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Stray Dogs Monogatari

von

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Murasaki

Murasaki war sich nicht sicher, ob die zwei Diener, die eine Truhe hereingetragen hatten und dann wieder gegangen waren, Einbildung gewesen waren oder nicht. Was real war und was nicht, entzog sich schon lange ihrer Einschätzung. Sie konnte nicht einmal sagen, wie lange, denn auch ihr Zeitgefühl hatte sich in Luft aufgelöst. Vielleicht waren erst ein paar Tage vergangen, seit sie aus ihrem Zimmer im Palast hierher gebracht worden war, vielleicht waren auch bereits Wochen vergangen. Sie wusste es nicht. Seit diesem Abend, als sie beim Schreiben so plötzlich Schmerzen und hohes Fieber bekam, kam ihr alles nur noch vor wie ein Fiebertraum. Schwach und entkräftet lag sie seitdem in diesem Zimmer in Yugiris Anwesen. Sie war zu schwach, um aufzustehen und sie hatte begonnen, sich damit abzufinden, hier ihr Ende zu finden. Wenn es so war, dann gab es nichts mehr, das sie dagegen tun konnte, doch es bekümmerte sie zutiefst, sich nicht mehr von den wenigen Vertrauten, die sie im Palast hatte, verabschieden zu können. Dies war ihr letzter Wunsch, aber Murasaki wusste, wie unwahrscheinlich die Erfüllung von diesem war. Alles, was sie nun noch hoffte, war, dass die Krankheit, die Rokujos Fähigkeit ausgelöst hatte, sie bald von ihrem Leid erlösen würde.

So tat sie es auch als ein Resultat ihres lebensbedrohlichen Fiebers ab, Geräusche aus dem Innern der Truhe zu hören. Ein Ächzen, ein Rumpeln - und eine Stimme.

„Erstickt von Klamotten, die mit Räucherwerk behandelt wurden“, erklang es dumpf aus der Kiste. „Das stand auch nicht in der 'Anleitung zum perfekten Selbstmord.' Ich sollte dem Autor einen Brief schreiben und um eine Ergänzung bitten.“

Das Gerumpel in der Truhe wurde lauter und Murasaki drehte, so gut sie konnte, ihren Kopf in deren Richtung. Diese Stimme … das musste das Fieber sein! Wieso sonst sollte sie jetzt ausgerechnet seine Stimme hören?

Von Angst ergriffen beobachtete sie mit glasigen Augen, wie der schwere Deckel sich langsam anhob und sich schließlich ganz öffnete. Ein paar Kleidungsstücke flogen heraus und plötzlich erhob sich ein Mann aus der Truhe, blieb darin sitzen und schüttelte missmutig seine dunklen, braunen Locken.

„Scha … schamloser … Kavalier?“, hauchte Murasaki ungläubig. Das Fieber. Ganz bestimmt.

„Huh?“ Dazai stutzte, dann sah er in die Richtung, aus der die Frage gekommen war und seine Mimik hellte sich auf. „Murasaki! Was für ein Glück! Ich dachte, ich müsste Sie noch suchen gehen!“

Dem nicht trauend, was ihre Augen wahrnahmen, versuchte Murasaki sich aufzusetzen, aber ihr schwach gewordener Körper ließ sie direkt vornüber fallen. Geistesgegenwärtig kletterte Dazai aus der Truhe, eilte zu der Frau und bekam sie noch an den Schultern zu fassen, bevor sie ganz umkippen konnte. In dem Moment, in dem er sie berührte, zuckte sie vor Schmerzen zusammen und krallte sich an ihm fest, als ein schwarzer Nebel ihren Körper ruckartig verließ und sich im nächsten Augenblick in Luft auflöste.

Vorsichtig hob Murasaki ihren Kopf. Strähnen ihrer langen, lila-schwarzen Haare waren vom Fieber ganz nass und klebten an ihrer Stirn, doch nun sah sie mit wieder klarer gewordenen Augen zu dem Mann, der sie immer noch behutsam festhielt. Ein paar Mal öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen, tat es aber doch nicht und schloss ihn wieder, während sie Dazai sprachlos anblickte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er nach einer kurzen Weile und Murasaki konnte erst einmal nichts anderes tun, als verdattert den Kopf zu schütteln.

„Da besteht kein Zweifel … Ihr seid es wirklich … oder?“, brachte sie letztendlich hervor und der Hauch eines noch ungläubigen Lächelns legte sich auf ihr Gesicht, in das allmählich Farbe zurückkehrte. „Ich weiß nicht, wie das möglich sein kann, aber Ihr seid es wahrhaftig. Ihr habt schließlich gerade Rokujos Fähigkeit aufgehoben.“

Dazai erwiderte das zarte Lächeln. „Dann lagen wir mit unserer Vermutung richtig, was die Fähigkeit dieser Rokujo betrifft.“

„Aber … was macht Ihr hier? Wie kommt Ihr … oh, doch nicht etwa …?“ Murasaki dämmerte, was geschehen sein musste und der brünette Detektiv bestätigte ihre Annahme auf der Stelle.

„Sei hat uns mit Wells Hilfe hergeholt. Na ja, eigentlich wollte sie nur Ranpos Hilfe, aber Kunikida, Atsushi und mich gab es kostenlos mit dazu. Und noch ein paar Leute, die leider vom Umtausch ausgeschlossen sind.“

„Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was Ihr da sagt.“ Murasaki blinzelte ein paar Tränen weg, die sich in ihren Augen sammelten. „Aber ich kann es kaum fassen, dass Sei um meinetwillen solche Mühen auf sich genommen hat.“

„Glauben Sie es ruhig. Können Sie aufstehen?“

Murasaki nickte und machte Anstalten, sich zu erheben, doch ihr Körper war noch zu geschwächt und ihre wackligen Beine gaben sofort nach, als sie diese belasten wollte.

„Hoppla!“ Dazai fing sie ein weiteres Mal galant auf.

„Verzeiht“, entschuldigte sich die Hofdame, „diese krankmachende Fähigkeit scheint nicht ohne Nachwirkungen zu sein. Am liebsten würde ich dieser Hexe mit dem Gesicht eines Ochsenfrosches-“ Sie unterband ihre Schimpftirade selbst und räusperte sich verlegen, obwohl Dazai von diesem Wutausbruch recht belustigt war.

„Was genau ist eigentlich passiert?“

„Rokujo hat sich an mich herangeschlichen und mich mit ihrer Fähigkeit verflucht. Ich war so schnell geschwächt, dass ich nicht einmal mehr meine Fähigkeit einsetzen konnte. Dann haben sie und die Dame Aoi mich hergebracht, weil dieser widerwärtige Schleimfrosch-“

Dazai grinste von neuem amüsiert.

„- weil Fürst Yugiri“, fuhr sie fort, „mich dazu überreden wollte, seine Frau zu werden. Er dachte wohl, ich würde irgendwann nachgeben, wenn die Krankheit mein Leben bedrohte.“

„Wieso helfen die zwei Fürst Schleimfrosch überhaupt?“

Die flapsige Bemerkung brachte Murasaki tatsächlich ein wenig zum Lachen.

„Rokujo macht alles, was er sagt, weil sie fürchtet, seine Gunst zu verlieren und Aoi erhofft sich, seine Gunst zu gewinnen. Sie stellt ihm schon seit Ewigkeiten nach und wurde bisher nicht von ihm erhört. Er hat ihr wohl eine Heirat in Aussicht gestellt, wenn sie ihm bei dieser Sache hilft.“

„Und Kunikida sagt, meine Flirtereien seien verwerflich.“ Dazai zuckte vergnügt mit den Achseln, ehe er einen von Murasakis Armen um seine Schulter legte, um ihr so dabei zu helfen, auf den Beinen zu bleiben. „Wissen Sie etwas über die Fähigkeit von Aoi?“

Sie nickte. „Sie ist der Eures Kameraden Tanizaki nicht unähnlich. Aoi erschafft ein Trugbild, das andere die Szenerie verändert wahrnehmen lässt. Sodass niemand Aoi oder die Missetaten, die sie begeht sieht oder hört. So brachten sie mich, von anderen unbemerkt, hierher.“

„Verstehe. Wie eine manipulierte Überwachungskamera, die den leeren Tresorraum zeigt, während in Wahrheit die Diebe längst darin sind.“

„Ich werde jetzt so tun, als hätte ich das verstanden.“ Die Hofdame atmete erleichtert aus und ihre Mimik entspannte sich endlich. „Ich kann nach wie vor nicht glauben, dass Ihr hier seid, um mir zu helfen.“

Dazai lächelte sie erneut an. „Wir sollten langsam verschwinden. Sonst wird Higuchi noch die nächste Frau Schleimfrosch.“

„Dieser Widerling bekommt den Hals niemals voll. Dabei ist seine erste Frau, Kokiden, die Eifersucht in Person. Ich befürchtete die ganze Zeit bereits, dass sie mir nach dem Leben trachten würde, selbst wenn ich die Krankheit überlebte.“

Sie begannen, sorgsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, als Dazai plötzlich etwas einfiel, er sich noch einmal umdrehte, nach einem der achtlos auf den Boden geschmissen Kleidungsstücken bückte und ein zusammengeknautschtes, schwarzes Stoffbündel vom Fußboden aufhob. „Fast vergessen. Da wäre aber jemand sauer geworden.“

Er lachte und klemmte sich das Stoffbündel unter seinen Arm.

 

Ranpo wusste, was passiert war, als Rokujo mit einem Mal erschrocken zusammenzuckte. Dies war der schlechtere Fall, den sie sich vorgestellt hatten, doch sie hatten befürchtet, dass die Anwenderin es bemerkte, wenn ihre Fähigkeit aufgelöst wurde.

Rokujos misstrauischer Blick kreuzte den des Meisterdetektivs, bevor sie sich an ihren Ehemann wandte: „Yugiri, mir scheint, wir sollten nach unserem anderen Gast sehen.“

Der Angesprochene hob verwundert eine Augenbraue. „Warum das?“

„Es muss etwas vorgefallen sein.“

„Das, was meiner Meinung nach wünschenswert wäre oder etwas anderes?“, fragte Kokiden kühl.

„Nein, etwas anderes“, antwortete Rokujo hastig. „Das ist noch nie passiert. Als wäre es aufgelöst worden.“

„Aufgelöst?“ Ungeachtet seiner Gäste sprang Yugiri auf. „Das ist doch gar nicht möglich! Hast du einen Fehler gemacht?“

„Gewiss nicht!“, entgegnete Rokujo aufgebracht und erhob sich ebenfalls. „Es macht viel mehr den Eindruck, es hätte sich jemand von außen eingemischt.“

Seelenruhig stand Ranpo an dieser Stelle auf. „Wenn Ihr gerade anderweitig beschäftigt seid, will ich Euch gar nicht weiter stören.“

Erleichtert atmete Atsushi im Hintergrund leise aus. Allem Anschein nach hatte Dazai Murasaki gefunden und die Fähigkeit Rokujos aufgehoben. Es lief alles nach Plan und sie mussten nur noch schnell hier verschwin-

„Einen Augenblick.“ Kokidens eisige Stimme durchschnitt seine Gedanken. „Was für ein seltsamer Zufall. Gerade als Ihr und Eure … wunderliche Gefolgschaft Eure Aufwartung macht, kommt es zu diesem Zwischenfall?“ Ihre dunklen Augen fixierten Ranpo und die anderen Zeitreisenden. „Wer seid Ihr in Wahrheit?“

„Vielleicht hat jemand aus dem Palast sie hergeschickt“, warf Aoi ein, die bei diesem Gedanken ebenso hochschreckte und noch blasser geworden war. „Ich sagte doch, diese schrecklich neugierige Hofdame Sei könnte ein Problem werden. Niemand hatte mir Gehör schenken wollen!“

Yugiri blickte derweil verwirrt von einer Person zur nächsten. „Meint ihr etwa, diese Leute sind … unmöglich!“ Der Fürst schaute voller Entsetzen zu Ranpo, der seinem Blick gelassen standhielt. Higuchi schlich derweil im Hintergrund zu den anderen zurück, die angespannt abwarteten, in wie weit die Situation nun eskalieren würde. Nur sehr langsam dämmerte Yugiri, dass hier etwas im Verborgenen vorgegangen war und plötzlich entwich seiner Kehle ein lautes Japsen. „Die Truhe … war da jemand in der Truhe??“

„Sie haben eine Truhe mitgebracht?!“, fauchte Kokiden. „Sie müssen jemanden eingeschleust haben, der diese lästige Murasaki holen soll! Yugiri, du Narr! Dich kann man keinen Moment aus den Augen lassen! Wenn ans Licht kommt, was du zu tun versucht hast, wird dich dies deine Stellung kosten!“

Mit hochrotem Kopf knetete Yugiri seine nervös zitternden Händen und blickte flehentlich zu der aufgebrachten Frau. „Liebste, das wäre aber schlecht für uns! Kannst du nicht etwas tun?“

Ein wütendes Stöhnen kam über ihre Lippen. „Es ist doch immer das gleiche mit dir! Wieso musste mich so ein liebestoller Taugenichts zur Frau nehmen und nicht jemand von höherem Rang?“ Tiefe Zornesfalten bildeten sich auf ihrer Stirn, als sie zu der davon schleichenden Higuchi schaute. „Rokujo! Kümmere dich um die hohle Nuss!“

Sich sofort angesprochen fühlend, wirbelte Higuchi verärgert herum. „Was fällt der alten Schachtel ein, mich so zu nennen?!“ Mehr Dampf konnte die Blondine nicht mehr ablassen, bevor sie mit weit aufgerissenen Augen eine Art schwarzen Nebel auf sich zurasen sah, der aus dem Körper der Frau mit dem blutroten Kimono gekommen war und der mit einer höllischen Geschwindigkeit in sie hineinflog. Im Bruchteil einer Sekunde verschwamm alles vor Higuchis Augen. Sie spürte ein aus dem Nichts kommendes, hohes Fieber in sich aufsteigen und konnte gerade einmal erschrocken scharf die Luft einziehen, ehe sie die Kontrolle über ihren so schnell geschwächten Körper verlor und zu Boden zu fallen drohte. In dem Moment, in dem sie zu fallen begann, aktivierte Atsushi seine Fähigkeit, sprintete mit seinen Tigerbeinen los und fing sie auf, noch bevor Akutagawa aufgeschreckt ihren Namen zu Ende hatte ausrufen können.

„Sie haben einen mit einer Fähigkeit unter sich!“, schrie Aoi in den Tumult hinein.

„Wer in aller Welt seid Ihr??“ Blitzschnell zog Yugiri einen Dolch unter seinem Gewand hervor, griff mit der anderen Hand Ranpo und drückte diesem drohend die Klinge gegen die Kehle.

„Ha ha“, lachte Ranpo unbeeindruckt. „Ihr seid etwa eintausend Jahre zu früh, um es mit mir aufnehmen zu können!“

Kunikida holte geschwind sein Notizbuch unter seiner Kleidung hervor und … erstarrte. „Mein Füller … ist weg!“

„Das ist aber jetzt schlechtes Timing“, maulte Ranpo, immer noch vollkommen die Ruhe bewahrend, als fünf Diener Yugiris hineinstürmten, die vom Lärm alarmiert worden waren.

„Jemand hat uns diese Betrüger auf den Hals gehetzt“, erklärte der Fürst ihnen eilig. „Sie wollen unseren Gast entführen! Durchsucht die Residenz!“

Die ihrem Herrn treu ergebenen Diener nickten und rannten von neuem los, während Atsushi überlegte, ob er es mit seiner Schnelligkeit schaffen konnte, Yugiri zu überwältigen. Der junge Detektiv kam jedoch nur noch dazu, einen kurzen Blick auf den Fürsten zu werfen, als dieser plötzlich verschwand – genau wie die drei Damen und Ranpo. Außer ihm, Akutagawa, Higuchi und Kunikida war niemand mehr im Raum.

„Was …?“, stutzte Kunikida. „Ist das eine Fähigkeit? Ranpo! Bist du hier noch irgendwo?“

Niemand antwortete ihm.

Atsushi übergab die bewusstlose Higuchi in Akutagawas Arme. „Er muss noch hier sein! Ich kann ihn noch riechen!“

Mit einem Mal horchte Akutagawa auf. Was war das, was in der Luft lag? Ein Knistern? Als würde ein Gewitter über sie hereinbrechen. „Menschentiger!“, warnte er ihn lautstark und keinen Augenaufschlag später schoss ein aus dem Nichts kommender Blitz auf Atsushi zu und schlug nur wenige Zentimeter neben dem knapp ausgewichenen Jungen ein. Ein qualmendes, schwarzes Loch klaffte nun im Boden.

„Wie unerfreulich“, ertönte Kokidens eiskalte Stimme, als sie plötzlich vor den beiden jungen Männern auftauchte und ein elektrisches Knistern sie umgab. „Ein Mensch, der Eigenschaften mit einem Tiger teilt? So etwas kennt man doch sonst nur aus den alten Geschichten aus China.“

Eine weitere Befähigte?, dachte Kunikida angstbesetzt. Und ausgerechnet jetzt hatte das Raum-Zeit-Gefüge seinen Füller verschlungen. Angespannt biss er seine Zähne zusammen.

„Du da.“ Kokidens finsterer Blick landete auf ihm. „Hast du auch solche Reflexe?“

„Kunikida, Vorsicht!“, schrie Atsushi, als Kokiden ihre rechte Hand hob und einen Blitz genau in die Richtung des Idealisten schleuderte.

 

Dazai stoppte abrupt.

„Schamloser Kavalier?“, hakte Murasaki, immer noch auf ihn gestützt, besorgt nach.

„Klingt, als würde unser Wunsch, kampflos zu entkommen, nicht erfüllt“, antwortete er gefasst. Weder er, noch die Hofdame kannten den Grundriss von Yugiris Anwesen und das Zimmer, in dem Murasaki festgehalten worden war, hatte mitten im Gebäude gelegen, sodass sie durch einen der Flure schleichen mussten, um einen Raum zu finden, der sie nach draußen bringen konnte.

„Sie ist weg!“, hörten sie einen Diener hinter sich laut vermelden und kurz darauf waren schnelle Schritte in ihre Richtung zu vernehmen.

„Zwischenstopp!“, flötete Dazai und schob eiligst die nächste Schiebetür auf und Murasaki und sich selbst in den Raum hinein. Ein weiterer Raum ohne Verbindung nach draußen. Murasaki deutete zu einem im Zimmer stehenden Wandschirm und flink huschte Dazai mit ihr dahinter.

Die Schiebetür wurde hastig aufgeschoben und die zwei Flüchtigen hielten, auf dem Boden kauernd, den Atem an. „Nichts!“, ertönte es und die Tür ratterte wieder zu.

„Sind Eure Kameraden in einen Kampf verstrickt worden?“, fragte Murasaki flüsternd nach und Dazai nickte.

„Atsushi und Kunikida ziehen Gefahr an wie das Licht die Motten. Es ist wirklich unmöglich, die zwei mal einen Moment aus den Augen zu lassen.“

„Verzeiht. Das ist meine Schuld.“ Der traurige Tonfall der Dame ließ Dazai überrascht stutzen. „All dieser Ärger nur meinetwegen“, fuhr die Frau fort, während Tränen sich in ihren Augenwinkeln sammelten.

„Ja“, entgegnete Dazai nonchalant, „all dieser Ärger nur Ihretwegen.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und schmunzelte. „Weil Sie den Ärger wert sind, Murasaki.“

Sie sah ihn mit großen Augen an.

„Wenn Sie sich Ihres Wertes bislang gar nicht bewusst waren, dann hat die ganze Sache doch wenigstens insofern etwas Gutes, als dass Sie sich jetzt dessen bewusst werden“, ergänzte Dazai.

Die Hofdame blickte ihn einen weiteren Moment lang sprachlos an, als ihre Tränen begannen, sich den Weg aus ihren Augen über ihr Gesicht zu bahnen – und sie mitten durch ihre Tränen zu lächeln anfing. „Da kommt mein Leben mir mitunter so freudlos vor, dass ich die Welt am liebsten meiden möchte und dann riskieren gleich so viele Menschen ihr Leben für jemanden wie mich. Nun wird mir so warm ums Herz, dass ich denke, doch noch menschliches Gefühl zu besitzen.“

Der Detektiv erwiderte abwartend erst ihren Blick, dann ihr Lächeln und schüttelte letztlich seinen Kopf. „Für menschliches Gefühl bin ich nicht der richtige Ansprechpartner, aber ich kann Ihnen sagen, ich sehe Sie viel lieber lächeln als weinen.“ Er half ihr wieder vom Boden hoch.

„Oh, schamloser Kavalier“, seufzte Murasaki, „Ihr seid mindestens so ahnungslos wie ich.“

Ohne darauf zu reagieren, verließ Dazai mit ihr wieder das Zimmer.

 

„Was war denn das?“ Sei wirbelte erschrocken in die Richtung des Anwesens, als sie von dort einen gewaltigen Krach ausmachte. Sie und Wells standen auf der der Stadt zugewandten Seite des Hügels, auf dem Yugiris Residenz thronte. Bei Seis panischer Bewegung hatte die Laterne, die sie trug und die ihre einzige Lichtquelle in der dunklen Nacht war, zu flackern begonnen.

„Fräulein Sei, vorsichtig bitte. Das Feuer der Laterne darf nicht erlöschen, wir können sonst das Zeichen nicht entzünden“, ermahnte der Brite sie höflich und gestresst.

„Ist es fertig?“, fragte die Hofdame und hielt die Laterne wieder etwas höher, um sich anzusehen, woran Wells gearbeitet hatte. Auf die nicht bewaldete, freie Fläche, auf der sie standen, hatte der Brite mit Holz und Stroh ein großes Kanji-Schriftzeichen gelegt.

Wells nickte und kratzte sich nervös am Kinn. „Ich wundere mich jedoch, warum Herr Dazai ausgerechnet dieses Kanji wollte.“

„Er wirkt doch recht klug, er wird sich etwas dabei gedacht haben.“ Sei zuckte mit den Schultern. „Bei den beunruhigenden Lauten, die von dort oben kommen, sollten wir es jetzt entzünden.“

Ohne weiteres Zögern nahm Wells einen trockenen Zweig, hielt ihn in die Flamme der Laterne und steckte mit dem nun brennenden Holz alle Teile des Schriftzeichens in Brand.

Das Kanji für „klein“ loderte lichterloh und von weitem hervorragend sichtbar auf dem Berg auf.

 

„Kunikida!“, schrie Atsushi voller Panik durch den Rauch, den der Blitzeinschlag Kokidens verursacht hatte. Der Idealist war durch den heftigen Blitz durch die papierne Schiebetür hindurch nach draußen geschleudert worden.

„Der war erfreulicherweise kein Problem. Um den Tigerjungen kümmere ich mich zuletzt.“ Kokiden lenkte ihren eiskalten Blick an Atsushi vorbei und auf Akutagawa, der die geschwächte Higuchi auf den Armen trug.

„Akutagawa!“, rief Atsushi ihm entgegen. „Lauf weg!“

„Meister ...“ Beim keuchenden Klang von Higuchis schwacher Stimme, sah der dunkelhaarige Mafioso zu ihr. Die Blondine rang nach Luft, ihre Augen waren glasig und der Schweiß stand ihr auf der Stirn. „Meister … lassen Sie mich zurück und retten Sie sich ...“

Akutagawas Blick wurde noch finsterer als er es die meiste Zeit eh schon gewesen war. „Klappe, Higuchi“, knurrte er erbarmungslos, bevor er zu Atsushi hinüber brüllte: „Menschentiger, erledige du das! Ich muss Dazai finden!“

Noch bevor Kokiden ihre Hand ein weiteres Mal heben konnte, war Atsushi mit seinen Tigerbeinen losgespurtet, hatte sich auf sie gestürzt und sie mit seinen kräftigen Tigerarmen auf den Boden gepinnt, während Akutagawa mit Higuchi aus dem Raum gestürmt war.

Ein Diener stellte sich dem Mafia-Duo im Gang in den Weg, doch einen einfachen Menschen konnte Akutagawa auch ohne seinen Mantel ausschalten. Er hatte so viel Tempo beim Laufen aufgenommen, dass er problemlos zu einem Sprung ansetzen konnte und den Diener mit einem gezielten Tritt gegen den Brustkorb auf die Matte schicken konnte. Tatsächlich hatte er sich noch zurückhalten müssen, denn normalerweise hätte er mit so einem Sprungtritt den Mann auch töten können – aber dies durfte er hier ja nicht. Durch die körperliche Anstrengung musste Akutagawa husten und so verstärkte er nach seiner Landung den Griff um Higuchi wieder, da sie ihm beinahe aus den Armen geglitten wäre. Rasant bog er um die nächste Ecke, als plötzlich ein brünetter Mann aus einem Nebenflur herausgeschossen kam und Akutagawa abrupt abbremsen musste, um nicht in ihn hineinzukrachen. Noch bevor er richtig hinsehen konnte, wer da in seinen Weg gesprungen war, flog ein großes Stück schwarzer Stoff auf ihn und begrub Higuchi und ihn darunter. Wütend zog er sich mit einer Hand den Stoff vom Gesicht und merkte dabei, was er da in der Hand hielt.

Seinen Mantel.

Seinen absolut ekelhaft penetrant nach Weihrauch stinkenden Mantel.

„Ich sagte doch, das Husten erkenn ich von weitem.“

Als Akutagawas Sicht wieder frei war, stand Dazai dünkelhaft grinsend vor ihm. Neben ihm lehnte an einer Wand die Frau, die damals beim Beinahe-Weltuntergang dabei gewesen war. Das musste sie sein, diese Murasaki. Besorgt blickte diese zu der ohnmächtigen Higuchi in Akutagawas Armen.

„Hat Rokujo deine Gefährtin erwischt?“ Murasaki schaute zu Dazai, der daraufhin einen Schritt auf Akutagawa zu machte und Higuchi mit einer Hand gegen die Wange tätschelte.

„Hey, aufwachen, was soll denn dein Vorgesetzter denken, wenn du bei der Arbeit schläfst?“

Bei der Berührung durch Dazai entstieg aus Higuchis Körper der gleiche schwarze Nebel, der zuvor Murasaki besessen hatte und mit einem Schlag erwachte Higuchi, riss die Augen auf, blinzelte Akutagawa an, realisierte, wo sie sich befand und … wurde beinahe erneut ohnmächtig. Der dunkelhaarige Mafioso setzte sie ungerührt auf dem Boden ab, bevor er seinen Mantel wieder anzog und nun Rashomon benutzte, um Higuchi zu stützen, weil sie noch wacklig auf den Beinen war. Da sie im Gegensatz zu Murasaki nur kurz unter dem Einfluss von Rokujos Fähigkeit gestanden hatte, waren die Auswirkungen glücklicherweise nicht so verheerend wie bei der Hofdame. Dass ihr Kopf noch knallrot war, war wohl eher auf die vorangegangene körperliche Nähe zu ihrem Vorgesetzten zu schieben.

„Akutagawa, vielen Dank, Sie haben so viel auf sich genommen, um mir zu helfen“, sagte die Blondine und ignorierte dabei, dass der Angesprochene mit nicht mehr als einem „Hmpf“ reagierte.

„Das kann nicht wahr sein!“, hallte plötzlich eine zornige Stimme durch den Gang. „Meine Fähigkeit wurde von neuem ausgetrieben?! Was für ein Zauber ist das?!“ Rokujo schnaubte vor Wut und ließ erneut einen schwarzen Nebel aus ihrem Körper fahren, der auf die anderen zuraste. Rokujo zog eine siegessichere Grimasse, als der Nebel geradewegs auf Dazai zusteuerte, der sich schützend vor Murasaki gestellt hatte. Sie stutzte, als sie das süffisante Lächeln des Brünetten bemerkte.

Der Nebel prallte an ihm ab und löste sich sofort wieder in Luft auf.

„Zauberhaft, nicht wahr?“, flachste Dazai, während die erschütterte Rokujo ihn verständnislos anstarrte.

„Was …? Wie kann das …? Wieso …?“

„Bei Dazai darf man niemals nach dem 'Wieso' fragen“, kommentierte Akutagawa arrogant, ehe Bänder von Rashomon nach vorne preschten und die erschrockene Dame im blutroten Kimono einwickelten.

„Nicht töten“, erinnerte Dazai ihn beiläufig und Akutagawa gab ihm ein genervtes Grummeln zur Antwort. Als nur noch Rokujos Gesicht aus Rashomon herausguckte, trat Higuchi an sie heran und holte mit einer Faust zum Schlag aus.

Niemand lässt mich vor Akutagawa schlecht aussehen.“

Sie schlug Rokujo bewusstlos.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Überraschung, es ist nicht Dazai aus der Tonne, sondern Dazai aus der Truhe!
Murasakis Erwähnung von „menschlichem Gefühl“ habe ich aus den besagten Tagebuchauszügen; das schrie danach, hier untergebracht werden zu wollen („Murasaki“ gibt es so übrigens auch als Kapiteltitel im „Genji Monogatari“).
Weges des Kanjis: In Kyoto gibt es ein Fest, bei dem das Kanji für „groß“ auf einem Berg entzündet wird. Dazai treibt hier Schindluder damit … Komplett anzeigen

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