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Stray Dogs Monogatari

von

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Ein Gewittersturm

Atsushi biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Ohne Unterlass zuckten Blitze aus Kokidens Körper, den er nach wie vor auf den Boden pinnte. Die Elektrizität fuhr in schmerzhaften Schlägen durch seinen Körper, als würde er immer und immer wieder in eine Steckdose fassen. Der Übelkeit erregende Geruch von verbranntem Fell lag in der Luft.

„Du bist mir momentan ein Dorn im Auge, Tigerjunge“, presste Kokiden hervor. „Du hast keine Ahnung, was für mich auf dem Spiel steht. Wenn die Schandtaten dieses Narren ans Licht kommen und er bestraft wird, verliere ich ebenso alles.“

„Das tut mir sehr leid“, entgegnete Atsushi angestrengt, „aber ich kann Sie trotzdem nicht ziehen lassen.“

Ein dunkles, leeres Lachen entwich der Frau. „Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht und dennoch liegt mir daran, es zu behalten. Ein anderer Mann wollte mich nicht, nur Yugiri, dieser Schwerenöter. Eine Stellung am Hofe blieb mir ebenso verwehrt. Während jemand Hochmütiges wie diese Murasaki von der Kaiserin privilegiert wird.“

„Murasaki ist ganz und gar nicht hochmütig. Sie ist freundlich, mutig und hilfsbereit“, widersprach Atsushi vehement.

„Pah! Eine ekelhafte Besserwisserin ist sie! Mit all den Dingen, die sie weiß, die sie gelernt, die sie gelesen hat. Hat niemand ihr beigebracht, dass es sich als Frau nicht schickt, mehr zu wissen als ein Mann?“

Betroffen schüttelte der junge Detektiv den Kopf. Was für eine absurde Einstellung dies war. So leid ihm Kokiden auch tat (für sein elendiges Dasein nichts zu können und doch weiterleben zu wollen, war ihm sehr vertraut), aber wie auch Akutagawa schien Kokiden die völlig falschen Schlüsse aus dem eigenen Elend gezogen zu haben.

„Seinen Hass an anderen auszulassen ist falsch“, sagte er ihr voller Überzeugung.

Ein weiterer abschätziger Laut kam über die Lippen der Frau. „Ein Tigerjunge, der über Moral predigt … du scheinst wirklich einer alten Geschichte entsprungen zu sein.“ Atsushi konnte das finstere Lächeln auf ihrem Gesicht nicht sehen. „Zeit, dich dahin zurückzuschicken!“

Mit einem Mal entlud sich eine große Menge an Elektrizität aus Kokidens Körper und schleuderte den überrumpelten Atsushi in hohem Bogen von sich. Er flog mit voller Wucht durch den solideren Gipsteil der Wand und krachte auf den Boden draußen vor dem Gebäude. Seine Muskeln zuckten durch die elektrischen Schläge, die er abbekommen hatte und er konnte sich kaum aufrichten. Gerade einmal so schaffte er es, sich auf alle Viere hoch zu stemmen und sich hastig umzublicken. Es war Nacht geworden und obwohl der Bereich außerhalb der Gebäude durch zahlreiche Steinlaternen gut ausgeleuchtet war, erschwerten die bunten Lichter, die durch die Stromschläge Atsushi vor Augen tanzten, ihm die Sicht. Kunikida war in die gleiche Richtung geschleudert worden. Er musste hier irgendwo sein. Doch er konnte ihn nirgends ausmachen.

„Kokiden, Liebste!“, erklang stattdessen Yugiris aufgebrachte Stimme. „Vorsicht! Mein Haus!“

Aus dem scheinbaren Nichts war der Fürst, der immer noch Ranpo als Geisel in seiner Gewalt hatte, aufgetaucht. Eine seiner Hände hielt dem erstaunlich gelassen aussehenden Meisterdetektiv weiterhin den Dolch an die Kehle, die andere hielt ihm … den Mund zu.

Hatte Ranpo etwa selbst in einer so bedrohlichen Lage nicht sein vorlautes Mundwerk halten können?

Die Dame Aoi stand gekrümmt neben den beiden und schnappte nach Luft. Die Anwendung ihrer Fähigkeit schien ihr Schwierigkeiten zu machen, sodass die flüchtende Gruppe wieder sichtbar geworden war.

Kokiden trat durch die zertrümmerte Wand nach draußen. „Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Wo hast du Rokujo gelassen?“

„Sie soll Murasaki wieder verfluchen“, antwortete der Fürst und seine Frau rollte entnervt mit den Augen.

„Wir müssen uns zuerst der Eindringlinge entledigen.“

„Gewiss, Liebste! Sie werden sich ergeben, wenn sie nicht wollen, dass ihrem Kameraden etwas zugefügt wird. Das sehe ich doch richtig?“ Yugiris Augen wanderten triumphierend zu Atsushi, der alarmiert zu ihm blickte.

„Tun Sie ihm bitte nichts“, bat er den Fürsten so ruhig wie es ihm möglich war. „Wir werden sicher eine friedliche Lösung fin-“

Ein lautes, krachendes Geräusch unterbrach Atsushis Bitte unsanft. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden schnellte zu der Quelle des Lärms.

Eine weitere Wand war hinter ihnen eingestürzt. Gleichzeitig flogen auf einmal die Diener und Wachen, die im Haus nach Murasaki und dem unbekannten Eindringling hatten suchen sollen, mitsamt der ausgeknockten Rokujo, auf den Platz vor dem Anwesen. Eine Art schwarzer Bänder hatte sie eingewickelt und recht grob auf die Erde geschmissen. Während diese rätselhaften Ereignisse alle in ihren Bann zogen, schrie der Fürst mit einem Mal auf.

Ein Schlag gegen den Hinterkopf hatte ihn getroffen, keinen Augenaufschlag später wurde ihm der Arm mit der Klinge nach hinten gerissen. Eine Hand hatte geschickt sein Handgelenk gepackt und übte so viel Druck darauf aus, dass Yugiri den Dolch fallen lassen musste. Vor Schreck und Schmerz ließ auch seine andere Hand von Ranpo ab und im gleichen Moment, in dem der Meisterdetektiv von ihm wich, drehte der Angreifer die Hand, die den Fürsten gepackt hatte, mit einem kräftigen Ruck herum und warf Yugiri hart zu Boden.

„Das hat aber gedauert, Kunikida“, beschwerte sich Ranpo trotz seiner Rettung bei dem Blonden, der sich hinterrücks an den Fürsten angeschlichen und ihn attackiert hatte. Dann kickte der Schwarzhaarige den Dolch spielerisch weg.

„Entschuldige, Ranpo.“ Kunikida atmete tief aus. Teile seiner Kleidung und die Spitzen seiner Haare waren angesengt. Zudem hatte er eine Wunde auf der Stirn. Aber, so dachte Atsushi voller Bewunderung für den Älteren, so etwas konnte Kunikida nicht aufhalten.

Kokiden zog scharf die Luft ein, als sie ihn erblickte. „Was geht hier vor?! Ihn hatte ich doch erledigt!“

„Ich habe vielleicht nicht Atsushis Reflexe“, antwortete der Idealist unbeeindruckt, „aber unterschätzen sollte man mich trotzdem nicht.“

Mit einem Ausdruck von Panik in den Augen richtete sich die erschöpfte Aoi derweil wieder auf. Man konnte ihr ansehen, was sie vorhatte.

Wenn ihre Fähigkeit andere unsichtbar machen kann und sie sie von neuem einsetzt, ging es Atsushi alarmiert durch den Kopf, kann sie zu Kokiden laufen und sie wieder verstecken. Dann kann Kokiden aus der Deckung heraus angreifen …! Das darf ich nicht zulassen!

Hastig versuchte Atsushi die Muskeln in seinen Beinen unter Kontrolle zu bekommen, um Aoi aufhalten zu können, doch sie zuckten immer noch wie wild und wollten ihm nicht gehorchen.

Verdammt!

Gerade als ein immenses Angstgefühl in Atsushi hochstieg, sprintete jemand an ihm vorbei hin zu Aoi.

„Whoa, Kunikida“, staunte Dazai, während er Aoi mehr oder weniger über den Haufen rannte und die überrumpelte Dame festhielt, „du hast eben so cool geklungen! Warum machst du das nicht öfter?“

„Wer ist das denn nun schon wieder?“, zürnte Kokiden. „Aoi! Worauf wartest du?! Benutze deine Fähigkeit!“

„Das versuche ich ja! Doch es will nicht gelingen!“, antwortete die Frau sichtlich und hörbar verzweifelt, während sie versuchte, sich von Dazais Griff zu befreien.

„Ihr solltet aufgeben“, erklang plötzlich die Stimme Murasakis hinter Kokiden. Sie, Higuchi und Akutagawa kamen hinter den Trümmern des halb eingestürzten Hauses hervor.

„Argh! Du!“ Kokiden knirschte verärgert mit den Zähnen.

„Ich habe Verbündete, von denen ich mir gar nicht bewusst war, dass ich sie habe“, fuhr Murasaki fort und schickte ein flüchtiges Lächeln in Dazais Richtung. „Daher … es ist vorbei. Wenn Ihr Euch nun ergebt, werde ich beim Kaiser ein gutes Wort für Euch, Rokujo und Aoi einlegen und ihr werdet lediglich für einige Zeit in die Verbannung geschickt.“

„U-und was ist mit mir?“ Yugiri war nach dem Wurf durch Kunikida wieder zu sich gekommen und stand wackelig auf.

„Wenn Ihr Glück habt, landet Ihr nur bis ans Ende Eurer Tage auf einer sehr, sehr einsamen Insel im Südwesten.“ Murasakis Lächeln wurde beinahe süffisant. Da ließen sie die Geräusche von heraneilenden Schritten aufhorchen.

„Murasaki! Murasaki!“ Sei kam aus der Dunkelheit der Umgebung außerhalb des Anwesens auf sie zugerannt und lief ihr in die Arme.

„Du bist mitgekommen, um mich zu retten?“, fragte Murasaki erstaunt.

Die andere Hofdame nickte aufgeregt und richtete sich stolz auf. „Mir liegt es ja fern anzugeben, aber wer glaubst du denn, ist das Genie hinter deiner Rettung?“

„Und du bist den ganzen Berg hinaufgelaufen?“

Seis Haltung wurde noch ein Stück stolzer, bevor ein schrecklich keuchender Brite sich zu ihnen gesellte, dem der Schweiß aus allen Poren triefte.

„Fräulein Sei, Sie sind nicht gerade ein Leichtgewicht“, japste Wells elendig und Atsushi spürte, wie seine Augen bei dieser Szene zu zucken begannen – ganz unabhängig von den Elektroschocks, die er erhalten hatte. Die Hofdame hatte sich offensichtlich von Wells tragen lassen. Seis Ähnlichkeit zu einem gewissen Meisterdetektiv war ihm schon länger aufgefallen. Ob Ranpo Vorfahren aus Kyoto hatte?

„Das ist nicht akzeptabel.“ Kokidens Stimme war zu einem unheilvollen Grollen geworden. „Ich werde nicht akzeptieren, meine Stellung zu verlieren, weil diese hochmütigen Weiber aus dem Palast mir in die Quere gekommen sind.“

Aus heiterem Himmel füllte sich die gesamte Luft um Kokiden herum mit einem lauten elektrischen Knistern und aus jeder Faser ihres Körpers zuckten grelle Blitze. Alle Anwesenden konnten gerade einmal realisieren, welche Gefahr dort drohte, als sie bereits begann, auf sie niederzuprasseln. In ihrer unbändigen Wut schleuderte Kokiden dutzende Blitze wahllos in sämtliche Richtungen. Geistesgegenwärtig riss Kunikida Ranpo zu Boden und auch Dazai schmiss sich mit Aoi auf die Erde, während Akutagawa sich und Higuchi hinter Rashomon als ihrem Schutzschild in Sicherheit brachte. Sei und Murasaki ließen sich ebenso geschwind auf den Boden fallen.

Nur der unglückliche und in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkte Atsushi war zu langsam und so spürte er wie ein schmerzhafter Schlag ihn traf, die Elektrizität qualvoll durch seinen Körper jagte und er für einen kurzen Augenblick das Bewusstsein verlor. Die mächtige Kraft des Tigers holte ihn allerdings sofort zurück und hatte, wie es schien, ihn fürs Erste vor lebensbedrohlichem Schaden bewahrt. Derweil schrie Yugiri gepeinigt auf, als ein Blitz ihn erwischte, doch nicht einmal das konnte Kokidens Toben noch Einhalt gebieten. Ein weiterer Blitz schlug nahe der beiden Hofdamen ein und erwischte Wells, der durch die Wucht des Einschlags rückwärts stolperte und den Abhang hinter ihnen herunterfiel.

„Fähigkeit: Kopfkissen!!“

Durch Seis unverzügliche Reaktion tauchte aus dem Nichts ein mehrere Meter breites Kopfkissen auf, das sich zwischen zwei im Abhang stehenden Bäumen verkeilte und den herabstürzenden Briten auffing.

Endlich verstummten die Blitze.

Vor Wut und Anstrengung schnaubend, schnappte Kokiden nach Luft. Das zornige Funkeln in ihren dunklen Augen war noch nicht erloschen. Sie würde nicht aufgeben. Dies war jedem der Anwesenden unmissverständlich klar.

Von Angst erfüllt blickte Atsushi zu der rasenden Frau. Wenn noch ein Blitz ihn traf, würde selbst er das nicht mehr überleben. Und auch die anderen waren weiterhin in Gefahr. Er musste doch irgendetwas-

„Atsushi“, sagte Dazai vollkommen ruhig, als er den Kopf hob und feststellte, dass die Dame, die er mit umgeworfen hatte, das Bewusstsein verloren hatte. „Keine Angst, es ist gleich vorbei. Wir spielen jetzt unseren letzten Trumpf aus.“ Er rückte von Aoi weg und sein Blick traf den Murasakis, die ihn fragend anschaute, als plötzlich ein Beben zu spüren war.

Seltsam, wunderte sich Atsushi, das Beben fühlt sich wütend an. Wie kann ein Beben sich wütend anfühlen? Und das scheint auch kein normales Erdbeben zu sein …

„DAZAAIIII!!“, grollte es erbost und lärmend aus der Dunkelheit. „DU ELENDER MISTKERL!! ICH WERDE DAS KANJI SCHON ERKENNEN?? EIN KANJI, DAS GERADE ICH VERSTEHEN WÜRDE?? DAFÜR WIRST DU BÜßEN!!“

Mit schweren, stampfenden und aufgebrachten Schritten kam ein fuchsteufelswilder Chuuya bei ihnen an. Die durch seine Fähigkeit verstärkten Schritte hatten das wütende Beben verursacht.

„Du hast es erkannt, oder nicht?“, entgegnete Dazai sichtlich vergnügt.

„Noch einer??“ Kokiden wirbelte wutentbrannt zu dem Neuankömmling herum. „Das wird euch auch nicht mehr helfen!“ Die Luft um sie herum knisterte abermals.

„Chuuya! Akutagawa“, rief Dazai ernst, „deaktiviert eure Fähigkeiten!“

Verdattert und überrumpelt taten der Rotschopf und Akutagawa wie ihnen geheißen worden war und nur eine Millisekunde später zuckten erneute Blitze aus Kokidens Körper und bevor sie beginnen konnten, wie ein weiterer Regen aus Elektroschocks auf die Gruppe niederzugehen, riss Murasaki die Augen weit auf, als sie begriff.

„Fähigkeit: Prinz Genji!!“

Kokiden konnte nur noch fassungslos auf die leuchtende, in ein goldenes Gewand gekleidete Gestalt starren, die vor ihr erschien und vor der sie bewegungsunfähig auf die Knie ging. „Das … hochmütige Weibsbild besitzt ... tatsächlich eine Fähigkeit?“, war das Letzte, das über Kokidens Lippen kam, ehe sie ohnmächtig wurde.

Heilfroh atmete Atsushi aus. Endlich machte sich Erleichterung in ihm breit.

Für ganze fünf Sekunden.

Dann hörte er schnell heraneilende Schritte und laute Rufe. Alarmiert blickte Atsushi wieder zu Dazai, der vom Boden aufstand und zufrieden in die Richtung schaute, aus der die Geräusche kamen.

„Das hast du gut gemacht, Chuuya. Braves Hündchen.“

„ICH WERDE DICH GLEICH SO DOLL VERDRESCHEN, DASS DU DIR WÜNSCHEN WIRST, BEI DEN DINOSAURIERN ZU SEIN!!“

Kurz nach dem wütenden Ausruf des Rothaarigen eilten mehrere mit Lanzen und Schwertern bewaffnete Männer auf den beleuchteten Teil des Geländes. Es waren die Wachen aus der Stadt.

„Da vorne! Das ist einer der Männer, die dabei waren, als das Tor zusammengefall-“, rief einer von ihnen und hielt inne, als er sich näher umsah. „W-was ist denn hier …?“

„Aha!“ Ranpo erhob sich vom Boden und klopfte sich den Staub von der Kleidung ab. „Da seid ihr ja endlich. Richtet dem Kaiser aus, dass Fürst Yugiri und seine Vasallen eine der Hofdamen entführt haben und außerdem mich, Seine Durchlaucht Fürst Edogawa aus dem Osten, zu ermorden versucht hat.“

„Diese Geschichte ist wahr“, pflichtete ihm Murasaki bei, die hinzukam, um den verwirrten Wachen eine Kurzfassung der Ereignisse zu schildern, in der sie geschickt Zeitreisende und deren Fähigkeiten außen vor ließ.

Die Wachen nickten, schüttelten ungläubig den Kopf, nickten erneut, sahen zwischendurch zu Dazai und Kunikida (einige der Wachen erkannten sie vom Vorfall am Tor wieder), dann zu Ranpo, der hoheitsvoll dastand und nickte, und fingen schließlich damit an, den bewusstlosen und verletzten Yugiri, sowie sein gesamtes Gefolge einzusammeln und fortzubringen.

Akutagawa und Higuchi waren längst hinter den Trümmern des Gebäudes in Deckung gegangen, sodass sie von den Wachen nicht bemerkt worden waren. Atsushi saß immer noch auf dem Boden und blinzelte erstaunt das Geschehen an. Deswegen war Chuuya in der Stadt geblieben. Dazai hatte etwas von einem „Geheimauftrag“ für ihn geredet und jetzt erst verstand Atsushi, worin dieser bestanden hatte: Chuuya sollte die Wachen, die in der Stadt nach ihm und den beiden anderen Mafiosi suchten, auf ein Zeichen hin herlocken, damit diese Yugiri und seine Mittäter verhaften konnten.

„Was soll mit diesem hier geschehen?“, fragte einer der Wachen mit Blick auf Chuuya.

„Der?“, erwiderte Ranpo abwinkend. „Der ist nur ein Bauerntrampel, der, wie man sieht, gänzlich ungefährlich ist. Doch ich will euch gerne helfen und lasse meine Diener auf ihn aufpassen, wenn wir ihn in die Stadt zurückbringen. Ihr seid ja mit Fürst Yugiris Gefolge ausgelastet.“

Bei Ranpos arroganter Rede knirschte Chuuya immer stärker mit den Zähnen und platzte beinahe, als Dazai auf das Stichwort des Meisterdetektivs ihn auch noch festzuhalten begann. Da Murasaki Ranpos Vorschlag bekräftigte, waren die Wachen geschwind überzeugt und zogen mit ihren Gefangenen von dannen, während die Zeitreisenden und die Hofdamen auf dem Gelände des Anwesens zurückblieben.

Sei stand an dem Abhang, den Wells hinabgestürzt war und beobachtete, wie Kunikida sich vorsichtig dort hinuntertastete, um nach dem Briten zu sehen. Wenn dem Chaoten etwas zugestoßen war, dann steckten sie noch tiefer in der Klemme, als sie es sowieso schon taten. Im schlimmsten Fall würden sie auf ewig hier …. Kunikida stockte. Nein, das durfte er erst gar nicht denken. Behutsam machte er einen kleinen Schritt vor den nächsten, damit er nicht auch noch den Hang herunterrutschte. Die Nacht neigte sich langsam dem Ende zu, doch noch war alles in Dunkelheit gehüllt und er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Umso mehr erschrak er, als plötzlich eine Hand nach ihm griff und ihn an seinem Gewand packte. Ein gellendes Kreischen entwich seinem Mund, auf das jemand mit einem ebenso schrillen Schreien reagierte.

„Herr Wells?“, fragte Kunikida, nachdem er sich gesammelt hatte.

„Herr Kunikida?“, antwortete der Brite außer Atem.

Kunikida stöhnte und zog den anderen Mann auf seinem Weg zurück nach oben mit. Sei applaudierte freudestrahlend, als die beiden Männer wieder bei ihr angelangt waren. Wells hatte ein paar Kratzer und Schrammen davon getragen, aber im Großen und Ganzen schien er nicht sehr verletzt zu sein. Die Hofdame half Kunikida, den Briten abzustützen und zu dem Rest der Gruppe zu bringen.

„Hat einer von euch Detektiven gerade eben wie ein kleines Mädchen geschrien?“ Higuchi hob kritisch eine Augenbraue, als sie und Akutagawa aus ihrem Versteck hervorkamen und sich zu den anderen gesellten.

„Die Detektei ist und bleibt eine Lächerlichkeit.“ Akutagawa hustete – noch viel schlimmer als sonst, weil der penetrante Weihrauchgestank seines Mantels ihm nicht gerade gut tat. In der Zwischenzeit hatte Dazai den wild strampelnden Chuuya losgelassen und stattdessen Atsushi vom Boden aufgeholfen.

„Geht es Ihnen gut, Herr Wells?“, fragte der Junge besorgt, als er bemerkte, wie Wells fassungslos auf das halb eingefallene Gebäude blickte.

„Mir ist nichts weiter passiert, danke, Junge. Der Blitz hat mich nicht voll erwischt. Aber hatte ich nicht gesagt, dass ihr nichts mehr kaputt machen sollt?!“

Akutagawa zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Dazai sagte, ich dürfte die Wand zerstören, wenn das Haus eh schon dabei ist, zusammenzufallen.“

Auf einmal wurde Wells noch etwas bleicher und fummelte hastig seine Armbanduhr aus seinem Oberteil. „Grundgütiger!!“, rief er so laut, dass alle zusammenschreckten. „55 Minuten!! Die Uhr steht bei 55 Minuten!! … Huh?“ Er stutzte plötzlich, kniff die Augen zusammen und hielt sich das Ziffernblatt direkt vor sein Gesicht. „Wie ist denn … das ist ja … sehr kurios … sehr kurios …“

Angstschweiß bildete sich auf Atsushis Stirn. Bestimmt war schon wieder irgendetwas geschehen, dass ihre Situation noch schlimmer machen würde. Es war kaum zu glauben, dass dies überhaupt noch möglich war!

„Oh Gott“, stöhnte Kunikida in das Gemurmel des Briten hinein. „Jetzt sagen Sie schon, was nun schon wieder ist! Ist die Uhr kaputt? Haben Sie vergessen, wie Ihre Fähigkeit funktioniert? Macht Ihre Fähigkeit vielleicht Urlaub?“

„Öhm, nein.“ Wells blickte verdattert zu ihnen und grinste plötzlich über das ganze Gesicht. „Der Blitz hat zwar mich nicht voll erwischt, aber meine Uhr hat genug Elektrizität abbekommen und ist nun wieder voll aufgeladen!“

Für einen langen Moment war nichts außer dem nächtlichen Grillenzirpen zu hören.

Dann fasste Dazai sich mit einer Hand an den Kopf und lachte gequält. „Der Mann macht sogar mich fertig.“

„Ist es möglich, die grimmigen Herren und die unziemliche Dame zuerst zurückzuschicken?“, fragte Sei aus dem Blauen heraus.

„Oh, dann hätten wir mehr Zeit uns zu verabschieden, nicht wahr?“, hakte Murasaki nach und Wells nickte enthusiastisch.

„Gerne, gerne! Bei voller Aufladung sind zwei Portale hintereinander kein Problem! Wenn Sie sich dort zusammenstellen würden ...“ Wells dirigierte mit seinen Händen Akutagawa, Chuuya und Higuchi, damit sie sich an einem Platz zusammen stellten. Widerwillig folgten sie seinen Anweisungen.

„Wenn Sie wieder Mist bauen“, brummte Akutagawa, „finde ich Sie, egal wo oder wann Sie sind und nehme Sie Stück für Stück auseinander, bis von Ihnen kein einziger Partikel mehr übrig ist.“

„Ich will einfach nur nach Hause!“, maulte Chuuya dazwischen. „Weg von diesen ganzen Verrückten!“

„Moment mal, was heißt hier unziemlich??“ Higuchi hatte gerade noch Gelegenheit, die Beleidigung zu verstehen, als die Luft um die Dreiergruppe herum zu surren und zu zischen anfing.

„Ich danke euch für eure Hilfe!“ Murasaki schickte noch ein Winken in ihre Richtung, bevor das Portal sich öffnete und die drei verschluckte.

„Ahh~“, machte Wells zufrieden, „ist das ein schönes Gefühl, wenn alles funktioniert.“

Atsushi warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Sind Sie absolut sicher, dass gerade alles funktioniert hat?“

„Na ja“, Wells kratzte sich am Kinn, „so ganz sicher kann man sich da nie sein. Aber fürs Erste bin ich schon zufrieden, dass ich wieder ein Portal öffnen konnte.“

Der junge Detektiv schluckte. Das stellte den Mann bereits zufrieden?? Daraus konnte man auf gar keinen Fall folgern, dass die drei Mitglieder der Hafen-Mafia wirklich wieder in der Gegenwart und in Yokohama gelandet waren! Das hieß auch für ihre eigene Rückreise nichts Gutes. Vor Atsushis innerem Auge spielte sich ein Film ab, in dem Kunikida von einem Tyrannosaurus Rex gejagt wurde.

„Nun“, Murasaki richtete ihren Blick auf die Detektive, „mir fehlen die Worte, um angemessen auszudrücken, wie dankbar ich für das bin, was Ihr getan habt. Ihr seid wahrlich besonders.“

„Jaha“, erwiderte Ranpo breit grinsend, „aber ich bin am besondersten.“

„Mancher hier ist eher sonderbar.“ Kunikida warf Dazai einen schiefen Blick zu, der darauf allerdings lediglich mit einem strahlenden Grinsen reagierte.

„Das Büro der bewaffneten Detektive hilft immer denjenigen, die in Not sind“, sagte Atsushi mit einer Mischung aus Freude und Erleichterung. „Außerdem hatten Sie noch etwas gut bei uns, weil Sie und Sei uns damals gerettet haben.“

Die warmherzig vorgetragenen Worte des Jungen zauberten ein sanftes und freudiges Lächeln auf Murasakis Gesicht. „Zu wissen, dass es Menschen wie euch geben wird, ist ein erhebendes Gefühl.“

„Das höre ich öfters.“ Trotz seines stolzen Tonfalls verschränkte Ranpo lässig die Hände hinter seinem Kopf. Wahrscheinlich hörte er so etwas tatsächlich öfters.

„Wirklich? Ich nie. Seltsam“, wandte Dazai ein und kassierte dafür eine weitere Belehrung von Kunikida.

„Das sollte dir endlich mal zu denken geben!“

„Ah, Ranpo“, sagte Sei plötzlich. „Da ist noch eine Sache, die ich dich fragen wollte.“

Der Angesprochene blinzelte sie aufmerksam an.

„Möchtest du nicht vielleicht hier bleiben?“

„W-was?“, entfuhr es Atsushi und Kunikida gleichzeitig.

Murasaki schüttelte missbilligend den Kopf. „Auf was für abwegige Gedanken kommst du denn nun?“

Die kritisierte Hofdame wehrte sich umgehend: „Nein, nein, es ist nicht abwegig! Ich habe Wells gefragt und er meinte, es würde kein Problem darstellen.“ Hoffnungsvoll schaute sie wieder zu Ranpo, der für seine Verhältnisse ungewohnt sprachlos aussah. „Es wird zwar schwierig, dir den gewünschten Zucker zu besorgen, aber amazura-Süßungsmittel sollte ich herbeischaffen können. So viel du möchtest! Natürlich hättest du auch meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Überlege mal, wie nützlich deine Fähigkeit in dieser Zeit sein würde. Wir könnten zusammen unzählige Fälle lösen, an denen sich sonst nicht einmal jemand versucht. Du würdest am Hofe bestimmt gehörig Eindruck ma-“

„Sei“, unterbrach Ranpo ihren Redeschwall ernst. „Tut mir leid, aber ich muss nach Hause zurück. Dort werde ich auch gebraucht. Sehr sogar.“

Atsushi wurde ganz bekümmert bei dem traurigen Anblick, den die Hofdame nun abgab. Ihre Miene enttäuscht zu nennen, war nicht einmal ansatzweise die richtige Umschreibung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Lippen, auf die sie sich selbst biss, zitterten.

Murasaki atmete hörbar aus. „Dummes Ding.“ Sie griff nach Seis Hand und drückte diese sanft. „Er kann doch nicht hier bleiben.“

„Ich hatte es bereits befürchtet“, entgegnete die andere Dame und unterdrückte ein Schluchzen. „Aber ...“ Sie zuckte mit den Achseln und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte dennoch fragen.“

„Ich für meinen Teil“, sprach Ranpo ernst weiter und für einen Moment bildete Atsushi sich ein, dass der Meisterdetektiv genauso betrübt aussah wie Sei, „bin sehr froh darüber, dass ich dich noch einmal wiedertreffen konnte.“ Er machte eine kurze Pause, nach der sein breites Lächeln auf sein Gesicht zurückkehrte. „Das war sogar schöner als sämtliche Süßigkeiten und Snacks der gesamten Welt durchzuprobieren!“

Ranpos aufrichtige Worte, gepaart mit seinem Lächeln zeigten als Aufmunterung sichtlich Wirkung. Der Blick der traurigen Dame weitete sich voller Erstaunen wieder, nachdem sie dies von ihm gehört hatte. Sei wischte sich die Tränen weg, die gedroht hatten, aus ihren Augen zu fallen, und nickte. „Das waren schönere Worte als jedes Gedicht, das ich je geschrieben bekam.“

„Nur um das gleich zu klären“, warf Kunikida in Richtung von Wells ein, „wir bitten darum, uns von zukünftigen Zeitreisen auszuschließen. Und Sie lassen am besten die Finger von Ihrer Fähigkeit.“

Wells räusperte sich verlegen. „Botschaft angekommen.“

„Ooooh, Kunikida“, jaulte Dazai. „Das war unsensibel von dir. Sei und Ranpo hatten gerade so einen schönen Moment.“

„Die Uhr tickt leider.“ Wells zeigte auf seine Armbanduhr. „Sie müssen los, sonst kommt es noch zu Komplikationen.“

„'Komplikationen' ist das letzte Wort, das ich aus Ihrem Mund hören will!“, polterte der Idealist weiter.

Das ist mehr als wahr, seufzte Atsushi innerlich, als es um ihn und die anderen drei herum zu surren und zu zischen begann.

„Ah, Herr Wells“, fiel es dem silberhaarigen Jungen noch ein, „denken Sie daran, die restlichen Kleider aus der Truhe an die Familien, denen wir die Kleidung gestohlen haben, zu verteilen?“

Während Wells nickte, blickte Kunikida verwundert Atsushi an. „Wann habt ihr das denn besprochen?“

„Als du Chuuya geholfen hast, Dazai in die Truhe zu stopfen.“

„Murasaki“, rief Dazai schnell noch aus, „Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie den Ärger wert sind!“

Die Dame antwortete gleichermaßen geschwind: „Vergesst Ihr bitte nicht, dass wir dies gemeinsam haben!“

Sei und Ranpo tauschten ein letztes, mit einem Hauch von Wehmut besetztes Lächeln aus, ehe nur noch die zwei Hofdamen und Wells auf dem Platz standen.

„Gehen wir nach Hause“, sagte Murasaki, drückte Seis Hand ein weiteres Mal und wandte ihren Blick von der aufgehenden Sonne ab, bevor sie sich mit den beiden anderen auf den Heimweg machte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und genau dieses Schindluder trieb Dazai mit dem Kanji. XD
Habt ihr auf „55 Minuten“ als Zeitangabe gewartet? Außerdem kam hier eine erneute Anspielung auf eine gewisse Filmreihe mit Zeitreise-Thematik vor. Es folgt noch der Epilog. Komplett anzeigen

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