist dir das noch nicht aufgefallen? Scotty und Lilly. Lilly und Scotty. Sogar eure Namen sind gleich! Katze und Hund arbeiten zusammen... Irgendwie kann ja nichts aus euch beiden werden!“
 

„Kat“, quetschte Lil zwischen zusammengequetschten Zähnen hervor.

„Jetzt reichts!“
 

Kat dachte nicht dran, aufzuhören. Sie war in ihrem Element.

„Deshalb ist also noch nie etwas zwischen euch beiden passiert – obwohl ihr so viele Gelegenheiten hattet. Unterwegs wart ihr schließlich oft genug zusammen. Obwohl ich dir da nicht ganz traue, muss ich es wohl glauben, wenn du sagst, ihr hättet nie etwas miteinander gehabt... Schade - dabei passt ihr so gut zusammen!“
 

Ruckartig stand Lil auf, packte ihre Kaffeetasse, die auf dem Tisch wartete, und verliess mit großen Schritten das Büro in Richtung Pausenraum. Kat rollte langsam mit dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich wusste es“, frohlockte sie zufrieden. „Ich wusste es!“

„Sie passen heute besser auf, Miller“, riet Will Jeffries, der an ihr vorbeiging. „Manche Leute sollte man sich besser nicht zum Feind machen.“

„Was wussten Sie?“, fragte Nick Vera.

„Ich wusste, dass da was zwischen Rush und Valens ist“, sagte sie fröhlich, stieß sich vom Schreibtisch ab und rollte durch das Büro.

„Was?“ Nick schüttelte den Kopf. „Nein. Rush und Valens? Niemals.“

„Glauben Sie, was Sie wollen“, konterte sie. „Frauen haben einen Riecher dafür. Warten Sie es einfach mal ab. Und im Übrigen wissen es alle in diesem Präsidium, nur die Beiden nicht.“

Ein Seitenblick traf Nick.

„Und Sie, wie es ausschaut.“

„Na hören Sie mal“, setzte Nick an und stockte. „Egal. Ich halte dagegen. Wenn zwischen Rush und Valens etwas ist, dann lade ich Sie zum Abendessen ein.“

„Super. Nächsten Samstag hätte ich Zeit. Und das Alfredos ist spitze.“

„Ha-ha. Sehr lustig.“

Will schüttelte ob der Plänkelei seiner Kollegen besorgt den Kopf.

„Manchmal ist es nicht gut, sich in solche Dinge einzumischen.“

„Kommen Sie, Will. Man kann es ja nicht mitansehen, wie die um einander herumschleichen. Wäre es nicht besser, jemand gibt ihnen einen Schubs in die richtige Richtung? Abgesehen davon, dass es durchaus langsam mal an der Zeit wäre, dass etwas passiert, würde es uns die Zusammenarbeit mit ihnen gewaltig vereinfachen.“

Der große Mann presste die Lippen zusammen.

„Oder deutlich verkomplizieren. Bitte, Miller. Tun Sie es nicht. Lassen Sie es einfach wie bisher weiter laufen, okay?“

Für eine Weile starrte Kat in die schwarzen Augen des Kollegen. Dann nickte sie ruckartig.

„Gut – ich lasse es auf sich beruhen.“

Erleichterung streifte sein Gesicht.

„Danke.“

„Aber!“ Der Schalk war zurückgekehrt. „Aber ärgern darf ich sie weiterhin, oder?“

Will seufzte, Nick grinste.

„Treiben Sie es nur nicht zu weit.“
 

„Ihr kann halt niemand entkommen“, merkte Scott Valens an, nachdem er eine Weile beobachtet hatte, wie seine Partnerin Kat Miller mit bösen Blicken traktierte. Lil seufzte.

„Und Ideen hat sie“, sagte sie, mehr zu sich selbst.

„Bitte?“

„Nichts.“

Jetzt war es an Scotty, Kat genauer zu mustern. Die störte sich nicht weiter daran und warf ihm einen fröhlichen Blick zu.

„Schön, dass Sie wieder da sind, Scotty. Lilly hat Sie schon vermisst!“

Die stöhnte auf.

„Hören Sie nicht hin“, bat sie ihn. Verwundert sah er erst sie von der Seite an, dann die dunkelhäutige Kollegin. Als er aber Kats gemeines Grinsen sah, ging ihm ein Licht auf. Er grinste ebenfalls.

„Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Katty!“
 

Lilly Rush brach in lautloses Gelächter aus.
 

Anmerkung.

Das wars - Saccardo ist weg. Die Folgen werden besser, Lil ist aufgetaut - aber warum arbeitet sie ständig mit Kat zusammen? Eine Freundin von mir dachte schon, Scotty sei tot, weil er so selten auftaucht... Das sollte euch zu denken geben, liebe Produzenten...

Cold Case - Frühling. Eine ganze Welt

Cold Case – Frühling. Eine ganze Welt
 

Plötzlich klang ihr der eigener Name seltsam fremd in ihren Ohren.
 

Wie ein Fremdkörper in einer Tasse Kaffee, ein Unbekannter in der eigenen Wohnung oder eine falsche Ziffer in der eigenen Telefonnummer.

Wie eine Kugel in einer offenen Wunde.
 

Ihr Name?

Manchmal hatte sie das Gefühl, dass jeder, der sie kannte, sie unter einem anderen Namen kannte. Und jeder Name war eine andere Frau.

All die Leute, die sie mit jemandem verwechselten – die sie für ihre Schwester Christina hielten oder für ihre Mutter oder für jemanden, den sie nicht kannte.

Die Leute, die sie einfach mit einem anderen Namen ansprachen, weil sie sich nicht an ihren Namen erinnern konnten.

Die Leute, die sie mit ihrem Nachnamen – Rush – ansprachen, die Menschen, die ihr verschiedene Spitznamen gaben.

Eiskönigin.

Hexe.

Dumme Pute.

Arrogante Zicke.

Liebling des Chefs.

Hure.

Mörderliebhaberin.

Oder diejenigen, die ihren Namen aussprachen, sie jedoch gar nicht meinten, oder diejenigen, die einen Namen riefen, der ihrem so ähnlich klang, dass sie sich unwillkürlich umdrehte.
 

Aber all diese Leute hatten eines gemeinsam: sie benutzten nur Umschreibungen für ihren Namen.
 

“Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, Lilly.“

Der gereizte, entnervte Gesichtsausdruck.

Der drohende Klang seiner Stimme, als er diese Worte äußerte, durch den unterliegenden Klang der Worte eindeutig klar machte, dass er sich durch ihre Anwesenheit gestört fühlte.

Scotty war wütend – auf sie – und sie wusste es.
 

Das Wissen um diese Tatsache überfiel sie mit einer solchen Wucht, dass sie zunächst instinktiv reagierte.

„Dann bis nachher!“, hatte sie gesagt und den Raum verlassen.

Erst draußen war sie losgerannt, ihre Hand auf ihr rasendes Herz gedrückt, welches gegen ihren Brustkorb schlug. Ohne dass sie wirklich wusste, warum.

Der Schmerz überfiel sie in aller Härte gemeinsam mit der Erkenntnis: Mehr als alles andere hatte Scottys Benutzung ihres vollen Namens diese Reaktion in ihr hervorgerufen. Nicht die Wut, die in seinen Augen schimmerte, nicht der scharfe Unterton seiner Stimme. Sie wusste, dass er angespannt war, genau wie sie alle. Dass der Fall an ihm zehrte – genau wie an ihnen allen. Dass er sich nur durch ihre wiederholten Fragen gestört gefühlt hatte und dass seine Geduld ihn für eine Sekunde verlassen hatte – er hatte es nicht böse gemeint. Genau wie sie wusste, dass er nervlich am Ende war, wusste er, dass es ihr ebenso ging. Genau wie sie ihm einräumte, dass die Woche hart gewesen und ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren, räumte er ihr dies ein. Sie nahm ihm diese momentane Gereiztheit nicht übel. Scotty war ein freundlicher Mensch, jemand, der immer zuvorkommend blieb. Wenn er so gereizt reagierte, tat er dies nicht absichtlich. Dennoch tat es weh. Unglaublich weh.
 

Wie gewohnt man es doch war, den Klang des eigenen Namens – der Koseform des eigenen Namens – aus dem Munde derer zu hören, die man als seine Freunde bezeichnete.

Lilly.

Lil.

Zwei Buchstaben Unterschied, die hier die Welt bedeuteten.

Eine ganze Welt und das Wissen, dass er es nicht wirklich böse meinte, nur gereizt war und zu schnell reagiert hatte.
 

Das Wissen und der stechende Schmerz in der Brust, dass sich irgend etwas verändert hatte.
 

Anmerkung.

Eigentlich war das eine Erfahrung, die ich auch schon gemacht habe - und dann ist diese Geschichte entstanden. Es ist wirklich schmerzhaft: Man wird jahrelang mit seinem Spitznamen gerufen und man hört irgendwann auf, sich darüber zu wundern. Und dann wird der normale Name benutzt und... Es tat weh. Es tat wirklich weh. Ich kann dieser Freundin mittlerweile nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich kann einfach nicht mehr. Obwohl ich es gerne könnte.
 

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals gehört habe, wie Scotty Lil "Lilly" nennt, immer nur Lil. Allerdings scheint er selbst das aufgegeben zu haben: in den letzten Folgen, die ich gesehen habe (Sprich Staffel 6, Anfang) nannte er sie "Rush". Und wenn ich das wäre, würde mir das auch weh tun... Aber wer weiß schon, was Lil denkt und fühlt. Ich habe hier also eher meiner Fantasie freien Lauf gelassen... Wer tut das nicht manchmal! *seufz*
 

Wünscht euch was! Dank geht wie immer an BouhGorgonzola und MichirouKaiou... Ihr seid super! Und Gefaehrte... Herzlich Willkommen nochmal! *lach* Wenn du dich bis hierher vorgearbeitet hast, bist du hartnäckig und kannst viel ertragen...
 

isa

Cold Case - Sommer. Zu weit gegangen

Irgendwann hatte er es aufgegeben, gegen die Handschellen anzukämpfen, die seine Handgelenke zusammenhielten.

So fühlte sich das also an – er hätte gerne auf die Erfahrung verzichtet, denn nach einiger Zeit begannen seine malträtierten Handgelenke zu schmerzen. Genauso nutzlos wie der Kampf gegen die Handschellen war seine wiederholte Begründung gewesen, warum hier ein einziger, großer Fehler vorlag – die Polizisten, die ihn unsanft vor sich herschoben, hörten ihm einfach nicht zu. Stumm saß derjenige, der ihn verhaftet hatte, vor dem Steuer und fuhr, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Sein Partner sprach leise in ein Funkgerät – der Abstand zwischen ihm und seinen Bewachern wurde durch eine Trennscheibe vergrößert, sodass er im Fond des großen Streifenwagens nichts von dem Gespräch hören konnte, welches auf den Vordersitzen stattfand. Aber die Polizisten sahen recht zufrieden mit sich aus – was für ihn selbst wohl eher ein Grund zur Beunruhigung war. Dennoch lehnte er sich für einige Sekunden zurück und schloss die Augen.
 

Wie war das passiert?

Er hatte doch lediglich seinen freien Abend geniessen wollen. In seiner Jobbranche geschah es selten, dass er vor Acht Uhr Abends zu Hause war – geschweige denn, dass man keine Überstunden machen musste. Also war er in seinen Wagen gesprungen und war ins Kino gefahren. Allein machte dies vielleicht nicht unbedingt Spaß. Aber der Film war gut gewesen und wen hätte er auch fragen sollen – seine Kollegen? Die alle etwas besseres zu tun hatten – oder die wenigstens Familie hatten, mit denen sie den Abend verbringen konnten. Nun, eine von ihnen zumindest. Nach dem Abspann – er sah sich Filme immer bis zum Ende an – war er aus dem Gebäude getreten und hatte sich überlegt, was nun kam – ging er in die Bar oder ins Diner? – da ertönten bereits Stimmen hinter ihm: „Stehenbleiben! Polizei! Hände hinter den Kopf – so, dass wir sie sehen können!“
 

Wie oft hatte er diesen Spruch schon gehört. Er hätte nie gedacht, dass er eines Tages derjenige sein würde, der gemeint war.
 

Vor dem Hauptquartier der Polizei Philadelphia hielt der Wagen an und die Polizisten tauschten einige Worte mit dem Pförtner. Dann öffnete sich die Schranke zum hinteren Parkplatz. Als der Wagen stand, sprangen die Männer heraus und einer von ihnen winkte ihm, ihnen zu folgen, einem Befehl, den er nur ungern Folge leistete. Andererseits -–was blieb ihm anderes übrig.

„Sind die Handschellen wirklich nötig?“, fragte er in einem letzten, eher hoffnungslosen Versuch. Er hatte recht: Die Polizisten taten einfach so, als hätten sie nichts gehört. Und er dankte den Göttern, dass es Freitag Abend war, nach 21 Uhr, und dass kaum noch Menschen im Präsidium waren.
 

Mit gesenktem Kopf, bemüht, niemandem ins Gesicht zu sehen und von niemandem gesehen zu werden, liess sich Scott Valens bis in das Büro der Mordkommission – seinem Arbeitsplatz – schleppen. Es wunderte ihn nicht, dass er hier war. Als erster Kollege kam ihm Vera entgegen – und das Gesicht des bulligen Mannes sprach Bände. Oder eher: das Grinsen, welches so breit war, dass es einem Breitmaulfrosch Ehre gemacht hätte, bestätigte seine Vermutungen.

„Sie Mistkerl!“, fauchte Scotty den Kollegen an. „Das ist also doch von Anfang an Ihre Idee gewesen!“

Seine Bewacher rissen ihn an den Handschellen grob zurück und der eine fauchte: „Halt die Klappe, du Arschloch!“

Interessanter Fall von Beamtenbeleidigung.

„Detective Vera“, sagte der Andere derweil. „Wir haben den Mann aufgegriffen, nach dem Sie heute Mittag eine Fahndungsmeldung herausgegeben haben. Wie Sie vorausgesagt haben, hat er versucht, sich zu wehren. Eine Waffe trug er nicht, aber die erwähnte gefälschte Dienstmarke. Wollen Sie ihn jetzt sofort verhören oder sollen wir ihn in die U-Haft runterbringen?“

Nick Veras Auen glitzerten.

„Lassen Sie ihn hier, Gentlemen. Gute Arbeit.“

Die zwei zogen strahlend ab.
 

Kaum waren Scottys Bewacher weg, kam wie auf Stichwort Jeffries aus dem Pausenraum, eine Pappschachtel chinesischer Nudeln in der Hand. „Ich hasse Freitagabendüberstunden! Und Valens hat sich freigenommen, dieser Mistkerl...Wen haben wir denn da?“

Mit säuerlicher Miene drehte Scotty sich um, sodass der ältere, dunkelhäutige Mann nicht nur seine gefesselten Hände, sondern auch sein Gesicht sehen konnte. „Freut mich.“
 

„Valens?“ Will konnte nicht anders, er musste ebenfalls grinsen. „Und mit Handschellen! Wobei hat man Sie denn erwischt?“

„Lachen Sie ruhig“, presste der dunkelhaarige Mann zwischen den Zähnen hervor und wünschte sich verzweifelt, Vera würde seine Fesseln öffnen, sodass niemand sonst ihn so zu sehen bekam. „Das zahle ich Ihnen heim, nur, damit Sie es wissen.“

„Ich weiß gar nicht, was er hier tut“, sagte Vera mit einem unschuldigen Augenaufschlag, der nicht einmal einen Blinden getäuscht hätte. Er drehte Scotty den Rücken zu und raschelte mit einigen Papieren. „Ich habe heute Mittag nur einen Fahndungsbefehl rausgegeben, auf einen dunkelhaarigen Mann vermutlich südamerikanischer Abstammung, Mitte 30, 1,90m. Er trägt vermutlich eine Waffe bei sich und behauptet, Polizist zu sein... Das ist so seine Masche, wissen Sie. Die Frauen kriegt er trotzdem nicht leichter rum.“

Er seufzte übertrieben.

„Ja, ja, diese Kriminellen heutzutage... Keine Achtung mehr vor der Uniform eines Polizisten.“
 

Scotty ballte die Fäuste, entspannte sie wieder und atmete tief ein und aus. Die Wut kochte in ihm wie heißes Wasser.

„Wenn Sie so freundlich wären, mir die Handschellen abzunehmen?“, fragte er gepresst. „Heute scheint das gesamte Präsidium Überstunden zu machen. Mindestens 30 Bekannte haben mich so gesehen. Das war es doch, was Sie erreichen wollten, nicht? Also machen Sie mich jetzt los.“

„Kommen Sie, Vera“, trat nun auch endlich Will für ihn ein. „Sie hatten Ihren Spaß.“

„Zu schade, dass Miller schon gegangen ist“, überlegte der Angesprochene, ohne ihnen den Rücken wieder zuzukehren. Als habe er sie nicht gehört. „Sie hätte das hier bestimmt auch lustig gefunden. Nicht so wie Rush – die versteht keinen Spaß.“

„Das tut mir furchtbar leid“, sagte Scotty. Mittlerweile war er so wütend, dass rote Schleier vor seinen Augen tanzten. Unauffällig warf er einen Blick in Richtung von Lils Schreibtisch und sah erleichtert, dass sie nicht daran saß. Das bedeutete, sie musste im Büro vom Boss sein... Ja. Und gerade in dem Augenblick, in dem er sie entdeckte, drehte sie sich um und sah ihn an. Ihre Augen weiteten sich, als sie ihn sah – erst überrascht, weil sie ihn nicht mehr erwartet hatte. Dann ungläubig, als sie sah, dass er Handschellen trug... Und dann verengten sie sich gefährlich, als ihr Blick zu Vera ging. Instinktiv duckte sich Scotty.
 

Die Tür zum Büro des Boss flog so heftig auf, dass sie Klinke gegen die dahinterliegende Wand donnerte und der Sichtschutz schepperte. Erschrocken sah Jeffries auf, Vera fuhr herum und liess vor Schreck fallen, was er in den Händen hielt.

Lilly Rush stürmte aus dem Büro ihres Vorgesetzten und hielt geradezu auf die drei Kollegen zu, einen Ausdruck im Gesicht, der die drei Männer zurückzucken liess. Wütend... Sehr wütend. Sehr, sehr wütend.

„Sie Idiot!“, fauchte sie Vera an, mit einer Stimme so hart wie Kristall und so kalt wie Eis. Sie brauchte nicht einmal laut zu werden. Irgendwie wurde der massive Mann kleiner und kleiner. „Das reicht jetzt endgültig! Jetzt sind Sie mit diesen dummen Scherzen zu weit gegangen! Männerehre schön und gut – aber ich sehe nicht mehr zu, wie Sie Scotty zum Affen machen!“
 

Ein wenig erstaunt blickte der seine Partnerin an. Er hatte sich schon Hilfe erhofft – aber längst nicht erwartet, dass sie ihn so vehement verteidigen würde...
 

„Und Sie, Scotty! Sie sollten es doch besser wissen! Wir sind bei der Mordkommission, nicht im Kindergarten, Herrgott!“

Ihr stählerner Blick durchbohrte erst ihn, dann Jeffries und zuletzt Vera.

„Lassen Sie einfach sämtliche Spielchen und arbeiten Sie stattdessen! Keine Zettel auf dem Rücken! Keine abgeschnittenen oder festgetackerten Krawatten! Kein Salz im Kaffee! Himmel – werden Sie erwachsen!“

Sie war schon wieder fast weg, unterwegs in den Pausenraum, als sie sich noch einmal umdrehte. Die Männer zuckten zusammen.

„Und denken Sie daran, dass alles, was Sie tun, auf den Boss zurückfällt!“

Mit einem letzten drohenden Blick verschwand sie im angrenzenden Raum. Scotty, Vera und Jeffries wollten schon aufatmen, da erschien ihr Kopf in der Tür. „Und jetzt machen Sie ihm endlich die Handschellen auf!“
 

„Miller hätte das sehen wollen.“ Vera starrte noch immer auf die Tür, hinter der Lil verschwunden war. Während Jeffries mit seinem Schlüsselbund herum hantierte, schüttelte Scotty wie ein begossener Pudel den Kopf. „Was hab ich denn getan?“, brummte er unglücklich. „Das hier war Ihre Schuld, nicht meine!“ Er rieb sich seine geschundenen Handgelenke und ging unfreiwillig in die Knie, als Vera ihm hart auf die Schulter schlug. „Die Eisprinzessin hat wohl einen Beschützerinstinkt entwickelt“, grinste er anzüglich. „Da liegt was in der Luft, Valens!“

„Ich würde es eher einen Besitzerinstinkt nennen, Vera“, erklang Lils Stimme dicht hinter ihnen und sie fuhren erschrocken zurück. Diesmal hatte sich die blonde Frau so leise angeschlichen, dass sie nicht gehört hatten, dass sie direkt hinter ihnen stand.

„Besitzerinstinkt?“, wiederholten die drei Männer bedröppelt.

Aber da war Lil schon wieder weg, mit zwei Tassen Kaffee auf dem Weg zurück ins Büro des Bosses.
 

„Besitzerinstinkt?“

Ratlos starrten sie sich an.

„Ich glaube, sie will damit sagen...“, begann Scotty langsam. „Sie will sagen, dass nur einer von uns Sie so behandeln darf, Scotty, und das sind nicht wir“, unterbrach Jeffries ihn und grinste. „Wer denn sonst?“, fragte der in einem Anfall von Begriffsstutzigkeit. Vera lachte. „Tja, Valens. Machen Sie sich auf was gefasst.“
 

Dann leuchteten seine Augen auf.

„Wow – war das gerade ein Scherz? Von Rush? Miller wird so wütend sein, wenn sie hört, was sie verpasst hat!“
 

Anmerkung
 

Anspielungen auf die Folge, in der Scotty und Jeffries Vera die Krawatte abschneiden und die Folge, in der er sich rächt - meiner Meinung nach zu genüge. Allerdings kennen wir ja Männer - sie können nie aufhören...
 

Langsam fange ich an zu akzeptieren, dass sich CC nicht mehr länger um Lil und Scotty dreht, sondern um Lil und alle anderen. Bei einer Wiederholungsfolge, die ich mir gestern angeschaut habe ("Per Anhalter in den Tod", muss so 1. oder 2. Staffel gewesen sein) sind tatsächlich eine ganze Folge lang nur Lil und Scotty zusammen unterwegs! Und sie reden noch miteinander.

Das Traurigste, was ich mir vorstellen kann, ist eine Serie, die aufgrund variabel gestalteter Drehbücher den Rahmen verliert - wenn man versteht, was ich meine. Klar geht es in CC um die Gerechtigkeit für Tote, deren Fall noch nicht aufgeklärt wurde - aber wenn es nur um die Fälle ging, gäbe es weniger Fans der Charaktere als Fans der Drehbuchschreiber und weniger Fanfictions über Krimifälle als über Lil und Scotty... Und dann könnten wir die beiden auch gleich völlig aus dem Programm nehmen. Dann würde man sehen, dass nur noch die Hälfte aller Einschaltquoten da sind, denn es geht nun einmal um Lil und Scotty...

Ach, das macht traurig.
 

Nur - hoffen tue ich jede Woche auf eine neue, bessere Folge. Leider habe ich die leise Ahnung, dass Scotty sich bald eine neue Freundin sucht... So gesehen wirds Zeit. Und was auch immer ein Paul Cooper ist - vielleicht bringt er mal wieder Spannung in den Plot. Auf die nächsten Folgen - solange sie nicht wegen Pfingsten, Christi Himmelfahrt und Co wieder ausfallen. Isa

Cold Case - Herbst. Next To You

„Wie bitte?“

Scott Valens betrachtete seine Partnerin, die sich neben ihm über den Schalter der Rezeption lehnte. Zu ihren Füßen stand eine Tasche – ihr gesamtes Gepäck für eine Anzahl von Tagen, die sie selbst noch nicht genau wussten – und auf dem Schalter lag ihre Jacke. Es war warm in der Empfangshalle des Hotels, warm trotz Herbstbeginn. Und das gedämpfte Licht der Nachtbeleuchtung zeichnete die Ringe unter ihren Augen nach.

„Tut mir leid“, sagte der nicht mehr ganz junge Rezeptionist peinlich berührt. „Da muss ein Fehler vorliegen. Aber wir haben keine anderweitigen Zimmer verfügbar. Wie Sie sicher wissen, findet in dieser Woche in nächster Nähe ein Kongress der Weltgesundheitsorganisationen statt, und nicht nur wir sind völlig ausgebucht...“

Während seine Worte verhallten, gelang es Scotty endlich, seinen Blick von Lil zu lösen und es dämmerte ihm, warum der Mann vor ihnen gerade beinahe im Erdboden versank.

„Soll das heißen, Sie haben nur noch ein Zimmer frei?“, fragte er ungläubig. Der Mann wand sich.

„Als man anrief, um für Sie zu reservieren, sagte man uns lediglich „Für zwei Personen““, verteidigte er sich. „Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie nicht... Nun ja... Nicht...“

Scotty hätte gerne noch weiter zugesehen, wie der Mann rot anlief und nach Worten suchte, hätte ihn gerne noch weiter zappeln lassen und es genossen. Aber Lil war ein besserer Mensch als er. Während sie sich erneut mit dem Fehler des Hotels auseinandersetzte, driftete sein Blick ab und zu der Zeitung, die ebenfalls auf dem Counter lag: Klatsch und Tratsch und Finanzmarktkrisen wo man hinsah.

„Da kann man nichts dran ändern“, sagte Lil und hob ihre Schultern in einer Geste, die typisch für sie war. Dann wandte sie sich an ihn. „Scotty?“

„Was?“ Schnell blickte er sie wieder an, aber sie hatte seine Abwesenheit bereits bemerkt und ihre Brauen wanderten in Richtung des Haaransatzes.

„Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn...“

Begriffsstutzig starrte er sie an. „Wenn was?“

„Wenn wir uns ein Zimmer teilen? Es ist zu spät, um ein anderes Hotel zu suchen, und dann ist da noch der Kongress...“

„Wie bitte? Ein Zimmer teilen – ach so. Nein, natürlich nicht. Warum? Ich meine, wir sind... Sie und ich sind nicht...“

Selten war er sich so dämlich vorgekommen. Wirklich selten. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er sich das letzte mal in einem solchen Maße dämlich gefühlt hatte. Und die Erleichterung und der gewisse Grad an Amüsement, welcher im Gesicht des Rezeptionisten zu lesen war und das Lächeln, welches sich auf Lils Gesicht ausbreitete, machte die ganze Situation auch nicht besser.

„Wir nehmen das Doppelzimmer“, wandte sich seine Partnerin an den Mann, der sofort anfing, auf die Tastatur seines Computers einzuhämmern.

„Wunderbar! Natürlich werden Sie die Unannehmlichkeiten erstattet bekommen. Vermutlich würden Sie unter diesen Umständen wirklich kein Zimmer mehr im Umkreis von 30km bekommen... Sie haben Nummer 16, 2. Stock. Die Schlüssel, bitte sehr... Frühstück ist im Preis mit einbegriffen, auf diesen Service sind wir stolz. Es ist ab 7 Uhr 30 im Salon serviert. Falls Sie...“

Der Redeschwall schien niemals zu versiegen. Lil schien das nicht zu stören: sie lächelte und nickte, nickte und lächelte, nahm die Schlüssel entgegen und unterschrieb den Vertrag für den Zimmersafe. Scotty wurde abgelenkt von den Reflexionen, die selbst das gedimmte Licht auf ihren goldblonden Haaren entstehen liessen, und blendete alles andere aus. Als Lil ihm die Schlüssel entgegenhielt und seinen Namen sagte, fuhr er erschrocken auf.

„Nur für eine Nacht erstmal, Scotty“, sagte sie in einem fast ermunternden Tonfall. Als wolle sie sich für etwas entschuldigen, was nicht ihre Schuld war. Seufzend nahm er den Schlüssel, schob ihn in seine Hosentasche, packte ihre Tasche, bevor sie danach greifen konnte, und folgte ihr, als sie munter durch das Foyer zum Aufzug stapfte, ganz so, als sei sie frisch und munter und nicht schon seit 14h wach und unterwegs. Woher nahm diese Frau ihre Energie.
 

Immerhin.

Für seine Preiskategorie (Hatte Nick ihn ärgern wollen, als er ein Zimmer für sie beide reserviert hatte? Das würde eine Menge erklären) schien das Hotelzimmer auf den ersten Blick gut eingerichtet. Ein breites Bett mit blütenweißen Bezügen prangte in der Mitte des Raumes. Die Nachttischlampe spendete weiches Licht. Zwei bequem wirkende Sessel, denen man ihr Alter nicht ansah, umstanden einen Tisch aus Kirschholz, auf dem ein kleines Blumenarrangement thronte, und durch das halboffene Fenster strich ein sanfter Abendwind. In der Ferne rauschten Autos vorbei. Schliesslich war das Bild also nicht ganz zu entsetzlich perfekt.

Lil liess ihre Tasche schwungvoll auf einen Sessel plumpsen und drehte sich im Kreis, um das Zimmer zu begutachten.

„Ist doch gar nicht so übel“, sagte sie zufrieden und mehr zu sich selbst als zu ihm. „Hmpf.“ Scotty schloss die Tür hinter sich und stapfte zum Badezimmer, um einen Blick hineinzuwerfen. Er fand nichts, worüber er sich hätte beschweren können, und drehte sich wieder um. In der Zwischenzeit hatte seine Partnerin sich ihrer Schuhe entledigt und war dabei, ihren Kulturbeutel aus ihrer Tasche zu graben. Sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ein Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch bestätigte das bleierne Gefühl der Müdigkeit, welches sich in seinen Gliedern ausbreitete: Lange nach Mitternacht.

„Gehen Sie zuerst ins Bad?“

Lil warf ihm einen fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf und raffte seinen Resthumor zusammen. Es wurde mit dem letzten Stück Höflichkeit serviert.

„Bitte – Ladies first.“

„Vielen Dank.“ Mit ihrem Beutel in der einen, ihrer Tasche in der anderen Hand verschwand sie in Richtung des Bads, ein Lächeln auf den Lippen. „Lil!“ Ihr Name kam ihm über die Lippen, ehe er genauer darüber nachdenken konnte. Seine Partnerin blieb im Türrahmen stehen und blickte ihn über ihre Schulter an.

„Ja?“

Das ewige, immerwährende Lächeln, welches ihn morgens im Büro begrüßte und ihn Abends verabschiedete. Und ihn zwischenzeitlich überallhin begleitete. Normalerweise liebte er es. Heute hätte er es ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt wie Kreide mit einem nassen Schwamm von einer Tafel, hatte am liebsten etwas gesagt, irgend etwas, was es verschwinden liess. Sie waren seit Tagen an diesem Fall, seit 15 Stunden wach und seit 14 Stunden unterwegs. Wie konnte sie immernoch lächeln und so aussehen, als würde ihr der ganze Stress nichts ausmachen? Lils blaue, eisblaue Augen musterten ihn abwartend, warteten darauf, dass er etwas sagte.

„Ähm... Sind Sie nicht müde?“

Ihre Stirn runzelte sich ein wenig. „Müde? Warum fragen Sie?“ Ja, genau. Warum fragte er überhaupt. „Nun, Sie sehen... Wir haben eine lange Woche hinter uns, deshalb dachte ich... Deshalb habe ich gedacht...“

Er konnte förmlich sehen, wie ihre Ironie hinter der unbewegten Fassade einsetzte: Wahrscheinlich haben Sie gar nicht gedacht, Scotty. Er zermarterte sich das Hirn nach einem vernünftigen Ende. Was ist nur in dich gefahren, Valens? Aber Lil lächelte nur erneut. Fast hätte er aufgeseufzt: Sie trieb ihn in den Wahnsinn. Ein Arbeitstag an ihrer Seite, 8 Stunden, gut, das hielt er aus. Jetzt waren es schon über 24 Stunden mit ihr und er spürte die Folgen. Und mittlerweile war es nicht nur die pure Müdigkeit.

„Müde, Scotty... Was denken Sie?“

Die Tür schloss sich leise hinter ihr. Mit einem Stöhnen liess er sich rücklings auf das Bett sinken und schloss die Augen. Was er dachte? Er dachte, sie würde ihn in den Wahnsinn treiben... Und jetzt teilte er sich ein Zimmer mit ihr. Zwei Zimmer nebeneinander, das war gut. Ein Schreibtisch, das war in Ordnung – da war immernoch eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Aber nun... Um Gottes Willen. Mit Lil zu arbeiten war etwas ganz anderes, als mit Lil allein zu sein. Sie war seine Partnerin, sie war gut in ihrem Job, sie wusste, worauf es ankam und konnte ohne zu zögern tun, was getan werden musste. Das war seine Partnerin, und er konnte sich keine bessere vorstellen. Aber momentan war er müde und erschöpft und Lil war... Lil war eine intelligente und attraktive Frau.

Das Eingeständnis hatte seine Folgen. Was erwartete sie von ihm? Dass er diese Tatsache einfach ignorierte, um ein Uhr Morgens, nach einem solchen Tag? Sie war... Gott, er war müde. Nur nicht müde genug, um sich nicht völlig bewusst zu sein, dass sie wieder den Raum betrat, als sie nach zehn Minuten in einem Top und einer lockeren Jogginghose aus dem Bad kam und einen sanften Duft nach Seife und Creme mit sich brachte. Während er sich aufrappelte, ging sie um das Bett herum und liess sich elegant auf die andere Seite sinken. Scotty hätte sie noch lange anstarren können und war sehr froh, dass sie dies nicht zu bemerken schien, als sie ihr Telefon vom Nachttisch nahm. Schnell riss er seinen Blick los und entkam ins Bad. Aber selbst das kalte Wasser, welches er sich ins Gesicht spritzte, konnte ihn erfrischen. In einem Zwischenstadium zwischen völliger Erschöpfung und nervöser Hypersensibilität lugte er nach einiger Zeit aus der Tür – und fand Lils amüsierten Blick direkt auf ihn gerichtet. Ertappt zog er den Kopf zurück, trat völlig aus dem Bad und durchquerte in großen Schritten das Zimmer. Seine nackten Füße tappten über den Boden. Schnell lies er sich auf das Bett fallen und zog die Decke bis zur Brust hoch. Schon im Bad hatte er der Vorsehung gedankt, die ihm eingegeben hatte, ein T-Shirt einzupacken... Lil, auf ihrer Seite des Bettes – so weit von ihm entfernt, wie es ging, und trotzdem noch viel zu nah – lachte leise auf.

„Ach, Scotty.“

„Was?“, fragte er defensiv.

Das Lächeln verschwand und für eine Sekunde war er dazu in der Lage, hinter ihre ruhige Fassade zu schauen. Und er sah eine erschöpfte, müde Lil, die die geringe Hoffnung auf Erfolg, welche sie im Bezug auf die Wirksamkeit ihrer Suche noch gehegt haben mochte, beinahe schon völlig verloren haben zu schien.

Erschrocken richtete er sich halb auf.

Er hatte sich gefragt, wie er ihr Lächeln würde vertreiben können, wie er sie dazu bringen könnte, endlich eine halbwegs menschliche Reaktion zu zeigen, um herauszufinden, was dahintersteckte, aber das...

Es übertraf seine Erwartungen und schockierte ihn zutiefst. Eine Lil, die keine Hoffnung mehr hatte? Die aufgab? Unmöglich.

Aber schon war der Ausdruck wieder verschwunden, so schnell, dass der Zweifel in ihm aufkeimte, dass er sich alles nur eingebildet hatte.

„Lil...“ Er streckte hilflos die Hand aus.

„Gute Nacht, Scotty“.

Das Licht erlosch auf ihrer Seite, ihre Stimme klang normal. In der Dunkelheit konnte er hören, wie sie in die Kissen zurückrutschte. Still saß er da. Und als sie nichts weiter sagte, sank auch er zurück.

„Gute Nacht.“
 

Mitten in der Nacht – vielleicht vier oder fünf Uhr Morgens – wurde Scotty wach, weil irgend etwas nicht in Ordnung war. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, wo er war: in einem Hotelzimmer irgendwo am Arsch der Welt – zusammen mit Lil. Und dann noch einige Sekunden, bis er verstand, was ihn geweckt hatte: Lil neben ihm warf sich unruhig von einer Seite auf die andere. Blaues Mondlicht filterte durch die dünnen Vorhänge und beleuchtete ihre verzerrten Züge auf eine gerade zu gespenstige Art und Weise. Mit klopfendem Herzen setzte Scotty sich auf und berührte sie vorsichtig am Arm: sie war eiskalt.

„Nein“, stöhnte sie leise und warf sich herum. „Nein... Nein!“

Sie hatte einen Alptraum. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, ihre Augen waren fest zusammengepresst und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Immer wieder und wieder warf sie sich herum, lag für Sekunden still, nur um dann erneut aufzuschrecken. Ihr Kopf bewegte sich unruhig auf dem Kissen, ihre blonden Haare lagen offen und verzettelt neben ihm. Ihr Gesicht verzog sich, als würde sie weinen wollen.

„Nein! Bitte nicht...“

Sollte er sie wecken? Wahrscheinlich würde sie es ihm geradezu übel nehmen – so, wie er sie kannte. Trotzdem – weil ihre offensichtliche Qual ihm ins Herz schnitt – beugte er sich über sie und flüsterte leise ihren Namen.

„Lil...“

„Nein!“

Sie hörte ihn nicht. Aber ihr Körper verkrampfte sich, wenn nur irgends möglich, noch mehr.

„Lil?“, sagte er, diesmal lauter, und fasste sie vorsichtig an einem Handgelenk. Es war so dünn, dass seine Hand es vollständig umfassen konnte. „Lil! Wachen Sie auf!“

„NEIN!“

Lil fuhr hoch, die Augen weit aufgerissen, und entriss ihm im selben Moment ihre Hände. Blind starrrte sie Scotty an, der instinktiv zurückgewichen war – ihr ganzer Körper strahlte Kampfbereitschaft aus. Ihr gesamter, zerbrechlicher Körper schrie Fass mich nicht an!.

„Lil? Alles in Ordnung?“

Ihr Brustkorb hob und senkte sich in heftigen, unregelmäßigen Stößen, als sie langsam zu Bewusstsein kam und ihn erkannte. Kaum war in ihren Augen ein Zeichen des Erkennens aufgeflackert, hatte sie sich jedoch schon wieder von ihm abgewandt und drückte die Bettdecke so fest an sich, dass ihre Knöchel weiß anliefen.

„Lil...“, fragte er erneut sanft. Sie reagierte wieder nicht, sondern zog nur ihre Knie zu sich und umschlang sie mit ihren Armen, als wolle sie sich selbst umarmen, machte sich so klein wie möglich und starrte weiter in die Dunkelheit vor dem Bett. Auf Scotty wirkte sie mit einem Mal nicht mehr wie die starke, ruhige Lil, die er kannte, sondern wie ein kleines, verängstigtes Mädchen, dem Angst und Qual so deutlich ins Gesicht geschrieben standen, dass es Scotty beinahe körperliche Schmerzen bereitete, sie anzusehen.

„Lil.“ Vorsichtig berührte er sie an der Schulter: Sie zitterte noch immer. „Was ist los?“

„Nichts.“ Ihre Stimme klang abweisend. Ihre Haltung schrie noch immer Anfassen verboten, aber auf einmal erschien ihm die Warnung deutlich leiser als zuvor. Scotty zögerte. Es gab zwei Arten, wie sie reagieren würde, wenn er in die Tat umsetzte, was er vorhatte: Sie könnte zurückweichen, ihm einen (wahrscheinlich wohlverdienten) Schlag versetzen und würde dann einige Tage ihm gegenüber zur Eisprinzessin werden. Die andere Möglichkeit war, dass sie nichts davon tat, und nur... Er überlegte nicht weiter, sondern rückte herum, setzte sich auf und schlang seine Arme vorsichtig um seine Partnerin.
 

Ein Mensch, der nicht getröstet werden will, kann auch nicht getröstet werden. Ein Mensch, der nicht umarmt werden will, kann auch nicht umarmt werden, und das wird an seiner gesamten Gestalt zu sehen sein.

Zuerst versteifte sich Lil.

Jede Faser ihres Körpers schien sich gegen ihn auflehnen zu wollen, er rechnete damit, dass sie ihn beiseite stoßen würde, dass sie ihn anschreien würde, dass sie zurückweichen und nicht zulassen würde, dass er ihr zu Nahe kam. Es war die Eisprinzessin, waren ihre Instinkte, die sich gegen die plötzliche Nähe auflehnten, ihn wegstoßen wollten, und er versteifte sich unwillkürlich. Und dann...

Dann entspannte sich Lil. Oder gab auf.

Ihr Körper wurde weich und nachgiebig und schmolz gegen seinen, die Feindseligkeit verliess sie mit einem Aufschluchzen und sie schlang ihre Arme um seinen Hals, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und hielt sich zitternd an ihm fest, als könne sie ohne ihn nicht mehr atmen. Scotty blickte in die Halbdunkelheit über ihrem Kopf, spürte sie zittern und roch den sanften Duft ihrer Haare – Vanille – und hielt sie fest, während die krampfhaften Schluchzer langsam verebbten, bis ihr Körper aufhörte zu zittern und ihr Herzschlag sich beruhigte. Er hielt sie fest, während ihr Atem langsamer wurde und ihre Arme sich so gering lockerten, dass er annahm, dass sie langsam wieder einschlief, und liess sich mit ihr zusammen rückwärts sinken, bis sie wieder lagen. Vorsichtig schob er einen Arm unter ihren Kopf und betrachtete im Dämmerlicht ihr schlafendes Gesicht, verweint und trotzdem irgendwie entspannt.

Scotty lag mit offenen Augen da und lauschte ihren Atemzügen, spürte Lil neben sich und bewachte ihren Schlaf. Erst, als die Digitaluhr Sechs Uhr Morgens anzeigte, rückte er vorsichtig – vorsichtig, um sie ja nicht zu wecken – von Lil ab, atmete das letzte Mal den Duft ihrer Haare ein und entfernte sich dann endgültig von ihr. Obwohl er nicht viel geschlafen hatte, verspürte er eine merkwürdige Ruhe, wenn er Lils schlafende Gestalt betrachtete. Lil atmete ruhig weiter, während er sich aus dem Bett rollte und zum Fenster ging.

Die Sonne würde noch etwas länger nicht aufgehen, aber bis dahin reichte ihm das Licht einer Straßenlaterne vor dem Fenster. Abwesend betrachtete er die leere Straße vor sich, die Arme vor der Brust verschränkt.

Sie fühlten sich merkwürdig leer an ohne Lils weiche, zusammengekauerte Gestalt. Direkt neben ihr - und doch so weit entfernt.
 

Nachwort
 

Nein, ich bin nicht sadistisch veranlangt und habe keine Freude daran, Lil und Scotty auf keinen Fall zusammenkommen zu lassen! *lach* Aber es ist nun mal Tatsache, dass nichts passiert. Irgendwer schrieb auf fanfiction.com, dass er ungern Pärchen aus Serien kreieren würde, welche in der Serie an sich nur gute Freunde sind. Die Begründung: man sieht so selten wirklich schöne, echte Freundschaft. Hier ist das anders - meiner Meinung nach. Lil ist ruhelos, gejagt, und nur wenig bringt ihr echten Frieden, besonders nicht ihre Affären... Sie ist eine Person, die ihr Leben lang nur rennt und nicht weiß, wie man langsam geht. Momentan fühle ich mich genauso. Gut für Lil, dass sie Scotty hat, den sie eigentlich immer um Hilfe bitten kann. Sie sollte es tun - mein kleiner Tipp an sie!

Man fragt um Hilfe.

Anstatt alles in sich hineinzufressen. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Dafür wurden wir nicht geschaffen.

Bis zum nächsten Mal!

Cold Case - Winter. Endstation

„Sir? Sir! Wachen Sie doch auf!“
 

Jemand rüttelte ihn an der Schulter.
 

„Hören Sie mich? Wachen Sie auf, Sir!“
 

Mühsam öffnete Detective Scott Valens die Augen und blickte in das rotwangige Gesicht eines korpulenten Schaffners mit hellen Haaren. An ihm wirkte die dunkle Uniform der Beamten wie eine Verkleidung und im Licht der gedämpften Neonleuchten sah seine Haut unappetitlich grün aus. Verärgert starrten zwei wasserblaue Augen – verwässertes Blau – ihn an.
 

„Sir, ich muss Sie bitten, nun auszusteigen. Meine Schicht ist zu Ende und auf dieser Strecke fährt heute Abend kein Zug mehr. Ich muss die Bahn ins Depot bringen.“
 

Nur langsam drang der Sinn der Worte überhaupt zu ihm hindurch. Während sein Verstand mit den Worten kämpfte, deren Bedeutung ihm nur langsam aufging, hob er eine Hand und sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Die normalerweise dagewesen wäre, es heute jedoch nicht war. Lautstark protestierten zu lange unbenutzte Muskeln gegen ihre Vergewaltigung. Warum fühlte er sich so zerschlagen?
 

Ach ja.
 

3 Uhr Nachts.
 

„Welche... Wo sind wir hier?“, fragte er und musste sich räuspern, um seiner vernachlässigten Stimme wieder einen halbwegs normalen Klang zu verleihen.

„St. Andrey`s Cross, Ecke Wagner Ave. Ist alles in Ordnung? Kommen Sie klar?“
 

Nur schwer. Nur langsam.

Scotty stand auf.

Sein gesamter Körper fühlte sich an, als sei er zerschlagen worden – ja, der Vergleich passte. Aber er wollte nicht daran denken – wollte gar nichts mehr denken. Sich einfach nur noch hinlegen und liegenbleiben.

St. Andrey`s Cross?

Er war vermutlich sehr, sehr weit weg von seiner Wohnung. Tatsächlich wusste er nicht einmal, wo in Philadelphia genau er sich befand.
 

Der Grad der Verärgerung auf dem Gesicht des Schaffners stieg, wenn überhaupt möglich, noch weiter.
 

Der Mann wollte nur nach Hause, rief er sich ins Gedächtnis. Er machte nur seinen Job. So wie er selbst auch.
 

„Das geht schon“, sagte er daher und räusperte sich noch einmal. Überraschend schoss der Schmerz durch seine Brust. Nein, nicht Schmerz. Etwas anderes.

„Vielen Dank, Sir. Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.“
 

Im Gesicht des Mannes vor ihm, der ihn absurderweise an seinen Onkel Joffre erinnerte, der ihn als Junge immer ausgeschimpft hatte und der als erbitterter, einsamer Mann gestorben war, spiegelten sich Misstrauen und Erleichterung in Einem.

Erleichterung, weil dieser merkwürdige Fahrgast vor ihm weder besoffen noch bekifft war und anscheinend keinen Ärger suchte.

Misstrauen – denn was tat ein Mann im dunklen Anzug, der geradezu nach Büro roch, zu dieser Nachtzeit in einer Bahn? Und warum stand er auf, als sei sein gesamter Körper ein einziger blauer Fleck?
 

„Ich öffne Ihnen die Tür“, sagte er deshalb nur und verschwand grußlos im nächsten Wagen. Die Tür zischte. Der Bahnhof stank nach Zigarettenrauch und Urin.

Scottys Schritte hallten laut zwischen den leeren Wänden wider, bemalt und gekritzelt mit jeder Menge unlesbarer Textnachrichten. Immerhin erreichten diese Nachrichten jemanden. Einmal, als er zwölf Jahre alt gewesen war, hatte er einen langen Brief geschrieben und ihn an eine willkürliche Person aus dem Telefonbuch geschickt. Er hatte sogar eine Antwort erhalten. Noch zwei Briefe hatte er mit der alten Frau ausgetauscht, dann hatte er nie wieder etwas von ihr gehört. Vermutlich war sie gestorben.
 

Eine einzige Straßenlaterne beleuchtete die Straße, als er aus dem dunklen Schacht trat. Sogar das rote U auf dem Schild blitzte nur noch schwach, der Querstrich baumelte leblos und dunkel herunter. Ziellos setzten sich seine Füße in Bewegung und begannen zu laufen. Er war immer gerne gelaufen, selbst, wenn es dunkel war.

Abrupt blieb er stehen, als er die Straße erkannte. Er hätte sie überall erkannt.
 

Die hellblaue Haustür mit dem weißen Kranz daran lag im Schatten. Scotty Valens wusste genau, wie sie aussah. Ein Schimmer drang aus dem Inneren des Hauses durch die milchigen Glassteine neben der Wand. Oder bildete er sich diesen Schimmer nur ein? Die Lampe auf der anderen Seite der Straße flackerte. Der Schimmer flackerte ebenfalls.
 

Ohne wirklich zu wissen, was er tat und was er vorhatte, trugen seine Füße ihn weiter.
 

Anmerkung

Depri.

Depri.
 

Ich weiß!

Allerdings muss ich sagen, dass ich diesen text eine Weile her geschrieben habe und ich mich momentan absolut nicht niedergeschlagen fühle. Mir gehts gut! Leider gilt das nicht für Scotty, wie mir scheint... Ich hoffe, es geht ihm bald besser...
 

Ich hoffe, euch gehts gut!

Cold Case - Winter. Harder not to try

Disclaimer: Cold Case gehört weder mir noch bekomme ich Geld für diese Geschichte. Gehörte es mir, würden sämtliche Kites, Rays, Josefs und Saccardos hinter dem Mond verschwinden.
 

Titel: Textzeile aus einem Lied von Reamonn, "Aeroplane"
 

Hi! Es ist lange her... Sorry, ich war im Urlaub. Hab aber wieder ein paar neue Ideen mitgebracht^^ Diesmal sind Kat und Nick dran. Viel Spaß beim Lesen!
 

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Aufgeben wäre wahrscheinlich einfacher, dachte Detective Nick Vera und starrte auf den Teller auf dem angrenzenden Schreibtisch, ohne zu sehen, was sich darauf befand. Das schien ihm in letzter Zeit häufiger zu passieren: Seine Gedanken schweiften einfach ab, ohne Grund, ohne Ziel.

Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren, keinen Zweck zu versuchen, seinen Kopf mit anderen Dingen zu beschäftigen, denn immer wieder sprang das selbe Bild ihn von Neuem an.

Was auch immer er gerade tat: Ob er unterwegs auf einem Einsatz war, zu Hause vor der Glotze hockte oder an seinem Schreibtisch vor Aktenbergen brütete. Das Bild war mittlerweile so stark in ihm verankert, dass er es auf der Innenseite seiner Lider sehen konnte, wenn er blinzelte – oder wenn er die Augen schloss.
 

Wann hatte dieser Wahnsinn eigentlich angefangen?

Er konnte sich nicht daran erinnern. Aber seitdem floss die Zeit zäh wie Kaugummi. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand: 11 Uhr und 27 Minuten. Noch eine Stunde bis zur Mittagspause... Und danach würde es nicht besser werden, eher noch stärker wieder beginnen. Und die Zeit verging quälend langsam.

Ärgerlich über sich selbst packte er den begonnenen, halb ausgefüllten Bogen Papier vor sich, knüllte ihn zu einer festen Kugel zusammen und feuerte ihn in Richtung des Papierkorbs ab. Er traf einige Zentimeter daneben, trotz günstiger Ausgangslage und kaum Wind, fluchte, ignorierte die anklagenden Beweisstücke auf dem grauen Teppichboden jedoch und begann, den Bogen ein zweites Mal auszufüllen. Ja – wann hatte es angefangen? Als er noch verheiratet gewesen war, war er so gut damit klargekommen. Damals hätte eine so lächerliche Sache ihn nicht dermaßen aus dem Konzept gebracht, ihn nicht so verunsichert, dass er sich nicht einmal traute, Kat – Miller – anzusprechen. Aber seit er geschieden war, war alles anders. Himmel noch einmal, er würde doch den Mund zu solch einer einfachen, schlichten Frage öffnen können? Fragen kostete bekanntermaßen nichts und sie würde ihm schon nicht den Kopf abreißen. Dennoch traute er sich nicht einmal, den Blick in Richtung seiner dunkelhäutigen und dunkelhaarigen Kollegin zu werfen, die konzentriert mit zwei Fingern auf der Tastatur von Rushs Computer herumtippte. Wenn die Eisprinzessin der Mordkommission erfuhr, dass sich ihre Freundin an ihrem persönlichen Computer zu schaffen gemacht hatte... Er konnte sich ja viel vorstellen. Gerade in dieser speziellen Situation und in seiner speziellen Verfassung war Nick Vera geneigt, sich sehr viel vorzustellen... Aber er wollte sich nicht vorstellen, wie Rush in die Luft ging.
 

Trotzdem schwieg er und tat so, als ob er Miller nicht sehen könnte. Ungeachtet der Vorstellungen jedoch, die sein Kopf sich machte – nicht mehr daran zu denken – liess sein Körper jedoch ein leises Stöhnen entweichen. Nick sackte in sich zusammen. Er wusste, er sollte sich so etwas nicht wünschen. Es war weder gut für ihn noch... Ach, Scheiss drauf. Es war einfach nicht gut. Man sah ja oft genug, wo so etwas hinführte... Seufzend zerknüllte er auch diesen Bogen. Das Knäuel gesellte sich zu seinem Vorgänger am Boden neben dem Papierkorb. Er hatte Gedacht, diese Gedanken einfach aufzugeben würde einfacher sein, als sich ständig damit herumquälen müssen. Aber jetzt stellte sich heraus, dass Aufgeben schwieriger war als es zu Versuchen, oder zumindest als sich vorzustellen, was geschehen könnte, wenn er es versuchte. Aufgeben war schwieriger als sich vorzustellen, was wäre, wenn er den Mut aufbrächte... Denn immerhin bestand die Möglichkeit, egal wie Minimal, dass sie nicht nein sagen würde.

Erneut seufzte er leise.
 

„Vera!“

Erschrocken fuhr er auf. Kat saß noch immer an Rushs Schreibtisch und hielt die Augen geradeaus auf ihren Bildschirm gerichtet – anscheinend war sie über etwas Interessantes gestolpert. Aber sie hatte ihn gemeint.

„Ja?“ Ertappt blickte er hinüber und versuchte mit dem Fuß, den Müll neben dem Papierkorb unter seinen Schreibtisch zu schieben, aber sie sah ihn nicht an.

„Das ist ja mitleiderregend, wie Sie vor sich hinleiden.“ Ihre Stimme wurde spürbar sanfter. „Jetzt nehmen Sie sich schon das letzte Stück Kuchen.“

Cold Case - Sommer. Kein Happy End für Cinderella

Es gab nur wenige Dinge, denen Lilly Rush mit ähnlich gemischten Gefühlen entgegensah wie dem jährlichen Sommerball der Philadelphia Police.

Aber wie es im Leben so ist mit Dingen, denen man mit Unbehagen entgegensieht: sie kommen schneller, als man sie erwartet. Und ihnen zu entkommen ist so gut wie unmöglich.
 

„Sie sehen gut aus, Lil“, begrüßte sie John Stillman mit seiner typischen, beruhigenden Zurückhaltung und reichte ihr den Arm, um sie in den Saal zu begleiten.

„Danke“, antwortete sie. In den Spiegeln des Foyers, in welchem sich die glänzenden Lichter der Kristalleuchter widerspiegelten, konnte sie ihr eigenes Abbild sehen: eine hochgewachsene Gestalt in einem nachtblauen Abendkleid, eine Stola um die Schultern und eine dünne, fast unsichtbare Kette um den Hals. Ihre Haare hatte sie schlicht hochgesteckt – einfach, um sie aus dem Nacken zu bekommen.

„Hey, Lil!“, rief Kat Miller ihr von der Seite ihres Kollegen, Nick Vera, aus zu.

„Sind Sie schon wieder gewachsen? Man sollte es Ihnen verbieten, dermaßen hohe Schuhe zu tragen! Da kommt man sich ja wie ein Zwerg neben Ihnen vor...“

„Sie sind ja nur eifersüchtig“, murmelte Vera in seinen steifen Kragen und erntete einen Rippenstoß. Lil musste lächeln: Das war Kat. Lebendig, spöttisch und direkt.

„Hey, Kat“, gab sie zurück und betrachtete ihre Freundin.

„Schönes Kleid!“

„Danke“, sagte die geschmeichelt. Tatsächlich stand ihr das weiße Kleid hervorragend. Es harmonierte mit ihrer schokoladenbraunen Haut- und Haarfarbe und liess ihre Augen leuchten. Sie und Will schlossen sich Lil und John an, als sie langsam den Saal betraten.

Menschenmassen.

Leise Musik im Hintergrund.

John führte sie zu einer relativ leeren Stelle an der südlichen Wand, direkt vor der großen, verglasten Fensterwand, welche den Blick auf einen durch einige Laternen erleuchteten Balkon freigab. Es war spät. Die Sonne war bereits untergegangen und hatte die Welt der Dunkelheit ausgeliefert – zumindest kam es Lil so vor.

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie auf der anderen Seite des Saales Scotty erkennen, der neben einer eleganten Frau in einem weinroten Abendkleid stand uns ein Champagnerglas leicht schwenkte. Alexandra Wie-hieß-sie-gleich?, die Staatsanwältin, in deren Begleitung Scotty heute da war – oder war eher sie in seiner Begleitung? – unterhielt sich angeregt mit Will Jeffries, der so aussah, als wollte er am liebsten unsichtbar sein. Nicht einmal der Mann, der im Laufe seines Lebens schon viele Frauen gesehen hatte, schien sich in seiner Haut wohl zu fühlen, wenn Scotty seine Freundinnen mitbrachte. Lil kannte das Gefühl – und hatte gelernt, es in den Jahren zurückzudrängen. Es trat in den Hintergrund, weil diese Bälle zu ihrer Arbeit dazugehörten.

„Sollen Wir?“, fragte John sie und sie bemerkte, dass die Musik sich zu einem Walzer verändert hatte.

„Bitte.“

Lächelnd reichte sie ihm ihre Hand.
 

Walzer.

Traditionell, schnell, tausendmal geprobt. Ungefährlich – solange man einen guten Partner hatte. Darum brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. John Stillman forderte sie pflichtschuldig jedes Jahr zum Eröffnungstanz auf. Warum er es tat, das hatte sie noch nicht herausfinden können, aber sie war dankbar dafür. Er war ein guter Tänzer. Er war ein guter Vorgesetzter. Und sie hatte schon lange damit aufgehört zu denken, dass er für sie nur ein Vorgesetzter war. Hätte sie einen Vater gehabt – sie hätte sich gewünscht, dass es ein Mann wie John Stillman gewesen wäre.

Der zarten Melodie folgend, schwebten sie durch den Raum. Immer war dieser Tanz ihr erster und ihr letzter Tanz für den Abend gewesen.

Wie jedes Jahr hatte sich Lil auch dieses Jahr vorgenommen, sich zu amüsieren. Es konnte doch nicht so schwer sein. Wie jedes Jahr sah sie sich auch heute bereits nachdem die letzten Klänge des Walzers verklungen waren allein in einer Ecke des Ballsaales stehen, ein Sektglas in der Hand.

Wie immer endete der Walzer so schnell, wie er begonnen hatte. Trotzdem waren die Sekunden, bis John ihre Hand losließ, seltsam kostbar. Lächelnd neigte sie den Kopf in einer Andeutung der traditionellen Verbeugung, die heutzutage niemand mehr machte, sei es aus Rückenproblemen oder aus Faulheit und John zog die Mundwinkel hoch und setzte dazu an zu sprechen. In dem Moment schob sich eine kleine, ein wenig pummelige Frau neben sie und sah nervös zu ihm auf.

„Erika!“, sagte John überrascht – und lächelte.

„Lil – darf ich Ihnen Erika vorstellen?“

Sie wirkte nett, beschloss Lil. Und John schien nichts dagegen zu haben, sich mit ihr zu unterhalten.

„Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte sie, lächelte wieder und verschwand in der Menschenmasse. Wie leicht ihr das Lächeln heute fiel. Sie musste sich nicht einmal dazu zwingen, wie an manchen Tagen. Zwar hatte sie das Gefühl, dass ihr das Lachen noch irgendwann vergehen würde, aber bis dahin...
 

Die großen Flügeltüren des Balkons standen einen Spalt weit offen. Normalerweise versammelten sich die Raucher dort, aber heute war niemand weit und breit zu sehen. Die wenigen Laternen schimmerten blass in der Dunkelheit. Kühle Nachtluft strich über Lils Gesicht und sie schob entschlossen die Tür auf und trat hinaus in die Nacht. Es war warm. Es war schliesslich Sommer. Und – es war dunkel, trotz der Laternen. Ihre an die Helligkeit gewöhnten Augen brauchten eine Weile, um die Dunkelheit zu durchdringen.

Fast hätte sie geflucht, als sie eine winzige Stufe übersah und beinahe umknickte. Und dann noch einmal, als ihr Schuh einen Protestlaut von sich gab und sich in Wohlgefallen auflöste.

Verdammt!

Sich nicht sicher, ob sie den Schuhhersteller oder die Architekten des Gebäudes verklagen sollte, sah sie auf den Schuh in ihrer Rechten und die kümmerlichen Reste des Absatzes in ihrer Linken hinab. Andererseits hatte sie nun wirklich nicht vor, heute noch zu tanzen. Also was sollte es...

Entschlossen bückte sie sich und streifte auch den anderen Schuh von ihrem Fuß. Die Steine am Boden waren noch warm von der Sonne des Tages. Vorsichtig darauf achtend, wohin sie trat, ging Lil weiter zur Brüstung des Balkons. Der beinahe vollständig abgenommene Mond hing wie ein goldener Scherenschnitt am dunklen Himmel. Leise drangen einige Klänge der Musik aus dem Saal zu ihr hinaus. Hoffentlich würde sie noch eine Weile allein die Stille genießen können...

„Lil?“, durchbrach eine Stimme ihre Gedanken und erschrocken fuhr sie herum.

„Ja?“

In der Tür wirkte die Gestalt wie ein schwarzer Schatten vor den hellen Fenstern des Saales. Aber es machte nichts, dass sie das Gesicht der Person nicht sehen konnte. Sie hatte seine Stimme längst erkannt.

„Hier sind Sie also“, sagte Scott Valens, als er endlich neben ihr stand.

„Eine schöne Ecke.“

„Hmm.“

Zustimmend nickte sie und fragte dann: „Ist etwas?“

Ihr Partner schüttelte den Kopf.

„Ich habe Sie hinausgehen sehen, da wollte ich nur wissen, was Sie so treiben.“

„Was ist mit Alexa?“

„Sie hält nichts von Bällen. Unterhält sich gerade prächtig mit einem Anwalt.“

Er klang gequält.

„Ich verstehe nur jedes zwanzigste Wort – eigentlich könnten sie genauso gut Hebräisch reden.“

„Das sind Anwälte untereinander.“

Was sollte sie sonst dazu sagen? Sie war nicht diejenige, die eine Affäre mit einer Staatsanwältin begonnen hatte. Und sie war nicht für Scottys Beziehungen verantwortlich.

Eine Weile schwiegen sie einstimmig, während die Klänge der Musik an ihnen vorbei in die Nacht entschwebten. Plötzlich wandte Scotty sich mit einem Ruck zu ihr um. Lil konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn es lag im Schatten. Es sprudelte aus ihm heraus, als habe er sie die ganze Zeit schon fragen wollen - aber Lil war nicht geneigt, daran zu glauben, dass es der wahre Grund gewesen war, weshalb er ihr auf den Balkon gefolgt war:

„Würden Sie mit mir tanzen?“
 

Lil hob ihre Schuhe hoch, damit er sie im Licht der blauen Laterne neben ihr betrachten konnte.

„Ich fürchte, ich bin gehandicapped.“

Scottys Gesicht verzog sich zu einem echten Lächeln.

„Tanzen Sie auch barfuß?“

„Wenn Sie mir nicht auf die Füße treten?“

„Ich verspreche es.“

Sanft nahm er ihre Hand und legte die Seine auf ihre Hüfte. Die Musik floss langsam und leise und genauso bewegten sie sich, wiegten sich im Takt der Musik... Er war ihr so nah, dass sie die Wange auf seine Schulter legen konnte. Er roch gut.

Lil lächelte.
 

„Scotty? Scotty?“

Vorsichtig löste sich der Gerufene von Lil und beide sahen zu der Tür hin, in welcher der Umriß eines Mannes stand. Lil kannte ihn nicht.

„Scotty – Alexa sucht Sie schon überall...“

Taktgefühl wie eine Blumenvase, beschied ihm Lil.

Ihr Partner liess sie los.

„Tut mir leid“, murmelte er leise.

„Würde es Ihnen...“

„Kein Problem“, antwortete sie und trat noch einen Schritt zurück. Es war ihr gleichgültig, ob der Mann sah, dass sie keine Schuhe trug oder nicht.

„Gehen Sie schon. Ich bin kein kleines Mädchen mehr – ich komme zurecht.“

Mit einem letzten Blick verschwand er durch die Tür zurück in den hell erleuchteten Saal. Durch die große Fensterscheibe konnte Lil sehen, wie Alexa auf ihn zukam und ihn am Arm nahm, ihm einen Kuss auf die Wange drückte und weiterzog, zweifellos, um ihn noch einem Anwalt vorzustellen. Sie bemitleidete ihn nicht. Und sie war nicht wütend auf ihn.

Stattdessen sah sie ihm nach, bis er in der Menge der Menschen verschwand.

Die Steine unter ihren Füßen waren angenehm warm.

Cold Case - Herbst. Next to you Teil II

Lilly Rush hatte in ihrem Leben schon viele Hotels und Hotelzimmer gesehen.

Einige davon waren schrecklich gewesen – andere wiederum sehr schön, und diese angenehmen Aufenthalte waren es gewesen, die ihre Liebe zu Hotelzimmern am Leben erhalten hatte. Die Rezeption, an der sie stand, sah bereits vielversprechend aus: altes Holz, welches gepflegt glänzte, ein Strauß Blumen schmückte den Tresen und eine Zeitung lag daneben, mehrere Zentimeter von Scottys Ellenbogen entfernt. Mehrere Sessel gruppierten sich um einen niedrigen Beistelltisch an einer Ecke, drei Aquarellbilder zierten die Wände – und nun, in der Stille des Foyers des kleinen Hotels, kurz nach Mitternacht, wusch die Müdigkeit über sie hinweg wie eine dunkle Welle. Wie lange war sie nun schon wach? Sie hatte aufgehört, die Stunden zu zählen. Als Detective war sie es gewohnt, lange Schichten durchzuarbeiten, aber dies... Dies war zu viel. Nur die Aussicht auf ein ruhiges Zimmer und ein Bett – ein Bett! – hielten sie nun noch aufrecht. Aber...

„Wie bitte?“

Stirnrunzelnd sah sie den ältlichen Mann an, welcher an der Rezeption stand und der peinlich berührt zu schrumpfen schien. Schnell glättete sich ihr Ausdruck wieder – sie war dabei gewesen, in den Modus hineinzufallen, den Will und Nick als „Eisprinzessin“ bezeichneten – und den Mann verschrecken war das letzte, was sie wollte. Also tat sie, was sie immer tat: sie lächelte.

„Tut mir leid!“ Der Mann spielte nervös mit einem Kugelschreiber. „Da muss ein Fehler vorliegen. Aber wir haben keine anderweitigen Zimmer verfügbar. Wie Sie sicher wissen, findet in dieser Woche in nächster Nähe ein Kongress der Weltgesundheitsorganisationen statt, und nicht nur wir sind völlig ausgebucht...“

Und deshalb haben Sie keine anderen Zimmer mehr verfügbar, ergänzte Lil in Gedanken gequält den Satz. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie ihr Partner sie von der Seite merkwürdig anstarrte. Irritiert wandte sie den Kopf und sah ihn an, als Scotty endlich die Sprache wiederfand.

„Soll das heißen, Sie haben nur noch ein Zimmer frei?“

Seine Stimme klang ungläubig – fast schon entsetzt. Sie versetzte Lil einen Stich. Hey, es war spät, sie war müde – hatte er Angst, dass sie über ihn herfiel? Es war doch erstmal nur für eine Nacht.

„Als man anrief, um für Sie zu reservieren, sagte man uns lediglich „Für zwei Personen““, verteidigte sich der Rezeptionist. „Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie nicht... Nun ja... Nicht...“

Scottys unterschwellige Angst schien er als Wut zu interpretieren. Und dieser schien ihn zappeln lassen zu wollen – Lil schob es auf die Erschöpfung, normalerweise war er nicht so grausam. Sie zumindest konnte nicht mitansehen, wie der Mann herumstotterte, um die Beziehung zwischen ihr und Scotty genauer zu definieren. Aber dass er – Scotty – müde war, das war nicht zu übersehen. Sein Gesicht hatte einen ungesunden, grauen Farbton angenommen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Beruhigend lächelte sie ihm zu und zuckte dann in Richtung des Rezeptionisten mit den Schultern.

„Da kann man nichts dran ändern“, sagte sie und drehte sich dann wieder zu ihrem Partner um. „Scotty?“

„Was?“ Irgendwie war seine gedankliche Abwesenheit... süß. Sie konnte es nicht anders formulieren. Er verhielt sich wie ein Kind, das aus seinem Mittagsschlaf geweckt wird und quengelte... Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie ihn vielleicht damit aufgezogen. Aber heute war sie selbst zu müde dafür. Vielleicht drehte sie ja durch.

„Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn...“ Seines schokoladenbraunen Augen starrten sie verständnislos an und unwillkürlich musste sie wieder lächeln.

„Wenn was?“

„Wenn wir uns ein Zimmer teilen? Es ist zu spät, um ein anderes Hotel zu suchen, und dann ist da noch der Kongress..“

In dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, dämmerte ihr die Bedeutung. Hinter ihr raschelte der Rezeptionist nervös mit einigen Papieren, ein Angestellter durchquerte die Halle hinter ihnen schnell und leisen Schrittes. Auch Scotty dämmerte es schliesslich.

„Wie bitte? Ein Zimmer teilen – ach so. Nein, natürlich nicht. Warum? Ich meine, wir sind... Sie und ich sind nicht...“

Er beendete den Satz nicht. Genau wie der Rezeptionist schien ihr Partner Schwierigkeiten zu haben, ihre Beziehung genauer zu benennen. Aus irgendeinem Grunde ärgerte sie das. Er hätte einfach „Partner“ sagen können, oder „Kollegen“. Aber was hätte das an der Tatsache geändert? Nichts. Also musste sie es akzeptieren. Das war Scotty – typisch Scotty. Ihr Lächeln blieb hängen, als sie sich dem Mann hinter dem Tresen wieder zuwandte.

„Wir nehmen das Doppelzimmer.“

Sichtlich erleichtert begann der Mann, seinen Computer zu bedienen.

„Wunderbar! Natürlich werden Sie...“

Am liebsten hätte sie geseufzt. Stattdessen blendete sie den Redeschwall aus und versuchte, aus der Stille ein wenig Kraft zu gewinnen. Sie würde nicht einfach loslassen – nicht, wenn Scotty sich im selben Raum wie sie befand. Lächelnd nickte sie, nickte und lächelte, nahm den Schlüssel entgegen und unterschrieb irgend etwas, von dem sie keine Ahnung hatte, was es war, sie hoffte nur, dass Scotty es im Auge behalten hatte. Das Metall des Schlüssels war in der Wärme des Herbstabends angenehm kühl.

Mit der einen Hand nahm sie ihre Jacke, mit der anderen streckte sie Scotty den Schlüssel entgegen. Unschlüssig starrte er auf ihre Hand wie eine Maus auf die Falle.

„Nur für eine Nacht erstmal, Scotty.“

Himmel, sie war müde. Sie wollte nur noch schlafen – und bei Scotty konnte sie sich wenigstens sicher sein, dass sie ruhig schlafen konnte. Er würde keinerlei Hintergedanken haben wie andere, jüngere Kollegen vielleicht. Scotty war noch ein Gentleman durch und durch, auch wenn er sich manchmal zu leicht irritieren liess. Aber dass sie ruhig schlief, setzte voraus, dass sie überhaupt schlief... Die Bilder verfolgten sie noch immer, jedes Mal, wenn sie die Augen schloss. Sie warteten hinter ihren Lidern auf sie. Sie liessen sie nicht los.

Scotty seufzte leise auf und nahm ihr den Schlüssel ab. Dann, als sie nach der Tasche zu ihren Füßen greifen wollte, nahm er ihr auch diese und folgte ihr, als sie den Weg zum Aufzug einschlug. Kein Zusammenbruch. Nicht hier. Nicht vor Scotty.
 

Aber das Zimmer war schön

Dafür hatte sich all der Ärger beinahe gelohnt – beinahe. Das Bett war groß und breit und die Bezüge blütenweiß. Der helle Teppich sauber, ordentlich um einen kleinen Tisch waren zwei Sessel gruppiert und die Blumen auf dem Tisch dufteten süß. Eine Nachttischlampe tauchte den Raum in sanftes Licht, während aus einem der geöffneten Fenster ein leichter Wind hineinwehte. Zufrieden stellte sie die Tasche ab, die sie Scotty an der Tür abgenommen hatte, und sah sich um, während ihr Partner den Raum betrat. „Ist doch gar nicht so übel“, flüsterte sie. Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür zu.

Und Lil erstarrte.

Innerlich – äußerlich führte sie die gerade begonnene Bewegung weiter und versteckte ihr erschrockenes Herumwirbeln hinter einer Drehung, als wolle sie den ganzen Raum genauer in Augenschein nehmen. Innerlich setzte ihr Herz für einen Schlag aus.

Nein.

Sie hatte Scotty nicht vergessen – wie hätte sie die stumme Anwesenheit ihres Partners vergessen können? Sie hatte nicht vergessen, dass er hinter ihr stand – aber plötzlich wurde das Wissen um seine Präsenz übermächtig. Lilly Rush schützte ihre Privatsphäre – das hatte sie vergessen. Die Stille hatte sie dazu verführt zu glauben, dass alles in Ordnung war. Scottys ruhige Anwesenheit während der gesamten Reise hatte sie glauben machen, dass es normal war, dass es immer so gewesen war – dass er immer da war, ruhig, still, wie der verborgene Träger eines Hauses: fehlte er, stürzte das Haus ein. Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Während der gesamten Reise. Aber – selbst während der Reise waren sie nie wirklich allein gewesen. Und dass sie sich nun ein Zimmer teilten, das war eine ganze neue Dimension von allein...

Der hochgewachsene Mann hinter ihr sagte kein Wort.

Hastig zog sie ihren Kulturbeutel aus der Tasche, atmete tief durch und drehte sich zu ihm herum.

„Gehen Sie zuerst ins Bad?“

Scotty schien innerlich über sie zu lachen, so, als wüsste er ganz genau, was sie gerade dachte. Manchmal war ihr der Blick ihres Partners geradezu unheimlich.

„Bitte – Ladies first.“

„Vielen Dank.“

Schnell packte sie ihre Tasche mit der freien Hand und floh ins Bad. Hoffentlich sah ihre offensichtliche Flucht nicht aus wie eine offensichtliche Flucht. Sie hatte gerade den rettenden Hafen erreicht, beinahe die offene Tür zwischen sich und Scotty – zwischen dem Badezimmer und dem Schlafzimmer – geschlossen, als ihr Name sie zurückhielt.

„Lil!“

Lil drehte sich halb um.

„Ja?“

Scottys dunkle Augen musterten sie durchdringend, so durchdringend, dass sie Angst bekam.

„Sind Sie nicht müde?“

„Müde?“, echote sie. Sie war seit Stunden unterwegs, hatte selbst die letzte Nacht in ihrem eigenen Bett nicht gut geschlafen. Und wie sie müde war. Das Einzige, was sie jetzt noch aufrecht hielt, war die Tatsache, dass er da war. „Warum fragen Sie?“

„Nun, Sie sehen... Wir haben eine lange Woche hinter uns, deshalb dachte ich... Deshalb habe ich gedacht...“

Scotty. Typisch Scotty. Freundlich bis zum letzten Atemzug – wie konnte ein Mensch sich so viele Gedanken um Andere machen? Er fiel doch selbst fast aus seinen Schuhen vor Ermüdung. Warum machte er sich auch noch Sorgen um sie! Lilly Rush hatte früh gelernt, dass man sich um sich selbst kümmern musste – und um seine eigene Familie. Wo blieb denn da noch Zeit und Raum, um sich um andere Menschen zu sorgen? Aber ihr Partner schaffte dies immer und immer wieder. Sie lächelte ihn an. Deshalb würde er es niemals merken.

„Müde, Scotty... Was denken Sie?“

Dann schloss sie die Tür endgültig, liess sich von innen gegen sie sinken und rutschte an ihr hinunter, bis sie auf dem kalten Boden saß. Müde war gar kein Ausdruck für ihre Erschöpfung. Und dennoch – dennoch fühlte sie sich merkwürdig aufgedreht. Seufzend legte sie den Kopf auf ihre Knie. Ich kann nicht mehr klar denken. Es ging nicht mehr. In der Stille des Raumes atmete sie einmal tief durch, schöpfte Atem und stand langsam auf, um sich umzuziehen und zu waschen. So müde...
 

Als sie aus dem Bad auftauchte, warf sie Scotty nur einen kurzen Blick zu: er lag mit geschlossenen Augen auf der einen Seite des breiten Doppelbettes und hatte die Augen geschlossen. An der Art jedoch, wie seine Schultern sich anspannten, als die Tür leise knarrte, sah sie, dass er wach war. Mit dem festen Vorsatz, sich dieses Mal nicht von ihm irritieren zu lassen, kletterte sie auf ihre Seite. Die Laken raschelten leise, als sie es sich bequem machte. Gleichzeitig rappelte Scotty sich mühsam auf und schlurfte ins Bad, ohne sie wirklich anzusehen. Er musste ebenso erschöpft sein wie sie: Seine Schultern hingen herunter, die Ringe unter seinen Augen stachen deutlich hervor und auf seinem Kinn bildeten sich die ersten Anzeichen eines Dreitagebartes. Als die Tür zufiel, griff Lil zum Telefon, welches auf ihrem Nachttisch lag, und wählte eine Nummer. Sie kannte sie auswendig.

„Stillman“, meldete sich ihr Vorgesetzter und Mentor, gewohnheitsmäßig knapp.

„Hi, Boss“, antwortete die blonde Polizistin.

„Lil. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Sie hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass er Gedanken lesen konnte. Andererseits konnte er sich auch nur höflich nach ihrem Befinden erkundigen... Bei Leutnant John Stillman wusste man nie.

„Alles okay. Morgen werden wir Téa Hendersson einen Besuch abstatten und uns ein wenig in der Umgebung umsehen. Heute ist es zu spät.“ Oder zu früh, wie man es sieht, fügte sie in ihrem Kopf hinzu. Stillman schwieg kurz – seine Art, am Telefon zu grinsen.

„Wie spät ist es bei Ihnen? Mitternacht?“

„Fast. Zwei Uhr Morgens.“

„Ruhen Sie sich aus“, empfahl der Leiter der Mordkommission. „Wir halten Sie auf dem Laufenden, was die Untersuchungen der Beweise angeht. Sollten Sie etwas finden, informieren Sie uns. Vera hat Telefondienst.“

Ihren behäbigen Kollegen neben dem Telefon sitzen zu sehen, an der Langeweile erstickend oder Kekse mampfend, liess Lil leise und trocken lachen.

„Das wird ihm nicht gefallen.“

„Das geschieht ihm recht“, sagte der Boss trocken und spielte auf eine Szene einige Wochen zuvor an, in der Vera über die Stränge geschlagen hatte. „Er kann nicht einfach hingehen und so etwas machen.“

„Ich rufe dann wieder an“, versprach Lil.

„Passen Sie auf sich auf“, gab John zurück. Die Leitung klickte und war tot.

Lächelnd legte sie das Telefon wieder auf den Tisch zurück, zog ihre Beine auf das Bett und schlang ihre Arme darum. Scotty hatte sie eben in Jogginghose und Top sehen dürfen. Jetzt würde sie warten, wie gekleidet er das Bad verliess... Eine Zeit lang herrschte Stille, dann lief das Wasser. Dann wieder: Stille. Schliesslich drehte sich der Schlüssel leise und vorsichtig und durch einen Spalt in der Tür spähte ihr Partner in den Raum. Lil konnte nicht anders: sie lachte.
 

Wie ein Kind, mit der Hand in der Keksdose ertappt, öffnete Scott Valens die Tür vollständig und trat heraus: Boxershorts und T-Shirt. Zufrieden nahm sie dies zur Kenntnis. Schnell überquerte er den Boden – seine Füße hinterließen lustige, tappende Geräusche – kletterte ins Bett und zog die Decke bis zur Brust hoch. Das Lachen verliess Lil so schnell, wie es gekommen war und liess sie müde und ausgebrannt zurück.

„Ach, Scotty“, sagte sie seufzend und atmete aus. Ihre Mauer zerfiel plötzlich in ihre Einzelteile – die Fassade, die sie aufrecht hielt, damit niemand näher an sie herankam. Zunächst merkte sie es gar nicht. Aber dann sah sie den Ausdruck des Erschreckens auf Scottys Gesicht und wusste: er hatte es gesehen. Den Augen ihres Partners entging so selten etwas. Was war es? Wieviel hatte er gesehen? Schnell zog sie die Maske wieder hoch, doch er hatte sich bereits aufgerichtet und starrte sie an. In seinen Augen fand sie Erschrecken – und etwas, was sie immer befürchtet hatte: Mitleid. Ihre Mauer gewann an Stärke. Sie wollte kein Mitleid. Sie brauchte es nicht. Er sollte nicht absichtlich noch freundlicher zu ihr sein, weil er glaubte, sie habe es nötig – deshalb wurde ihr Ausdruck eisig.

„Lil...“

„Gute Nacht, Scotty“. Unterbrach sie ihn. Schnell knipste sie die Lampe aus – heilige Dunkelheit, in der er nichts mehr würde sehen können – und liess sich rückwärts in ihr Kissen fallen. Es dauerte eine Weile, bis auch er sich wieder bewegte.

„Gute Nacht.“
 

Ein kleines Mädchen rennt durch den Schnee.

Keuchend, hustend, zitternd vor Angst. Die dumpfen Schritte sind direkt hinter ihr, sie weiß, dass er sie gleich eingeholt haben wird. Fest presst sie die Packung Zigaretten an sich, als würden sie ihr helfen können, als würden sie irgendeinen Schutz gegen das namenlose Grauen bedeuten, welches ihr folgt...

Unruhig warf Lil sich im Bett herum.

Mutter ist reglos, wacht einfach nicht auf. Gerade hat Lil sie so im Wohnzimmer auf dem Boden gefunden. Sie ist zehn Jahre alt, weiß nicht, was passiert ist, und der sengende Gestank von Erbrochenem und Alkohol und die durchdringende Stille machen ihr Angst. Chris ist nicht da – wo ist sie? Warum wachst du nicht auf, Mama, wach doch endlich auf, bitte wach doch auf...

„Nein...“

Traumbilder. Es waren nur Träume. Aber sie konnte nicht vor ihnen fliehen.

George steht ihr gegenüber, das gräßliche, verzerrte Lächeln auf dem Gesicht. Er geniesst es, sie zu quälen, sie all jene Dinge immer und immer wieder durchleben zu lassen. Seine Lippen formen grausame Worte – Nein, ich bin nicht wie du, nein, niemals – die dunkle Mündung seiner Waffe starrt ihr entgegen. In ihrer Hand zittert ihre eigene Waffe, und sie weiß, sie muss schießen, muss ihn töten, um sich selbst zu retten... Siehst du, Lilly, so unähnlich sind wir uns doch gar nicht...

„Nein... Nein!“

„Lil?“

Chris verletztes Gesicht, als Lilly sie an ihrem Geburtstag vor die Tür setzt. Sie hat es wieder getan, sie macht alles kaputt, was sie anfasst, kann es einfach nicht lassen... Immer, wenn sie sich ein neues, ein sicheres Leben aufgebaut hat, kommt sie und macht es kaputt. Sie soll gehen, einfach verschwinden, aber Scotty braucht sie, soviel kann Lil verstehen... Und Chris Gesicht verwandelt sich in eine Fratze, die alles verschlingt und nichts übrig lässt, auch Scotty nicht.

Angst ist grausam. Sie schnürt ihr die Kehle zu, lässt sie nicht einmal schreien. Sie kann nur flüstern: „Nein...“

Tote Gesichter. Tote Menschen, wo sie hinschaut, verwest, verwesend, skelettartig. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Schwester. Warum hast du uns verlassen, Lilly? Warum lässt du uns hier allein? Du gehörst auch zu uns, du gehörst zu den Toten, warum arbeitest du sonst in der Mordkommission? Du kannst uns nicht entkommen, Lilly, es ist dein Schicksal... Waffen, auf sie gerichtet, immer und immer wieder. George. John. Edward. Andere. Immer wieder. Und alle, die du liebst, werden mit reingezogen, Lilly... John, angeschossen, Scotty, Will, die anderen... Tot.

„Nein! Bitte nicht...“

Flehen hilft nicht. Hat es niemals. Wird es niemals.

Ein Schuss – ein Riss in der Scheibe, die in einem Klirren in sich zusammenstürzt. Die Splitter fallen langsam, sie kann beinahe jede einzelne verfolgen, wie sie in einem hohen Bogen zu Boden stürzen. Inmitten des fallenden Scherbenregen erhascht sie einen Blick auf Scotty – guter, treuer Scotty, er hat sie genau verstanden, er ist gekommen, um ihr zu helfen – und dann der Schmerz in ihrer Seite, ihrer Schulter, blutroter Schmerz und dann gnädige Bewusstlosigkeit. Dann: der weiße Saal, die körperlosen Stimmen um sie herum, und Lilly Rush weiß, dass es hier endet... Und dass sie Angst hat. Vor den Lebenden und den Toten, vor dem Leben und vor dem Tod. Chris ist nicht da, aber ihre Mutter, und sie lächelt – und dann nichts, und dann, durch die Schlitze ihrer Augen eine ausgemergelte Person mit tiefen Ringen unter den Augen, rastlos auf- und abgehend, nicht fähig still zu stehen – oh, sie hat sich geschworen dass er nie wieder so aussehen würde, nie wieder, und erst recht nicht ihretwegen, nein, warum auch, sie sind nur Partner... Er soll nie wieder so etwas durchmachen, nicht nach Elissa und Chris und...

„Lil, wach auf –“

„NEIN!“
 

Schweißgebadet fuhr Lil aus dem Schlaf.

Jemand hatte sie an den Handgelenken gepackt und instinktiv riss sie sich los – aber der Griff war nicht hart, sondern nachgiebig, und die Person liess sie sofort los und rückte ein Stück ab, um ihr nicht zu nahe zu sein. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das dunkle Zwielicht des Zimmers gewöhnt hatten. Die Erinnerung kehrte wieder, innerhalb von Sekunden, so wie sie es gewohnt war: Sie war in diesem Zimmer, mit Scotty, es war spät...

„Lil? Alles in Ordnung?“

Scottys Stimme klang sanft, beruhigend und besorgt zugleich. Scotty – ach, Scotty. Warum musste er in diesem Moment hier sein, warum musste er sie jetzt so sehen. Am ganzen Körper zitternd, richtete sie sich vollständig auf und umklammerte die Bettdecke. Sie weigerte sich, ihn anzusehen, damit er wenigstens die Angst, die noch immer nicht ganz gewichen war, nicht in ihren Augen lesen konnte. Ihr Atem kam in kurzen, heftigen Stößen, und sie versuchte verzweifelt, ihn zu normalisieren, aber ihr Herz raste noch immer so schnell, dass es weh tat.

„Lil?“, fragte Scotty noch einmal sanft nach und berührte sie an der Schulter. So vorsichtig, als wäre sie aus Glas, als habe er Angst, sie würde zerbrechen. Und ja – sie würde es. Sieh nicht hin. Schau weg. Sieh mich nicht so an – so mitleidig. „Was ist los?“

„Nichts.“

Sie wollte so schroff klingen, und sie klang so, sie brauchte sein Mitgefühl nicht. Bemüht, seine Gegenwart zu ignorieren, starrte sie weiter geradeaus in die Dunkelheit, zitternd und mit rasendem Herzschlag.

Da legte sich ein Arm sanft um ihre Schultern und zog sie an sich.
 

Ehe sie reagieren konnte, hatte Scotty sie in den Arm genommen, war neben sie gerückt und hielt sie in einer wortlosen Umarmung fest. Im ersten Moment versteifte sich alles in ihr. Einen Moment lang setzte ihr Instinkt ein, den sie auf „Nicht Anfassen“ programmiert hatte. Dann, als dieser abflaute, ihr Verstand: sich jetzt bei ihm auszuweinen würde nichts bringen, wenn sie das nächste Mal Alpträume hatte. Denn dann würde er nicht mehr da sein. Drogen machten süchtig, man wollte immer mehr, wenn man einmal davon probiert hatte, und Scotty war eine Droge, seine Nähe war eine Droge. Aber ihr Körper reagierte schneller, als Verstand kontrollieren konnte. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig und bewegte sich von allein, schlang ihre Arme um Scottys Hals, presste ihr Gesicht gegen seine Schulter und hielt sich an ihm fest, als würde sie sonst ertrinken.

Sie zitterte wie Espenlaub, wurde geschüttelt von Schluchzern und presste sich an ihren Partner, als sei er der letzte feste Punkt in einer zerfallenden Welt – was er in gewissem Sinn für sie auch war. Lil konnte seinen Herzschlag spüren, der langsam und stetig in ihm pochte, und zum ersten Mal seit langer Zeit – mit seinen Armen um sie, seinem Herzschlag in den Ohren und seinem Geruch in der Nase – konnte sie wieder atmen. Deshalb liess sie ihn nicht los. Auch nicht, als sie sich wieder beruhigt hatte, als die Tränen versiegten und sein ruhiger Herzschlag ihre Augenlider müde werden liess. Sie weigerte sich, ihn loszulassen.

Und verfluchte sich gleichzeitig dafür, dass sie sich an ihm festhielt wie an einem Rettungsring.

Es war kindisch. Es war falsch. Es war... Es war illusorisch.

Aber sie konnte atmen.

Nur heute, insistierte ihr Herz gegen den Verstand. Halt mich fest. Nur heute Nacht, nur einmal... Bitte.

Und Scotty hielt sie fest.
 

Mit dem ruhigen Heben und Senken seines Brustkorbes dämmerte Lil in den Schlaf, die Arme fest um ihn geschlungen, seine Arme um sie. Sie schlief tief, ruhig und traumlos.

Nur heute Nacht. Dann gebe ich ihn wieder frei...
 

Am Morgen lag er nicht mehr neben ihr.

Cold Case - Frühling. Harte Cops

N/A: Gott, ist das alt. Älter als das Müsli in meinem Schrank, welches ich sowieso nicht mehr essen werde... Alt alt alt!

Und trotzdem: Ich liebe diese Geschichte!

Vera und Jeffries haben schon in der Serie allzuoft bewiesen, dass sie für einen Scherz gut zu haben sind... Obwohl ich es nicht gutheiße, Kollegen mit einem Tacker mit seiner Krawatte an den Tisch zu nageln! *lach* Ach, das Gesicht vergess ich nie...

Also, da sind sie wieder. Einmal sind Lil und Scotty nur Nebencharaktere. Aber das macht ihnen nichts, ich habe ihnen deutlich erklärt, dass ich sie nach wie vor über alles Liebe, auch, wenn ich gerade keinen Fernseher habe und nicht einmal Zeit, neue Kurzgeschichten für sie auszudenken...
 

Cold Case – Frühling. Harte Cops
 

Kat Miller hatte sich noch nicht entschieden, ob sie amüsiert oder höhnisch reagieren sollte.

Und wahrscheinlich würde sich das so schnell nicht ändern, denn ihre Kollegen – der männliche Großteil ihrer Kollegen, bestehend aus Nick Vera und Will Jeffries – würde wahrscheinlich fortfahren, sich lächerlich zu machen, bevor der Tag zu Ende war. Sich lächerlich machen auf eine recht... interessante... Art und Weise.
 

„Na? Na?“, flötete der Veteran der Mordkommission in seiner tiefen Bassstimme und wirkte wie ein Wolf, der freundlich zu einem Schäfchen sprechen will.

„Was bist du nicht für ein süßes, kleines Dingelchen!“

„Wie niedlich und klein du doch bist!“, zwitscherte sein Kollege.

„Schau doch nur – diese winzigen kleinen Pfötchen!“

„Aber wie intelligent es uns anschaut...“

„Du bist das schönste Baby der Welt!“
 

Seufzend wandte Kat sich um und versuchte, sich auf den Stapel Papier auf ihrem Schreibtisch und gleichzeitig auf die Akte auf dem Bildschirm ihres Personal Computers zu konzentrieren. Diese langweilige Schreibtischarbeit blieb ja doch immer an ihr und an Lil hängen...

Harte Cops machten nun einmal keinen Papierkram.

Währenddessen ging hinter ihr das widerwärtige Zuckern weiter.
 

„Süßes, süßes Kleines...“

„Kleiner Fratz, du, kleiner Sonnenschein!“
 

Nicht nur zu gut für Schreibtischarbeit waren sie, sondern auch für alle sonstigen Arbeiten, die keinen Außeneinsatz beinhalteten. Wann kamen Lil und Scotty endlich wieder? Der Boss hatte sich bereits in sein Büro geflüchtet und hatte die Türe geschlossen. Kat hatte leider keine solche Tür, das bedauerte sie in diesem Moment zutiefst. Ihre nächste Fluchtmöglichkeit würde sich erst bieten, wenn Lil und deren Partner endlich zurückkämen und grünes Licht für die geplante Aktion Blauer Stein gaben. Und bis das soweit sein würde, schien es noch zu dauern, und Kat saß im Großraumbüro der Mordkommission der Philadelphia Police fest. Irgendwie drängte sich ihr hier das Gefühl auf, dass ihre Freundin einfach manchmal so froh war, dem Chaos im Büro zu entkommen, dass sie sogar in Kauf nahm, Scotty mitnehmen zu müssen...

Ha, ha.

Zweimal Ha ha.

Die Ironie sprudelte wieder einmal über.

Natürlich war Lil froh, wenn sie aus den Wänden herauskam, zumindest meistens, und es machte ihr wohl am wenigsten aus, Scotty mitnehmen zu müssen.

Höchste Zeit für Kat, eine Pause einzulegen...
 

Der Fahrstuhl kündigte sich mit dem selben, tagtäglich nervtötenden Glockengeräusch an und Lilly Rush und Scotty Valens erschienen wie auf Stichwort in der sich öffnenden Tür. Kat stöhnte erleichtert auf.

„Lilly! Endlich! Bitte rette mich vor diesen Verrückten!“

Die blonde Frau und ihr Partner unterbrachen ihre Unterhaltung und suchten sich ihren Weg durch das Labyrinth der Tische zu ihr hinüber. Lillys Gesichtsausdruck nach zu schliessen befanden sie sich mitten in einer Diskussion, bei der beide Parteien sich das Recht vorbehielten, Recht zu haben... Selbst Schuld. Was musste sie auch so verdammt sturköpfig sein. Als sie jedoch den verzweifelten Gesichtsausdruck ihrer Kollegin sah, runzelte Lil die Stirn.

„Was ist denn los?“

„Ich kann nicht mehr!“

Kat atmete tief ein und aus und legte ihren Kopf auf die Arme.

„Die Beiden hören einfach nicht mehr auf! Ob sie etwas genommen haben?“

In dem Moment der Stille, welcher nach ihrer Aussage herrschte, schwebten die Stimmen durch das ansonsten leere Büro.
 

„Dududududu!“

„Süßer Fratz, du!“
 

Lil sah so aus, als habe sie ein schlechtes Gefühl. Ein sehr schlechtes Gefühl... Kat sah es an der Art, wie sich ihre Schultern strafften.

„Ist der Boss da?“

„Der weiß schon Bescheid.“
 

Scotty im Schlepptau, der ihr auf den Fersen blieb wie ein treuer Hund, trat Lil an den großen, aus drei einzelnen Schreibtischen zusammengestellten Tisch. Dort standen Nick und Will, beugten sich über den Tisch und steckten die Köpfe zusammen. Dabei gaben sie Geräusche von sich wie eine entzückte Hundemutter – oder wie zwei besonders engagierte, junge Mütter mit ihrem ersten Baby. Als sie näher trat, sah sie auch, worüber sich die beiden Männer beugten: es war ein alter Pappkarton, in dessen Inneren es rumorte.

„Hey, Rush!“, begrüßte Vera sie mit einem untypisch verzückten Gesichtsausdruck.

„Und Scotty“, fügte Will hinzu, als dieser hinter Lil auftauchte.

„Sehen Sie es sich doch an... Ist es nicht allerliebst?“

„Es?“, fragte Scotty. Kat schob ihren Stuhl zurück und gesellte sich zu ihnen.

„Einfach zauberhaft“, sagte sie trocken.

„Aber so sehr Sie es auch verzuckern, Nick, es ist und bleibt – eine Katze. Genauer gesagt: eine Straßenkatze.“

„Ein Katzenbaby“, protestierte Will. „Und es ist ganz und gar einsam und verlassen. Jemand hat es im Regen auf der Fourteenth ausgesetzt!“

„Wahrscheinlich, weil es so hässlich ist“, sagte Kat bissig.

„Sehen Sie sich doch nur einmal die Farbe an!“

„Das ist cremeweiß!“

Lil hätte es eher als farblos bezeichnet. Hoben sich sämtliche Farben in einer Mischung nicht auf? Tatsächlich war es ein jämmerlicher Anblick, da hatten Will und Nick Recht. Aber ein Katzenjunges? In der Mordkommission? Bevor sie sich näher mit dem Gedanken befassen konnte, fauchte das Junge auf und schlug mit der Pfote nach Nick, der ihm über den Kopf hatte streicheln wollen. Erschrocken fuhr der zurück.

„Sehen Sie?“, fragte Kat und überkreuzte die Arme vor der Brust. „Niemand wollte es haben, deshalb hat man es ausgesetzt. Wahrscheinlich hat es Würmer und Flöhe. Sammeln Sie jedes Viech auf, welches auf der Straße ausgesetzt wird?“

„Aber es hat mich angesehen“, verteidigte Will sich. „Und um Hilfe gebeten!“

„Katzen können aber nicht sprechen!“

„Sie wissen doch, wie das gemeint ist, Kat“, versuchte Scotty gutmütig, den Streit zu schlichten. „Hätten Sie ein solches Tier dort sitzenlassen?“

Kat fuhr herum. Ihre Augen funkelten, als sich ihre Gereiztheit am eher unschuldigen Scotty entlud.

„Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie das gutheißen!“, fuhr sie ihn an.

„Wissen Sie, was diese beiden Idioten heute den gesamten Vormittag lang getan haben, während Sie sich mit Lil irgendwo amüsiert haben und ich an den Akten gearbeitet habe?“

Scotty lief rot an – sie sah es mit Genugtuung. Lil liess sich nicht aus der Ruhe bringen. Irgendwann würde Kat sie auch noch so weit kriegen, das versprach sie sich.
 

„Genau! Sie haben mit diesem Katzenviech gespielt! Es „Baby“ und „Süßes“ genannt! In ihrer Arbeitszeit! Und wer macht die ganze Arbeit? Ich!“

Scotty presste die Lippen zusammen und schwieg.

Und dann sprach Lil.

Ihre ruhige Stimme brachte alle Nebengeräusche zum Schweigen. Sogar das Kätzchen schien plötzlich ruhig zu werden und zu lauschen.

„Und was haben Sie jetzt damit vor?“
 

„Ähm....“

Verwirrt sahen Nick und Will sich an.

„Wie meinen Sie das?“

„Sie wollen es doch behalten, oder? Sonst hätten Sie es doch nicht mitgenommen.“
 

Kat lachte laut auf, als sie die verdutzten Gesichter der Männer sah.

„Super, Lilly! Darüber haben die natürlich nicht nachgedacht – gut erkannt!“
 

Nick kratzte sich am Kopf.

„Tony würde ein Haustier bestimmt lieben... Aber ich glaube, seine Mutter ist allergisch gegen Katzen. Und – was frisst eine Katze überhaupt?“

„Milch, oder?“, fragte Will unsicher zurück.

„Oh je. Ich glaube, ich darf nach meinem Vermieter gar keine Haustiere halten...“
 

Eine peinliche Stille entstand.
 

„Dann bringen Sie es einfach wieder dahin zurück, wo Sie es gefunden haben“, bestimmte Kat hart. Augenblicklich brachen die harten Cops in einen Sturm des Protests aus.

„Nein!“

„Zu jung...“

„Und das Wetter ist zu kalt!“

„Tierfänger überall...“

„Chinesen...“
 

Lil hob die Hand und augenblicklich wurde es still.

Bewundernd warf Scotty seiner Partnerin einen Blick zu.

„Ich kümmere mich darum, dass es in gute Hände kommt“, sagte sie seufzend.

Ihre zwei Kollegen strahlten sie an wie Weihnachtsmänner.

„Rush – Sie sind ein Engel! Sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Schicht tauschen wollen... Oder wenn wir irgendetwas für Sie tun können...“

„Ich hätte da eine brillante Idee“, fuhr Kat dazwischen und wusste nicht, ob sie wütend auf ihre Freundin sein sollte, weil diese das Problem zu Wills und Nicks Zufriedenheit gelöst hatte – oder einfach dankbar, weil sie das Problem überhaupt gelöst hatte.

„Sie könnten für die nächsten paar Tage die angefallenen Berichte übernehmen, bearbeiten und katalogisieren. Was halten Sie davon?“

Entsetzte Blicke tauschten den Besitzer.

„Nun...“

Will stotterte.

„Da-Das müssen wir uns erst überlegen...“

Kat grinste hämisch. Scotty lächelte – und Lil verzog keine Miene.

„Und jetzt sagen Sie Auf Wiedersehen zu ihrem Findelkind. Wir müssen los.“

Sekundenschnell hatten sich die Männer wieder über den Pappkarton gebeugt.

„Tschü-Tschü, Süßes!“

„Machs gut, du kleine Zuckerstange!“

„´Zuckerstange´?“, schüttelte Kat den Kopf.

„Was sind Sie nicht für Helden!“

Cold Case - Sommer. Feindliche Übernahme

Cold Case - Sommer. Feindliche Übernahme
 

Sie war neu.

Sie war jung.

Sie war blond und blauäugig - auch wenn ihre Augen manchmal, je nachdem, wie sie gelaunt war, grau oder grün wirken konnten, so wie das Meer, welches mit der Wetterlage seine Farbe änderte. Aber auch das machte nicht den Unterschied aus.

Sie war schlank. Sie hatte eine gute Figur, ein schönes ernstes Gesicht, sie sah gut aus und hatte vermutlich auch etwas im Kopf, sonst hätte sie es niemals bis dahin geschafft, wo sie gerade beruflich stand. Und auch, wenn das vielleicht einen Unterschied machte - das war nebensächlich.
 

Das eigentliche Problem war: Sie war eine Frau.

Und nicht nur irgendeine, beliebige Frau - sie war die erste Frau in der Mordkommission in Philadelphia in der Geschichte des Departments. Und dies bedeutete verschiedene Dinge, je nach befragter Ziel- und Personengruppe.

Für die altgedienten Detectives bedeutete ihre Anwesenheit: Sie war ein Störfaktor, ein faules Ei, absichtlich in ihrer Abteilung platziert, um sie zu stören, ein wandelnder Witz (Blondinenwitze erlebten plötzlich ein überraschendes Comeback), eine Person, die sich über sexuelle Belästigung beklagen würde, wenn man ihr nur zu nahe kam. Die ihre Arbeit kritisieren würde, es aber selbst nicht würde besser machen können, die sie mit Regeln und Vorschriften und deren vorschriftsmäßiger Einhaltung traktieren würde. Eine Person, die bei jeder Kleinigkeit den Boss informierte, die herummäkelte, wenn die männlichen Egos wieder die Überhand gewannen...

Kurz: Lilly Rush war ein Störfaktor, der so schnell wie möglich beseitigt werden musste.

Für Lilly Rush bedeutete dies nichts anderes als: Wenn sie bleiben wollte - was sie eigentlich im Sinn hatte - würde sie sich mir allen Mitteln durchsetzen müssen.
 

Sie war gewarnt worden.

Bekannte, Kollegen, Vorgesetzte und die wenigen Personen, die sie als Freunde bezeichnet hätte, jeder, der nur irgendwie von ihrer möglichen Versetzung erfahren hatte, war interessiert daran gewesen, ihr seine ganz persönliche Meinung über diese "Chance" so deutlich wie möglich mitzuteilen. Einige Meinungen hatte sie von Vornherein ignoriert, wohl wissend, dass sie purem Neid entsprangen - aber alle anderen hatte sie geduldig gelauscht und sie bei ihrer Entscheidung in Betracht gezogen. Auch Lieutenant Stillman hatte sie gesprochen, ihren Mentor und Vaterersatz. Er würde ihr Vorgesetzter sein, für den Fall, dass sie sich versetzen liess, und er brachte unzweifelhaft zum Ausdruck, dass er sie für mehr als fähig hielt, den Posten in der Mordkommission anzunehmen. Sein Vertrauen machte sie glücklich. Gleichzeitig hatte er sie jedoch gewarnt, hatte deutlich zu machen versucht, was es bedeuten würde, die erste Frau in einer von Männern dominierten Domäne zu sein. Doch egal, ob diese Meinungen gut gemeint waren oder nicht: Eines hatten sie alle gemeinsam. Jetzt war Lilly erst Recht entschlossen, diesen Posten anzunehmen.
 

Die Detectives erlebten ihr blaues Wunder.

Lilly Rush war jung - aber sie war intelligent und hatte Erfahrung. Sie drängte sich nicht in den Vordergrund, brachte ihre Ideen gezielt und klar an die richtige Stelle, sie beschwerte sich nicht über die Arbeitszeiten, war bereit, auch einmal anstrengende Arbeiten in Angriff zu nehmen und stellte tatsächlich eine Bereicherung dar. Zusätzlich zu John Stillman fand sie bald einen neuen Freund: Will Jeffries, einen erfahrenen Detective, der hoch angesehen war, jedoch im Allgemeinen außerhalb der Kollegenkreise geblieben war - und das, obwohl viele jungen Kollegen darum wetteiferten, ihn näher kennen zu lernen. Vielleicht war das das Problem.

"Schleimerin!", murmelten die Einen eifersüchtig und versuchten, sie lächerlich zu machen. Lilly setzte eine Maske der Undurchschaubarkeit auf und hob stolz den Kopf.

Sie war blond. Sie war blauäugig. Sie war eine Frau. Aber Witze machten nur dann Spaß, wenn das Opfer die Pointe verstand und darauf negativ reagierte. Lilly lächelte.

"Der war gut. Den kannte ich noch nicht."

So machte nicht einmal das Witzeln Freude.

Sie war schlank und gutaussehend. Aber als Frau hatte Lilly schon früh gelernt, wie man mit Männern umging, die zu aufdringlich wurden. Sie konnte sich verteidigen. Was erwarteten sie auch von einer Polizistin? Mehrere Kollegen gingen in der nächsten Zeit - für sehr lange Zeit - auf Abstand, wenn sie den Raum betrat. Die Eisprinzessin des Dezernats aus dem Gleichgewicht zu bringen wurde ein Volkssport, der jedoch nicht lange betrieben wurde. Die Gleichgültigkeit, die das "Opfer" an den Tag legte, war ernüchternd genug. Nur in einem Punkt waren alle männlichen Kollegen ihr weit überlegen und sie dachten nicht daran, ihr dort die Führung zu überlassen. Und das waren die Toilettenräume.
 

Natürlich hatten die Erbauer dieses Gebäudes zunächst Herren- als auch Damentoiletten eingebaut.

Die andauernde Abwesenheit der Damen jedoch hatte es den Herren erlaubt, sich auch den gegenüberliegenden Bereich anzueignen und zu ihrem Reich zu machen. Als Lilly die Toilettenräume das erste Mal betrat, schlug ihr eine Welle abgestandener Luft entgegen, die sie erst einmal würgen liess. Eine widerliche Mischung aus Urin, Aftershave und Fäulnis drohte sie zu überrollen und sie stürzte zum Fenster - es klemmte - um es aufzureißen. Tief atmete sie die frische Luft ein, die durch die Öffnung in den Raum schwebte. Dann erst nahm sie all ihren Mut zusammen und begutachtete den Raum.

Das war kein Badezimmer mehr.

Die Waschbecken waren verklebt und schmutzig, Essensreste, abrasierte Bartstoppeln und andere undefinierbare Dinge klebten daran. Die Klotüren waren halb aus den Angeln gerissen, die Brillen bespritzt und Toilettenpapierreste lagen am Boden. Und zu aller guter Letzt klappte eine Tür auf und ein Mann taumelte heraus, die Hände noch am offenen Hosenstall. Er sah sie und grinste sie unverschämt an, anstatt verlegen um Verzeihung zu bitten. "Willkommen bei uns, Detective Rush", sagte er und verliess den Raum, ohne sich die Hände zu waschen. Angewidert betrachtete Lil den Raum. Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken, die Waschbecken nicht benutzt zu haben. Die Spiegel waren so zerkratzt und verschmiert, dass sie nicht einmal ihr eigenes Spiegelbild erkennen konnte. Missmutig betrachtete sie ihre Umgebung. Sie war sicherlich nicht zimperlich, aber die abgehärtetste Frau hätte diese Toilette nicht benutzen wollen. Was blieb ihr anderes übrig? Sie konnte natürlich immer noch die sechs Etagen ins Erdgeschoss hinunterfahren und dort die Gästetoilette benutzen. Aber abgesehen davon, dass dies lange dauern würde, würde es auch bedeuten, dass sie sich geschlagen gab. Nun, sie würde abwarten müssen. Sicherlich wurden die Toiletten geputzt?

Ja, wurden sie.

Aber anscheinend nicht oft genug, um den rapiden Verfall aufzuhalten, den die Damentoilette aufzeigte. Meist sah sie bereits wie ein Saustall aus, wenn Lil morgens zur Arbeit kam, und selbst wenn die Putzkolonne sich fluchend und schimpfend durch den Raum gearbeitet hatte, so hielt dies erneut allerhöchstens bis zum nächsten Tag an. Manchmal waren dreckige Taschentücher über den gesamten Boden verteilt, mit denen man die zuvor verursachte Überschwemmung hatte "beheben" wollen. Ein andermal waren sämtliche Toiletten durch Papierschnitzel aus den Aktenvernichtern verstopft, wieder ein anderes Mal fand sie die Waschbecken voller Haare und Bartstoppeln und - Farbe. Wo war sie hier eigentlich? In einem Polizeidepartment oder in einem Kindergarten?
 

Lilly ging dazu über, die Toilette so wenig wie nur irgend möglich zu benutzen. Aber sie kam nicht umhin, sich zu ärgern. Über die Rücksichtslosigkeit - und Gemeinheit - ihrer Kollegen, über ihren Chauvinismus, über die wiederkehrenden, dummen Sprüche und nicht zuletzt über ihre eigene Unfähigkeit, all diesen Dingen entgegenzuwirken. Und dann hatte sie die Idee.
 

Die Durchführung erforderte penible Planung. Einige Besorgungen waren zu tätigen, einige Absprachen zu treffen. Die Raumpflegerinnen waren nur zu bereit, ihr ihre Unterstützung zuzusagen, und mit ihrer Hilfe sammelte Lilly eine Woche lang Material für ihr Vorhaben in einem alten Putzmittelschrank im Fünften Stock. Dann musste der richtige Zeitpunkt sich ergeben. An dem Sonnabend, der zu einem langen Wochenende gehörte, waren nur wenige Detectives im Dienst und noch weniger überhaupt im Department. Irgendwann war sie die letzte Person im Gebäude, was natürlich wieder zu Witzen über ihr "nicht vorhandenes" Liebesleben führte und über ihre scheinbare Unfähigkeit, einen Ehemann zu versorgen, da sie ansonsten schon längst nach Hause gefahren wäre. Lilly ignorierte sämtliche Anspielungen und wünschte jedem Kollegen freundlich ein gutes Wochenende, und schließlich war sie allein. Nervös, aber entschlossen, strebte sie im Fünften Stock auf den Putzmittelschrank zu und öffnete ihn, als hinter ihr eine Stimme ertönte. "Was suchen Sie da, Lil?" Erschrocken fuhr sie herum und fand sich Nase in Brusthöhe mit ihrem Vorgesetzten und Mentor John Stillman wieder. "Boss!" Erleichtert atmete sie auf. "Sie haben mich erschreckt." Der hochgewachsene Mann runzelte die Stirn. "Gehen Sie nicht nach Hause?" "Doch." Sie suchte nach Worten. "Ich muss nur... erst etwas erledigen." Seinen hochgezogenen Brauen sah sie an, dass er sich Gedanken darüber machte, welcher Art ihre "Erledigung" genau war, aber er bohrte nicht nach. "Dann noch viel Erfolg", waren seine einzigen Worte. "Schönes Wochenende, Lil." "Ihnen auch, Boss", gab sie zurück und betrachtete den Mann, der den Flur entlang zum Fahrstuhl ging. Als sich die Türen hinter ihm schlossen, machte sie sich an die Arbeit.
 

Am frühen Montagmorgen konnte Lieutenant John Stillman ein seltsames Phänomen in seiner Abteilung beobachten: Detectives, die kurz verschwanden, um, wie er annahm, auf die Toilette zu gehen, kehrten mit einem seltsamen Ausdruck und einer höchst ungesunden grünen Gesichtsfarbe zurück. Das Grün variierte im Farbton von einem schlichten Hellgrün bis zu einem Ausdruck, der fast an Bewunderung grenzte. John runzelte die Stirn und versuchte zu überhören, dass sich in der Belegschaft der Mordkommission langsam, aber zielsicher ein Flüstern verbreitete, welches leise begann und im Laufe des Vormittags zu einem konstanten Hintergrundgeräusch anwuchs. Als jedoch mehr und mehr Männer von ihren Posten an Schreibtischen, Verhörräumen und Schaltern verschwanden, fühlte er sich dazu verpflichtet, diesem merkwürdigen Aufruhr auf den Grund zu gehen. Zumindest den Ursprung wollte er finden.

Wie überrascht war er, als er diesen tatsächlich vor der Tür der Herrentoilette fand!

Doch genau diese Stelle war das Zentrum aller Aufregung. Mehrere Detectives standen vor der offenen Tür, unterhielten sich gedämpft flüsternd und gestikulierend und warfen immer wieder scheue Blicke in den Raum. Als John auf die Männer zuging, verlangsamten sich automatisch seine Schritte. Da drängte sich Nick Vera hastig von hinten an ihm vorbei und verschwand mit einem hektischen "Entschuldigung!" in dem Raum, ohne sich um die Menschenansammlung davor zu kümmern. Sofort verstummte das Flüstern und alle reckten die Köpfe, um zu sehen, was nun passieren würde - John eingeschlossen. Für eine kurze Zeit war das leise Klappern der Klimaanlage der einzige Laut - und dann stolperte Vera mit kalkweißem Gesicht rückwärts aus der Tür, den Mund weit aufgerissen. Auf seinem Gesicht spiegelte sich fassungsloses Entsetzen, vergessen war jeder Gedanke an eine schnelle Nutzung besagter Räumlichkeiten. "Was... Was ist das?", rief er tonlos aus und sah so aus, als müsse er sich im selben Moment übergeben. Und endlich konnte John auch einen Blick auf das, was seine hartgesottenen Männer so schockiert hatte, erhaschen.
 

Rosa.
 

Die Herrentoilette war rosa.

Rosafarbene Läufer lagen auf dem blankgeputzten, frisch gewischtem Boden, rosafarbene Seidentücher waren über die schlimmsten Schäden an Decke und Wänden gespannt. Über die Wasserkästen der Toiletten waren rosafarbene Wollbezüge gespannt worden, die aussahen, als seien sie gehäkelt worden, und an jeder Tür hing ein kleiner, rosafarbener - was sonst! - Duftsack in Form eines Herzens. Aber das war nicht alles. Auf dem Sims, welches über den Pissoirs entlang lief, lagen rosafarbene Plastikrosen und brennende Teelichter, die der Luft einen schweren, zuckersüßen Hauch versetzten. Am Spiegel - am neuen Spiegel, musste man hinzufügen - stand ein rosafarbener Seifenspender und daneben lagen rosafarbene, flauschige Handtücher. Die Fenster zierten rosafarbene Klebesterne. Sogar die Toilettenrollen hatten einen rosafarbenen Bezug erhalten, und das Beste überhaupt waren die zwölf Körbe - rosafarben - mit den Namenszügen eines jeden Mitglieds ihrer Abteilung des Morddezernats.
 

Zum ersten Mal in seinem Leben fand John Stillman es schwer, eine gleichgültige Miene zu bewahren, als er sich umdrehte und seine Untergebenen musterte. Wie verschreckte Kaninchen sahen sie zu ihm auf, als suchten sie nach einem Indikator, einem Marker, nach dem sie sich richten konnten und der ihnen mitteilen würde, wie sie sich verhalten sollten. Als er Nick Veras Blick begegnete, zog er die Augenbrauen hoch. "Wenn Sie mich fragen, ist das ein überaus deutlicher Hinweis", sagte er vielsagend und liess seinen Blick über die unglücklichen Gesichter wandern. Beschämt senkten die Angesehenen die Köpfe. Damit sie nicht sehen konnten, wie er grinste, wandte John sich ab und ging den Weg zurück, den er gekommen war, da machte er an der hintersten Wand einen blonden Schopf aus.

"Bravo, Lil", sagte er leise.
 

Lilly erwiderte das Lächeln ihres Mentors und verspürte ein tiefes Gefühl der Genugtuung. Ihre feindliche Übernahme hatte ihr den letzten Respekt verschafft, den sie noch benötigt hatte, um endgültig als Teil des Morddezernates anerkannt zu werden...

Abends entfernte sie das Dekor und verteilte es wieder an die diversen Raumpflegerinnen, die es ihr geliehen hatten, dann erst ging sie nach Hause. Die Sterne an den Fenstern liess sie jedoch kleben - Als zukünftige Warnung.

New Year Special. In Theorie und Praxis

A/N

Wie vielleicht einigen aufgefallen sein wird, ist dieses Kapitel von seiner Überschrift her ein wenig anders als meine üblichen Kapitel. "New Year" lautet sie diesmal - und ich möchte die Gelegenheit nutzen, euch allen ein frohes neues Jahr zu wünschen!

Dies ist das versprochene Wunschkapitel für MichiruKaioh! Es hätte eigentlich ein Weihnachtskapitel werden sollen, aber... Ich habe viele gute Entschuldigungen, aber keine ist hier von Belang. Deshalb also ein New Year`s Kapitel! Ich hoffe, es gefällt...
 

Ah ja. Der Wunsch war: Lil und Scottys Beziehung etwas näher schildern (Oh je, nicht hundertprozentig gelungen, fürchte ich), etwas lustiges schreiben (also ich finde es lustig, aber ich weiß, ich habe einen seltsamen Humor) und das Ende genau überdenken. Ich habe es extra noch ergänzt - ich hoffe, es ist nicht so "abgehackt" wie meine üblichen Enden! (Wobei wir natürlich bedenken, dass dies Kurzgeschichten sind und offene Enden für Kurzgeschichten ein Muss sind^^)
 

Disclaimer: Ich habe 59,5 von 100 Punkten in der Chemie-Übungsklausur. Gerade genug, damit mir der Schein für die Klausur gehört... Cold Case gehört nicht mir.
 


 


 

Cold Case – New Year. Theorie und Praxis
 

Theoretisch gab es nichts, was sie aus der Ruhe bringen konnte.
 

Genervt trommelte Kat Miller mit den Fingern ihrer rechten Hand auf die glatte Fläche der Fensterverkleidung des Autos, aber das Geräusch ging unter. Genauso wie ihre vorherigen, deutlich angenervten Blicke oder sämtliche anderweitigen Versuche, mittels verbaler und nonverbaler Kommunikation zu vermitteln, wie sehr ihr die Gesamtsituation auf die Nerven fiel.
 

Theoretisch machte ihr so etwas nichts aus.

Theoretisch hätte sie mit einem einzigen, äußerst bissigen Kommentar sofort die Ruhe erzeugt, die ihr genehm war, Ruhe, in der sie die hellen Wintersonnenstrahlen hätte geniessen können und ihr Gegenüber - welches sie mit seinem Verhalten so dermaßen irritierte - sprachlos oder beleidigt (oder beides) einfach nur schwieg.

Theoretisch lagen Theorie und Praxis für sie nicht so weit auseinander, wie es für viele andere Menschen war. Praxis war der Ermittlerin beileibe kein unbekanntes Wort, und sie tendierte dazu, Theorie auch in Praxis umzusetzen, sobald sie die Gelegenheit dazu hatte.

Aber anscheinend war heute nicht Kats bester Tag und nicht einmal das wundervolle Winterwetter, welches den ersten Tag des neuen Jahres sanft begrüßte, konnte sie heute aufmuntern. Nicht, während neben ihr im Wagen ein überaus gut gelaunter Scott Valens saß, der munter zu alten Schnulzen aus dem Jahre Wer-wusste-das-schon summte.

"Mamma mia", sang er sogar den Text mit. "Here I go again..." Kats Fingernägel gruben sich in ihren Arm. "Ich wusste nicht, dass Sie Abba hören, Valens." Ihre Stimme war pures Gift. In der Theorie wäre jeder Mensch an der Verärgerung in ihren Augen so klein mit Hut geworden. Praktisch bemerkte Valens es nicht einmal und warf ihr obendrein noch ein schiefes Grinsen zu. "Aber Sie erkennen es." Kat knirschte mit den Zähnen.
 

Heute schienen Theorie und Praxis Meilen auseinander zu liegen.
 

Den ganzen Tag.

Den ganzen Tag lang lief Scott Valens, ihr Kollege in der Mordkommission Philadelphia und der Partner ihrer Freundin Lilly Rush, bereits mit einem Grinsen auf den Lippen herum, welches jedem Honigkuchenpferd das Lächeln von den Lippen - von der Schnauze - gewischt hätte vor Neid. Als habe er den Sechser im Lotto gewonnen, als wäre ihm das Beste passiert, was das Leben zu bieten hatte, als...

"Der ist flachgelegt worden", sagte Vera wissend und grinste fies. "Aber so was von. Den hats erwischt - das ist ja schon fast peinlich."

Sein Kollege Will Jeffries fügte hinzu: "Wenn der danach immer so drauf ist, sollte das wohl öfter geschehen..." Kat stimmte keiner Aussage zu. Sie wollte die Frau, die den Frauenschwarm Valens so um den Finger wickelte, dass er sich wie der letzte Idiot verhielt, erst kennen lernen, bevor sie das glaubte. Der Mann schaffte es, nur einmal mit der Wimper zucken zu müssen, schon bekamen drei Frauen weiche Knie, zwei davon hatte er dann sicherlich an der Angel - aber dass er sich so dermaßen zum Deppen machte musste einen anderen Grund haben.

Aber da Valens nicht mit einem Sterbenswörtchen verriet, was genau ihm so gute Laune bereitete, wurde sein Verhalten irgendwann nicht mehr als lustig, sondern als langweilig betrachtet und schliesslich war es nur noch nervtötend. Mittlerweile wurde Kat richtiggehend schlecht, wenn sie den Mann ansah. Theoretisch machte ihr so etwas nichts aus. Praktisch war sie es einfach nicht gewöhnt, dass etwas vorging, von dem sie keine Ahnung hatte, und diese Tatsache – gepaart mit unglaublich enervierend guter Laune – verursachte ihr Magenschmerzen.
 

"Gehts Ihnen nicht gut, Miller?", fragte Valens in dem Moment und riss das Lenkrad des Wagens abrupt herum. Ihre Übelkeit verstärkte sich. Warum wirkte sich die Gemütslage von Männern immer gleich auf ihre direkten Handlungen - in diesem Fall auf ihren Fahrstil - aus? Theoretisch hätte sie auf der Stelle aussteigen und zu Fuß zum Präsidium zurücklaufen sollen, doch um diesen Entschluss in die Praxis umzusetzen, war es bereits zu spät. Sie konnte das große, graue Gebäude der Philadelphia Police bereits sehen. Fest presste sie die Lippen aufeinander und schwieg eisern.

"Sie sehen blass aus", grinste Valens sie von der Seite an. "Sie sollten mehr Sport treiben, öfter an die frische Luft gehen... Was meinen Sie, Lil?"

Erst warf er Kat, dann seiner Partnerin auf der Rückbank ein unverschämt fröhliches Grinsen zu. Lilly Rush im Fond des Wagens verzog wie immer keine Miene, wie schon den ganzen Tag lang nicht. Wenn noch etwas neben der guten Laune des Cubaners zur exponentiellen Steigerung von Kats Gereiztheit beitrug, dann war es Lils andauernde, ewige Ruhe und ihr Schweigen, mit dem sie all dies ertrug. Dabei war es ihr Partner, der sich so unmöglich aufführte - war ihr das Ganze nicht peinlich? Wäre Valens ihr Partner gewesen, dann... Sie rief sich zur Ordnung. Das war bloße Theorie. Solange Lilly Rush lebte, würde sie nur mit Scott Valens zusammenarbeiten.

Was es auch für sie bedeuten mochte - wie immer hielt sie sich auch aus dieser Diskussion heraus, liess sich nichts anmerken und zuckte lediglich die Achseln. Sie ignorierte sowohl Valens herausforderndes Grinsen als auch Kats wütendes Starren. In der Theorie hätte Kat ihr am liebsten den Hals umgedreht. In der Praxis war Lil ihre beste Freundin.
 

Gott sei Dank hielt der Wagen kurz darauf in der Nähe des Präsidiums, in einer Seitenstraße im Parkverbot.

"Alles aussteigen, die Damen, Endstation!"

Lil verließ den Wagen kommentarlos, Kat fluchtartig. Valens gab Gas und brauste in Richtung der Parkplätze, die für die Mitarbeiter der Mordkommission reserviert waren, davon. Erleichtert atmete die dunkelhaarige Frau auf und atmete die kalte Winterluft in vollen Zügen ein. Dann warf sie Lil einen strafenden Blick zu.

"Du weißt doch, was in den gefahren ist, oder?", fragte sie anklagend. Lil schüttelte nur stumm den Kopf. "Vielleicht hat er einfach nur gute Laune," sagte sie nach kurzem Nachdenken und begann den Aufstieg zum Haupteingang. Kat folgte ihr Kopfschüttelnd. "Das ist ja so was von anormal. Und vor allem nervtötend." "Aber nicht verboten." Lil blieb realistisch wie immer - und unparteiisch. "Vielleicht gehst du ihm einfach für den Rest des Tages aus dem Weg." "Leider ist es nicht verboten", knurrte Kat. "Können wir den Boss nicht so eine Regel einführen lassen? Man darf keine bessere Laune haben als derjenige, der die schlechteste Laune im gesamten Präsidium hat - ginge das?" Lil lächelte ein wenig. "Fragen kostet ja nichts."

Der Fahrstuhl kündigte sich gerade mit einem Glockenton an, als sie aufgeschreckt in ihre Jackentasche griff.

"Mein Handschuh!", rief sie erschrocken. "Er ist weg!" Kat sah zu, wie sie die Manteltasche durchforstete. "Hattest du ihn im Auto noch?", fragte sie hilfreich. Lil nickte hastig. "Er muss beim Aussteigen herausgefallen sein..." Sie machte auf dem Absatz kehrt. "Ich komme gleich nach", rief sie über ihre Schulter zurück. Kat nickte und trat in den wartenden Fahrstuhl. Nur noch 2 Stunden bis Feierabend.
 

Was Kat Miller nicht weiß

Tatsächlich fand Lilly Rush ihren Handschuh in der Nebenstraße, in der Scotty vor einigen Minuten gehalten hatte, um sie und Kat aus dem Wagen zu lassen. Erleichtert hob sie ihn auf und bürstete ein wenig Staub und Feuchtigkeit ab. Gerade wollte sie sich umdrehen, als eine Hand sie am Arm packte.

Lil wirbelte herum, instinktiv kampfbereit, als sie erfasste, wer sie festhielt: Scotty.

"Hey, Lil", sagte er und sein Lächeln ging ihr durch und durch. Die Berührung seiner Hand brannte sich durch den Stoff ihres Mantels und ihrer Kleidung hindurch, heiß und fest, und jagte elektrische Impulse durch ihr Nervensystem. Ihr Herz schlug heftiger, als sie ihn so dicht vor sich stehen sah, liess die Erinnerung auf sie einstürzen, wie es war, ihn zu berühren und wie unglaublich schwer, es nicht zu tun. Wie sie sich im Auto hatte zurückhalten müssen, um ihre Hände nicht in sein weiches, schwarzes Haar zu knoten, wie anstrengend, ihn nicht zu küssen, wenn sie wollte... Atemlos sah sie ihn an. Scotty schob sie ein Stück nach Hinten, bis sie mit dem Rücken gegen die Hauswand gedrückt dastand, und presste seine Lippen auf ihre. Lils gesamter Körper wurde weich, schmolz gegen seinen, schmiegte sich fest an ihn und badete in seiner Nähe. Die Hitze wurde unglaublich, das Blut rauschte in ihren Ohren, sie küsste ihn, so wie er sie küsste: atemlos, hungrig, voll Verlangen...

Erst, als der Mangel an Sauerstoff überwältigend wurde, liess er sie los. Keuchend holte Lil tief Luft, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Er war so nahe... Als sie ihren Blick hob, sah sie direkt in seine funkelnden Augen. Wieder verfing sich der Atem in ihrer Brust. Scottys Lippen kamen wieder näher, küssten sie, ihre Lippen, ihr Gesicht, ihren Hals, seine Hände verknoteten sich in ihrem Haar, sein Körper presste sich hart an ihren. Und als er an ihrem Ohr ankam, flüsterte er mit einem hörbaren Grinsen in der Stimme: "Und da wundern sich allen Ernstes die Leute, warum ich so gute Laune habe!"
 

Kat Miller oben in ihrem Büro im sechsten Stockwerk schälte sich aus dem Mantel und zerbrach sich zum hundertsten Mal am Tag den Kopf darüber, was es war, das sie nicht sah. In Gedanken versunken, warf sie einen Blick durch das Fenster und sah ihre Freundin und deren Partner die Stufen zum Haupteingang hinaufsteigen. Für einen kurzen Moment blitzte ein Gedanke in ihrem Kopf auf. Kat stutzte und sah genauer hin, da verschwanden die beiden bereits unter dem Vordach des Hauptportals. Für einen Moment starrte sie blind auf die Stelle, an der sie sie das letzte Mal gesehen hatte, dann schüttelte sie bestimmt den Kopf.

Nein, das war unmöglich. Aber was...

Aufseufzend liess sie sich in ihren Sessel sinken und machte sich daran, die liegengebliebene Arbeit auf zwei Stapel zu sortieren. Theoretisch hätte sie sich vorstellen können, dass Lil und Scotty eine Affäre hatten. Aber Praktisch... Praktisch war das unmöglich. Die beiden?

Niemals.
 

Lil und Scotty hatten wirklich Glück, dass für Kat Miller Theorie und Praxis an diesem Tag einfach unendlich weit auseinander lagen.

Cold Case - Winter. Erst am Ende

A/N

Huhu! Wer auch immer gerade mitliest, er lasse sich einen wunderschönen Sonntag wünschen! Es schneit noch immer und ich liebe Schnee. Ich habe 5h lang Physik geübt und nur 5 Aufgaben geschafft und werde hochkannt durch diese Klausur segeln, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Außerdem hatte ich auch sonst einen recht vergnüglichen Abend...
 

Gelaber beiseite, viel Spaß mit diesem neuen Kapitel meiner (längst nicht mehr so) kleinen Anthologie. Ich liebe es sehr - trotz... Hm, ihr werdet sehen. Es drückt meine Gefühle in der letzten Zeit ziemlich genau aus. Ich hoffe, es gefällt euch!
 


 

Cold Case – Winter. Erst am Ende
 

Das Geräusch war eigentlich viel zu leise, als dass Kat Miller es normalerweise gehört hätte. Aber irgendetwas in ihr – vielleicht ein Instinkt, vielleicht eine Ahnung – liess sie anhalten und den Weg durch den leeren Flur nocheinmal zurückgehen, bis sie den Laut wieder vernahm. Als sie dann auch erkannte, um welches Geräusch es sich handelte, schrak sie zurück.
 

Unmöglich.

Das konnte nicht sein. Absolut unmöglich.

Zu schockiert, um einen klaren Gedanken zu fassen, starrte sie weitere Sekunden auf die geschlossene Tür, vor der sie stand, und zwang sich mit tauben Gliedern, alles noch einmal durchzugehen. Das Geräusch, welches sie wahrgenommen hatte, war eindeutig eine Person, die weinte – leise und hoffnungslos, so hoffnungslos, dass es einem das Herz brach zu lauschen. Und weil Kat vor der Damentoilette der Philadelphia Mordkommission stand, gab es nur eine einzige Person, um der es sich bei der Person im Inneren des Raumes handeln konnte: Um ihre beste Freundin und Kollegin Lilly Rush – und zwar aus dem simpelsten aller Gründe: Außer ihnen beiden gab es keine Frauen in der Mordkommission. Folglich musste die Person in der Toilette Lil sein, die weinte, als würde ihr das Herz brechen – und das wiederum war ein Gedanke, den Kat einfach nicht akzeptieren konnte. Denn Lil weinte nicht. Punktum. Lil war stark. Sie wusste immer einen Ausweg. Sie verzweifelte nicht – und erst recht nicht würde sie sich auf der Toilette einschliessen und weinen! Was konnte es geben, dass die toughe Lilly Rush so aus der Bahn warf? Kat schloss die Augen und rieb sich die Stirn und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Lil würde es ihr übel nehmen, dass sie sie gehört hatte, egal, ob sie nun in den Raum trat oder nicht. Sie würde es ihr noch übler nehmen, wenn sie versuchte, mit ihr zu sprechen. Andererseits war etwas, das Lil so zur Verzweiflung brachte, vermutlich etwas, mit dem sie alleine einfach nicht mehr klar kam... Kat richtete sich auf und legte die Hand auf die Klinke. Kaum hatte sie sie gedrückt, verstummte das Weinen im Inneren und wich einem hastigen Schluchzen. Noch einmal holte sie tief Luft und trat ein.
 

Lil sah furchtbar aus.

Ihre Augen waren rot und verquollen, ihr Gesicht leichenblass und Tränenspuren, die sie nicht rechtzeitig hatte wegwischen können, glitzerten wie silberner Schnee auf ihren Wangen. Gerade war sie dabei, sich mit einem Stück Papierhandtuch die letzten Tränen aus dem Gesicht zu wischen, da trat Kat in den Raum und sie erstarrte. Auch Kat blieb wie angewurzelt stehen. Alles, was sie zuvor noch hatte sagen wollen, schien wie von Zauberhand aus ihren Gedanken verschwunden zu sein: die tröstenden Worte, der sanfte Spott, die aufmunternden Allgemeinplätze. Beim Anblick ihrer Kollegin wusste sie plötzlich, dass keine der alten Weisheiten hier angebracht war – im Gegenteil. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Kat Miller das Gefühl, es sei besser, wenn sie einfach gar nichts sagte. Stumm starrte sie Lil an, die ihr trotzig den Rücken zudrehte. Ihre Schultern zitterten.
 

„Was ist denn?“, fragte sie und wischte sich mit kaltem Wasser durch das Gesicht. Es machte die Sache nicht besser. Sie sah aus, als wäre sie gestorben.

Zögerlich trat Kat einen Schritt näher und überlegte, ob sie ihr eine Hand auf die Schulter legen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Was konnte sie jemandem sagen, der so offensichtlich litt?

„Ist alles in Ordnung, Lil?“

Ein Blick, der normalerweise wütend gewesen wäre, aber nun nur entsetzlich traurig und müde wirkte, traf sie im Spiegel.

„Warum?“

„Na ja...“ Sie stand mit verheulten Augen vor dem Spiegel und fragte allen Ernstes, warum etwas nicht in Ordnung sein sollte? Ganz kurz verspürte Kat den heftigen Drang zu lachen. Dann gab sie sich einen Ruck.

„Lil, ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Komm schon. Ich bin deine Freundin – bedeutet das nichts?“

Eine Weile lang sah Lil sie nur im Spiegel an, dann konnte man förmlich sehen, wie sie aufgab: ihre Schultern sackten hinunter und sie schloss die Augen fest. Trotzdem lief eine weitere Träne ihre Wange glitzernd wie ein Diamant hinunter und platschte leise auf den gefliesten Boden.

„Danke, Kat“, quetschte sie würgend hervor. „Danke.“
 

Kat trat auf sie zu und zog sie sanft an sich. Normalerweise hätte Lil sich gewehrt. Heute sank sie vorwärts in die Umarmung und schlang die Arme um Kats Taille. Wieder weinte sie, als würde sie brechen. Für Kat, die es gewohnt war, dass Menschen weinten wenn sie etwas wollten, das sie nicht bekamen, oder wenn sie etwas verloren hatten, was sie dennoch haben wollten, war Lils Weinen auf eine bestimmte Art schrecklich: Es war absolut bar jeder Illusionen, völlig frei jeder letzten, verzweifelten Hoffnung, die man manchmal hören konnte. Egal was Lil quälte – sie machte sich keinerlei Illusionen darüber. Kat spürte, wie sie unwillkürlich vor Mitleid die Zähne zusammenbiss und sich verzweifelt fragte, was sie tun konnte, um den Schmerz ihrer Freundin zu mildern.

„Wofür?“, fragte sie leise und spürte, wie Lils Arme sich fester um sie schlangen, als könne sie sich so selbst davor bewahren, zu zerbrechen.

„Für alles“, flüsterte Lil und vergrub den Kopf tiefer an ihrer Brust. Kats dicker Pulli wurde nass, aber das kümmerte sie nicht. „Dass du meine Freundin bist. Das habe ich nicht verdient.“

„So ein Quatsch“; empörte sich Kat ebenso leise. „Warum solltest du keine Freundin verdient haben! Rede keinen Unsinn, Lilly Rush!“

Lil machte ein Geräusch halb zwischen Lachen und Weinen. „Danke, dass du mich so erträgst wie ich bin“, flüsterte sie wieder.

„So wie du bist bist du das, was Lilly Rush ausmacht“, gab Kat zurück und warf sich selbst im Spiegel einen kurzen, hilflosen Blick zu. Es passte nicht zu Lil, sich solche Gedanken zu machen – und sie spürte genau, dass es nicht der wahre Grund für ihren Zusammenbruch war. „Warum sagst du so was jetzt, Lil?“

Eine Zeit lang weinte sie nur leise. Dann hauchte sie: „Weil ich es noch nie gesagt habe. Und ich wollte es sagen, bevor... Bevor...“

„Bevor was?“

Sie kam dem Problem näher. Unwillkürlich drückte sie Lil fester.

„Bevor es zu spät ist.“

Sie weinte jetzt haltlos.

„Man merkt es immer erst am Ende, oder?“

„Was?“

„Wie wichtig es war. Wie schön. Was...“ Sie musste Luft holen. „Was man verliert. Man merkt es immer erst am Ende.“

„Da ist was dran“, sagte Kat leise. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was Lil bedrückte. Aber da sie nichts mehr sagte, hielt sie sie einfach nur fest. Dennoch schienen ihre Tränen nicht versiegen zu wollen. Immer weiter und weiter weinte sie, beinahe zu leise, um echtes Weinen zu sein, aber mit der selben absoluten Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die Kat auch zuvor schon gespürt hatte. Irgendwann machte Kat sich los und nahm ihre Freundin bei den Schultern.

„Lil. Ich bringe dich nach Hause. Ich hole nur eben unsere Jacken und Taschen.“

Lil wollte etwas einwenden, aber Kat liess nichts gelten. „Du bleibst jetzt hier. Ich bin in ein paar Minuten zurück. Beweg dich nicht vom Fleck, verstanden?“

Sie nickte und Kat zog sich den Schal über den feuchten Fleck auf ihrem Pulli und ging zur Tür. Im Hinausgehen warf sie einen letzten Blick auf Lil: Sie lehnte an der gefliesten Wand, die Augen geschlossen – und noch immer kamen Tränen. In ihrem Innersten wuchs Wut – eine gewaltige Wut auf denjenigen, der ihr das angetan hatte. Egal, was „das“ auch sein mochte – es hatte sie zerbrechen lassen.
 

Entschlossen marschierte Kat über den Flur, durch das Büro und in den Pausenraum, ohne auf Menschen zu treffen. Freitagabends im Winter versuchte jeder Polizist, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen... Aber im Pausenraum rannte sie schnurstracks in Vera hinein, der eine Flasche Wein in der einen und eine Torte in der anderen balancierte. „Achtung!“, fuhr er sie erschrocken an. Kat blieb kurz stehen, um ihn von oben bis unten zu mustern, dann trat sie an die Garderobe und nahm ihren und Lils Mantel.

„Was – um die Uhrzeit Torte? Das kann doch nicht gesund sein!“

„Wir haben Grund zum Feiern“, sagte Will Jeffries, der in dem Moment den Raum betrat, Scotty Valens und John Stillman direkt hinter sich. Überrascht schaute Kat auf.

„Ach? Was denn?“

Stillman deutete auf Scotty. „Fragen Sie ihn.“

Kat sah Scotty an. „Also?“

„Nun, ich...“ Der Detective zögerte, dann breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Ich werde befördert!“

Überrascht schaute Kat ihn an und streckte die Hand aus. „Glückwunsch – das sind ja tolle Neuigkeiten!“

Dankend schüttelte er die dargebotene Hand. „Danke. Bleiben Sie doch auch, Kat, und trinken ein Glas mit uns? Vielleicht bleibt Lil auch noch...“ Suchend sah er sie um. „Merkwürdig. Ich habe sie schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Wo ist sie bloß?“

Kat zog die Brauen zusammen. „Ihr geht es nicht gut“, sagte sie aber nur. „Ich bringe sie nach Hause.“

„Ach so“, sagte Scotty und für einen Moment wirkte er enttäuscht. Dann hob er seine Schultern. „Da kann man nichts machen.“

„Haben Sie es ihr schon gesagt, Scotty?“, fragte Will und stellte einige Weingläser auf den Tisch. Scotty nickte mit leuchtenden Augen.

„Das ist unglaublich. Damit habe ich nicht gerechnet...“ Er lachte. „Darauf gehofft vielleicht, aber nicht gerechnet. Das...“

„Das ist ein großer Sprung auf der Karriereleiter für sie, Scotty“, sagte Stillman und legte ihm die Hand auf den Rücken.

Kat hatte plötzlich ein schlechtes Gefühl.

Scotty nickte wieder.

„Es wäre natürlich noch besser, wenn ich hierbleiben könnte“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Aber es ist ja nicht so weit weg – und wir werden uns bestimmt oft sehen können!“

„Darauf können Sie wetten!“ Vera schlug ihm so fest auf die Schulter, dass er fast in die Knie ging.

„Moment mal“, sagte Kat langsam, als es ihr dämmerte. „Sie werden versetzt?“

„Natürlich“, sagte Stillman und sah sie an. „Ich denke nicht daran, meinen Posten hier schon so bald aufzugeben, Kat.“

„Das meine ich nicht“, sagte sie und suchte fieberhaft nach Worten. „Ich meine... Was hat Lil eigentlich dazu gesagt?“

„Lil?“ Scotty zuckte die Achseln und starrte sie befremdet an. „Sie hat sich für mich gefreut. Wieso? Sie wird einen neuen, guten Partner bekommen, der Boss hat es versprochen. Stimmts, Boss?“, wandte er sich an Stillman, der bestätigend nickte.

„Natürlich.“
 

Kat schloss die Augen und verfluchte die Idiotie – oder einfach schlichte Blindheit – der männlichen Kollegen.
 

„Ich bringe Lil dann nach Hause“, sagte sie und fühlte sich plötzlich ebenso müde wie Lil ausgesehen hatte. Plötzlich hatte sie eine ungefähre Ahnung davon, was ihrer Freundin solche Schmerzen bereitete.

Arme Lil.

Ihr war das Selbe passiert wie so vielen anderen Menschen zuvor, und sie hatte es richtig erkannt:

Man merkte es erst am Ende.
 

Man merkte erst, wie wichtig ein Mensch für jemanden war, wenn man ihn verlor.

Cold Case - Frühling. Die Wahrheit in Gute-Nacht-Geschichten

Shame on me! Einen ganzen Monat lang mit den Updates ausgesetzt... *sich klein macht* Na ja, wem ist es aufgefallen? Wahrscheinlich niemandem... *lach*
 

Dennoch hier - das nächste Kapitel. Da ich den genauen Altersunterschied zwischen Lil und Chris nicht kenne, musste ich mir etwas ausdenken, und wahrscheinlich ist Lil als Kind ein wenig... hm, überreizt und unglaubwürdig? Ich hoffe nicht, gebe aber zu meiner Verteidigung zu bedenken, dass sie es als Kind sehr schwer hatte. Weshalb ihr ein wenig Gereiztheit und Reife zugestanden werden müssen^^
 

Disclaimer: Ups, Gewohnheit von ff.net... Nix meins. Besäße ich Cold Case... *träum*
 

On we go!
 

~***~
 

Cold Case – Frühling. Die Wahrheit in Gute-Nacht-Geschichten
 

Draußen war es noch kalt.

Kalt wie eine Frühlingsnacht, kalt wie Einsamkeit, kalt wie ein Nordwind, der um die Häuser strich. Normalerweise suchten Menschen sich in kalten Frühlingsnächten einen ruhigen, warmen Ort. Einen bequemen Ort, an dem sie bei hellem Licht saßen, sich wohl fühlten und die kalte Nacht einfach vergaßen. Normalerweise waren bei solchen Temperaturen in Philadelphia die Heizungen noch an, in Kaminen knisterten fröhliche Feuer und warme Zimmer lockten und verleiteten dazu, nicht einmal aus dem Fenster sehen zu wollen, weil es drinnen so angenehm war, dass man nicht an die Kälte dort draußen erinnert werden wollte.

Aber das setzte natürlich voraus, dass man eine Heizung oder einen Kamin hatte... Und dass man das Gel d hatte, um die Heizkosten zu bezahlen.
 

„Lil?“, flüsterte Chris leise Stimme aus dem Nachbarbett. „Bist du noch wach?“ Lil, die gerade versucht hatte zu vergessen, wie kalt ihr war, um endlich einschlafen zu können, knurrte ungehalten. „Nein.“

Für eine Weile herrschte Stille. Dann ertönte wieder Chris Stimme, diesmal mit einem eindeutig bittenden Unterton. „Darf ich zu dir ins Bett kommen?“ Lil öffnete ein Auge und seufzte. „Meinetwegen.“

Tappsende Schritte ertönten, als Chris so schnell wie möglich das Zimmer durchquerte. Dann quietschten die Federn der Matratze und eine kleine Gestalt kroch unter Lils Decke.

„Ah!“, rief diese erschrocken aus. „Deine Füße sind ja eiskalt! Hast du keine Socken angezogen?“

Kleinlaut, aber trotzig, schüttelte Chris den Kopf. „Die kratzen so!“

„Das ist doch egal!“ Lil sprang aus dem Bett und lief zur alten, zerkratzten Kommode, die an der Wand in ihrem Zimmer stand – eines der wenigen Möbelstücke, die sie besaßen. Die unterste Schublade klemmte. Mit der Erfahrung einer Person, die jeden Tag mit den Tücken des besagten Schrankes zu kämpfen hatte, rüttelte sie daran, fischte ein paar dicker Wollsocken aus der eher mageren Auswahl an Kleidungsstücken im Inneren und rannte zum Bett zurück.

„Anziehen!“, kommandierte sie. Ihre jüngere Schwester zog einen Flunsch, der selbst im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung, welches von draußen hereinschien, zu sehen war.

„Ich will nicht“, jammerte sie. Lil zuckte die Schultern und zog ihre Decke weg, sodass Chris im Kalten lag.

„Dann geh in dein eigenes Bett. Ich will keine kalten Füße unter meiner Decke haben.“

„Du bist doof!“, fauchte Chris und streifte sich die Socken über. „Siehst du? Ich hab sie angezogen.“

Lil machte unter der Decke Platz. „Komm schon. Aber schlaf endlich!“
 

„Lil?“, wisperte Chris leise. Wieder brummte ihre Schwester unwillig. Langsam begann die dünne Decke, sie zu wärmen, langsam drifteten die letzten unfreundlichen Gedanken des Tages davon. Der Schlaf wartete mit Träumen, die sie vorübergehend die triste Realität vergessen lassen würden, aber Chris schien es heute darauf angelegt zu haben, sie zu nerven.

„Ja“, knurrte sie.

„Ich kann nicht schlafen“, kam es weinerlich zurück.

„Du musst die Augen zumachen!“, fuhr Lil sie an. „Sonst geht es nicht!“

„Ich hab doch die Augen zu“, kam es zurück. Dem Klang der Stimme nach war ihre kleine Schwester den Tränen nahe. Lil öffnete die Augen und seufzte erneut.

„Stell dir vor, du stehst am Meer“, sagte sie schliesslich unwillig und schloss die Augen wieder. „Das Meer rauscht und die Wellen sind weiß vor Schaum... Und du schaust dem Wasser zu, wie es kommt und geht.“

Chris schwieg so lange, dass sie schon glaubte, sie sei eingeschlafen. Dann: „Ich kann trotzdem nicht schlafen!“

Lil platzte der Kragen. „Toll! Und was soll ich dagegen machen?“

Jetzt fing Chris wirklich an zu heulen. Leise, aber eindrücklich, weinte sie in ihr – nein, in Lils Kopfkissen!

„Ich weiß doch auch nicht“, jammerte sie leise. „Aber ich kann nicht schlafen!“

„Geh und hol dir ein Glas Wasser“, knirschte Lil und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Morgen würde sie früh aufstehen müssen. Mama war noch nicht wieder zu Hause und es war unwahrscheinlich, dass sie morgen früh in der Küche stehen würde und ein Butterbrot für ihre Töchter schmieren würde... Lil hatte nachgesehen. Es gab nur noch Cornflakes. Chris Füße tappsten wieder über den Boden, als sie vom Bad zurückkehrte. Stumm legte sie sich neben Lil und schmiegte sich an sie. Lil brachte es nicht über das Herz, ihre fünf Jahre jüngere Schwester wegzuschieben, also liess sie zu, dass kalte Füße in Wollsocken sich gegen ihre schoben und lockiges Haar sie am Hals kitzelte.

„Gute Nacht“, sagte sie, damit Chris nicht glaubte, sie sei wirklich böse auf sie. Chris schniefte.

„Gute Nacht.“
 

„Lil?“

Sie hatte damit gerechnet, deshalb gab sie jeden Gedanken an Schlaf in dem Moment auf, in dem ihre kleine Schwester erneut ihren Namen flüsterte. Sie seufzte leise und richtete sich auf, bis sie sich auf einen Ellenbogen stützen konnte.

„Ja?“

„Ich kann immernoch nicht schlafen!“

„Psst. Nicht weinen“, tröstete sie Chris und wischte die Tränen mit einem Zipfel der Decke weg.

„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“

Sofort waren die Tränen vergessen. „Was für eine Geschichte?“

„Eine Wunsch-Geschichte“, versprach Lil.

Chris war Feuer und Flamme. „Eine Geschichte von mir!“

„Okay.“ Schnell zermarterte Lil sich den Kopf über einen vernünftigen Erzählstrang. „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Christina...“

„Das bin ich“, erklärte Chris wieder wichtig.

„Genau, das bist du. Christina lebte mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einer kleinen Wohnung in Kensington in Philadelphia. Christina ging gern zur Schule, weil sie dort ihre Freunde traf. Da gab es zum Beispiel Laura und Teddy...“

„Und Richard!“

„Und Richard. In der Schule lernte sie alle Dinge, die sie brauchte, um Groß zu werden...“

„Wenn ich Groß bin, werde ich heiraten“, erklärte das kleine Mädchen entschieden. „Ich werde Richard heiraten und viel Geld haben und ein großes Haus, und du darfst mich besuchen kommen!“

„Aber erst mal musst du zur Schule gehen und genug lernen, um eine Arbeit zu finden“, wandte Lil ein. Chris winkte den Einwand beiseite. „Richard wird arbeiten gehen und genug Geld kriegen, sodass wir jeden Tag zu essen haben!“

Lil lachte leise. „Magst du Richard denn?“

Im Dunkeln spürte sie, wie Chris den Kopf schüttelte. „Nee.“

„Wie?“ Überrascht sah sie auf. „Warum willst du ihn heiraten, wenn du ihn nicht magst?“

„Weil er gelbe Haare hat.“

Lil musste lachen. „Nur deswegen?“

„Ja.“

„Wäre es dann nicht einfacher auf jemanden zu warten, der auch blonde Haare hat, statt einfach Richard zu nehmen?“

„Aber er muss auch blaue Augen haben“, wandte Chris ein. „Sonst heirate ich ihn nicht!“

„Aha.“ Lil schüttelte den Kopf. „Und was ist, wenn jemand dich fragt, ob du ihn heiraten willst, und er schwarze Haare hat?“

„Dann will ich ihn nicht“, sagte Chris entschieden und vergrub den Kopf an Lils Schulter. „Schwarze Haare sind doof.“

„Okay. Dann gehst du zur Schule, bis du fertig bist. Dann kannst du arbeiten und Geld verdienen und wenn ein Mann mit blondem Haar und blauen Augen kommt, der dich heiraten will, dann heiratest du ihn und ihr lebt glücklich bis an euer Lebensende. Wie ist die Geschichte?“

Chris dachte eine Weile darüber nach. „Er muss Arzt sein.“

„Arzt?“, wiederholte Lil.

„Ja. Und er muss genauso groß sein wie ich, nicht größer. Und er muss mir Blumen mitbringen und Samstags mit mir zusammen im Bett frühstücken und Schokolade lieben und ernst schauen, manchmal, und dann muss er lachen. Und...“

„Moment“, unterbrach Lil sie. „Also wirst du deinen Traummann finden und glücklich mit ihm, okay?“ Chris überlegte kurz, dann nickte sie gnädig. „Okay.“

„Okay“, sagte auch Lil und gähnte. „Dann schlaf jetzt, ja?“

„Okay.“

Chris kuschelte sich an sie und schwieg nun tatsächlich. Lil schloss die Augen, legte einen Arm um ihre kleine Schwester und versuchte zu schlafen. Leider war das nun nicht mehr so einfach.

„Lil“, flüsterte eine leise Stimme auf einmal und Lil wäre beinahe aufgefahren vor Schreck. Dann wuchs der Ärger wieder, den sie zu unterdrücken versuchte.

„Was ist jetzt wieder los!“

„Lil“, flüsterte Chris ein weiteres Mal, als hätte sie den ärgerlichen Tonfall ihrer Schwester nicht wahrgenommen. „Lil – dein Mann muss sehr lieb zu dir sein.“

Vollkommen perplex riss Lil die Augen wieder auf. „Wie bitte?“

„Er muss lieb zu dir sein und auf dich aufpassen. Er soll mit dir essen gehen und dir schöne Sachen kaufen.“

Kopfschüttelnd sah sie ihre Schwester an. „Und warum?“

„Er soll braune Haare und braune Augen haben“, fuhr Chris unbeirrt fort. „Weil du das so magst. Und er muss größer sein als du. Aber genauso klug wie du. Und er muss Katzen mögen, stimmts. Aber er muss auf dich aufpassen, weil du nie auf dich selbst aufpasst. Und er muss auch kochen können.“ Jetzt musste sie lachen. „Das kannst du nämlich gar nicht!“

„Ich glaube nicht, dass es so einen Mann gibt“, widersprach Lil schliesslich. Chris sah sie in der Dunkelheit an. „Woher weißt du das?“

„Ich glaube es nicht“, wiederholte sie resolut. „Und jetzt schlaf endlich, Chris. Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, kam es leise aus der Dunkelheit zurück.
 

Viele, viele Jahre später

„Lil!“

Chris stürmte ihr entgegen, erreichte sie auf der Treppe und fiel ihr um den Hals. Ein wenig steif begegnete sie der Herzlichkeit ihrer Schwester.

„Ich bin so froh, dass du da bist“, flüsterte Chris in Lils Schulter und presste sie an sich. „Das bedeutet mir unglaublich viel!“

Unbehaglich löste sie sich von ihr und betrachtete ihre kleine Schwester. Chris Augen leuchteten. „Du musst reinkommen“, sprudelte es aus ihr heraus. „Danny ist schon ganz gespannt auf dich! Und dann musst du mir helfen. Ich weiß nicht, was ich anziehen soll, und wir sollen doch um 3 auf dem Standesamt sein... Und das Buffet muss dekoriert werden, ich habe doch kein Auge für so was, und Dannys Mutter lässt mich einfach nicht in Ruhe, dabei bin ich mit 35 beileibe kein Kind mehr! Und meine Kollegen kommen auch, ich bin doch jetzt schon drei jahre lang in der Firma und ich wollte dass du siehst dass ich Sachen auch richtig machen kann, Lil, und nicht nur halb, und...“

„Chris“, unterbrach Lil sie lächelnd. „Danke für die Einladung.“

„Na hör mal!“, empörte sich Chris und stemmte die Hände in die Hüften. „Du glaubst doch nicht, dass ich heirate, ohne dich einzuladen!“

Lil schüttelte den Kopf. „Chris, meinst du wirklich, du willst...“

Mit einem Mal waren die graublauen Augen ernst. „Natürlich. Das ist das erste Mal, dass ich genau weiß, was ich will, Lil – nun, wenn man das Mal mitzählt, in dem ich nochmal eine Ausbildung begonnen und in der Firma eingestiegen bin, das zweite Mal. Ich habe mich geändert, Lil, wirklich. Ich habe eine Arbeit und einen Verlobten, den ich gleich heiraten werde... Bitte glaub mir.“

Lil sah in die Augen ihrer kleinen Schwester. Sie hatte immer gewusst, wann sie log, ob es eine kleine Lüge oder eine Lüge war, die ihr das Herz brach. Diesmal sah sie nichts als Ehrlichkeit Chris Augen. Sie seufzte innerlich und nickte. „Ich weiß, Chris. Ich weiß.“

Mit leuchtenden Augen nahm Chris ihre Hand. „Komm, ich stelle dir Danny vor! Du wirst ihn mögen!“
 

Blond war er, fuhr Lil durch den Kopf. Er war strohblond und seine Augen leuchteten blau.

„Ihr könntet Geschwister sein“, sagte Dannys Mutter zu Lil und strich ihrem Sohn durchs Haar. Der lachte nur. „Gut, dass wir es nicht sind“, sagte er und küsste Chris auf den Mund. Sie kicherte wie ein junges Mädchen. Lil betrachtete die Beiden und wusste, dass sich hier zwei Menschen gefunden hatten.

„Und was machst du so?“, fragte sie ihren zukünftigen Schwager, als der sich wieder von ihrer Schwester löste. Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn und seine blauen Augen leuchteten.

„Ich bin Arzt“, sagte er und strich die Haare wieder aus den Augen. Die eine Hand schlang er Chris um die Hüfte, sodass sie sich an ihn schmiegen konnte. Ihre Köpfe befanden sich auf gleicher Höhe, bemerkte sie.

„Chris sagt, du bist ein Cop?“

„Detective“, korrigierte sie ihn und folgte ins Wohnzimmer. Chris machte sich von ihrem Verlobten frei und zog sie am Arm hinüber zu dem langen Tisch, auf dem einige Vasen und Schleifen lagen. „Ich brauche dringend deine Hilfe!“

„Das wird nichts, wenn du willst, dass ich etwas koche, das weißt du.“ Ungeduldig winkte sie ab. „Nein, nein, das Kochen erledigen andere. Aber hier, schau mal...“
 

Es war erstaunlich, stellte Lil fest, wie sehr ihre kleine Schwester sich geändert hatte – und dabei doch ganz sie selbst geblieben war. Der Stil, in dem die Wohnung eingerichtet worden war, war eindeutig Christinas, und alles war sorgfältig und liebevoll zusammengestellt worden. In der Küche sah es ordentlich und organisiert aus und Lil begann fast, ihre chaotische, kleine Schwester zu vermissen. Dann rief sie sich streng zur Ordnung. Chris war erwachsen, und mit Danny schien sie eindeutig die Konstante in ihrem Leben gefunden zu haben, nach der sie immer gesucht hatte. Sie wirkte ausgeglichen, konzentriert, zielstrebig – aber am allerwichtigsten war Lil, dass ihre kleine Schwester glücklich aussah.
 

Am Abend holte Scotty sie ab und küsste sie zur Begrüßung auf die Stirn.

„Und? Wie war es?“

Tief atmete sie durch. „Besser als ich zu hoffen gewagt hatte“, teilte sie ihm mit. „Wirklich.“

Er lachte und legte ihr den Mantel über die Schultern. Obwohl es Frühling war, war es noch immer empfindlich kalt draußen – zumindest Nachts.

„Ich verabschiede mich eben“, sagte sie und er nickte. „Ich komme mit und gratuliere.“
 

„Scotty?“ Für einen Augenblick schien Chris vor Überraschung erstarrt zu sein. Dann fing sie sich wieder und liess sich von ihm auf die Wange küssen. „Vielen Dank! Das ist ja mal eine Überraschung! Darf ich dir Danny vorstellen?“

„Meinen herzlichsten Glückwunsch“, sagte Scotty und drückte dem Bräutigam breit grinsend die Hand.

„Vielen Dank“, erwiderte der und sah von einem zum anderen. „Und Sie sind Lillys Partner bei der Mordkommission?“

Scotty nickte und verpasste den Blick, den Chris sowohl ihm als auch Lil zuwarf. „Ich kenne Chris von früher.“

„Ich habe gehört, dass sie damals... recht... wild war“, sagte Danny und lachte. Lil und Scotty brauchten sich nicht anzusehen, um zu wissen, was der jeweils andere dachte.

„Keine Sorge, sie hat mir alles erzählt“, sagte Danny und legte einen Arm zärtlich um seine Frau. „Ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich liebe sie ja schliesslich auch!“

Plötzlich musste Lil schleunigst verschwinden.

So schnell es ging, ohne den Verdacht der Frischvermählten zu wecken, verabschiedete sie sich und verliess fluchtartig das Haus, Scotty im Schlepptau. Erst als sie auf dem Gehweg an der Straße standen, atmete sie auf.
 

„Was war das denn“, fragte Scotty amüsiert und nahm ihre Hand. „Sah mir irgendwie wie eine Flucht aus?“

Eine kurze Weile überlegte sie, ihm die Hand wieder zu entziehen, dann liess sie sie dort, wo sie war.

„Wie kommst du darauf“, fragte sie nur und. Nebeneinander wanderten sie den Gehweg entlang, bis sie an seinem Wagen standen. Dort schob er sie gegen die Tür und lehnte sich an sie.

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig“, fragte er leise, seine Lippen so dicht an ihren, dass sie sich beinahe berührten. „Denn dafür gäbe es doch überhaupt keinen Grund.“
 

Er küsste sie.

„Und wenn ich auf Chris eifersüchtig wäre?“, fragte sie schliesslich leise. Scotty wich zurück.

„Wie bitte?“ Lil lachte auf und zog seinen Kopf wieder zu sich. „Das war ein Scherz“, erklärte sie mit funkelnden Augen und küsste ihn. Als sie keine Luft mehr bekam, wich sie zurück, doch Scotty folgte ihr und küsste sie wieder, fester und hungriger.

„Das ist die Strafe“, sagte er heiser. Unter dem Klang seiner Stimme erschauerte sie.

„Wie wäre es, wenn wir nach Hause fahren?“, schlug sie vor.

Scotty lächelte gegen ihre Lippen. „Gute Idee. Vielleicht mache ich dir noch einen Mitternachtsimbiss. Was meinst du?“

„Dagegen hätte ich nichts.“

„Das dachte ich mir. Aber was ist es dir wert?“

„Alles“, flüsterte sie und lehnte sich an ihn, als er sie in die Arme nahm und an sich drückte, liebevoll und besitzergreifend zugleich. „Du bist mir alles wert, Scotty.“
 

„Was machst du da?“, fragte Danny seine frisch angetraute Ehefrau, als er sie in flagranti hinter der Gardine in ihrer Küche erwischte. Chris lachte leise auf und hob die Gardine, während sie ihn mit der anderen Hand zu ihm winkte. Neugierig folgte er ihrer Aufforderung und trat ans Fenster.

„Was – oh.“

Chris lachte wieder. „Oh ja, oh! Hab ichs mir doch gedacht.“

Gedankenverloren strich sich Danny über das Kinn. „Ist das in Ordnung?“

„In Ordnung!“ Chris sah ihn mit funkelnden Augen an. „Darauf warte nicht nur ich schon seit Jahren!“

„Aber ich dachte, du wärst auch mit ihm zusammen gewesen?“

„Ja, schon...“ Sie zuckte die Schultern und sah wieder hinaus. „Aber mir war ziemlich klar, dass es nicht von Dauer sein würde. Und Scotty war verzweifelt damals. Aber ich hab mir schon so was gedacht, als Lil mich rauswarf... Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Die beiden haben viel gemeinsam. Und Scotty sieht immernoch so verdammt gut aus...“

Sanft küsste Danny ihren Hals. „Willst du mich eifersüchtig machen?“

„Wer weiß“, gab sie zurück und schloss die Augen. „Kommt darauf an, was ich dafür bekomme.“
 

Dann lachte sie laut auf. „Und das Beste ist: Der Mann kann kochen, und wie!“

Cold Case - Sommer. Zu gut, um schlecht zu sein

Ahhhh! Ich weiß nicht, wie alt dieses Kapitel schon ist, aber ich wollte es immer schon hochladen! Es ist definitiv eines meiner Lieblinge...

Hach. Ich liebe dieses Paar.

Es ist lang her, seit ich das letzte Kapitel hochgeladen habe... Ich hoffe, ich kann das mit diesem hier entschädigen^^
 

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„Irgendwie kommt mir diese Situation bekannt vor“, witzelte Scotty Valens und schloss die Tür eher weniger leise hinter sich. Durch das Fensterglas der großen Verandatüren des großen Saales erklang die Musik draußen nur gedämpft, aber die Lichter strahlten hell wie eh und je in der lauen Herbstnacht.

Im Inneren des großen Saales konnte Lilly Rush das Brautpaar auf der Tanzfläche sehen, wie es sich zu den Klängen der Musik langsam hin und her wiegte. Nick Vera, ihr manchmal eher behäbig und grimmig wirkender Kollege, schien heute zu schweben und strahlte vor Glück. Die Frau in seinen Armen passte ebensowenig zu ihm wie Schnee in den Sommer passt: sie war hellhaarig und hellhäutig und wirkte in den Armen des Polizisten noch zerbrechlicher und kleiner als sie sowieso schon war. Ihre Handgelenke waren so dünn, dass man Angst haben musste, zu mit einem Blick zu zerbrechen, aber Nick hielt sie so sanft in seinen Armen, dass er sie kaum zu berühren schien.

Langsam begannen auch die Gäste, sich auf die Tanzfläche zu wagen. Mehr oder weniger leichtfüßig bewegten sie sich in Paaren durch den Raum, ein Wirbel aus bunten Farben und Gesichtern, und Nick und Alice gingen im allgemeinen fließenden Durcheinander von Gestalten unter.
 

Mit einer Hand zog Lil den Schal enger um ihre Schultern.

Die kühle Herbstluft tat ihr gut, strich sanft über ihr erhitztes Gesicht. Die Falten in ihrem Kleid wisperten leise.

„Déja-Vu oder Déja-Senti? “, fragte sie ihren Partner zurück, der sich neben sie gestellt und seine Arme vor der Brust verschränkt hatte.

Scotty zuckte die Schultern und grinste.

„War das Italienisch?“

„Französisch.“

Er nahm ihre Korrektur nicht krumm – und außerdem hatte Lil das Gefühl, dass er sehr genau wusste, was sie meinte – und zuckte die Schulten erneut.

„Ich mochte psychologische Erklärungen für Bauchgefühle noch nie.“

Ihre Augen fokussierten sich.

Bisher hatte sie durch die Glasscheibe ins Innere des Raumes geschaut – nun konzentrierte sie sich auf die Spiegelung in der Scheibe: Eine hochgewachsene, blonde Frau in einem langen Abendkleid, ein großer, dunkelhaariger Mann in einem schwarzen Anzug mit roter Krawatte. Der Anzug stand ihm gut – allerdings stand jeder Anzug ihm gut, das hatte er oft bewiesen. Amüsiert entgegnete er ihrem Blick in ihrem persönlichen Spiegel, dann drehte er seinen Kopf und betrachtete sie von der Seite. Lils erster Reflex war, zurückzuzucken und so zu tun, als hätte sie nicht bemerkt, dass er bemerkt hatte, dass sie ihn beobachtete. Dann zuckte sie innerlich mit den Schultern und drehte den Kopf, um ihn ebenfalls anzusehen.

Jetzt, da sie ihn im Licht des spiegelnden Glanzes aus dem Inneren des Saales sah, fiel ihr auf, was sie zunächst nicht bemerkt hatte und was in der Tat ungewöhnlich war. Es hätte ihr gleich auffallen sollen, nachdem er zu ihr hinaus gekommen war. So aber betrachtete sie zum ersten Mal seine leicht geröteten Wangen und seine dunklen Augen, die deutlich mehr zu glänzen schienen als sie es normalerweise taten. Um seine Lippen spielte ein jungenhaftes, übermütiges Grinsen. Wieviel hatte er getrunken?

„Komm wieder rein“, sagte er und wies mit dem Kopf auf den Saal, aus dem nun ein Foxtrott ertönte.

„Komm schon, Lil. Das ist Nicks Hochzeit. Schließ dich nicht so aus – und es ist langweilig, hier herumzustehen und zuzuschauen. Gott, es ist ganz entgegen der Norm sogar langweilig, dir beim Zuschauen zuzuschauen.“

„Du hast getrunken“, warf sie ihm vor, nicht wissend, ob sie besorgt oder verärgert sein sollte. Scotty lachte.

„Sicher! Das hier ist eine Hochzeit, Lil.“

Dann packte er ihre Hand.

„Bitte. Steh hier nicht so rum. Da bekommt man ja beim Zuschauen Depressionen. Kannst du dich nicht wenigstens ein bisschen amüsieren?“

Schon hatte sich ihr Partner von ihr abgewandt, schob mit der linken Hand die Glastür wieder auf und zog sie mit seiner Rechten unerbittlich hinter sich hier. Ehe Lil sich versah, schlugen Hitze, Musik, Menschen und Geräuschpegel wieder über ihr zusammen wie eine lautlose Welle. Als der Druck an ihrer rechten Hand verschwand, durchfuhr sie ein plötzliches Gefühl der Panik: Menschenmassen, fremde Gesichter, Lärm – und Scotty war verschwunden. Mit klopfendem Herzen stand sie da, unsicher was sie nun tun oder wohin sie nun gehen sollte, und wünschte sich, dass sie ihrem Partner nicht so bereitwillig gefolgt wäre...

Zwei Kinder, die inmitten der tanzenden, lachenden, redenden, trinkenden Menge Verstecken spielten, rannten beinahe in sie hinein.

„Was...“

„Entschuldigung!“, rief ihr der ältere Junge zu, schon wieder im Fortlaufen begriffen. Lachend folgte er seinem Spielgefährten hinaus auf die Veranda, von der Lil gekommen war. Leise seufzte sie, als sie begriff, dass ihr Rückzugsort nun besetzt war, und blickte sich verunsichert um. Wo war Scotty nur hin verschwunden?

Jemand sprach sie von hinten an.

Lil wirbelte herum und erblickte einen Kellner, der ihr ein Tablett mit gefüllten Gläsern hinhielt.

„Etwas zu trinken, Miss?“

Wie nach einem Rettungsanker griff sie nach dem angebotenen Sekt.

„Bitte sehr, Miss.“

Das Getränk war süß, trocken und perlte kühl und bitter ihre Kehle hinab. Sie leerte das Glas in einem Zug. Das Gefühl der Leichtigkeit, welches aus ihrem Magen in ihren Kopf stieg, half ihr, ihre Ruhe wiederzufinden, während sie sich umblickte und herauszufinden versuchte, was ihrem Partner zugestoßen war. Vielleicht hatte er nur...

„Lil!“

Scottys Augen glitzerten schwarz. Als er das leere Glas in ihrer Hand sah, grinste er nur breiter.

„Ich hätte mir denken können, dass du dir selbst zu helfen weißt.“

Er drückte ihr ein volles Glas in die linke Hand und nahm ihr den leeren Kelch ab, den er kurzerhand auf der niedrigen Fensterbank hinter ihnen abstellte.

„Hier.“

Plötzlich wieder von Ruhe erfüllt, nippte Lil an ihrem Glas. Scotty betrachtete sie kurz und trank dann auch einen Schluck.

„Er ist gut.“

„Nein.“

Scotty lachte.

„Nicht?“

„Nein.“

Der Sekt war ihr zu süß. Sie hatte niemals Sekt gemocht.

„Aber das ist Geschmackssache“, setzte sie hinzu. Scotty blickte in die Tiefen seines Getränks.

„Er ist gut. Du magst nur keinen Sekt.“

Lil zog es vor, darauf nicht zu antworten, und leerte stattdessen ihr Glas. Bemüht, ihr Gesicht nicht zu einer Grimasse zu verziehen, stellte sie den geleerten Kelch hinter sich ab.

„Nein.“

Auch Scotty trank aus uns stellte sein Glas beiseite. Dann ergriff er ihre Hand. Die Leichtigkeit in ihrem Kopf war so weit, dass Lil das Gefühl hatte zu schweben. Ihre Umgebung versank immer mehr in einem Meer aus Farben und Geräuschen, als würde sich ein Schleier zwischen sie und die Menschen um sie herum schieben. Nur Scotty selbst und seine Berührung – der warme, feste Griff seiner Hand – brannten kristallklar in ihrem Bewusstsein.

„Lass uns tanzen“, sagte er, wartete jedoch nicht auf ihre Antwort, sondern zog sie sanft und bestimmt hinter sich her in Richtung der Tanzfläche. Für einen Moment war sie nicht in der Lage zu antworten, dann sickerte die Bedeutung seiner Worte in ihren benebelten Verstand.

„Nein, Scotty! Lass mich los!“

Er hielt nicht an, sondern schaute nur nach hinten. Prompt stieß er mit einer überaus fülligen Frau zusammen, die ihm den Rücken zuwandte. Empört drehte sie sich um.

„He, Sie!“

„Verzeihung“, entschuldigte sich Scotty formvollendet – und nicht ganz ernsthaft.

„Ich habe nicht aufgepasst. Die Schuld liegt voll und ganz bei mir.“

„Das will ich auch hoffen“, entrüstete sich die Frau in einem furchtbaren texanischen Dialekt. Dann drehte sie sich um – jedoch nicht, ohne Lil einen letzten Blick voll gerechter Empörung zukommen zu lassen.

„Passen Sie das nächste Mal auf, wohin ihr Mann läuft!“

Lils Antwort ging verloren, als sie in Gelächter ausbrach. Gott Sei Dank war die Frau schon wieder zu weit weg, als dass sie diesen Ausbruch von Heiterkeit mitbekommen hätte.

Als Scotty Lil ansah und bemerkte, dass sie sich vor Lachen krümmte, verzog auch sein Gesicht sich.

„Lil – alles in Ordnung?“

Leider war sie nicht in der Lage zu antworten. Wahrscheinlich war es der Alkohol – die zwei Gläser Sekt stiegen ihr schneller zu Kopf, als sie erwartet hatte, aber sie hatte auch nichts zuvor gegessen – und eigentlich hätte sie von sich gedacht, dass sie noch in der Lage war, sich zu beherrschen. Aber diese Frau und ihr Dialekt und ihre weltgerechte Entrüstung waren mehr, als sie ertragen konnte.

„Ich werde ab jetzt aufpassen, wo mein Mann hinläuft“, seufzte sie schliesslich und massierte sich mit der linken Hand die Schläfe.

„Herrlich! Ich...“

Ihre Stimme verklang als Scotty zu lachen begann und sie erneut ansteckte.

„Das will ich doch hoffen“, sagte er, als er sich gefangen hatte, und hob seine Hand. Er hielt sie noch immer fest.

„Dann macht es dir bestimmt auch nichts aus, jetzt mit mir zu tanzen. Du musst doch aufpassen, dass ich nicht noch mehr Damen anrempele...“

Lil machte keine Anstalten, ihm zu folgen, versuchte aber auch nicht, ihre Hand aus der seinen zu lösen. Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, Scotty. Bitte nicht!“

„Warum nicht? Kannst du nicht tanzen?“

Jetzt musste sie wieder lachen.

„Nein, Scotty, es ist nur...“

Sein Grinsen war ansteckend.

„Was ist es?“

Sie gab nach.

„Okay... Die Wahrheit ist: Ich kann nicht tanzen.“

Jetzt versuchte sie doch, ihr Handgelenk aus seiner Hand zu lösen, aber er gab nicht nach. Eine Weile sah er sie nur an, das Grinsen halb aus seinen Augen verschwunden... Und dann kehrte es mit – wenn es möglich war noch – größerer Intensität zurück.

„Das glaube ich dir nicht“, sagte er und lächelte, ein Lächeln, welchem außer Lil selbst nur Kat Miller widerstehen konnten. Heute wirkte es, aus irgendwelchen mysteriösen Gründen, auch bei ihr.

„Nein, wirklich ni---“
 

Sie kam nie dazu, den Satz zu vollenden, denn mit einem kräftigen Ruck zog Scotty sie an ihrem Handgelenk herum und zu sich hin. Unwillkürlich stolperte sie vorwärts und landete genau da, wo er sie anscheinend haben wollte: in seinen Armen. Im Nu hatte er einen Arm um ihre Taille gelegt und ihre andere Hand mit der seinen ergriffen.

„Und selbst wenn“, sagte er gespielt lässig, so dass sie unwillkürlich wieder lachen musste.

„Ich kann ja brillant führen!“

Sich wehren kam ihr nun sinnlos vor. Schon bewegten sie sich beide im Takt der Musik – es waren weniger professionelle Tanzschritte als ein leichtes, rhythmisches Wiegen, aber damit schien Scotty zufrieden. Das Lachen stieg wie ein warmer Schwall in ihrem Bauch auf und brach hervor wie ein klarer Gebirgsbach: sprudelnd und klar.

„Dann hoffe ich, dass du wirklich gut führst!“

„Klar“, behauptete Scotty im Brustton der Überzeugung.

„Ich bin an der High School einer der besten Führer gewesen!“

„Führer von was? Einer Riege bei Sportfest?“

„Nein, beim Tanzen. Die Mädchen wollten alle mit mir tanzen, weil es dann so aussah, als könnten sie es!“

„Und wem ist die Ehre zugefallen?“

„Niemandem. Die habe ich für dich reserviert.“

„Dann kann ja nichts mehr passieren“, unkte sie und genoss den Tanz dennoch. Es war anders, mit Scotty zu tanzen – sich mit ihm zu bewegen – als es bei ihrem Abschlussball gewesen war, anders als bei ihrem Hochzeitswalzer oder bei ihren Abenden mit Kite oder Josef in der Disko. Anders... Und besser. Viel besser.

Langsam entspannte sich Lil in seinem Griff. Seine Hand lag ruhig an ihrer Seite, warm und vertraut. Langsam bewegte sie sich, im Takt zur Musik, im Einklang mit Scotty, bis das Lied langsamer und leiser wurde und schliesslich verklang. Bedauern wallte gleichermaßen in ihr auf wie Erleichterung – und Schuldgefühl, weil das Bedauern die Erleichterung bei weitem überstieg und weil das nicht so hätte sein sollen.

„Das ist genug, Scotty, ich...“
 

Ihr Partner liess ihr nicht die Chance, den Satz zu vollenden. Fest packte er ihre Hand, die sie ihm gerade hatte entziehen wollen, und zog sie mit der anderen näher zu sich heran.

Ein lebhafter Samba erklang und einige Paare zogen sich rasch von der Fläche zurück, wohl in dem Wissen oder in der Annahme, dass sie sich nur blamieren würden oder einfach mit dem Gedanken, zu vorgerückter Stunde langsamere Tänze vorzuziehen und deshalb eine Runde auszusetzen.

Scotty kam dieser Gedanke nicht – er wirbelte Lil einmal schwungvoll um ihre eigene Achse. Sie lachte trotz ihres Protestes auf.

„Nein, Scotty! Das wird eine Katastrophe, lass mich los!“

Wie von selbst fanden ihre Füße in die altbekannten Schritte zurück, die sie damals gelernt hatte.

„Ich weiß gar nicht, was du hast“, sagte er, als er sie in eine Promenade führte und sie diese fehlerlos hinter sich brachte und nach einer Drehung wieder neben ihm erschien.

„Du tanzt doch sehr gut!“

„Nein“, antwortete sie, und Scottys Gesicht wirbelte an ihr vorbei. Kreisel. Drehung. Promenade.

„Nein“, wiederholte sie, als sie ihm erneut gegenüberstand und er ihre Hand auf seiner Schulter plazierte.

„Ich tanze schrecklich!“

Sie lachte erneut, als er sie nach hinten sinken liess, die Welt sich für einige Sekunden auf den Kopf stellte und schliesslich mit einem Ruck von ihm wieder im Lot landete. Seine Bewegungen waren kräftig, aber dennoch sanft.

„Du musst blind sein, wenn du nicht siehst, wie gut du tanzt!“

Das war eindeutig ein Vorteil: Wenn er führte, musste sie sich weniger auf die gelernten Schritte konzentrieren und war in der Lage, sich zu unterhalten. Das Wissen hätte sie beinahe erneut auflachen lassen.

„Dabei siehst du doch sonst alles!“, zog Scotty sie auf, als sie nicht antwortete.

„Und du musst betrunken sein, wenn du nicht merkst, wie schlecht ich bin!“, gab sie über ihre Schulter zurück. Trennung. Drehung. Zusammenkommen. Er lachte und zog sie ruckartig zu sich heran, bis seine Stirn die Ihre beinahe berührte.

„Wahrscheinlich sind wir beide betrunken“, flüsterte sie.

„Wahrscheinlich.“
 

Die Tanzfläche hatte sich gelehrt.

Sie stellte es spät fest, als sie für einige Sekunden ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung – auf alles andere als Scotty – richtete. Die meisten Paare standen in Grüppchen am Rande des Parketts, ein Glas in der Hand, und warteten ungeduldig auf das Ende des Stückes und damit auf ihre glorreiche Rückkehr auf die Tanzfläche. Das an sich wäre nicht so schlimm gewesen, aber plötzlich deutete die Braut, die bislang in ein Gespräch mit ihrem Mann vertieft gewesen war, an eben diesem vorbei – und auf Lil und Scotty.

„Schau mal!“

Wie ein Magnet zogen beide plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit an.

„Oh Gott“, flüsterte Lil und verschluckte sich an einer Mischung aus Nervosität und Hysterie, welche in Form eines Kicherns aus ihr heraus brachen.

„Lass mich los, Scotty!“

„Es ist doch gleich zu Ende, Lil.“

„Nein! Lass mich sofort-“

Ihre Überzeugung, es sei besser zu fliehen, als die letzten Sekunden des Stücks auszuharren und dem Starren der Masse ausgesetzt zu sein, lösten sich mit einem Schlag in Luft auf, als Scotty seine Arme ihren Rücken hinuntergleiten liess, sanft und liebevoll. Ihr Atem verfing sich in ihrer Kehle, doch bevor sie protestieren konnte, hatte er sie hochgehoben und wirbelte sie herum.

Sie konnte gerade noch ihre Hände auf seinem Rücken abstützen, bevor sie durch die Luft flog. Ihr Protest verwandelte sich in ein helles Lachen, als der Raum in einem Licht- und Farbendurcheinander verschwand und an ihr vorbei flog. Der einzige Fixpunkt in ihrem Universum war – in dieser Sekunde – Scottys Gesicht mit dem jungenhaften Grinsen.

Lil schloss die Augen und liess den kühlen Wind ihr erhitztes Gesicht streicheln, während die Sambatrommeln ein letztes Mal wirbelten und dann verstummten. Stattdessen erhob sich eine Welle des Applauses. Erstaunt riss Lil die Augen wieder auf und sah verdattert, dass alle Menschen im Saal ihr und Scotty applaudierten. Alice blinzelte ihr zu, während Kats Gesicht – aus dem hinteren Teil des Saales, welchen sie nur sehen konnte, weil Scotty sie noch immer in der Luft hielt – sich zu einer merkwürdigen Maske aus Zufriedenheit, Misstrauen, Triumph und Zweifel verzog. Lil beschloss, dass sie nicht wissen wollte, was ihre Freundin hierzu zu sagen hatte.

Langsam liess Scotty sie wieder hinunter – und kurz, bevor ihre Füße den Boden berührten, hielt er an. Lil spürte seinen heißen Atem an ihrer Brust, seinen Atem und sein Gesicht zwischen ihren Brüsten, als er sie einmal fest an sich drückte, dann setzte er sie ab – beinahe widerstrebend. Das Klatschen wurde leiser und leiser, als viele der Paare sich nun wieder auf die Tanzfläche begaben und zu den Klängen des langsamen Walzers erneut begannen zu tanzen.

„Darf ich jetzt gehen?“, fragte Lil leise und verspürte keinerlei Drang mehr dazu.

„Nein.“

Erleichtert lehnte sie sich in Scottys Armen zurück und sah ihn an. Das Grinsen, welches sein Gesicht so anziehend machte, war verschwunden, und der Ernst, der nun in seine Augen kroch, liessen sie schaudern. Er wirkte nicht mehr übermütig und jungenhaft, sondern...

„Wir sind betrunken“, wiederholte sie erneut und versuchte, gleichmütig zu bleiben.

Er antwortete nicht. Aber seine ernste Miene liess ihr Herz einen Schlag aussetzen. Er neigte den Kopf, kam ihrem Gesicht immer näher und dann endlich berührten seine Lippen die Ihren, sanft, weich – und nur für Sekunden. Wie ein Stück Seide, welches im Herunterfallen die Lippen streift und dann verschwunden ist...

Lil hielt den Atem an und schloss die Augen. Und als er wieder zurückwich, lehnte sie sich vorwärts in einen neuen Kuss hinein, diesmal länger, weniger zögerlich, mutiger – ruhiger. Und hungriger. Irgendwann lehnte Scotty sich zurück und nahm seine Hände, die an ihrem Gesicht gelegen hatten, herunter. Stattdessen schob er vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter, legte die Hände in ihre Taille und begann wieder, sich sanft im Takt der Musik zu wiegen. Unwillkürlich hob Lil die Arme und schlang sie um Scottys Hals, schob sich an ihn und atmete tief seinen Duft ein. Mit jeder Faser ihres Wesens konnte sie ihn spüren: seine Hände an ihrer Taille, als er sie an sich drückte, seine Lippen in ihrem Haar, sein Herz an ihrer Brust.
 

Wahrscheinlich, dachte sie mit wild schlagendem Herzen und wünschte zugleich, dass die Zeit stillstehen würde.

Kein Alltag mehr, kein Gespräch mit John, Kat und schliesslich mit ihm, keine Kopfschmerzen über die Gedanken, wie viel er ihr bedeutete. Was dieses Wissen bedeutete.

Keine Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben, kein einziger Moment, den sie bewusst ohne ihn würde leben müssen, kein Moment des Erstickens an der Einsamkeit.
 

Wahrscheinlich waren sie betrunken. Betrunken, unzurechnungsfähig, gedankenlos, und hatten keinerlei Kontrolle über ihre Handlungen und Gedanken geschweige denn über sich selbst.

Wahrscheinlich würde sie es bereuen, viel zu bald schon.
 

Wenn sie das nächste Mal alleine war, alleine in ihrer dunklen Wohnung, wenn sie Scotty das nächste Mal sah, wenn Kat sie allein erwischte oder wahrscheinlich einfach, wenn sie Kat das nächste Mal begegnete, denn diese machte sicherlich keinen Unterschied, ob sie von Anderen gehört wurde oder nicht.

Und wie sie es bereuen würde.
 

Es hatte sich noch niemals in ihrem Leben so gut angefühlt, nicht denken zu müssen. Mit Scotty zusammen zu sein, ohne über Konsequenzen nachdenken zu müssen. Ihn zu küssen, ohne zu fürchten, wie sie es würde erklären müssen. Einfach nur zu tun, was sie schon lange hatte tun wollen: in seiner Anwesenheit sie selbst sein.
 

Ihr war alles egal. Das war nicht gut.
 

Aber es war zu gut, um schlecht zu sein.

Cold Case - Herbst. Zurückgelassen

„Nur weil du mich einmal geliebt hast, musst du mich nicht für alle Zeit lieben“, sagte Lil sanft.
 

*
 

Scotty Valens betrachtete seine Partnerin, die vor ihm am alten, abgenutzten Tisch mit den Kaffeerändern darauf saß. Lilly Rushs Haare waren hochgesteckt, ihr Pony fiel ihr wieder lang ins Gesicht und umrahmte ihr schmales Profil. Lang gefiel es ihm eindeutig besser als damals, als sie es noch kurz getragen hatte – damals.
 

Lil hatte ausgesprochen, was er all die Zeit lang mit sich herumgetragen hatte. Sachlich, ruhig, mit dem kleinen Lächeln auf dem Gesicht, welches sie immer trug, wenn sie ihn durchschaut hatte. Niemand konnte so gut in ihm lesen wie sie. Sie hatte vollkommen Recht, wie immer. Nur, dass er es noch nie gewagt hatte, diese Möglichkeit – diese Tatsache – laut zu äußern. Warum? Vielleicht aus Angst. Wovor? Vielleicht vor der Möglichkeit an sich. Warum? Vielleicht, weil er Angst hatte. Wovor? Vielleicht...
 

Lil war die einzige Person, die so in ihm lesen konnte.

Und Cecilly war eine wunderbare Frau.

Wie lange waren sie bis jetzt zusammen gewesen? Jahre lang. Jahre, in denen er das Zusammensein mit ihr genossen hatte, mit ihr gelacht und geweint hatte, Jahre, in denen er mit ihr geschlafen hatte... Und mittlerweile konnte er sich nicht mehr vorstellen, ohne sie leben zu wollen.

Wenn sie lachte, musste er auch lachen. Ihr Charme, ihre Tatkraft, ihr Witz – alles erinnerte ihn an Elissa und doch nicht an Elissa. Cecilly war so offen und fröhlich, dass er sich manchmal davon überrumpelt fühlte. Aber ihre Offenheit war es, die ihn von Anfang an so angezogen hatte. Die Frau, in die er sich verliebt hatte, hatte er erstmals getroffen, als sie ihn überrumpelt hatte – in seiner eigenen Wohnung. Cecilly war freiberufliche Journalistin und hatte an dem selben Fall recherchiert, den Scotty vor Jahren bearbeitet hatte. Sie hatte irgendwie – sie lachte noch heute darüber und behauptete, sie dürfe ihre Quellen nicht preisgeben – seine Adresse herausgefunden und kurzerhand beschlossen, ihn aufzusuchen, um ein persönliches Statement von ihm zu erhalten. Sie hatte es nicht bekommen, aber sie hatte nicht locker gelassen.

Um es ehrlich zu sagen, hatte Scotty sich damals regelrecht überrannt gefühlt. Die Frau war wie ein Derwisch in seine Wohnung geplatzt, hatte sich geweigert zu gehen, bis er ihr nicht mehr über den Mordfall erzählte. Er hatte es nicht getan, stattdessen mit einer Anzeige gedroht. Hausfriedensbruch. Sie hatte nachgegeben. Hatte ihn stattdessen am Morgen im Büro abgefangen. Nick und Will hatten eine Woche lang darüber gelästert, wie unfähig Scotty sich gezeigt hatte, die kleine, zierliche Frau loszuwerden, die ihn nach Informationen piesackte.
 

*
 

Es war nicht das einzige, was ihn an ihr anzog.

Es war ihre Lebendigkeit, ihr Charakter, die Stärke, die in der kleinen Frau steckte – im Vergleich zu Lil war sie ein Winzling – aber auch ihre Ehrlichkeit, was ihre Schwächen anging. Sie hatte sie niemals versteckt.

Durch ihre Offenheit hatte sie Scotty eine neue Welt gezeigt, eine neue Art zu leben. Eine Alternative zu den dunklen und muffigen Gängen des Archivs, in dem sie ihre Mordfälle heraussuchten, zu der ständigen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, von denen letztendlich nichts erreicht wurde. Eine Alternative zu der nie endenden Konfrontation mit Trauer, Schmerz und Verlust.

Zu Anfang war er sich unsicher gewesen, hatte Schuldgefühle verspürt.

Cecillys Welt unterschied sich so stark von der seinen – war angefüllt mit Freundlichkeit, Hoffnung und Licht – sodass es ihm unmöglich erschien, dass er ein Teil dieses Lebens werden konnte. Er gehörte, genausowenig wie Lil, in eine solche Welt, in der die Tragödien der längst vergessenen Tage wieder aufgerollt wurden, eine Welt, in der Morde im Prinzip so unwirklich erschienen wie Schnee an einem heißen Sommertag. Cecilly liebte fröhliche Themen, Kindergeburtstage, Eröffnungen von Bibliotheken, Schulfeste, Frühlingsanfänge.

Wie konnte er...

Letztendlich hatte ihn jemand praktisch dazu zwingen müssen, sich auf die Beziehung einzulassen – Lil. Wie sie es geschafft hatte, wusste er bis heute nicht so genau, hegte aber den Verdacht, dass sie sich mit Cecilly abgesprochen hatte. Sie hatte immer gewusst, was nötig war, um ihn zu etwas zu bringen, und dafür war er dankbar.

Seitdem war er mit Cecilly Waylandt zusammen und konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so... so frei und glücklich gefühlt hatte. So lebendig.

Cecilly hatte ihn aus den Archiven geholt, hatte ihn praktisch dazu gezwungen, mehr Zeit am Tageslicht zu verbringen. Nahm ihn mit auf Ausflüge, schleppte ihn zu Picknicks und zu Kinovorstellungen und ging mit ihm Essen. Mit ihr waren auch die Ängste verschwunden, die lähmende Vorstellung, sein Leben würde für immer in solchen Bahnen verlaufen wie zuvor. Mit ihr konnte Alyssa in Frieden ruhen. Sie hätte nicht gewollt, dass er sein Leben vergeudete. Lil hatte ihm das so oft gesagt. Es war das einzige Mal, an das er sich erinnern konnte, dass sie jedoch nicht weiter nachgehakt hatte und er ihr nicht geglaubt hatte.
 

*
 

Sie waren zusammengezogen.

Cecilly hatte ihn gefragt, ganz entgegen ihres Charakters. Sie liebte ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit, ihre Rückzugsmöglichkeit. Er hatte eingewilligt, weil er gesehen hatte, wie viel Überwindung es sie kostete und weil es ihm so viel bedeutete. Es war wie ein Wunder, jeden Tag neue Seiten an der Frau kennenzulernen, die er liebte.

Zum Beispiel die Art, wie ihre Haare Morgens nach allen Seiten abstanden, wenn sie aus dem Bett stieg, ihren langen, geflochtenen Zopf, welchen sie nur Nachts trug, irgendwie vollständig aufgelöst.

Wie sie eine definierte Masse an Unordnung kreierte, wenn ihr der Raum zu penibel aufgeräumt erschien.

Wie ihr Laptop jeden Tag an einer anderen Ecke des Raumes stand, weil sie „immer an einer anderen Stelle“ sitzen wollte, wie ihr Shampoo nach Apfelblüten duftete und wie sich ihr kleiner, weicher Körper Nachts an ihn schmiegte.

Wie sie leise seufzte, wenn er sie küsste...

Nur ihr Kaffee war eine ab-so-lute Katastrophe.

Aber sowieso war Lils Kaffee der Beste der ganzen Welt, das stand unverrückbar fest.
 

*
 

Jetzt saß sie – Lil – ihm in der kleinen Küche der Mordkommission gegenüber, an dem alten Tisch, der von seiner ursprünglichen Farbe nichts mehr zeigte. Ihre langen Beine waren übereinander geschlagen, ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet. Ihre blonden Haare glänzten im Licht der grellen Neonröhren.

Sie war in jeder Eigenschaft ein Gegenteil von Cecilly...

Blaugraue Augen bohrten sich in seine, während sie auf eine Antwort wartete. Scotty schreckte auf.

„Wie bitte?“
 

„Nur weil du mich einmal geliebt hast, musst du mich nicht für alle Zeit lieben“, wiederholte sie sanft. Als ihm die Bedeutung ihrer Worte endlich bewusst wurde, sank er tief in seinen Stuhl zurück, aber ihrem forschenden Blick entging nichts.

„Du liebst sie doch. Ihr seid seit mehr als Dreieinhalb Jahren zusammen. Du willst sie doch auch heiraten – warum zögerst du noch?“

Scotty betrachtete konzentriert einen undefinierbaren Fleck auf der Tischplatte.
 

„Ist es so...“ Er räusperte sich hilflos. „War es so offensichtlich?“
 

Lil lächelte nur.
 

Was nicht unbedingt eine Antwort war – und vor allem nicht die, die er sich eigentlich erhofft hatte. Er war so schlau wie zuvor. Lil war seine Partnerin gewesen, seit er aus der Drogenkommission in die Mordkommission versetzt worden war. Sie hatte ihn eingeführt, ihm alles beigebracht, was sie wusste. Im Gegenzug hatte er sein Wissen mit ihr geteilt und durch einige unglückliche Verwicklungen auch Teile seines Lebens. Ein Themenbereich, in dem sie sich immer bedeckt gehalten hatte, weil es in ihrer Natur lag. Dennoch war er nicht umhin gekommen, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Genauso wenig, wie er umhingekommen war, in der anscheinend so starken, selbstbewussten und unverletzlichen Frau eine ganz andere Persönlichkeit kennen zu lernen. Vielleicht – vielleicht hatte er sich auch ein wenig in sie verliebt. Vielleicht war das der Grund für seine Beziehung zu Christina gewesen... Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass Lil einmal so wie ihre jüngere Schwester gewesen war. Bevor das Leben seine Grausamkeit gezeigt hatte. Aber war es Liebe gewesen... Oder Freundschaft, oder – er schauderte bei dem Gedanken daran – Mitleid? Oder Liebe?
 

„Lil, ich...“
 

Was sollte er sagen? Dass er sich von ihr nicht angezogen gefühlt hatte? Dass er nun zögerte, die Frau zu heiraten, die ihm einen Antrag gemacht und mit der er seit anderthalb Jahren zusammenlebte, weil er Angst hatte, ihre Gefühle zu verletzen?

Dass es nicht so gewesen war, wie sie dachte? Sie hatte schon Recht.

Dass er sie nie geliebt hatte?

Er hatte es... Glaubte er zumindest.

Dass es keine Rolle mehr spielte?

Es musste eine Rolle spielen, ansonsten wäre er nicht hier und würde sich das Gehirn zermartern, was er sagen sollte.

Also?
 

Langsam atmete er aus, schüttelte den Kopf und begegnete endlich dem Blick aus den unendlich tiefen blaugrauen Augen.
 

„Du hast Recht“, sagte er schliesslich und verzog sein Gesicht zu einem halben Grinsen. Lil schenkte ihm die andere Hälfte.

Da war sie wieder – die unglaubliche Perspektive, mit der Lilly Rush alles wieder ins rechte Lot bringen konnte, was verrückt war. Egal, wie verrückt es war.
 

„Aber du kommst doch zur Hochzeit, oder?“, fragte er.

Lil kreuzte die Arme vor der Brust.

„Nichts könnte mich davon abhalten.“
 

*
 

An dieses Gespräch musste Scotty denken, als er eine Woche vor seiner Hochzeit mit Cecilly an der langen, festlich gedeckten Tafel saß und auf den leeren Platz ihm gegenüber starrte.

„Das Gedeck und die Blumenarrangements sind wirklich wundervoll!“, flüsterte Cecillys Mutter ihm zu und lächelte.

„Die Feier wird perfekt sein!“

Ebenfalls lächelnd stimmte Scotty ihr zu und schob den Gedanken beiseite, dass man doch ein Abendbrot – sei es nun ein festliches oder nicht – nicht unbedingt proben musste... Aber hier hatten die Eltern der Braut nun einmal das Sagen, und es kostete ihn wirklich nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes! Cecilly hatte Tränen gelacht, als er es so ausgedrückt hatte... Und er hatte mitlachen müssen. Ihr Gelächter war so ansteckend.
 

Aber sie hatte wie immer Recht behalten – er langweilte sich kein bisschen. Das Licht, die Farben, die Kerzen – alles war perfekt. Nur übertroffen von Cecilly, die sich neben ihm – in einem atemberaubenden, raschelnden Seidenkleid – mit seinem Bruder unterhielt. Lediglich eine Sache schien zu fehlen... Scottys Stirn runzelte sich und er liess seinen Blick über die besetzten Stühle schweifen, bis er – beinahe unbeachtet und vergessen – ein leeres Gedeck entdeckte. Der dazu passende Stuhl war an die Wand geschoben worden – und fiel dort nicht weiter auf. Anscheinend war einer der geladenen Gäste nicht erschienen... Aber wer?

Cecilly, die sich zu ihm umgedreht hatte, musste seinem Blick gefolgt sein, denn sie legte ihm auf eine irgendwie beruhigende Art und Weise die Hand auf den Arm. Das Prickeln, welches einer Berührung von ihr normalerweise folgte, blieb nun aus, denn ihm wurde kalt.

„Keine Sorge“, hauchte ihre rauchige Stimme nahe seinem Ohr.

„Sie wird aufgehalten worden sein. Bestimmt kommt sie gleich.“
 

Sie. Lil.
 

Lil war nicht da. Wie hatte er dies nicht bemerken können? Die Tatsache, dass seine Partnerin und beste Freundin nicht bei der Probe seines Hochzeitsdinners dabei war, war einfach so seiner Aufmerksamkeit entschlüpft. Wie hatte das passieren können?

Rasch nickte er, als würde er seiner Verlobten Glauben schenken, und hob das Weinglas. Der Chardonnay rann bitter seine Kehle hinunter und vermochte es nicht, das Gefühl hinwegzuspülen, welches ihn mit einem Mal überkam, welches er jedoch nicht einordnen konnte...
 

Durch die Tür am Ende des Saales schlüpfte eine hochgewachsene, schlanke Frau herein und strich einige Strähnen ihres Haares, welche aus dem Knoten entkommen waren, aus ihrem Gesicht. Scottys Partnerin trug ein helles Kleid, welches sie sich ebenfalls abwesend glattstrich. Ihre blaugrauen Augen musterten aufmerksam den Saal und blieben an dem Kellner hängen, der ihr entgegengeeilt kam, um ihr den Mantel abzunehmen. Dann warf sie Scotty einen entschuldigenden Blick zu, eilte zu ihrem Platz und zog den Stuhl an den Tisch heran. Ungefragt und mit großen Augen machten die beiden unreifen Männer zu ihrer Linken und Rechten Platz. Das Lächeln, mit dem sie belohnt wurde, versetzte sie in den Siebten Himmel und Scotty in einen immer unerklärlicher werdenden Gefühlsaufruhr.
 

„Entschuldigt bitte“, sagte sie sowohl zu Scotty als auch zu Cecilly.

„Es gab einen Zwischenfall – ich wurde festgehalten.“

„Das macht doch nichts!“, entgegnete Cecilly und winkte ab. „Sie sind ja jetzt da – das ist die Hauptsache.“
 

Scotty sagte nichts.
 

Lils rote Lippen wurden von der Farbe ihres Kleides nur noch mehr betont.

„Sollten Sie nächste Woche zu spät kommen, werden wir nicht auf Sie warten!“, hörte er wie von Ferne Cecillys Frotzelei, und Lils Antwort:

„Immerhin haben Sie heute mit dem Nachtisch auf mich gewartet. Mehr kann eine Frau nicht verlangen!“
 

Zwei Stimmen erklangen im gemeinsamen Gelächter.

Lil: leise und hell.

Cecilly: laut und herzlich.
 

„Waren Sie an einem Fall?“

„Nicht direkt. Ein alter Kollege meines Chefs hatte eine Bitte... Ich konnte unmöglich gehen, bevor er mich entließ. Das ist das Problem, wenn man für den Staat arbeitet.“

„Sie sollten es in Betracht ziehen, so wie ich freiberuflich zu werden! Ich kann meine eigenen Sachen erledigen, muss niemandem Rechenschaft leisten, rechne meine eigenen Ausgaben ab...“

„Sie können jeden Schreibtischhengst beschimpfen, ohne die Konsequenzen zu fürchten. Das lobe ich mir!“

„Ja, genau so.“

„Ging es um einen Mord? Mit Sicherheit. Darf man nach Einzelheiten fragen?“

„Cecilly, Sie möchten die doch gar nicht kennen.“

„Da haben Sie Recht. Neugierde, schätze ich!“

„Die beste Eigenschaft eines Journalisten.“
 

Das Tiramisu schmeckte stark nach Alkohol. Scotty schob es unauffällig auf die Seite und widmete sich einem Stück Marzipan, welches als Dekoration auf der Torte gelegen hatte. Sein Kopf war völlig leer. In ihm tobte ein Wirbelsturm. Die Nacht vor den großen Fenstern war schwarz.
 

*
 

Irgendwann am Abend blickte er auf und sah das Lächeln auf Lils Gesicht.

Und weil es Lils Lächeln war – das leichte, fast schon spöttische Verziehen des Mundwinkels, das Hervortreten des kleinen Grübchens auf dem Kinn, fast unsichtbar, der Ausdruck mit einer Mischung aus Wehmut und Sehnsucht, Amüsement und Ironie und echter Freundlichkeit...

Weil es Lil war, die ihm gegenübersaß, die gekommen war, obwohl er sie in den Archiven der Mordkommission zurückgelassen hatte, die hier saß und mit der Frau sprach, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte....

Weil es Lil war, die er zurückgelassen hatte, flüsterte er hastig Cecilly eine gemurmelte Entschuldigung ins Ohr, stand abrupt auf und verliess im Laufschritt den Saal.
 

Verwirrte Blicke folgten seinem Abgang.

Cold Case - Winter. Wo immer du bist

Cold Case – Winter. Wo immer du auch bist
 

Ich weiß, ich habe lange nichts mehr hochgeladen. Das liegt daran, dass ich CC nicht mehr sehe - aus verschiedenen Gründen - aber ich habe immernoch ein paar alte FFs auf meiner Festplatte herumlungern... Ich bin auch nicht mehr wirklich viel bei Mexx, auf Fanfiction.net ist es nicht ungewöhnlich, auch FFs zu finden, die nicht unbedingt in den Manga/Anime Bereich gehören und die Resonanz ist entsprechend höher. Wenn ihr neue Geschichten von mir lesen wollt, findet ihr dort regelmäßigere Updates. Andererseits hasse ich es, Sachen nicht zu Ende zu bringen. Also poste ich all die Geschichten, die schon fertig sind, auf jeden Fall noch hier. Wer denkt, ich poste zu langsam, sollte mir dies mitteilen, aber solange nichts kommt, gehe ich davon aus, dass es eh niemand liest und deshalb niemanden interessiert, wie schnell oder langsam die Updates kommen.

Danke an diejenigen, die es lesen, und noch viel mehr Dank an die, die noch Kommentare schreiben. Wer fühlt sich angesprochen?
 

~***~
 

„Okay – jetzt wird es makaber“, sagte Kat Miller und erschreckte ihre Freundin, die, in Schweigen versunken, vor dem grauen Grabstein stand, beinahe zu Tode. In der kalten Winterluft dampfte ihr Atem vor ihrem Mund und sie hatte ihre Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Braune Locken umtanzten ihr Gesicht.

Lilly Rush hatte sie nicht kommen hören – eine Seltenheit.

Andererseits war Kat auch besonders im Anschleichen gut... Ihre Schritte knirschten endlich auf dem gefrorenen Kies, als sie neben Lil trat.
 

„Kannst du mir vielleicht verraten, was du hier tust?“

Aus graublauen Augen traf sie ein ungnädiger Blick.

„Was willst du denn hier?“

„Das ist ein Friedhof – und ein öffentlicher noch dazu. Ich habe jedes Recht dazu, hier zu sein.“

„Und warum solltest du auf einem Friedhof sein?“

„Ich besuche meine Tante. Schau – da liegt sie. Die arme Frau... Sie war so kinderlieb und hat doch niemals eigene Kinder bekommen können. Ich war ja immer der Meinung, dass das an ihrer Katzenhaarallergie lag, aber das wird wohl niemand jemals mit völliger Bestimmtheit sagen können...“

Kat seufzte tief und sah den Stein in Form eines Engels an.

„Juliet O’Flannagan. Sie heiratete einen Iren. Er starb vier Tage nach der Hochzeit.“

„Deine Tante ist also 1823 gestorben?“

„Kannst du eigentlich die Inschrift von jedem verdammten Stein hier auswendig?“

„Nur ein paar.“

„Gott, Lilly – wie oft bist du hier?“

„Manchmal.“

„Und warum?“

„Ich wüsste nicht, dass dich das etwas anginge.“

„Heißt „Das-geht-dich-nichts-an“ zufällig Jenna Rush und ist 2006 gestorben? Mit dir verwandt?“

Lil antwortete nicht.
 

„Okay, okay“, fuhr Kat fort und zuckte mit den Achseln. „Es geht mich tatsächlich nichts an.“

„Tatsächlich nicht“, gab Lil zurück. Kat wusste, dass sie wusste, dass sie es nicht böse meinte. Sie hatte ja Recht. Es ging sie nichts an und wenn Lil auf einem Friedhof war, dann hatte sie wohl ihre Gründe. Sie wusste auch, dass Lil wusste, dass sie nicht halb so bissig war, wie sie gerade wirkte. Nur liess sich ihre Freundin heute leider nicht von ihren Grübeleien ablenken. Ironie war nicht genug an einem solchen Tag.
 

„Tut mir leid“; sagte sie deshalb und folgte der blonden Frau, die sich umgedreht hatte und nun langsam den Kiespfad hinunter schritt.

„Sei nicht sauer.“

„Ich bin nicht sauer“, sagte Lil.

„Gut! Dann komm wieder mit aufs Revier. Der Boss trommelt uns gerade alle zusammen – irgend etwas ist passiert.“

Sie seufzte dramatisch.

„Wieder mal in der Weihnachtszeit. Wann soll ich denn Geschenke kaufen!“
 

Vor dem schwarzen Eisentor, welches den Eingang zum Friedhof bewachte, stand ein schwarzer Wagen mit beschlagenen Scheiben. Als Lil ihn sah, stockte sie einige Sekunden lang im Schritt. Kat tat so, als bemerke sie nichts, lief an ihr vorbei und öffnete die Tür zum Beifahrersitz.

„Komm schon“, rief sie Lil zu und quetschte sich hinein. Lil folgte ihrem Beispiel, ohne sich ihre Gedanken ansehen zu lassen, und rutschte auf die Rückbank.

„Was machen Sie hier, Scotty?“

Kat warf Scott Valens einen verschwörerischen Blick zu und grinste Lil dann über ihre Schulter hinweg an.

„Wie hab ich dich wohl gefunden?“

Scotty warf ihr im Rückspiegel wortlos einen entschuldigenden Blick zu. Lil erwiderte ihn anklagend und schlechtes Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber weil Lil schwieg, verkniff er sich die Antwort und jede Entschuldigung, die ihm auf der Zunge lag. Und dann war das hier ein öffentlicher Friedhof... Er wandte sich ab. Als er losfuhr, kicherte Kat noch immer in sich hinein.
 

„Lil auf den Friedhof.“

Cold Case - Frühling. Aus genau diesem Grund

Cold Case - Frühling. Aus genau diesem Grund
 

"So ein Scheiß", murmelte Nick Vera und stempelte ein fertig ausgefülltes Dokument mit deutlich mehr Nachdruck ab, als nötig gewesen wäre. Kaum war er fertig, zog Kat Miller es ihm weg und pustete auf die feuchte Tinte. Dann schob sie es in einen daliegenden Aktenordner.

"Vera", knurrte sie warnend und warf ihm einen bissigen Blick zu. "Sie gehen mir auf den Wecker... Hören Sie auf damit!"

"Was ist denn?", fragte ihr Kollege und blinzelte unschuldig.
 

Nicht einmal ein Blinder wäre auf diesen Blick der gespielten Unschuld hereingefallen, dachte Scott Valens, während er amüsiert den Streit zwischen seinen Kollegen beobachtete. Schon seit dem Mittag waren Kat Miller und Nick Vera dabei, sich gegenseitig mit abwechselnd gemeinen Kommentaren, Zitaten, bösen Blicken und spitzen Bemerkungen zu beschießen - und all das nur, weil der bullige Polizist heute Morgen seine Klappe nicht hatte halten können. Ein eigentlich recht alltägliches Ereignis in den Räumen der Piladelphia Mordkommission.
 

Am Schreibtisch ihm gegenüber blickte Lil auf.

"Worum gehts?"

Scotty zog die Brauen hoch. "Sie haben es nicht mitbekommen?"

Lil lachte leise auf, ein Laut, der eine Mischung aus Verlegenheit und Humor in Einem war. "Nein."

Wie charakteristisch für seine Partnerin, sich so sehr in ihre Arbeit zu vertiefen, dass sie die Welt und vor allem die Menschen um sich herum völlig vergaß.

"Es geht um die Tatsache, dass weibliche Cops in Serien und Filmen falsch dargestellt werden."

"Sagt Miller", warf Vera muffig ein. Die schnaubte abfällig, sagte aber nichts.

"Gut falsch oder schlecht falsch?", fragte Lil.

"Schlicht und ergreifend falsch. Zum Beispiel..."

Scotty wurde rüde von Vera unterbrochen.

"Schlagen Sie sich etwa auf deren Seite, Valens?"

"Aber ich habe doch gar nichts gesagt!", protestierte der Beschuldigte.

"Typisch!", regte der andere Polizist sich auf, während Scotty in seinen Stuhl zurückrutschte und grinsend lauschte. "So typisch! Feigling, Sie, Schande für die Männerwelt! Sie schlagen sich auf ihre Seite, verraten alles, was Sie sind..."

Lil blinzelte ihm zu und drehte sich dann um, damit sie ihre Freundin sehen konnte.

"Weibliche TV-Cops, huh?"

Wieder schnaubte Kat, beschränkte sich diesmal jedoch nicht nur auf diesen Laut des Abscheus.

"Vera, der Idiot, behauptet, dass weibliche Cops im TV nur Dekoration sind. Die eigentliche Arbeit machen angeblich nur die Männer, während die Frauen lediglich gut auszusehen, lächelnd die Marke zu zücken und den gefesselten Kriminellen schliesslich nach der Befragung in Handschellen abzuführen haben, damit jeder sieht, was sie geleistet haben - nämlich nichts."

"Da ist was dran", sagte Jeffries, der gerade den Raum betrat und die letzten Worte mitgehört hatte. "Haben Sie sich schon mal eine dieser Mittwoch-Abend-Serien angesehen? Die wahre Laufarbeit machen da immer die Männer."

"Das ist überhaupt nicht wahr!", fuhr Kat wütend auf. "Nennen Sie mir einen Grund, warum weibliche Cops den männlichen unterlegen sein sollten, besonders im Fernsehen! Gerade die Medien sollten die Gleichberechtigung und die Emanzipation der Frau berücksichtigen. Sie haben Vorbildfunktion!"

"Und trotzdem sind es die Männer, die die Verfolgungsjagden auf sich nehmen!", schnappte Vera. Kat blitzte ihn an.

"Sie sind definitiv nicht derjenige, der hier die Klappe aufreißen sollte, Vera! Verfolgungsjagden, ja? Die sind für Sie doch am nächsten Coffeeshop zu Ende!"

"Was... was soll das denn heißen?" Für einen Moment war Vera die Luft weggeblieben, dann verteidigte er sich umso heftiger. Drohend richteten seine 100kg Körpermasse sich auf.

"Sehen Sie sich an!", sagte Kat spöttisch und tat das Gegenteil: Sie wandte sich von ihrem Kollegen ab. "Aus diesem Grund vertreten Sie doch die Position der TV-Cops: Weil die Realität auf Sie einfach nicht zutrifft."

Jetzt fehlten Vera tatsächlich die Worte. Hörbar schnappte er nach Luft. Herausfordernd warf Kat Jeffries, Lil und Scotty einen Blick zu: "Oder wissen Sie einen besseren Grund? Die Serien, die er so gerne sieht, sind für ihn ein Ersatz, weil es im wahren Leben leider nicht so läuft, wie er es gerne hätte. Wann hat der große Nick Vera schon mal die Gelegenheit, bei einer Verfolgungsjagd einen Verbrecher zu schnappen? Nie! Deshalb schaut er lieber fern, bei denen die Männer die Helden sind, die er nicht sein kann..."

"Aber er hat doch Recht", sagte Lil lächelnd und verriet innerhalb einer Sekunde sowohl ihre Freundin als auch ihr eigenes Geschlecht. "Weibliche Cops in den Serien rennen nie."

Scotty kicherte in sich hinein, Vera sah aus, als sei Lil die Heldin seines Tages, Jeffries grinste und ignorierte die bitterbösen Blicke, die aus Kats Richtung kamen.

"Und warum sollten sie es nicht tun, verdammt noch mal?", fauchte sie und warf ihre braunen Locken wütend zurück.

Aber bevor auch nur irgendjemand darüber nachdenken konnte, was man ihr antworten sollte, trat der Boss zu ihnen an den Schreibtisch.

"Scotty, Lil", sagte er in seiner typischen, ruhigen Art und sah die beiden über den Rand seiner Brille hinweg an, die ihm knapp über der Nasenspitze saß. "Der Staatsanwalt hat angerufen, wir haben den Haftbefehl für William Peters."

Lil stand auf, ihre Augen funkelten Scotty voll Tatendrang an. "Dann sollten wir ihn besser schnell holen gehen."

Als sie aus dem Department rauschte, blieb Scotty dicht hinter ihr und musste lachen, als er die wütende Kat zu ihrem eigenen Schreibtisch stampfen sehen konnte.

-V-

"Sehen Sie ihn?", fragte Scotty vom Beifahrersitz aus. Lil schüttelte den Kopf und strengte ihre Augen an, um durch die verstaubte Scheibe zu schauen und dabei etwas erkennen zu können.

"Er kommt bestimmt gleich. Er ist jeden Donnerstag bis fünf hier, er müsste - ah. Da."

Sie tauschte einen Blick mit ihm, die Brauen leicht hochgezogen. Scotty nickte und duckte sich auf dem Beifahrersitz. Lil öffnete die Fahrertür und griff nach ihrer Dienstmarke an ihrem Gürtel.

"William Peters?"

Der glatzköpfige Mann - offensichtlich rasierte er sich den Schädel - schaute auf, als die blonde, attraktive Frau auf ihn zukam.

"Kann ich etwas für Sie tun, Schätzchen?"; fragte er. Durch die Autotür klang seine Stimme gedämpft. Scotty knirschte mit den Zähnen. Selbst nach Jahren der Zusammenarbeit verstand er nicht, wie Lil diese Bemerkungen und Beleidigungen kalt hinnehmen konnte, während er selbst bei dieser Art von Kommentaren am liebsten jeden Mann zusammengeschlagen hätte, der seine Partnerin auch nur schief anschaute. Er hasste diese Blicke, die sie von oben bis unten musterten, sie evaluierten, sie beinahe auszogen, wo sie stand...

Lil schien nun endlich ihre Marke gezückt zu haben, denn der Anmache folgten keine weiteren sexistischen Sprüche mehr. Scotty wusste, dass Lil gleichzeitig die rechte Hand dicht am Halfter ihrer Pistole hielt. William Peters galt als unberechenbar und gefährlich.

"Philadelphia Police, Mordkommission", hörte er sie kalt sagen. "William Peters, Sie sind festgenommen."

"Scheiße!"

Ein gedämpfter Fluch entfuhr Peters, dann ertönte Lils Stimme, kalt und befehlend: "Stehen bleiben!"

Schritte, die in die Richtung des Wagens liefen, in dem Scotty saß, waren das nächste, was er wahrnahm.

Lil hatte wieder einmal Recht gehabt, dachte er, riskierte einen kurzen Blick durch die Scheibe und sah den glatzköpfigen Mann auf sich zustürmen. Hastig nahm er den Kopf wieder herunter, zählte bis drei und stiess dann mit der Übung, die von vielen vorangegangenen Versuchen zeugte, die Autotür auf.

-V-

Peters erwies sich als hartnäckig.

Statt frontal gegen das plötzlich vor ihm auftauchende Hindernis zu laufen, wich er der Tür aus, eine weitere Palette an Gossenflüchen ergoss sich aus seinem Mund während er strauchelte und weiterrannte. Verdutzt starrte Scotty dem Flüchtenden nach. Nun, dieses Mal hatte es offensichtlich nicht...

"Bewegung!", fuhr Lil ihn an, die dem Mann dicht auf den Fersen war und an ihm vorbeisprintete, ihre goldenen Haare flogen hinter ihr her. Schnell rappelte er sich auf und schob die Spitze aus Beschämung, dass er nicht sofort die Verfolgung begonnen hatte, gekonnt zur Seite. Dafür war später noch Zeit. Wie ein Pfeil, der von der Sehne abgefeuert worden war, flog Lil hinter Peters her. Gott, war sie schnell! So sehr Scotty sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht, sie zu überholen. Plötzlich schwenkte Peters vor ihren Augen ab, schoss um die Ecke und verschwand in einer dunklen Gasse zu ihrer Rechten. Lil folgte ihm in einer fliessenden Bewegung, Scotty musste abrupt bremsen und wäre beinahe an der Gasse vorbeigefegt. Dann fing er sich wieder und rannte um die Ecke.
 

Es war nicht mehr als eine Garageneinfahrt, ein kleiner Durchgang zwischen zwei der heruntergekommenen Häuser der Gegend, aber am Ende des dunklen Durchgangs sah Scotty Licht. Beinahe am Ende angekommen, hörte er einen wütenden Aufschrei und einen Aufprall - so, als zwei Körper im vollen Lauf gegeneinander geprallt. Scotty schoss aus der Dunkelheit, die Dienstwaffe in der Hand, und bremste so abrupt ab, dass er beinahe über am Boden liegenden Müll gestolpert wäre: Vor ihm war Peters abrupt stehengeblieben und hatte sich, als Lil aus der einfahr stürmte, frontal auf sie geworfen. Lil wehrte sich verbissen, aber ihr im Vergleich zu Peters geringeres Körpergewicht drängte sie von Anfang an in die Defensive. Peters hielt ihren ausgestreckten Arm von sich, die Waffe auf einen unbestimmten Punkt entlang der Hauswand gerichtet. Als er Scotty kommen sah, versuchte er, die noch immer in Lils Hand liegende Waffe auf ihn zu richten, aber Lil kämpfte verbissen gegen ihn an. Mit wild schlagendem Herzen visierte er den Mann an und versuchte, eine Stelle zu finden, an der er Peters und nicht Lil treffen würde. Aber das war unmöglich. Er wusste - genau wie Peters - dass er seine Partnerin treffen würde, sobald er einen Schuss abfeuerte.

Peters fluchte, hielt sie jedoch verbissen fest, auch, nachdem Lil ihm ihren Ellenbogen in den Unterleib rammte.

"Schlampe!", keuchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Im nächsten Moment hatte er ihr die Waffe aus der Hand geschlagen und landete einen Schlag mit der flachen Hand in ihrem Gesicht. Mit einem Schmerzenslaut und in einem Wirbel aus Armen und Beinen zerrte Lil ihn zu Boden. Scotty, mit vor Furcht rasendem Herzen und keinerlei Ahnung, was er nun tun konnte außer darauf zu warten, dass einer von beiden die Oberhand gewann, bückte sich nach Lils Waffe. Aber da riss sie sich in einer einzigen Kraftanstrengung los, wälzte sich blitzschnell von Peters weg und griff nach ihrer Waffe. Noch am Boden liegend, richtete sie den Lauf auf ihn.

"Ergeben Sie sich", kommandierte sie eiskalt, aber deutlich atemlos.

-V-

Wütend liess William Peters zu, dass Scotty ihm die Handschellen anlegte und ihn ins Auto bugsierte. Dann drehte Scotty sich wieder zu seiner Partnerin um, die an einem Laternenpfosten lehnte, die Arme über der Brust gefaltet. Zum ersten Mal hatte er Zeit, sie richtig anzusehen...
 

Sie sah schrecklich aus.

Ihr Gesicht war dreckverschmiert und wo Peters Hand sie getroffen hatte, war ihre Lippe aufgeplatzt und blutete. Ihre Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und blonde Strähnen hingen ihr zerzaust ins Gesicht, ihr Jackett war schmutzig und verschmiert vom Dreck der Gasse, ihre Bluse halb zerrissen und ebenfalls schmutzig. Als sie seinen Blick bemerkte, stieg ihr die Röte in die Wangen und sie funkelte ihn an. Scotty musterte sie besorgt.

"Ist alles in Ordnung?"

Lils Blick war nicht kalt, sondern voll flammender Wut.

"Mir geht es gut", schnappte sie und wandte sich ab. Durch die zerrissene Bluse sah Scotty mehr von ihrer Haut, als er jemals gesehen hatte - und wahrscheinlich jemals sehen würde.

"Was ist los?", sagte sie spöttisch. "Kein Grund, so bedröppelt zu schauen. Das nächste Mal läuft es wieder nach dem Bilderbuchprinzip ab. Es kann nicht immer perfekt laufen."

Ob ihrer Weigerung, sich helfen zu lassen, musste er unwillkürlich grinsen. Was ihm ein weiteres wütendes Funkeln einbrachte.

"Aus genau diesem Grund sind es die Männer, die im Fernsehen diesen Job erledigen, Valens, und nicht die Frauen."

Scotty verkniff sich das Lachen, das in seiner Kehle aufstieg, wohl wissend, dass sie ihn dafür umbringen würde. Er war nur froh, dass es ihr gut ging. Stattdessen zog er sich sein Jackett aus und warf es ihr zu. Mit den funkelnden Augen, dem zerzausten Haar und den Wangen, die noch immer von der Verfolgungsjagd und ihrer Scham und Wut gerötet waren, sah sie so schön aus wie nie zuvor.

"Ich könnte mich glatt an die Realität gewöhnen."
 

Dafür sprach sie bis zum Präsidium kein Wort mehr mit ihm.

Cold Case - Sommer. Won´t go home without you

Mit dieser Geschichte hat es angefangen und mit dieser Geschichte soll es enden.
 

Nach 25 Kapiteln soll diese Sammlung beendet werden, teils, weil es nicht viele interessiert, teils, weil ich nur noch seltenst bei Mexx bin, Teils, weil ich nur noch selten für CC schreibe und wenn dann auf Englisch. Wer Weiteres von mir lesen möchte ist herzlich willkommen auf meiner Seite bei fanfiction.net (näheres in meinem Weblog). Ich bedanke mich für die Leser und bei den Lesern, die immer wiedergekommen sind, ganz besonderes bei Michiru Kaioh. Danke. Wisst ihr, wie viel mir das bedeutet hat? Danke.
 


 

Cold Case – Sommer. Won´t go home without you
 

I asked her to stay, but she would´nt listen...

She left before I had the chance to say
 

Je näher er dem Fahrstuhl kam, der ihn in den sechsten Stock bringen würde – desto langsamer ging er.

Unwillkürlich, ohne eigentlich darüber nachzudenken, was er tat. Die Menschen im Aufzug blickten desinteressiert oder gelangweilt – konnte man beides zugleich sein? Er würde darüber nachdenken müssen – an ihm vorbei oder durch ihn hindurch und warteten darauf, dass sich die Türen vor seiner Nase schlossen. Als hätte er es darauf angelegt, ertönte der Glockenklang und die Schiebetür schob sich langsam zusammen.

Da trat ihr jemand in den Weg.

Der Fahrstuhl piepste ärgerlich und öffnete sich erneut, die Menschenmenge in seinem Inneren liess kollektiv die angestaute Anspannung in einem Seufzer ab. Er würde sie noch rechtzeitig erreichen und Grund für ihre Verspätung sein... Und Alle fühlten sich besser. Jetzt hatten sie jemandem, dem sie für den Rest des Tages alles, was ihnen nicht passte, in die Schuhe schieben konnten.

“Der Tag hat schon scheußlich angefangen... Da war dieser Typ, der dafür gesorgt hat, dass ich zu spät kam. Und ab dem Moment ging alles schief.“

Die digitale Uhr zeigte an: 7 Uhr und 25 Minuten. Jeder von ihnen hatte noch genug Zeit, um bis 7 Uhr 30 im Büro zu sein.
 

„Morgen, Scotty“, sagte Will Jeffries, schob seinen massigen Körper aus der Tür und erlaubte ihm, den Aufzug zu betreten.

„Morgen“, gab Scotty zurück und stellte sich neben den Kollegen. Die Türen schlossen sich mit einem letzten, empörten Klingeln und die Kabine setzte sich in Bewegung.

„Vielen Dank.“

„Gern geschehen.“

Im Aufzug unterhielt man sich nicht. Böse Blicke bohrten sich von allen Seiten in ihn und Will hinein. Sie schwiegen, während das Gefährt an Bewegung aufnahm. Jetzt hatte er... 40 Sekunden Zeit, um sich zu sammeln. Bevor er ihr gegenüber treten musste.
 

The Words that would mend the things that were broken...

But now it´s far too late, she´s gone away.
 

An dieser Stelle sei eine Pause eingelegt, wie auch die Hauptperson sie gerade genoss.

Scott Valens, genannt Scotty, war ein Mann in den späten Dreißiger – also in seinen besten Jahren. Er war hoch gewachsen und gut gebaut und der Einschlag des Spanisch-mexikanischen, welchen seine Vorfahren vor nicht allzulanger Zeit in die Vereinigten Staaten importiert hatten, war nicht zu übersehen. Dunkle Haare, dunkle Augen. Der Anzug – ebenfalls dunkel – und die Krawatte standen ihm ausnehmend gut. Doch im Moment schien er sich darin nicht wirklich wohl zu fühlen: Immer wieder sah er hinauf auf die leuchtend rote Anzeige des Fahrstuhls, während dieser in den Etagen 1-5 Menschen ausspuckte. Und dann schliesslich erreichten sie den Sechsten Stock. Diesmal wurden sie ausgespuckt. Der Büro der Mordkommission der Philadelphia Police breitete sich vor ihnen aus wie eine jungfräuliche Schneelandschaft – nur bunter.
 

Scotty liess Will den Vortritt und folgte seinem Kollegen hinaus in den Büroalltag eines Detective. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich hinter ihm zu verstecken, kam dann aber zum Schluss, dass Will zwar Schultern hatte, die zu dem Zweck äußerst geeignet waren, dass sein Kopf jedoch ein Problem sein würde. Sein eigener Kopf überragte den des bulligen Kollegen um etliche Zentimeter. Also gab er es endgültig auf, das Unvermeidbare hinauszuzögern. Ein wenig, zumindest. Gott, er war ein erwachsener, intelligenter Mann – er hatte es wahrlich nicht nötig, sich aufzuführen wie ein pubertierender Jugendlicher!
 

Die restlichen Mitglieder des Teams für ungelöste Fälle, der „Cold Cases“, standen um einen Tisch versammelt und schienen den Tagesplan durchzugehen – alle, bis auf die Person, deren Wiedersehen Scotty solche Kopfzerbrechen bereitet hatte.

„Morgen, Scotty.“

„Morgen, Boss. Morgen allerseits...“

Er nickte John Stillman, Nick Vera und Kat Miller zu und drehte sich zu Lils Schreibtisch um, an dem sie jeden Morgen saß, wenn er kam.

„Morgen, Lil...“
 

Ihr Name blieb ihm in der Kehle stecken. An Lilly Rushs Schreibtisch saß – niemand.
 

„Wo ist Lil?“, fragte er und wandte sich wieder dem Boss und den Anderen zu. Vier Paar Blicke – jeder mit einem anderen Grad an Neugierde, Frage und Nichtwissen.

„Wir dachten, das wüssten Sie vielleicht“, sagte John Stillman und zog die Brauen hoch. Plötzlich war es sehr, sehr warm im Raum.

„Ich? Warum? Ich weiß nicht, wo sie ist.“

„Rush ist niemals zu spät“, gab Nick Vera zu bedenken und warf einen Blick auf die Uhr. 7 Uhr 35 Minuten.

„Vor 10 Minuten hätte sie da sein müssen. Sie kommt doch immer schon früher – ich habe noch nie erlebt, dass sie sich verspätet hat.“

Kat Miller nahm einen Schluck Kaffee aus einer Tasse, die ein lachendes Hasengesicht vor der Skyline von San Francisco zeigte.

„Sie darf doch fünf Minuten später kommen, wenn sie will. Regen Sie sich nicht so auf.“

„Untypisch, dass sie nicht anruft“, murmelte John Stillman und Scotty konnte ihm nur zustimmen. Ihm zustimmen – und sich selbst sagen, dass Lilly Rush, die in den 6 Jahren, in denen sie bereits zusammenarbeiteten und in den 8 Jahren, die sie bereits bei der Philadelphia Police war, kein einziges Mal zu spät gekommen war, ohne einen guten Grund zu haben. Und selbst dann hatte sie meistens angerufen und Bescheid gesagt... Scotty brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, warum sie heute nicht da war: Sie fürchtete das Zusammentreffen mit ihm genauso, wie er es gefürchtet hatte.

Und Lilly Rush fürchtete sich niemals – niemals! – grundlos.
 

Every night she cries herself to sleep

thinking `Why does this happen to me,

Why does every moment have to be so hard?´
 

Flashback: Ein Tag zuvor
 

„Danke fürs Mitnehmen, Scotty.“

Lilly Rush saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und sah ihn an, ihre Tasche und ihre Jacke bereits in der Hand. Die Sonne stand im Westen – es wurde langsam Abend.

„Keine Ursache“, gab er zurück. „Wann ist Ihr Auto wieder fertig?“

„Hoffentlich übermorgen.“

Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Aber keine Sorge. Morgen laufe ich.“
 

Gerade hatte er den Mund geöffnet, um zu erwidern, dass es ihm nichts ausmachte, sie Abends mitzunehmen, da wurde er aus den Augenwinkeln heraus einer Bewegung gewahr. Und als er die Person erkannte, die sich aus dem Schatten neben den Stufen zu der blauen Haustür erhob, weiteten sich seine Augen. Was er hatte sagen wollen, war vergessen. Im letzten Moment erinnerte er sich daran, wer vor ihm saß, und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu neutralisieren, doch es war zu spät: Lil sah, wie die Überraschung sich in seinen Augen widerspiegelte, die er empfand, runzelte die Stirn und drehte sich um, um seinem Blick zu folgen.
 

Scotty sah nur die Hälfte ihres Gesichts: Ihr Profil. Ihre wunderschön geschwungene Nase, ihre hohen Wangenknochen – und im Licht der Abendsonne sah er, wie sie erbleichte. Sämtliches Blut wich aus ihrem Gesicht, so dass er sich Sorgen machte, sie könne in Ohnmacht fallen. Mit einer fahrigen Bewegung streckte sie die Hand aus, öffnete die Autotür und trat auf den Bürgersteig. Jetzt konnte er ihr Gesicht nicht mehr erkennen, wohl aber ihre Hand, die ihre Tasche so fest umklammert hatte, dass ihre Knöchel weiß anliefen. Die Person, welche neben der Tür gestanden hatte, trat nun vor Lil und lächelte unsicher.

Christina.
 

Sie ähnelte ihrer Schwester so sehr, als sie zu ihr trat, eine Hand um den Schultergurt ihrer großen Tasche geschlungen, mit der anderen Hand ein Bündel an sich pressend.

„Hallo, Lil“, sagte sie und schien nicht zu wissen, was als Nächstes kommen würde. Scotty wusste es auch nicht. Aber als er ihre Stimme hörte – diese dunkle, rauhe Stimme – da zuckte er unwillkürlich zusammen. Wie lange hatte er sie nicht mehr gehört, diese Stimme, für die er einst alles gegeben hätte.

Auch Lil fuhr sichtbar zusammen.

Seltsamerweise stellte sich bei Scotty bei Chris Anblick kein Schmerz ein. Nur, wenn er Lil ansah, schlug sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen... Weil er wusste, dass dieses Wiedersehen für sie keineswegs ein Glückliches war.

Als ihre Schwester nicht antwortete, zuckte Christina unbehaglich die Schultern, liess ihre Tasche los und umfasste das Bündel in ihrem Arm fester.

„Könnten wir vielleicht reinkommen? Mir macht es ja nichts, draußen zu sitzen, aber das Baby...“

Wie magisch wurde Scottys Blick von dem Bündel in ihrem Arm angezogen. Tatsächlich liessen sich in dem Tuch durchaus die Umrisse eines lebendigen, winzigen Wesens ausmachen... Scotty konnte hören, wie Lil zitternd Luft holte. Okay. Jetzt war es eindeutig an der Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

„Ich fahr dann wohl besser“, sagte er, aber Lil wirkte, als habe sie ihn nicht gehört. Unsinnigerweise bemüht, mit dem startenden Motor nicht allzuviel Lärm zu machen, liess er den Wagen an und liess Lil und ihre Schwester vor deren Wohnung stehen.
 

Hard to believe that

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

~***~
 

Als er am Abend die Bar betrat, machte er sie sofort aus: der schlanke, viel zu gerade Rücken, die goldenen Haare – er hätte sie überall wiedererkannt.

„Was machen Sie hier?“, fragte er und liess sich neben sie auf einen Hocker sinken. Lil hatte sich umgezogen, sie trug nun einen Rock – Lil im Rock?! – und ein blaues Oberteil. Ein vernichtender Blick traf ihn von der Seite.

„Haben Sie erwartet, dass ich eine Willkommensparty schmeiße, oder was?“

„Nun...“

Scotty zuckte die Achseln und winkte dem Barkeeper. Der Mann nickte, nahm ein Glas vom Regal, grinste anzüglich, machte eine Kopfbewegung hin zu Lil – die sie entweder ignorierte oder dankenswerterweise nicht wahrnahm – formte mit den Lippen ein „Hot!“ und machte sich an die schwere und intelligenzfordernde Aufgabe, einzuschenken. Scotty nahm sich ein Beispiel an seiner Partnerin, ignorierte den Mann und betrachtete die Straße hinter ihm im Spiegel über der Bar.

„Sie ist immerhin Ihre Schwester, und Sie haben sie lange nicht gesehen.“

Lil schnaubte ungehalten.

„Sie ist meine Schwester, aber das bedeutet nichts. Sie ist auch Ihre Ex-Freundin. Und?“

Der Inhalt ihres Glases verschwand innerhalb von Sekunden. Uh-oh. Sie hat wirklich schlechte Laune. Weil sie schwieg, nahm Scotty sich ein paar Sekunden, um über sein Verhältnis zu Chris nachzudenken: Sie war in etwa so gewesen wie seine Affäre mit der Staatsanwältin. Leidenschaftlich und nicht von Dauer – ein Feuer, welches ihn von innen aufzehrte und ausgebrannt zurückließ. Es schmerzte ihn nicht, dass sie wieder da war, er bedauerte nicht, etwas mit ihr gehabt zu haben – jetzt war es vorbei und er war frei. Leise atmete er ein, als ihm bewusst wurde, dass Lil niemals in diesem Sinne frei von Chris sein würde.

„Von wem war das Baby?“, fragte er plötzlich und schaute in den Wirbel aus goldener Flüssigkeit in seinem Glas.

„Von ihr.“

Er hatte es selbst schon durchgerechnet. Das Baby war zu klein, um älter als anderthalb Jahre zu sein – und das zwischen ihm und Chris war vor drei Jahren zu Ende gegangen. Dass Lil nichts sagen wollte, war typisch – andererseits kannte er sie gut genug, um zu vermuten, dass sie sich nicht gescheut hätte, ihm die Wahrheit zu sagen, wäre er wirklich der Vater gewesen. Gott. So etwas konnte er zu diesem Zeitpunkt nun wirklich nicht gebrauchen.

„Und jetzt?“

„Jetzt?“

Lil lachte auf, einen nicht zu geringen Hauch an Bitterkeit in ihrem Gesicht.

„Jetzt liegt sie in meinem Bett und schläft. Sie war todmüde.“

Typisch Lil. Niemals könnte sie jemandem, der sie um etwas bat, diese Hilfe verweigern. Eine Weile noch saß er schweigend neben ihr und sah zu, wie sie, ebenfalls schweigend, aus dem Fenster zu ihrer Rechten auf die Straße schaute, ohne eigentlich etwas wahrzunehmen. Eisprinzessin, schoss es ihm durch den Kopf. Deshalb nennen Nick und Will sie so. Keine Regung, kein Gefühl, kein Wort... Einfach nur eiskalt. Irgendwann drehte sie sich um, legte das Geld auf den Tresen, nickte ihm zu, ohne ihn anzusehen, und verschwand hinaus in die Nacht. Mittlerweile war es auch dunkel geworden. Scotty gab ihr eine halbe Stunde Vorsprung, dann zahlte auch er und folgte ihr.
 

Und fand sie genau da, wo er es vermutet hatte: an den Stufen zu der künstlichen Wasserfläche, die einen Großteil des Platzes vor dem Gericht ausmachten.

Sommernacht. Angenehm warm.
 

„Was ist los, Lil?“, fragte er leise und berührte ihren Arm. Sie schüttelte ihn ab, aber es verletzte ihn nicht. Er war Schlimmeres von ihr gewohnt. Das war Lil.

„Warum gehen Sie nicht nach Hause und sprechen mit Chris? Wahrscheinlich hat sie viel zu erzählen. Wahrscheinlich hat sie Sie vermisst. Weshalb auch immer Sie auf sie wütend sind, und warum Sie ihr nicht verzeihen wollen – sie würde es verstehen.“ Es war drei Jahre her. Warum war Lil noch immer wütend auf ihre kleine Schwester? Scotty wusste sicher nicht einen Bruchteil von dem, was zwischen den Rush-Schwestern vorgefallen war. Aber er maßte sich an, genug zu wissen.

Lil fuhr herum.

„Es verstehen?“, rief sie aus. „Mich verstehen? Wie sollte sie das!“

Ihr goldenes Haar flog, als sie den Kopf in den Nacken warf.

Und lachte.

Irritiert wartete Scotty ab, bis sie aufhörte und ihn ansah – und ihr Gesicht war eine einzige Maske der Qual. Es schnitt ihm ins Herz.

„Lil – warum hassen Sie sie so sehr? Sie ist Ihre Schwester!“

„Ach ja!“

Höhnisch blitzten ihre Augen.

„Und Sie können sich nicht vorstellen, dass man seine eigene Schwester hassen kann? Glauben Sie mir Scotty, das geht – und niemand weiß das besser als ich!“

Er brauchte nicht nachzubohren – es brach aus ihr heraus wie ein Wasserfall, zu lange aufgestaut, um jetzt noch aufzuhalten zu werden.

„Ich habe ihr Morgens Frühstück gemacht! Ich habe sie zur Schule gebracht, wenn meine Mutter ihren Rausch ausschlief! Ich habe ihr bei den Hausaufgaben geholfen, ich habe dafür gesorgt, dass sie Abends wenigstens etwas zu Essen bekam! Ich habe ihr zugehört, wenn sie etwas zu erzählen hatte, ich habe sie getröstet, wenn sie traurig war, ich habe mit ihren Lehrern gesprochen, wenn sie geschwänzt hat! Ich habe alles versucht, damit sie eine bessere Kindheit hat als ich!“

Sie atmete schwer und sah an ihm vorbei. Nur mühsam fand Scotty die Worte, die er suchte.

„Sie nehmen es ihr immer noch übel.“

Der Blick aus ihren Augen liess ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die Frau vor sich – das war nicht Lilly Rush. Das war nicht die Frau, die er bisher gekannt hatte – stark, selbstbewusst, stolz. Gut, sie trug einen Rock – aber das war nicht das einzige Fremde an ihr. Ihr ganzes Verhalten, ihre Haltung – das war eine andere Lil. Das, was sie erzählte, eröffnete ihm eine ganz neue Perspektive auf seine Partnerin. Wieviel älter als Chris war sie? Er hatte Chris nie nach ihrem Alter gefragt – ganz zu schweigen Lil – aber nach dem, was er gerade erfahren hatte, musste sie ungefähr sieben Jahre jünger sein als Lil. Und das bedeutete, dass er mit einer Frau geschlafen hatte, die sieben Jahre jünger war als er?

„Ich nehme es ihr übel?“, wiederholte sie, so leise, dass er sich vorbeugen musste, um etwas zu verstehen.

„Oh ja. Sie hat mich belogen. Immer und immer wieder.“

„Können Sie ihr das nicht verzeihen?“

„Ich habe es versucht. Sie hat es wieder getan!“

Ruckartig drehte sie ihm den Rücken zu.

„Sie tut es wieder und wieder und immer wieder! Warum? Warum hält sie sich nicht endlich aus meinem Leben fern? Ich bin nach Philadelphia gekommen, um sie nicht mehr sehen zu müssen, nach dem, was sie getan hat. Sie kam mir hinterher. Sie...“

Er verstand es nicht. Sie hätte es wissen müssen. Warum redete sie noch mit ihm?

„Lil. Was hat sie wieder getan? Ist es immer noch wegen...“

Er zögerte.

„Wegen Ihrem Verlobten?“

„Es geht Sie nichts an, Scotty!“

„Aber zwölf Jahre sind eine lange Zeit...“

Ihr Rücken war so steif, es tat ihm weh, es zu sehen. Manche Menschen zerbrachen unter solchen Lasten. Lil weigerte sich, sich zu beugen. Aber das bedeutete nicht, dass sie die Last auch tragen konnte. Nein, die Last beugte sie hinunter, erdrückte sie...

„Nein!“, fügte sie hinzu und entfernte sich einige Schritte von ihm. Er bewegte sich nicht, aus Angst, sie zu verschrecken.

„Nein! Nicht Zwölf Jahre! Wenn es nur das wäre! Wenn...“

Sie biss sich auf die Lippen.

„Wenn sie nur damit aufgehört hätte“, flüsterte sie leise.

„Aufgehört womit?

„Das müssten Sie wissen, Scotty. An ihrem Geburtstag vor drei Jahren kam Chris nach Philadelphia. Wir sind zusammen essen gegangen, ich habe sie eingeladen. Und dann hat sie mir von ihrem neuen Freund erzählt.“

„Ihrem neuen Freund?“

„Ja.“

„Sie meinen...“

„Sie, ziemlich genau meine ich das.“

Wieder das Lächeln. Nicht kalt, nicht traurig. Das Lil-Lächeln. Das mehr versteckte als es verriet. Langsam dämmerte es ihm.

„Sie meinen, indem Chris eine ... Beziehung... zu mir begonnen hat, hat sie Sie...“

Er musste vorsichtig sein mit dem, was er sagte. Er durfte jetzt nicht interpretieren.

„Hat sie Sie verraten? Warum? Sie ist alt genug. Und es ist ja nicht so, dass wir in irgendeiner Art und Weise...“

Worte. Worte. Wo waren sie, wenn man sie brauchte? Scotty verstand nicht. Was wollte Lil damit sagen? Seine Partnerin schien ihn nicht gehört zu haben. Irgendwie war er erleichtert.

„Sie kann es nicht lassen. Sie taucht auf, stiftet Chaos und hinterläßt gebrochene Herzen – dutzendweise.“

Scotty wusste nicht mehr, was er sagen sollte, und auch Lil schwieg. Schweigend sah er mit ihr hinaus auf den künstlichen Teich, in dem sich der Mond verschwommen spiegelte. Er konnte fast greifen, was sich um Lilly Rush sammelte: Hass, Trauer, Enttäuschung, Schmerz – und eine überwältigende Liebe für ihre Schwester, die sie aufgezogen hatte. Sie war seine Partnerin. Sie hatten seit über acht Jahren zusammengearbeitet. Lil konnte ihn nicht täuschen: Er wusste genau, dass sie ihre Schwester – ihre kleine Schwester! – innig liebte. Aber was konnte er schon tun, um einen Menschen aufzumuntern, der von einer geliebten Person verletzt worden war?
 

Dann fing sie an zu zittern.

Scotty wandte sich um und wollte sie fragen, ob sie fror, da sah er etwas anderes: sie weinte. Lilly Rush weinte. Nun, vielleicht nicht direkt.

Eine einzelne, schimmernde Träne lief ihr über die Wange. Und da begann Scott Valens sich zum ersten Mal zu fragen, ob sie nicht irgendwann zerbrechen würde. Und der Gedanke daran war – undenkbar.
 

„Sie sollten nach Hause gehen“, sagte er irgendwann einmal. Wie viel Zeit später. Lil schüttelte schwach den Kopf, ein kleines Lächeln hatte sich wieder in ihren Mundwinkeln gebildet.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er verwirrt und fuhr sich durch das Haar. Sie musste doch nach Hause gehen, zur Ruhe kommen, ein wenig schlafen...

„Heute gehe ich nicht mehr nach Hause“, sagte sie bestimmt.

Kurz geisterte Scotty das Bild durch den Kopf, welches er in dem Fall, dass sie ihre Aussage wahr machen würde, morgen zu sehen bekommen würde: eine Lilly Rush, die noch immer die zerknitterte Kleidung vom Vortag trug, ohne die frisch gewaschenen Haare und mit Ringen unter den Augen...

„Können Sie nicht irgendwo anders hin?“, fragte er, ohne nachzudenken. Zu spät fiel ihm ein, dass dies eine Frage nach etwas war, dem Lilly Rush bisher strikt ausgewichen war: eine Frage nach ihrer Privatsphäre. Aber heute Nacht schien Lilly Rush nicht zu existieren. Die Person neben ihm wirkte klein und zerbrechlich und schüttelte den Kopf. Scotty fasste einen Entschluss.

„Gut. Kommen Sie.“

Bevor sie überhaupt reagieren konnte, hatte er sie am Arm gepackt und zog sie hinter sich her. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren – das war nicht die Lil, die er kannte.

„Wohin?“, fragte sie nur.

Vor seinem geistigen Auge sah Scotty das Bild seiner Wohnung.

„Zu mir.“

Hoffentlich würde er das nicht bereuen.
 

~***~
 

„Erstaunlich aufgeräumt“, merkte Lil leise an. Sie schien müde zu sein – sie lehnte sich an den Türrahmen zum Wohnzimmer und hatte sich bisher geweigert, näher zu kommen.

Merkwürdige Frau.

Er hatte bis zu 30 Stunden ohne Pause mit ihr im Einsatz verbracht – aber dieser eine Tag, diese emotionalen Strapazen, schien selbst ihre letzten Reserven geleert zu haben.

„Eine meiner wenigen Qualitäten“, flachste er in dem Versuch, sie zum Lachen zu bringen. Es gelang mit mittelmäßigem Erfolg: ihr linker Mundwinkel hob sich um 2,5 Millimeter.

„Scotty, ich schätze, dass Sie das auf sich nehmen, aber...“

„Kein Aber“, unterbrach er sie.

„Das ist schon in Ordnung. Ich schlafe einfach auf dem Sofa – sehen Sie? Es ist sehr bequem. Ich schlafe sogar manchmal hier, wenn ich keine Lust habe, den Weg ins Schlafzimmer zu gehen. Möchten Sie etwas trinken?“

Lil trat näher und begutachtete das besagte Sofa.

„Nein, Danke.“

Scotty zog die Brauen hoch.

„Kommen Sie.“

„Wasser.“

Typisch Lil.

In der Küche füllte er ein großes Glas mit Wasser, trug es ins Wohnzimmer und reichte es ihr. Mit einem Nicken des Dankes nahm sie es an – und sah entsetzt zu, wie das Glas aus ihren Fingern glitt und seinen Inhalt quer über das Sofa verteilte. Fasziniert beobachtete Scotty ihre Reaktion. Statt aufzuspringen, sich wortreich zu entschuldigen und zu versuchen, den Schaden möglichst schnell zu beheben, vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein und aus. Dann sah sie ihn an.

„Das tut mir leid, Scotty. Haben Sie einen Lappen?“

„Es ist nur Wasser“, sagte er und hob das Glas auf, welches auf dem Teppich gelandet war. Mit einem Klirren stellte er es auf die gläserne Tischplatte.

„Kommen Sie.“

Das zweite Mal, dass er ihr diesen Satz sagte und auch diesmal folgte sie ihm widerspruchslos. Stolz stellte er fest, dass sogar das Schlafzimmer präsentabel wirkte – heute war wohl wieder einer der Tage gewesen, an denen er morgens jegliche Haufen schmutziger Wäsche mit viel zu viel Energie attackiert und alle überflüssigen Kleidungsstücke mehr oder minder in den Schrank geworfen hatte. Im selben Moment bezweifelte er, dass Lil das überhaupt wahrnahm.

„Ich gebe Ihnen eine andere Decke und ein Kissen“, sagte er, trat an den Schrank und zauberte irgendwie die gewünschten Dinge hervor, ohne eine Lawine hervorzurufen.

Lil antwortete nicht, sondern stand noch immer in der Tür und sah ihn an wie ein verschüchtertes kleines Kind. Da erst ging ihm auf, wie sie sich fühlen musste: Für sie, der ihre eigene Privatsphäre heilig war, musste es schrecklich sein, in seine Privatsphäre eindringen zu müssen.

„Es ist nur für eine Nacht“, sagte er beruhigend, rollte seine Decke und sein Kissen zusammen und warf die restliche Bettwäsche darauf.

„Das Bad ist dort drüben. Machen Sie es sich bequem, ja?“

Um ihr keine Gelegenheit zur Widerrede zu geben, verliess er den Raum.

„Gute Nacht.“

Als sie ihn nun ansah, stand etwas in ihrem Blick, das er nicht genau deuten konnte.

„Danke.“

Er zog die Schultern hoch und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sein Herz für einen Schlag ausgesetzt zu haben schien.

„Kein Ding. Bis Morgen.“

Die Tür schloss sich leise. Dann ging sie von Innen wieder auf.

„Aber wo werden Sie schlafen? Ich habe Ihr Sofa ruiniert...“

„Lil!“

Diesmal konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Ich habe noch eine Luftmatratze. Schlafen Sie jetzt endlich.“

Mit einem nur zu erahnenden Lächeln schloss sie die Tür.
 

~***~
 

Wovon Scotty mitten in der Nacht aufgewacht war, konnte er nicht sagen.

Plötzlich lag er dort, auf dem Boden in seinem eigenen Wohnzimmer. Es war warm, und das Laken, welches er über sich ausgebreitet hatte, lag neben ihm. Lange blieb er so liegen und betrachtete das Zimmer im Mondlicht. Heute schien es viel heller als sonst. Unwillkürlich lauschte er auf Geräusche aus dem Schlafzimmer, aber alles blieb still. Nur, dass es nicht mehr die selbe Stille war wie sonst, so, wie es nicht mehr das selbe Licht war wie sonst. Alles schien anders...

Und dann sank er in einen leichten Schlaf zurück.
 

~***~
 

The taste of her breath, I cannot get over

the noises that she makes keep me awake.
 

„Ich hoffe, es war nicht allzu unbequem für Sie“, sagte Lil am nächsten Morgen, als sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand in seiner Küche stand. Kaffee, den sie gekocht hatte. Und nun stand sie. Fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sie immer stand und niemals zu sitzen schien? Woran das lag? Aber gut, wenn sie die Energie dafür hatte...

„Nein, überhaupt nicht“, gab er zurück. Sie sah aus, als hätte die letzte Nacht niemals stattgefunden. Zwar trug sie noch immer den Rock und das blaue Oberteil – es war Sommer, oder nicht? – aber sie hatte geduscht und ihre Haare glänzten wie eh und je. Trotzdem fiel Scotty auf, was er bisher ein einziges Mal an ihr gesehen hatte, und damals wäre sie beinahe gestorben: sie wirkte zerbrechlich.

„Sind Sie Frühaufsteherin?“

Entweder das, oder sie konnte es nicht ausstehen, wenn andere die Arbeit machten...

„Ich fürchte ja“, sagte sie. „Ist eine alte Angewohnheit. Früher habe ich...“

Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Verteidigung war am Boden – sie konnte sie nicht einmal mehr aufrecht halten. Er sah, wie sie zurückhielt, was ihr auf der Zunge gelegen hatte, in dem sie sich auf die Lippen biss. Wahrscheinlich hatte sie etwas wie „Früher habe ich immer für Chris das Frühstück gemacht“ sagen wollen. Und wo sie gerade von Chris sprachen...

„Lil“, sagte er und stand auf, um mit ihren Augen auf einer Höhe zu sein. Nun, eigentlich war er einige Zentimeter über ihr, aber immernoch besser, als vor ihr zu sitzen. Lil wich ein wenig zurück.

„Ich kann ja verstehen, dass es Sie immernoch verletzt, dass Chris...“

Er suchte nach Worten.

„Das sie so etwas getan hat. Dass sie Sie verraten hat. Aber eigentlich haben Sie ihr längst vergeben, oder? Sie ist schliesslich Ihre kleine Schwester.“

Lil sah hinunter in den schwarzen Strudel aus Kaffee, der sich gebildet hatte, während sie ihre Tasse unbewusst schwenkte. Scotty wusste, an wen sie dachte: an ihre Mutter. Auch ihr hatte sie nicht vergeben können. Auch über sie hatte sie sich mit ihm gestritten. Und als sie endlich bereit war, war es fast zu spät gewesen...

„Lil.“

Er klang beschwörend.

„Gehen Sie nach Hause. Sprechen Sie mit Christina. Sonst wird es wieder zu spät sein.“
 

Lil sah ihn an.

Der Blick ihrer blauen Augen bohrte sich in die seinen – hartnäckig, stolz, forschend und tief. So durchdringend, dass er wegsehen musste. Sein Blick irrte durch die Küche, blieb am Fenster hängen und begutachtete den blauen Himmel über Philadelphia. Durchdringend[/]. Ihr Blick schien alles und jeden zu durchleuchten – manchmal fürchtete er sich geradezu davor. Man ertrank in ihren Augen, wurde klein, jedes Gefühl, jeder Gedanke schien offen vor ihr zu liegen. Nur heute war ihm etwas darin aufgefallen, was er sonst niemals dort gesehen hatte... Während er sich den Kopf darüber zerbrach, wurde ihm die Stille im Raum bewusst. Sein Blick kehrte zu Lil zurück – sie sah ihn immer noch stumm an – und prompt kehrte das Gefühl zurück, zu fallen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Stille war ohrenbetäubend tief, während er sie nur weiter ansehen konnte. Nicht denken, nicht bewegen. Sie immer weiter ansehen.

Und dann beugte Lil sich vor, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
 

Perplex starrte Scotty auf das Gesicht, welches er so gut kannte und welches ihm nun so nah war, dass er es nicht mehr erkennen konnte. Er spürte ihre Lippen weich auf seinen und schmeckte die Süße ihres Atems – und bevor er reagieren konnte, zog sie sich zurück. Ihre Augen musterten ihn forschend, als ob sie ihn testen wollte. Stunden schienen zu vergehen und Scotty war noch immer nicht in der Lage, sich zu bewegen, irgendwie zu reagieren: er sah sie nur an.

Als sähe er sie zum ersten Mal.

Konnte sie nur immer weiter ansehen.

Und Lilly Rush wirbelte auf dem Absatz herum und ergriff die Flucht.
 

Flashback Ende
 

~***~
 

The weight of the things that remained unspoken

built up so much it crushed us every day.
 

Every night she cries herself to sleep

Thinking ´Why does this happen to me,

Why does every moment have to be so hard.`
 

Und jetzt saß er hier und wartete darauf, dass etwas geschah.

Aber was?

Was erwartete er?

Dass sie sich ihm um den Hals warf? Dass sie sagte, das alles sei nur ein Fehler gewesen? Er sei zwar ein guter Partner und Kollege, aber... Schritte näherten sich, schnell und eilig, und er hätte sie überall auf der Welt erkannt.

„Lil!“, rief Kat Miller aus. „Da bist du ja! Beeile dich, wir müssen los...“
 

Scottys Kopf fuhr hoch.

Seine Augen suchten ihre und erwarteten, dass sie ihn meiden würde, dass sie ihm ausweichen würde – und sie blickte ihn geradewegs an und lächelte.

„Morgen.“

Und weg war sie.

„Sorry, Boss“, hörte er ihre Stimme aus dem kleinen Büro, in welchem John Stillman residierte. Die übrigen Kollegen schienen nichts mitbekommen zu haben. Kopfschüttelnd stritten Will und Nick sich darüber, wer den Staatsanwalt anrufen durfte. Kat kam mit ihrer Tasche aus dem Pausenraum. Die Zeit lief weiter, als sei sie niemals stehengeblieben.
 

~***~
 

Hard to believe that

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

Eines musste man ihr lassen: Lilly Rush konnte – wenn sie wollte – für (bestimmte) Menschen so gut wie unsichtbar werden. Wenn sie ihn mied – und nach einem ganzen Tag hatte Scotty eindeutig das Gefühl, dass sie ihn mied – dann tat sie das mit vollem Erfolg.

Oh nein!

Sie ging ihm nicht einfach nur aus dem Weg, so wie jede andere Frau es getan hätte. Sie weigerte sich auch nicht, mit ihm zu sprechen. Das waren die Methoden gewöhnlicher Frauen, und Lilly Rush war alles andere als gewöhnlich.

Das bekam Scott Valens schmerzhaft zu spüren.

Denn Lil gab sich nicht die Mühe, ihn zu meiden – sie tat einfach so, als sei nichts geschehen. Rein gar nichts. Sie verfiel ihm gegenüber in den Eisprinzessinnenmodus. Kein Gefühl, keine Reaktion. Zumindest nicht auf ihn.

Nicht, dass sie ihn ignorierte. Er wusste, wie sich das anfühlte – von Lilly Rush ignoriert zu werden, war eine Stufe vor der arktischen Hölle und er hatte diese Vorstufe bereits erfahren. Aber die Temperaturen im Büro blieben auf erträglichen – vielleicht 23°C, in Anbetracht der Sommerhitze vor dem Gebäude. Dieses Mal fiel ihre Maske nicht einmal auf, denn sie benahm sich wie gewöhnlich. Keine Blicke unter dem Gefrierpunkt. Keine Kommentare, welche die Zahnwurzeln schmerzen ließen vor Kälte.

Nein, viel subtiler als jede Frau, die er kannte, überging sie einfach den gesamten letzten Abend und den Morgen. Tat so, als habe niemals etwas stattgefunden, als sei niemals etwas geschehen. Was, wenn er sich eingestand, der Vorhölle schon nahe kam.

Und er musste ebenfalls zugeben, dass es ihn störte. Wie stellte sie sich das vor? Sie konnte ihn nicht zuerst so überfallen – küssen – und dann einfach so tun, als sei nichts geschehen. Es störte ihn sogar gewaltig.

Aber er musste es ihr lassen: sie tat es so überzeugend, dass selbst er langsam anfing, sich zu fragen, ob überhaupt etwas zwischen ihnen vorgefallen war. Sie brachte ihm einen Kaffee mit, so wie dem Boss, Will und Nick. Sie fragte ihn nach den Akten des letzten Falles. Sie erinnerte ihn daran, dass er diesmal an der Reihe war, die Donuts zu spendieren. Und zu guter Letzt: Als Kat in der Mittagspause darüber herzog, dass manche Männer einfach keine Ordnung halten konnten – Nick hatte einen Aktenordner falsch einsortiert, beißenden Spott geerntet und beleidigt den Raum verlassen – und ihm anschließend unterstellte, dass sein Wohnzimmer sich sicher nicht in einem präsentablen Zustand befand, und er Hilfe suchend Lil einen Blick zuwarf, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper und behauptete, kein Gegenargument nennen zu können – aufgrund mangelnder Beweislage. Nicht wissend, ob er wütend auf sie sein sollte oder amüsiert, lauschte er Kats weiteren Ausführungen und versuchte zu definieren, was gerade stärker an ihm nagte: Wut oder Amüsement. Und wenn er wütend war – war er es, weil sie ihn nicht verteidigt hatte, oder weil sie einfach über das hinwegging, was am Morgen geschehen war? War Beides eigentlich nicht das Selbe? Und dann war da noch etwas, was sie gesagt hatte, wovon er wusste, dass es wichtig war. Den ganzen Tag lang zermarterte er sich den Kopf, was es gewesen sein konnte, kam aber zu keiner Lösung.

Als er einmal aufsah, traf er ihren Blick und stellte fest, dass sie ihn beobachtete. Aber sofort wandte sie sich wieder dem Kopierer zu. Mit dem Ausdruck, als habe sie lediglich ins Leere gestarrt.
 

~***~
 

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

Sie bereitete ihm Kopfschmerzen.

Wer war diese Frau? Jetzt hatte er zwei Lilly Rushs kennengelernt: Die Eine verbittert, verzweifelt, hilflos und zerbrechlich, die Andere stolz, ironisch und unnahbar wie immer.

Welche Lil ihm besser gefiel?

Er mochte beide.

Beide waren gleichermaßen liebenswert.

Warum sie ihn geküsst hatte?

Da kamen ihm auf Anhieb mehrere Antworten in den Sinn. Von denen ihm einige mehr und andere weniger gefielen. Als er sich einige Stunden später allein im Archiv wiederfand, beschäftigte er sich genauer mit dieser Frage.

Zum Beispiel konnte es eine Art Dankeschön gewesen sein. Nur, dass Lilly Rush Danke sagte, wenn sie es meinte. Diese Theorie gefiel ihm weniger.

Oder sie hatte ihn aus Versehen geküsst... Ihn sozusagen verwechselt. Äußerst unangenehm. Und nicht wünschenswert.

Und dann war da immer noch die Möglichkeit, dass sie ihn hatte küssen wollen, weil...

Nicht gut. Ihm wurde warm.

„Scotty? Wollen Sie die Luft in einen Schweizer Käse verwandeln?“

Der Angesprochene fuhr auf und stellte fest, dass der Boss vor ihm stand, dass er wieder an seinem Schreibtisch saß und dass das Büro leer war. Schnell warf er einen Blick auf die Uhr: Kurz nach Sechs. Feierabend. Hatte er nicht bemerkt, wie alle Anderen schon gegangen waren? Der Boss stand vor ihm und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Scotty?“

Lassen Sie mich überlegen... Boss, Ihre Lieblingsangestellte hat mich geküsst und tut jetzt so, als sei nichts passiert. Und ich weiß nicht, warum sie es getan hat und warum sie es anscheinend wieder vergessen hat, und auch nicht, was ich jetzt tun soll. Soll ich mit ihr reden? Was, wenn sie mir wieder einmal nicht zuhört? Wie soll ich reagieren?

„Nein, Boss. Alles Bestens. Ich gehe jetzt.“

„Scotty!“

„Ja?“

Er wandte sich noch einmal um.

„Vergessen Sie ihre Tasche nicht!“
 

~***~
 

Als die Gestalt ins Licht trat und er sah, wer es war, konnte sie auch ihn erkennen. Scotty konnte sehen, wie sich alles in Lilly Rush danach sehnte, davonzulaufen, wie sich ihr ganzer Körper anspannte und zur Flucht antrieb. Aber das liess ihr Stolz nicht zu – darauf hatte er spekuliert. Langsam näherte sie sich dem künstlichen See im Herzen Philadelphias.
 

Of all the things I felt but never really showed

Perhaps the worst is that I ever let you go

I should not ever let you go
 

„Was machen Sie hier?“

„Das Selbe könnte ich Sie fragen. Zu viel Kindergeschrei?“

„Nein.“
 

Lil schwieg, und Scotty schloss sich ihr an und versuchte zu ignorieren, dass ein sanfter Duft von Süße sie umschwebte. Dieselbe Süße, nach der ihre Lippen schmeckten... Unwillkürlich fragte er sich, wie es sein würde, wenn er sie noch einmal küsste. Genauso süß? Weich?
 

It´s not over tonight...
 

Er riss sich zusammen. So ging es nicht weiter... Seine Gedanken schienen nur um ein einziges Thema zu kreisen. Um sie.

„Haben Sie mit Chris gesprochen?“

„Das geht Sie nichts an.“

Das wertete er als ein Ja.
 

Just give me one more chance to make it right

I may not make it through the night...[/ i]
 

„Lil“, sagte er schliesslich.

„Warum haben Sie mich geküsst?“
 

I won´t go home without you.
 

Sie machte einen Fehler.

„Ach – Sie küssen nur Chris, oder was?“

Scotty versteifte sich. Wollte sie sagen, dass sie ihn geküsst hatte, nur weil Chris es auch getan hatte? Sollte es eine Art verspätete Rache an ihrer Schwester sein – wenn du mit meinen Typen stiehlst, stehle ich dir deinen? Eine dieser verkorksten Rush-Angelegenheiten, in die er hineingeraten war? Verdammt.

Andererseits war dies das Letzte, was er von Lil erwartet hätte. Lil spielte fair. Und dann – dann war das mit Chris und ihm schon lange vorbei. Das konnte es nicht sein. Nein... Es klang eher, als habe er sie verletzt, als er eine Beziehung zu Chris begonnen hatte. Wie um alles in der Welt konnte so etwas Lilly Rush verletzen? Verletzen? Es war ja nicht sie, deren Herz gebrochen worden war, denn...

Oh Gott.

Die Erkenntnis überkam ihn mit einer Klarheit, die alle anderen Gedanken in seinem Kopf hinwegwusch. Plötzlich war es deutlich – alles, was bisher so undurchsichtig erschienen war, lag nun klar vor ihm. Nicht nur Chris – nein, auch er hatte sie verletzt. Weil er sich auf eine Beziehung zu ihr eingelassen hatte, während Lil... Während Lil...

Er fuhr zu ihr herum.

Als sie es realisierte – realisierte, dass sie sich verraten hatte, dass er endlich verstanden hatte, worum es ging, breitete sich Furcht über ihr wunderschönes Gesicht.

„Nein. Nein! Nein, Scotty – das wollte ich nicht sagen. Das tut mir leid, ich...“

„Lil.“

Vorsichtig machte er einen Schritt auf sie zu, unsicher, was er sagen sollte. Was konnte er sagen? Nichts schien richtig zu sein.

„Nein!“

Nackte Panik sprach nun aus ihrer Stimme. Sie wich zurück.

“Es tut mir leid, Scotty. Es tut mir leid. Ich wollte nicht... Ich wollte nicht...“
 

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it through the night
 

Was sollte er tun?

Sie war in Panik, das konnte er sehen. Sie schien jeden Moment auseinanderfallen zu können, schien fliehen zu wollen und sich nur mit äußerster Disziplin daran zu hindern. Sobald er etwas Falsches sagte, würde sie davonlaufen.

Das da war Lil – Lilly Rush. Sie brauchte niemanden. Sie konnte alles – alles alleine. Sie war stark. Aber es waren nicht Lilly Rushs Worte. Und als er sie nun ansah, sah er nicht nur Lilly Rush. Sondern einfach nur Lil. Zerbrechlich, einsam, beinahe wahnsinnig vor Angst, weil sie etwas gesagt hatte, das alles würde zerstören können, was zwischen ihnen existierte. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht blass. Wahrscheinlich hatte sie sich selbst noch niemals eingestanden, was ihr gerade durch Zufall entwichen war. Wahrscheinlich ging es ihr zum ersten Mal auf – weil er sie gezwungen hatte, auszusprechen, was sie gefühlt, sich aber niemals gesagt hatte. Sie hatte Angst vor der Zukunft. Sie klammerte sich noch immer an die Vergangenheit – deshalb hatte sie auch Chris nicht vergeben können. Aber all diese Fehler machten sie in seinen Augen kein bisschen weniger liebenswert.
 

I won´t go home without you.
 

Sie hatte Angst vor einer Beziehung.

Scotty war sich bewusst, dass es bei einer Frau wie Lil schwer sein würde, eine normale Beziehung zu führen. Sie war es gewöhnt, alleine zu sein. Sie hatte immer einen Weg gefunden, allein zurechtzukommen. Sie hatte ihre Ängste so tief vergraben, dass nicht einmal sie selbst sie finden konnte. Sie war so sie selbst, dass es ihr schwer fallen würde, ihn zu akzeptieren – und er würde sich auf interessante Zeiten gefasst machen müssen. Der Ausblick gefiel ihm. Nur musste er die richtigen Worte finden.
 

I won´t go home without you.
 

Also war er es dieses Mal, der sie küsste.

Er musste schnell sein. Schnell, damit sie seine Absichten nicht erriet und floh, schnell, damit er sie nicht noch mehr in Panik versetzte. Er überbrückte die wenigen Schritte zu ihr und beugte sich hinunter, hob ihr Kinn an und küsste sie – stärker, als beabsichtigt, denn sie hatte in letzter Sekunde reagiert und versuchte zu fliehen. Als seine Lippen die ihren berührten, erstarrte sie am gesamten Körper. Vorsichtig nahm er seine Hand von ihrem Hinterkopf, mit der er sie festgehalten hatte, und berührte sanft ihre Wange. Lils Lippen waren weich und süß und er fragte sich, wie er jemals hatte zulassen können, dass sie am Morgen vor ihm davongelaufen war.
 

I won´t go home without you.
 

Als er sich ein wenig entfernte, fürchtete er, dass sie ihn falsch verstanden haben könnte: fürchtete Wut, Angst, Zweifel in ihrem Ausdruck. Es hätte nichts an der Tatsache geändert, dass es der beste Kuss seines Lebens gewesen war – dennoch fürchtete er es. Und erwartete...

Erwartete alles andere als das, was er sah: Tränen.

Tränen in den schönsten Augen der Welt. Vorsichtig wischte er sie ab und sah sie durchdringend an.

„Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken, Lil?“

Sein Tonfall war unmissverständlich. Blut stieg wie eine heiße Welle in ihr sonst so blasses Gesicht – es war so süß, dass er sich noch einmal vorbeugen und sie noch einmal küssen musste.
 

I won´t go home without you...
 

Er hätte sie ewig küssen können. Hätte ewig ihren süßen Atem schmecken können, ihre weichen Lippen, ihre Arme, als sie sie um seinen Nacken schlang, ihren Körper an seinem. Als er sich wieder von ihr löste, war ihr Haar zerzaust. Farbe brannte in ihren Wangen und sie atmete schnell – und wagte es noch immer nicht, ihn anzusehen. Vorsichtig legte er die Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, damit er sie sehen konnte. Was er in ihren Augen las, liess seinen Atem stocken. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Lippen, dann nahm er ihre Hand in die Seine. Und lächelte.

„Komm“, sagte er.
 

In seiner großen Hand fühlten sich ihre zierlichen Finger realer an als alles, das er jemals in den Händen gehalten hatte.
 

I won´t go home without you.

Herbst - Geburtstagswünsche

Am Mittwochmorgen lag ein kleines, rechteckiges, über und über mit Papierschnipseln beklebtes Stück Pappkarton auf Lils Schreibtisch. Als die Ermittlerin das schreiend bunte Ding mit den schiefen Kanten sah, kaum, dass sie das Büro betreten hatte, hob sie eine Braue.

„Wer hat sich denn da ausgetobt?“, fragte Scotty und warf ihr von der anderen Seite ihres großen Doppelschreibtisches einen skeptischen Blick hinüber. „Etwa Vera?“

„Basteln ist Kinder- und Weiberkram“, ertönte es prompt vom anderen Ende des Großraumbüros. Man musste kein Detective sein, um zu wissen, dass auch Nick Vera bereits das ominöse Kunstwerk bemerkt hatte. Achselzuckend stellte Lil ihre Tasche auf ihren Stuhl und schälte sich aus ihrem Mantel.

„Morgen, Scotty.“

„Morgen,“ erwiderte ihr Partner mit einem Aufblitzen seines üblichen Grinsens. „Gute Fahrt gehabt?“

In Erinnerung an die verstopfte Autobahn, Tausende von schleichenden Autos und andauerndes Stop-and-Go an einem trüben Novembermorgen warf Lil ihm einen vernichtenden Blick zu. Scotty grinste nur und deutete aus dem Fenster. „Immerhin haben Sie es geschafft, bevor der Himmel seine Schleusen geöffnet hat.“
 

Tatsächlich begann es gerade zu regnen, als gäbe es kein Morgen mehr. Lil warf einen Blick hinaus – sie konnte kaum die Wände der Hochhäuser auf der anderen Straßenseite erkennen.

„Na super“, murmelte sie wenig begeistert und stopfte ihren Schal in den Jackenärmel. „Ist der Boss schon da?“

„Morgen, Lil“, sagte eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich um. „Wie gerufen, Boss. Was gibt es heute?“

John Stillman liess seinen Blick über das noch halbleere Büro streifen und sah dann seine Untergebenen an.

„Izabel Blumenthal, 11 Jahre alt, 2004 als Vermisst gemeldet. Man hat gestern ihre Leiche bei Bauarbeiten in der Kanalisation gefunden.“

„In der Kanalisation?“ Nick durchquerte das Zimmer, um Mithören zu können, seinen Partner Will Jeffries im Schlepptau. Er pfiff durch die Zähne, obwohl er wusste, das Lil das überhaupt nicht hören konnte. Ihren Blick ignorierte er. „Das wird kein schöner Anblick gewesen sein.“

Zur Antwort öffnete der Boss den Aktenordner, den er in der Hand gehalten hatte. Beim Anblick der Leiche eines kleinen Mädchens wurden Lils Lippen zu einer einzigen, dünnen Linie.

„Sie ist auf dem Weg nach Hause verschwunden, der Letzte, der sie sah, war ein Lehrer, als sie die Schule verliess. Sie kam nicht zu Hause an. Es wurde keine Lösegeldforderung gestellt. Man hat die Suche nach Monaten wieder eingestellt.“

„Gab es damals Verdächtige?“, fragte Scotty.

„Niemanden. Izabel war eine Einzelgängerin. Sie litt am Asperger-Syndrom - Spielte am Liebsten zu Hause Klavier. Nur die Großmutter drang zu ihr durch. Freunde hatte sie keine.“

„Und Feinde?“

Will schnaubte. „Wenn man 11 ist, hat man keine Feinde, Nick.“

Der zuckte die Achseln. „Da gibt es andere Dinge, die gefährlich werden können.“

„Wir rollen den Fall neu auf“, erklärte der Boss. „Die Leiche wird gerade obduziert. Lil und Scotty, Sie fahren zu den Eltern. Will und Nick statten dem Lehrer einen Besuch ab – der, der sie zum letzten Mal gesehen hat. Und nehmen Sie Kat mit, wenn Sie auftaucht.“

„Wo ist sie eigentlich?“, fragte Nick stirnrunzelnd. „Normalerweise...“

„Normalerweise sind die Straßen Morgens nicht so voll wie an einem Tag, an dem vermutlich sämtliche Autobahnzufahrten wegen Bauarbeiten gesperrt sind“, ertönte eine spitze Stimme von der Tür her und die Kollegen drehten sich gerade rechtzeitig um, um Kat Miller durch die Tür spazieren zu sehen. Sie verdrehte die Augen. „Diese Stadt versinkt im Chaos. Warum müssen all diese „notwendigen Reparaturen“, die der Stadtrat vorschreibt, ausgerechnet in ein und derselben Woche stattfinden?“

Ihr Mantel flog auf einen Stuhl.

„Sorry, Boss“, setzte sie hinzu. „Was steht an?“

„Lil wird Ihnen alles erklären“, sagte Stillman. „Entschuldigen Sie mich. Ich erwarte einen Anruf vom Staatsanwalt.“

Mit diesen Worten verschwand er in seinem Büro. Lil wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Nick zu sprechen begann. Resigniert beugte sie ihren Kopf über ihren Schreibtisch und nahm das Stück Tonkarton in die Hand.

„Was ist das?“, fragte Will, der sie beobachtet hatte.

„Sieht aus wie etwas, das mein Neffe gebastelt hat“, sagte Scotty. „Sehr bunt und sehr schief...“

Lil drehte die Pappe und stellte fest, dass sie sich öffnen liess.

„Moment mal. Das ist...“
 

„Das ist eine Geburtstagseinladung von Veronica für dich“, erklärte Kat mit einem kurzen Blick auf ihre Freundin und widmete sich dann wieder der Akte von Izabel Blumenthal. „Sie will unbedingt, dass du kommst. Sie feiert ihren Geburtstag nach, im Kino, dann ein Abendessen bei uns – du weißt schon?“

Entgeistert starrte Lil ihre Freundin an. „Ich?“

„Steht dein Name auf der Karte oder nicht?“, fragte Kat zurück, ohne den Blick von den Seiten zu nehmen. „Ja, du.“

„Und wir?“, fragte Nick verletzt. „Wir sind nicht eingeladen?“

Jetzt blickte Kat doch auf und warf ihm einen scharfen Blick zu. „Nachdem du das letzte Mal, dass Veronica dich gesehen hat, sämtliche Donuts aufgefuttert hast, bevor sie sich einen zweiten nehmen konnte, denke ich, dass du bei ihr unten durch bist.“

Überrascht klappte Nick den Mund zu und Will grinste. „Tja, Nick, nicht jeder ist bei Kindern beliebt.“

„Aber Rush, ja?“, brummte der. Lil beschloss, ihn zu überhören, ertappte aber Scotty dabei, wie er sie schamlos angrinste.

„Was?“, fragte sie, ein wenig schärfer als beabsichtigt.

„Nichts“, sagte er, während sein Grinsen noch wuchs. „Gehen Sie hin?“

„Komm bitte“, sagte auch Kat. „Veronica will dich so gern dabei haben.“ Braune Augen bohrten sich bittend in die ihren. „Und“, fügte die dunkelhaarige Frau nach einigen Sekunden des Nachdenkens hinzu, „Ich könnte beim Beaufsichtigen der Kinder noch etwas Hilfe gebrauchen.“

„Ich könnte schon“, sagte Lil langsam. „Aber...“

„Aber was?“

„Aber was soll ich ihr schenken?“

Da hellte sich Kats Miene auf. „Ach, das ist die Frage? Keine Sorge, ich glaube, ich weiß, was du mitbringen kannst... Veronika wird sich sehr freuen!“

~*~

„Lilly! Lilly!“

Ein rot und blau gekleideter Derwisch rannte Lil beinahe über den Haufen, als sie am Samstag Mittag Kats kleine Wohnung betrat. Lil bückte sich lächelnd und umarmte das Mädchen.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Veronica!“

Die Arme noch immer um Lils Hals geschlungen, lehnte Veronika sich zurück und sah über Lils Schulter hinweg. „Hast du ihn mitgebracht?“

Lil warf Kat einen verzweifelten Blick zu.

„Ja, natürlich. Aber ich weiß nicht, warum du dir ausgerechnet wünschst, dass...“

„Hey, Veronica!“, sagte Scotty, der hinter ihr auftauchte. Aufjauchzend liess das Mädchen Lil los und warf sich auf deren Partner, der sie auffing und durch die Luft wirbelte. Dann setzte er sie ab. „Uff! Du bist aber schwer geworden, Zwerg!“

„Bin kein Zwerg“, sagte sie beleidigt. Grinsend zerzauste er ihr das Haar und zauberte ein buntes Paket aus seinem Mantel. „Ich weiß. Zwerge bekommen auch keine Geschenke, oder?“ Mit einem Schrei der Freude riss sie ihm das Geschenk aus der Hand und rannte den Flur hinunter.

„Sag Danke, Ron!“, rief Kat ihr hinterher, aber sie war längst in ihrem Kinderzimmer verschwunden. Hinter der Tür waren aufgeregte Stimmen zu hören.

Mit einem Grinsen in Lils Richtung stand Scotty wieder auf und folgte ihr in die Wohnung. Lil verspürte das kurzzeitige, nicht unbekannte Gefühl, ihn erwürgen zu wollen. Sie unterdrückte es und sah sich um: Girlanden, Geschenkpapier, Kuchen – ein Chaos an Farben. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie Kat und Scotty, die sich angeregt unterhielten, in die Küche und versuchte einen Ort zu finden, an dem sie nicht im Weg herumstand. Niemand schenkte ihr Beachtung.

„Was jetzt?“, fragte sie, mehr als nur ein wenig hilflos. Warum Kat sie unbedingt dabei haben wollte? Sie hatte mit Kindern ungefähr so viel Erfahrung wie mit Giraffen. Kat hingegen kannte sich aus. Sie steckte den Kopf aus der Küchentür in den Flur und brüllte:

„Alle Mann fertig machen zum Abmarsch!“

Aus dem Kinderzimmer ertönte ein kollektiver Aufschrei des Entzücken und aus der Tür quoll eine Vielzahl von Kindern, deren Zahl so groß erschien, weil sie niemals stillzustehen schienen. Anscheinend hatten mehr Personen in Veronicas kleines Kinderzimmer gepasst, als sie vermutet hatte... Kat schnappte sich einen Stapel Jacken und Mäntel von den Garderobehaken und warf ihn einer perplexen Lil zu. „Hier!“

Lil und Scotty tauschten einen wortlosen Blick aus, dann fingen sie an, den Kleidungsstücken die jeweiligen Kinder zuzuordnen.

~*~

Eine Stunde später (Für Lil eine halbe Ewigkeit) waren sämtliche Kinder mit Kinoticket, Popcorn und Softdrink versorgt und standen schwatzend vor den großen Flügeltüren des Kinosaals. Das gab Lil, Scotty und Kat schliesslich die Gelegenheit, kurz zu verschnaufen.

„Also was sollte das jetzt?“, stellte Lil schließlich ihre Freundin die Frage, die ihr schon seit geraumer Zeit auf dem Herzen lag. „Warum sollte ich ausgerechnet Scotty mitbringen? Warum hat sie ihn nicht selbst eingeladen?“

Kat zuckte die Achseln und grinste. „Vielleicht ist sie in ihn verknallt und hat sich nur nicht getraut?“

„WAS?!“

Kats Grinsen wurde breiter. „Möglich wäre es. Aber vielleicht hat sie noch einen ganz anderen Grund.“

Irritiert verschränkte Lil die Arme. „Und der wäre?“

„Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich dir die Geheimnisse meiner Tochter verraten würde – selbst, wenn du meine beste Freundin bist?“

„Ron hat Geburtstag“, sagte Scotty begütigend. „Da darf sie sich wünschen, was sie möchte.“

„Aber dich?“, fragte Lil.

„Warum nicht?“, gab er zurück.

Sie schüttelte den Kopf.

„Wäre es nicht besser wenn sie jetzt schon einmal die Erfahrung macht, dass man sich nicht immer darauf verlassen kann, dass man bekommt, was man sich wünscht?“

„Jetzt mach mal einen Punkt, Lil“, sagte Kat belustigt. „Sie ist ein Kind, und wenn ich ihr ihren Geburstagswunsch erfüllen kann, dann tue ich das auch. Und Scotty hat ja nichts dagegen, oder? Ich würde sogar sagen, im Gegenteil.“

„Was soll das wieder heißen?“, fragte Lil misstrauisch, aber sowohl Kat als auch Scotty grinsten sie nur unverschämt an. „Komm schon. Genieß einfach den Film.“

„Super“, brummte sie, sagte aber nichts mehr, und in dem Moment wurden die Saaltüren geöffnet. Veronica an der Spitze, stürmte die Kindermeute in den Vorführungssaal und zu ihren Sitzen. Das Geburtstagskind begann sofort, eine Sitzordnung zu erstellen.

„Cam, du sitzt neben Dani. Daneben kommt Chelsea, dann ich, dann Tony- “

Kat zog die Brauen hoch.

„- Dann David, dann Mum und dann Scotty und Lilly. Lilly – da drüben – Genau!“

„Ganz die Mutter“, flüsterte Scotty amüsiert und liess sich neben sie in den Polstersessel sinken.

„Ihr Geburtstag – ihr Wunsch,“ formten Lils Lippen und Scotty lachte leise. „Ja, klar.“

Zufrieden mit sich, hatte Veronika es sich in ihrem Sessel bequem gemacht und tuschelte mit ihren Nachbarn, bis das Licht ausging. Aber bevor sie sich zurücklehnte, sprang sie schnell wieder auf und quetschte sich durch die Sitzreihe hindurch.

„Was ist los?“, fragte Kat, als sie sich an ihr vorbeizwängte.

„Ich will nur Lilly was sagen“, flüsterte Kat und drückte sich weiter, bis sie bei Lil stand. Sie beugte sich vor.

„Wenn du Angst hast, kannst du Scottys Hand nehmen“, sagte sie im Flüsterton. „Ma sagt, das hilft. Ich werd Tonys nehmen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, schlängelte sie sich zu ihrem Platz zurück und liess Lil wie gelähmt hinter sich auf ihrem Stuhl zurück. Schließlich begann sie lautlos zu lachen. Scotty warf ihr einen Blick zu, während die Werbung ihren Anfang nahm und sich ihre Schultern noch immer in lautlosem Gelächter hoben und senkten.

„Was hat sie gesagt?“, fragte er leise.

Lil seufzte. „Nichts.“

Kleines Mädchen – kleines, dummes Mädchen.

Hatte sie gerade tatsächlich versucht, die Kupplerin zu spielen? Mit 9 Jahren? Das musste sie von ihrer Mutter haben, jede Wette...
 

Der Film lief an.

Lil rutschte in ihrem Sessel herum, bis sie einen Platz gefunden hatte, der irgendwie bequem war, dann lenkte sie ihre Konzentration auf die Leinwand vor ihr. Doch plötzlich hörte und spürte sie Scotty so dicht an ihrem Ohr, dass sie beinahe erschrocken zurückgefahren wäre. Wie erstarrt blieb sie sitzen, rührte sich keinen Zentimeter, als sein Atem über ihre Wange strich.

„Ich hoffe ja, der Film wird gruselig, damit du ihrem Rat folgen kannst“, sagte Scotty mit einem breiten Grinsen in der Stimme. „Ich habe durchaus nichts dagegen, wenn schöne Frauen sich in ihrer Angst an mich drücken.“

Sprachlos starrte Lil ihn an – das war einer der chauvinistischsten Sprüche, die sie jemals von ihm gehört hatte. Er grinste mit glitzernden Augen zurück.

„Idiot“, flüsterte sie und bohrte ihren Ellenbogen in seine Seite. Aufkeuchend sank er zurück und sie lehnte sich weg von ihm, erleichtert, dass es dunkel war im Saal und dass er nicht sehen konnte, dass sie blutrot angelaufen war. Die Hitze in ihren Wangen war so verräterisch, dass sie fürchtete, sie würde im Dunkeln leuchten. Scotty lachte leise und lehnte sich auch zurück.

Er machte Scherze. Er spielte mit ihr.

Das war ihr klar.
 

Aber wenn sie es doch wusste – warum schlug ihr Herz trotzdem so heftig?

Winter. Momente der Zeitlosigkeit

Der Wind spielte in ihrem Haar und liess es in der Wintersonne glänzen wie gesponnenes Gold.
 

Der Vergleich war alt und abgedroschen und dennoch der einzige Vergleich, der ihm in den Kopf kam, wenn er seine Partnerin ansah. Lilly Rush hatte Haare, die, wenn sie diese offen trug, geradezu dazu einluden, mit der Hand hindurch zu streichen. Man konnte sich bildlich vorstellen, wie weich und sanft das Gefühl sein würde, wenn man sie berührte und ihren zarten Duft einatmete.

Vielleicht war das ein Grund gewesen, warum sie sie immer zu einem strengen Knoten aufgesteckt getragen hatte.

Und jetzt, wo sie sie offen trug, keimte in ihm erneut der Wunsch auf, es zu berühren. Lil zu berühren. Deshalb hielt Scotty Valens gebührenden Abstand zu seiner Partnerin.
 

„Hi, Scotty.“

„Lil.“
 

Drei Buchstaben aus seinem Mund, seine wortkarge Begrüßung für die Frau, bei der Worte längst nicht ausreichen würden, um sie zu beschreiben. Drei Buchstaben für die Frau, die keine Worte benötigte, um ihn zu verstehen.

Sie lächelte ihr übliches, distanziertes Lächeln, welches er in so viele Nuancen einordnen konnte. Heute war es... entspannt. Eindeutig entspannt. Automatisch verschwand die Anspannung auch aus seinen Gliedern.
 

„Wie läuft es so?“

„Gut. Du solltest wieder zurückkommen.“

Lil lächelte wieder und warf ihr Haar zurück.

„Was war das denn? Werde ich etwa vermisst?“

Eine Geste, die er nur zu gut kannte. Scotty schluckte, weil der Kloß, der in seiner Kehle saß und ihn zu ersticken drohte, sich zu verdoppeln schien.

„Vielleicht ist das nicht die beste Zeit, um eine Auszeit zu nehmen“, wagte er sich zaghaft vor.

„Ach was!“

Geringschätzig musterte sie ihn.

„Du hast gerade selbst gesagt, dass alles in Ordnung ist. War das etwa gelogen?“

„Natürlich nicht. Klar kommen wir zurecht. Es ist nur nicht mehr so wie früher.“

Ein Schulterzucken.

„Damit kommt ihr schon klar.“

Keine Antwort. Sollte er sie anlügen? Sagen, dass nichts in Ordnung war? Dass Vera, Jeffries und Kat ihn in letzter Zeit behandelten, als sei er unfähig, ohne seine Partnerin zu arbeiten? Dass der Boss ihn in sein Büro gerufen hatte, um mit ihm über seine berufliche Laufbahn zu sprechen, und angedeutet hatte, dass er sich aus der Mordkommission versetzen lassen sollte? Dass das Büro ihm ohne Lil unglaublich leer erschien, dass er das Gefühl hatte, dass sie gestorben war, weil niemand mehr ihren Namen aussprach?

Himmel, sie war doch nicht rausgeworfen worden – sie hatte lediglich eine Kündigung eingereicht!

Was war daran so schlimm, eine Zeit lang keine Mörder zu verfolgen, alte Morde neu aufzurollen, keine Verdächtigen zu befragen und keine Zeugen aufzusuchen? Selbst der Chef hatte vor Jahren eine Pause eingelegt und war auf seine Jacht gezogen! Und er war wiedergekehrt. Scotty wusste tief in seinem Inneren, dass Lilly Rush ebenfalls wiederkehren würde. Sie brauchte ihre Arbeit ebenso zum Leben wie das Atmen – und eines Tages würde sie wieder in das Büro spazieren, ihren Mantel über dem Arm, und weiterarbeiten, als wäre sie niemals weg gewesen und als wäre nichts geschehen. Und er würde Recht behalten. Nick, Will und Kat würden sehen, dass Lil keine Verräterin war, dass sie sich nicht vor der Verantwortung gedrückt hatte, dass sie nicht...

Dass sie sie nicht im Stich gelassen hatte.

„Worüber denkst du nach?“

Die Frage, die er so gut kannte. Eine rein rhetorische Frage. Lil wusste immer, worüber er gerade nachdachte, er hatte aufgegeben, sich darüber zu ärgern.

Scotty beschloss, das Thema zu wechseln.

„Ich habe nur überlegt, wie es ist, wenn man eine Auszeit nimmt?“, fragte er stattdessen und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war graublau – die selbe Farbe wie Lils Augen. Aber wohin sonst sollte er schauen, ohne dass es offensichtlich wurde, dass er sie anstarrte? Lil verlagerte ihr Gewicht auf dem hohen Stein, auf dem sie saß.

„Entspannend. Beruhigend. Manchmal...“ Sie schien zu überlegen. Scotty wusste, dass sie nach dem passenden Wort suchte, um möglichst korrekt wiederzugeben, was sie empfand.

„Manchmal nervtötend.“

„Nervtötend?“

„Ja.“

Sie lachte leise und er fiel mit ein.

„Immer dann, wenn man nicht weiß, was man mit seiner Zeit machen soll.“

„Und was machst du den ganzen Tag?“

„Ausschlafen. In Ruhe die Zeitung lesen. Spazierengehen. Aufräumen. Gestern habe ich meine Fenster im Badezimmer geputzt. Vielleicht topfe ich heute meine Pflanzen um.“

Scotty runzelte die Stirn. Er war einige Male bei Lil zu Hause gewesen – aber er konnte sich nicht erinnern, dass er je eine Pflanze auf der Fensterbank gesehen hatte. Lil hatte eindeutig keinen grünen Daumen, so brillant sie auch in anderen Dingen war...

„Was für Pflanzen denn?“

Seine Verständnislosigkeit brachte Lil zum Lachen.

„Mein Katzengras, natürlich. Glaubst du, etwas anderes würde bei mir überleben?“

Jetzt musste er auch lächeln.

„Sehr witzig.“

Jetzt war sie damit daran, das Thema zu wechseln.

„Wie geht es Kat“, fragte sie und wirkte wieder ernst. „Ich habe lange nichts mehr von ihr gehört.“

„Ich dachte, sie hat dich angerufen?“, fragte Scotty überrascht. Lil schüttelte den Kopf.

„Aber vielleicht war ich gerade nicht da. Ich war viel... Unterwegs.“

„Vielleicht hat sie auch mit dem Fall gerade so viel zu tun. Ehrlich, Lil, wir könnten deine Hilfe gebrauchen... Er raubt uns allen den letzten Nerv!“

„Das sagt ihr doch bei jedem Fall.“

„Ja, schon, aber... Wir kommen diesmal wirklich nicht weiter“, beendete er lahm.

Lil blinzelte und schien ihn anzusehen – aber ihr Blick glitt durch ihn hindurch. Er konnte sehen, dass sie mit sich selbst rang. Einerseits wollte sie sich nicht in ihre Ermittlungen in einem laufenden Fall einmischen, besonders jetzt, da sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war und jeder Polizist von Philadelphia sie als Verräterin betrachtete. Andererseits verbot ihr ihre angeborene Neugierde, eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen...

Scotty wartete ab. Er kannte sie so gut... Schließlich siegte ihr Wunsch, Gerechtigkeit zu schaffen.

„Erzähl mir davon.“

Ohne echten Triumph darüber zu verspüren, dass er richtig gelegen hatte – eher mit einem unbestimmten Gefühl des Stolzes – verfiel Scotty in den eigenartigen Singsang, in dem die Detectives ihre Berichte wiederzugeben pflegten.
 

„Claudia Winter, 17 Jahre, Schülerin aus Deutschland.

Kam im Dezember 1997 nach Philly, um ihren Großvater zu finden, Samuel Bergmann. Er war nach dem 2. Weltkrieg mit seinen Eltern aus Schlesien ausgewandert und hat sich hier niedergelassen und geheiratet, eine Veronica Fields aus Virginia. Seine Tochter, Clarissa, und ihr Verlobter, Jace Morgenstern, verschwanden während einer Urlaubsreise in Deutschland 81 spurlos, da es im Ausland geschah, gingen die Behörden dem nicht weiter nach. Sechs Jahre später wurden sie und ihre einjährige Tochter Claudia für tot erklärt, man nahm an, dass sie ausgeraubt, getötet und beiseite geschafft wurden. Ihre Leichen wurden jedoch nie gefunden. 97 ist das Mädchen aufgetaucht und behauptete, sie sei die Tochter von Clarissa und Jace und suche ihren Großvater.“

Lil legte den Kopf schief – sie konnte sich denken, was folgen würde.

„Sie ist tot?“

„Ja. Glatter Schuss durchs Herz – der Pathologe sagt, dass sie es nicht einmal gespürt hat. Keine Spuren am Tatort außer der Kugel, aus einer 36er. Und in ihrer rechten Jackentasche ein vergilbter, unleserlicher Zettel. Irgendwo herausgerissen.“

„Hat die Spurensicherung herausfinden können, was darauf stand?“

„Ja. Es war ein Blatt aus einem Abreißkalender, wie man ihn überall bekommt. Auf ihm stand ursprünglich <Und der Wind in deinem Rücken sein.>“

„Das ist doch...“

„Ein Teil eines irischen Segenswunsches“, bestätigte Scotty.

„Möge die Straße...“

„...Uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein. Ein sehr schöner Segen.“

Scotty nickte.

„Jeffries und Vera haben nachgeprüft: in den letzten Jahren sind solche Abreißkalender mit Sprüchen nur so aus dem Boden geschossen. Es ist unmöglich, das Blatt einem bestimmten Kalender zuzuordnen – besonders, da wir nur einen Teil des Blattes haben.“

Langsam schloss Lil die Augen, um zu überlegen, und öffnete sie wieder.

„Was meint Kat?“

Auf die Instinkte ihrer Freundin konnte man sich eigentlich verlassen.

„Kat denkt, dass das Kind ihren Großvater gefunden hat, dass sie etwas in der Hand hat, das ihm nicht gefällt, und dass er deshalb durchgedreht ist und sie erschossen hat.“

Lil nickte. Sie sammelte Informationen. Sie war auf der Jagd – in ihrem Revier. Scotty dachte nicht daran, sie von ihrer Spur abzulenken.

„Wo habt ihr sie gefunden?“

„Im Delaware.“

Lils Kopf ruckte hoch.

„Ja?“

„Ja.“

„Das tut mir leid.“

Ihre ruhige Stimme brachte ihn aus dem Konzept. Klang er noch immer so verbittert?

„Das braucht es nicht.“

Und er spürte, tief in sich, dass er die Wahrheit sagte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass es ihr wirklich nicht leid zu tun brauchte, dass er darüber hinweg war, was mit Alyssa geschehen war. Die Zeit – sie heilte die Wunden nicht. Aber sie verstrich. Unaufhaltsam.

Dennoch.

Hier, in diesem Moment, mit Lil auf einem Friedhof – warum hielt sie sich an einem Sommertag auf dem Friedhof auf? – fühlte er sich, als stünde die Welt still. Als hielte die Zeit den Atem an... Einen endlosen Moment lang.
 

Lil musterte ihn und er versank in ihren Augen. Dann nickte sie und Scotty wusste, dass sie seine Wahrheit akzeptiert hatte. Mehr brauchte es nicht.

„Sie trug eine Tasche voller Kleidung bei sich“, teilte er seiner ehemaligen Partnerin mit.

„Und ein Rückflugticket nach Düsseldorf – über JFK.“

„Habt ihr den Großvater überprüft?“

„Mustergültiger Bürger. Lebt mit seiner zweiten Frau zusammen, nachdem die erste gestorben ist. Wohl an gebrochenem Herzen über den Verlust von Tochter und Schwiegersohn. Hat weitere 4 Enkel, mehrere Katzen und einen Hund. Saubere Akte, nur einen Strafzettel für Falschparken. Und – er besitzt nicht einmal einen Waffenschein.“

„Den muss er auch nicht unbedingt haben“, gab Lil zu bedenken.

„Der Mann ist ein Feigling. Als wir ihm Bilder von der Leiche gezeigt haben, ist er zusammengebrochen. Der hat nie im Leben einen Mord begangen.“

Lils Stirn legte sich in Falten.

„Vielleicht, Scotty. Vielleicht auch nicht.“

Sie schwieg einen Moment und fragte dann: „Hatte sie Familie?“

„Adoptiert. Ein deutsches Ehepaar, einen älteren Bruder. Sie haben das Kind wohl gefunden und aufgezogen.“

„Haben sie es den Behörden nicht gemeldet?“

„Doch. Aber als keine Vermisstenanzeige aufgegeben wurde...“

„Verstehe.“

„Sie wollen herkommen, um ihren Körper nach Deutschland zu überführen“, fügte Scotty leise hinzu. „Sie scheinen sie sehr geliebt zu haben.“
 

Eine Weile lang schwiegen beide, Lil in ihre Gedanken versunken, Scotty mit dem Gefühl, dass es gut tat, sie endlich wieder denken zu sehen. Wie sehr er es vermisst hatte.

„Was hat sie gemacht, seit sie nach Philadelphia gekommen ist?“, fragte sie plötzlich und er schreckte hoch.

„Wie bitte? Ja. Sie hat in einer Youth Hostel übernachtet, einer recht billigen Absteige, die aber nah an der Adresse ihres Großvaters liegt. Sie hat sich die Stadt angeschaut – das wissen wir von der Empfangsdame, die Claudia die Sehenswürdigkeiten auf einer Karte markiert hat – und ihren Großvater getroffen, und das wissen wir von ihm. Sie hat ihm wohl einen Brief geschickt, hat seinen Namen durch eine Behörde rausgekriegt. Angeblich wusste er also von ihr, aber nicht, dass sie in Philly war. Ihr Besuch kam völlig überraschend.“

„Könnte das ein Motiv gewesen sein?“

„Ich glaube nicht. Warum sollte Samuel Angst vor dem Kind seiner verschollenen Tochter haben?“

„Da ist etwas faul“, sagte Lil leise und zu niemandem bestimmten.

Scotty fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

„Ja – aber was?“
 

Er hatte sich mehr erhofft. Er war hierhergekommen, weil er gehofft hatte, dass Lil – wie schon so oft – eine Lösung für ihre Probleme finden würde. Dass sie den einen losen Faden im Webteppich der Geschichte finden würde, den sie bisher beständig übersehen hatten.

Aber Lil saß hier, nahm sich eine „Auszeit“ von ihrem Job und genoss den Sonnenschein, der auf ihr Gesicht fiel. Die Blumen zu ihren Füßen leuchteten kurz auf. Was zum Teufel tat sie auf einem Friedhof? Er wusste nur einen Grund, warum sie hierher kommen sollte: Ihre Mutter war hier beerdigt. Aber heute war nicht der Jahrestag von deren Tod. Anscheinend war es eine einfache Laune von ihr gewesen, die sie hierher geführt hatte und die ihm auf seinen Anruf hin vorgeschlagen hatte, sich hier mit ihm zu treffen...

Lil hatte schon immer ihr eigenes Wesen gehabt.
 

„Sag nochmal, Scotty. Was war mit ihrer Mutter?“

Er seufzte. Das hier war sinnlos. Kat hatte Recht gehabt – Lil hatte ihre besten Tage hinter sich. Seit den Ereignissen der letzten Jahre hatte ihr Verstand an Schärfe eingebüßt, wie es schien. Aber wer konnte es ihr übel nehmen? Es war so viel geschehen.

„Clarissa Bergmann. Biologin. Hat Claudia mit etwa 22 Jahren zur Welt gebracht, in einem Krankenhaus in der Nähe von Minneanapolis, wo sie damals studierte und arbeitete. Verlobt zu dem Zeitpunkt mit Jace Morgenstern, einem jüdischen Professor an ihrer Universität. Er war 5 Jahre älter als sie, aber ihre Beziehung hielt selbst über die Geburt von Claudia hinaus und sie hatten beschlossen, im nächsten Jahr zu heiraten.“

„Was ist mit ihm?“

„Tot. Wie auch seine Frau.“

„Hat man ihre Leichen denn inzwischen gefunden?“

„Ja, hat man...“

Scotty stockte.

„Nein“, sagte er schließlich leise. „Sie wurden von den deutschen Behörden für tot erklärt. Man hat ihre Leichen nie gefunden.“

„Könnten sie noch am Leben sein?“
 

Da war es wieder: Der Grund, warum Lil so brillant gewesen war. Oder so brillant war? Sie hatte mit ihrem untrüglichen Spürsinn wieder die eine, winzig kleine Unstimmigkeit gefunden, die die Detectives der Mordkommission nicht hatten finden können. Die sie schlicht und ergreifend übersehen hatten. Deshalb brauchten sie Lil.

Deshalb musste sie wiederkommen.

Und Scotty schämte sich abgrundtief dafür, geglaubt zu haben, dass Lil an Initiative und Schärfe verloren haben sollte.
 

„Was für eine weithergeholte Möglichkeit!“

„Aber immerhin eine Möglichkeit. Vielleicht sind die Morgensterns einfach untergetaucht?“

„Warum hätten sie verdammt noch mal untertauchen sollen?“

„Weil sie bedroht wurden?“

„Aber von wem!“

Scotty warf die Arme in die Luft und erhielt keine Antwort. Er atmete tief ein.

„Du glaubst also, dass Claudias Eltern noch am Leben sind und sich versteckt haben, weil irgendwer hinter ihnen her ist? Und dass deshalb ihre Tochter ermordet wurde?“

Lil zuckte scheinbar unbeteiligt die Schultern.

„Vielleicht wollte man den Aufenthaltsort ihrer Eltern aus ihr herauspressen.“

„Den sie nicht wusste.“

„Nein. Denn sie denkt, ihre Eltern sind tot. Sie lebt bei ihren Adoptiveltern.“

„Also haben ihre Eltern sie zurückgelassen, damit sie nicht in Gefahr geraten würde.“

„Was leider doch geschehen ist, als sie den Namen ihres Großvaters herausgefunden hat und ihn aufgesucht hat.“

„Das bedeutet...“

„Der Mann ist in Gefahr.“
 

Kaum war Lils leise Stimme verklungen, hatte Scotty schon sein Mobiltelefon aus der Jackentasche gerissen, wählte fieberhaft eine Nummer und hielt sich das Gerät ans Ohr.

„Kat! Hör mir gut zu!“

Schnell und eindringlich redete er auf seine Kollegin ein.

„Nein, wartet nicht auf die offizielle Erlaubnis! Holt diesen Mann und seine Familie da raus!“

Wütend klappte er das Telefon wieder zu und rammte es in seine Tasche.

„Aus welchem Grund würde jemand die Bergmanns oder Morgensterns verfolgen?“

Lil legte den Kopf schief. Sie liess sich nicht von seiner Wut aus der Fassung bringen und dafür liebte er sie. Er atmete tief durch und fing sich wieder.

„Clarissa Bergmann hat als Biologin an der University of Minneanapolis an einem Projekt zur Stammzellenforschung gearbeitet...“

Lil schloss die Augen.

„Was haben sie da entwickelt?“, flüsterte sie.

„Es muss etwas wichtiges gewesen sein, wenn sie dafür verfolgt werden“, presste Scotty hervor. Er wollte wieder nach seinem Telefon greifen, liess es aber doch in der Tasche und sah Lil an.

„Ich muss los. Vielleicht gibt es irgendwo Hinweise auf die Forschungsergebnisse... Bisher waren alle Akten für uns nur gesperrt. Vielleicht finde ich einen Richter, der uns die Erlaubnis gibt, die Sicherheitsbeschränkungen aufzuheben. Vielleicht finden wir so heraus, wer die Morgensterns verfolgt, vielleicht können wir so Clarissa und Jace finden, und vielleicht...“

„Sind das nicht sehr viele Vielleichts?“

Lil legte prüfend den Kopf schief. Scotty sah sie ernst an.

„Seit wann lassen wir uns davon entmutigen?“

Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf, breitete sich langsam über ihr gesamtes Gesicht aus und wärmte ihn von innen.

„So kenne ich dich.“
 

Unwillkürlich streckte Scotty die Hand aus, um sie zu berühren.

Lils Ausdruck veränderte sich nicht: noch immer sah sie ihn lächelnd an. Er liebte sie: diese Frau, die ihn ohne Worte verstand, die uneingeschränktes Vertrauen in seinen Charakter und seine Fähigkeiten setzte, die ihm immer half, wann immer er sich verzettelte, immer für ihn da war. Erneut erschien ihm der Moment wie losgelöst von der Zeit, schwebend im Universum... Er und Lil und niemand sonst. Und er liebte sie so sehr.

Er öffnete den Mund, um seine Gedanken auszusprechen, als ein Motorengeräusch hinter ihm laut wurde und die Reifen eines Autos quietschend am Tor zum alten Friedhof hielten.

Als hätte er sich verbrannt, liess er die Hand fallen und fuhr auf dem Absatz herum.
 

Im schwarzen Wagen vor der Einfahrt saßen drei bekannte Gestalten, von denen eine ihm durch das geöffnete Fenster etwas zuzurufen schien.

„Bergmann...“, hallte leise durch die Sommerluft und brachte einen ganzen Schwall an Sorge und Anspannung mit. Scotty fuhr erneut herum, diesmal, um Lil anzusehen. Diese musterte ihn noch immer mit ihrem eigenen, halb spöttischen, halb liebevollen Blick.

„Ich muss los“, sagte er, verbannte die Anspannung aus seiner Stimme und sah sie lächeln.

„Ich weiß.“

„Also dann...“

Mit einem letzten Blick – einem letzten Versprechen – drehte Scott Valens sich endgültig um und stapfte den langen Weg zum Torbogen im Eilschritt hinunter, dem nun hupenden Wagen entgegen. Eine Tür öffnete sich und man winkte ihm ungeduldig. Trotz regte sich in ihm – sie hatten seine Zeit mit Lil gestört – aber er zwang sich, nicht absichtlich langsamer zu gehen. Das Gefühl von Lils Lächeln hinter ihm war übermächtig.

Der Wind rauschte durch die Bäume und strich durch ihr Haar.
 

Im Wagen beobachtete Kat ungeduldig den sich nähernden Scotty und die langen Reihen von alten Grabsteinen hinter ihm, die in der Sonne glänzten. Nervös trommelten ihre Finger auf das Lenkrad.

„Woher wusste er das“, schimpfte sie und es klang mehr wie ein Fluch.

„Verdammt, verdammt, verdammt!“

„Er hatte halt eine Eingebung“, sagte Jeffries ruhig. Er liess sich nie von ihrer Nervosität anstecken und manchmal hasste sie ihn dafür.

„Zum Glück“, brummte Vera mißmutig.

„Ja, zum Glück!“

Kat merkte nicht, dass sie fast schrie.

„Diese Familie hätte in ihrem eigenen Haus in die Luft gesprengt werden können! Hätte er das nicht schneller herausfinden können? Verdammt!“

Ihre Kollegen schwiegen.

Kat holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg.

„Ich frage mich sowieso, warum er ständig hier ist“, brummte sie schließlich wütend. „Warum kann er nicht im Büro arbeiten, wie alle normalen Leute?“

„Ich nehme an, er kommt hierher, um mit Lil zu sprechen“, sagte Jeffries und machte eine Kopfbewegung zum Friedhof hin.

Entgeistert sah Kat ihn an.

„Wie bitte?“

Aber der Blick, mit dem sie den nun angekommenen Scotty nun musterte, war mehr als nur misstrauisch – er war besorgt. Und er spiegelte die selbe Sorge, wie sie auch in Jeffries und Veras Augen zu lesen war.

Scotty bemerkte nichts davon.

„Es hat irgend etwas mit Clarissas Projekt zu tun“, sagte er eilig und warf die Tür hinter sich zu. „Was ist mit der Familie?“

„Hol bitte Luft und fang nochmal ganz vorne an“, grummelte Kat griesgrämig und liess den Motor aufheulen. „Wir sind wohl doch nicht so genial wie du, also lass uns an deinen Gedankengängen teilhaben.“
 

Als das Auto sich in Eile entfernte, warf Scotty einen letzten Blick zurück auf den Friedhof.

Lil saß genau da, wo er sie verlassen hatte: auf dem alten Grabstein. Ihr langes Haar flatterte leicht im Wind. Als er leicht eine Hand hob, lächelte sie und beantwortete die Geste. Die Sonne umtanzte ihre kleiner werdende Gestalt, bis sie nicht mehr zu sehen war.
 

Im Rückspiegel folgte Kat Scottys Blick.

Der alte Friedhof war wie ein Mahnmal: Drohend still und vollkommen leer.



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Kommentare zu dieser Fanfic (26)
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Von:  BouhGorgonzola
2011-01-10T14:35:20+00:00 10.01.2011 15:35
So, nach langer, langer Zeit lasse ich mich mal wieder blicken. - Keine Sorge, mitgelesen habe ich jedes neue Kapitel (gut, das 27. noch nicht), nur nicht kommentiert, aber ich will heute aufgrund guter Laune nicht so sein.

Ich finde diesen One Shot besonders süß. Die kleine Veronika ist genau nach meinem Geschmack und sie erinnert mich stark an die Nachbarin meines besten Freundes, als dieser noch hier in der Nähe wohnte. Und Scottys Spruch ... Tja, typisch. Ich glaube, dass es mir ähnlich wie Lil in dem Moment ergangen wäre xD
Apropos. Knallbunt und unförmig? Könnte auch von mir stammen :D

So, jetzt begebe ich mich an den 27. OS, mal gucken, ob ich noch ein Kommentar schreibe. Auf jeden Fall genieße ich jeden deiner kleinen One Shots, also denk bloß nicht, dass sie keine Aufmerksamkeit bekommen würden - ich lese sie sehr gerne (:
Von:  MichiruKaiou
2011-01-05T16:49:19+00:00 05.01.2011 17:49
Wie bist du denn nur auf diese Idee gekommen? Es kam echt witzig rüber, wobei mir Kat mal wieder am besten gefiel^^
Aber Vera und Jeffries sind schon zwei Experten *lol* Du hast dir auch lustige Sprüche für die beiden ausgedacht XD

Aber wer sagt eigentlich am Ende ‚Was sind Sie nicht für Helden!’ ? Das konnte ich mal wieder nicht so wirklich zuordnen^^’

Von:  MichiruKaiou
2011-01-05T16:48:47+00:00 05.01.2011 17:48
Ich muss echt undankbar wirken, da ich die Story, die du extra auf meinen Wunsch hin geschrieben hast, mit einem Jahr Verspätung lese U.U
Aber jetzt hatte ich wirklich Lust drauf und ich kann dir sagen, dass du mich nicht enttäuscht hast! Die Story ist echt total gut geworden und du hast alle meine Wünsche wirklich voll erfüllen können *_*

Ich bin wirklich begeistert, denn wie immer kommen die Charaktere bei dir super rüber und du hast die Affäre der beiden wirklich super zusammen mit Kats Verhalten einbinden können. Es war alles wirklich super stimmig und dieses Mal gefällt mir auch das Ende der Story ;)

Ich hab’s mir ja wirklich schon gedacht, weshalb Scotty so gute Laune hatte, aber ich wollte nicht dran glauben, dass das wirklich der Grund war. Aber wie du dann die Szene in der Nebenstraße beschrieben hast, war einfach nur toll *_*

Auch die Kommentare der Kollegen fand ich klasse, vor allem Veras XD
Aber auch Kats Theorie-Praxis-Gedanken hast du echt super rüber gebracht^^ Egal ob inhaltlich oder stilistisch.

Ich habe die Story wirklich gern gelesen! Und bedanke mich wirklich ganz ganz herzlich bei dir, dass du meine Storywünsche so super umgesetzt hast^___^

Von:  MichiruKaiou
2010-06-24T15:25:51+00:00 24.06.2010 17:25
Das war wirklich eine sehr schöne Szene^.^
Wieder einmal hast du alle Charaktere sehr gut in Szene gesetzt! Du beschreibst Lils Emotionen wirklich super, aber auch ihre Beziehung zu John Stilman kommt gut rüber. Selbst Kats kurzer Auftritt war genial^^
Aber Lil und Scotty sind einfach nur herrlich X3
Du hast die Szene wirklich total gut hergeleitet, umgesetzt und zu einem 'guten' Abschluss gebracht, das hat mir echt gefallen^^

Einziges Manko war hier mal, dass am Anfang die Personenkonstellationen verwirrtend waren. Lil tritt auf, John kommt hinzu, beide stoßen zu Kat und Vera, dann gehen aber Lil, John, Kat und Will gemeinsam in die Halle? Und Nick bleibt draußen oder wie XD
Irgendwas war da verdreht.

Mir hat es übrigens auch gefallen, dass Scottys Anwältin mal mitspielen durfte. Die war noch seine beste Affäre^^'
Von:  BouhGorgonzola
2010-02-14T17:34:19+00:00 14.02.2010 18:34
Ich fühle mich gezwungen (von mir selbst btw.), dir ein Kommentar zu hinterlassen, schon allein aus dem Grunde, dass ich es schon länger nicht mehr tat und gestehen muss, dass ich heute sämtliche Kapitel lesen musste, da ich einige verpasst hatte (dank der Facharbeit, die mich noch immer ziemlich fest im Griff hat).
Ich mag deinen Schreibstil noch immer, deine Ideen und wie du sie umsetzt. Du schreibst so detailreich und doch kurz, dass man es sich bildlich vorstellen kann. Ich bewundere das sowas von!
Das New Year Special finde ich am weitesten gelungen, ich denke, eines meiner Lieblinge <3 (Aber das hier ist auch total toll!)
Mach bloß weiter und hör nicht auf :D
Von:  MichiruKaiou
2010-02-03T16:26:02+00:00 03.02.2010 17:26
Das war wirklich köstlich XD
Du hast wirklich toll Nicks Gedanken beschrieben. Du gehst nicht auf den Punkt bzw. sprichst es nicht direkt an und trotzdem hat man eine Vorstellung. Auch die ‚Nebenhandlungen’ mit dem Papierkorb fand ich irgendwie gut und extrem passend zwischendurch^^
Aber der Abschluss war echt die Krönung, ich konnte nur mit Mühe mit einen lauten Lacher unterdrücken *rofl*
Von:  MichiruKaiou
2010-02-03T16:25:17+00:00 03.02.2010 17:25
Wow, du beschreibst die Stimmung echt super^^
Zunächst hatte ich zwar erst den Eindruck, als wenn der Schaffner eher besorgt als verärgert war, aber du hast die Szene wirklich toll dargestellt.
Das Ende war dann wirklich auch noch mal ein wenig geheimnisvoll, auch wenn mir Scotty ein wenig Leid tut. Wann der wohl nach Hause kam O.o

Von:  MichiruKaiou
2010-02-01T17:08:35+00:00 01.02.2010 18:08
Wieder ein sehr schönes Kapitel^^
Schon die Anfangsszene an der Rezeption ist total gut, du triffst die beiden einfach nur perfekt. Ich musste wirklich immer schmunzeln oder lachen, wenn du Scottys Reaktionen und Handlungen beschrieben hast XD
Und dann hatte die Geschichte einen super Wendepunkt. Lil hat einen Alptraum und Scotty überlegt, was er tun soll. Das hast du richtig gut dargestellt und ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden genau so handeln würden.
Natürlich hätte mich jetzt noch Lils Reaktion am nächsten Morgen interessiert, aber ein paar Gedanken darf man sich als Leser ja auch machen^.^
Auf jeden Fall stellst du die beiden als ‚Paar’ echt gut dar, das gefällt mir!

Zu deinem Nachwort muss ich dir auch Recht geben, ich bin derselben Meinung!

Von:  MichiruKaiou
2009-12-15T18:22:55+00:00 15.12.2009 19:22
Das war ja super XD
Ich liebe es, wenn sich die drei Kollegen so aufziehen^.^
Da hast du dir auch was Gutes einfallen lassen! Aber Lils Auftritt war natürlich auch der Hammer. Das hat alles wieder super gepasst. Ich kann mir auch vorstellen, dass Kat sich ärgert, wenn sie davon erfährt XD

Allerdings fand ich hier das Ende auch wieder zu abgehackt^^'
Also da denke ich, dass du das besser machen könntest.
Von:  MichiruKaiou
2009-12-15T18:20:48+00:00 15.12.2009 19:20
Ein wirklich interessantes Thema und es passt auch zu Lil. Du hast die Story auch gut aufgebaut und sehr gut beschrieben.
Mir kam das Ende nur ein wenig zu abrupt^^'
Ich weiß zwar nicht, was ich noch erwartet hatte, aber auf einmal war Ende, als wenn ich vor einer Schlucht, die senkrecht nach unten geht, stehen bleiben musste. Das Ende hätte irgendwie runder sein können.


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