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Stray Dogs Monogatari

von

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Der Dichtwettstreit

Kyoka sah ängstlich vor sich. Sie stand im Krankenzimmer und behielt Kenji fest im Blick. Mit schwerem Herzen ging sie zu dem Bett, in dem er lag und unruhig schlief. Es war offensichtlich, dass er selbst im Schlaf keine Ruhe vor seinen Schmerzen fand. In den wenigen wachen Momenten, die er in den letzten Stunden gehabt hatte, hatte Kenji sich an keinen der vier Zeitreisenden erinnern können. Zaghaft streckte Kyoka eine ihrer für sie ungewohnt großen Hände nach seinem Kopf aus. Sanft und behutsam strich sie über Kenjis schneeweiß gewordenes Haar, in der Hoffnung, dies könnte ihn ein wenig beruhigen. Sein Gesicht war fahl und von Falten durchfurcht und sein unregelmäßiger Atem rasselte bei jedem Atemzug. Wie alt mochte er inzwischen sein? Wie lange würde er noch durchhalten?

Kyoka kam sich schrecklich hilflos vor.

Ihr war es lieber, wenn Yosano bei ihm blieb, auch wenn selbst sie nicht viel für ihn tun konnte. Im Notfall, so war sich Kyoka sicher, würde Yosano aber schneller und besser reagieren können als sie. Kyoka riss sich von dem Anblick von Kenjis schwach und zerbrechlich gewordenem Körper los und ging wieder zu den anderen beiden verbliebenen Detektiven ins Büro. Schon im Flur hörte sie, dass die Diskussion, die bereits seit Stunden immer mal wieder auflebte, erneut im Gange war.

Mit wachsender Verzweiflung versuchte Yosano, den Chef daran zu erinnern, wer Ranpo war.

„Das ist doch nicht möglich, dass Sie Ranpo tatsächlich vergessen haben! Bitte, Chef, versuchen Sie, sich zu erinnern!“ Sie hatte ihm ausladend das Äußere des Meisterdetektivs geschildert, seine Verhaltensweisen, seine üblichen Gesten und Worte – ohne Erfolg.

Fukuzawa, im oberen Grundschulalter und in seinem übergroßen Kimono und Haori-Mantel fast verschwindend, hielt sich angestrengt seinen Kopf mit beiden Händen und blickte immer gepeinigter drein. „Ich versuche es ja! Aber ich kann mich nicht entsinnen, demjenigen, den du beschreibst, je begegnet zu sein.“

„Er war das erste Mitglied der Detektei, ohne ihn würde es das Büro der bewaffneten Detektive überhaupt nicht geben. Ein Teiletat des Büros geht sogar immer für seinen Süßigkeitenhunger drauf, vielleicht erinnern Sie sich wenigstens daran?“

„Süßigkeiten? Sagtest du nicht, er sei 26?“

Die Ärztin stöhnte entnervt. „Das hat keinen Sinn.“ Sie stand wieder von ihrem Platz auf, wo sie sich, zunächst geschockt, dann immer mehr verzweifelnd, niedergelassen hatte. „Erinnern Sie sich denn noch an Kunikida?“

„An wen?“

Inzwischen konnte Yosano nichts mehr schocken. Als hätte sie diese Antwort erwartet, schüttelte sie lediglich den Kopf.

„Dazai?“

Zwei große, ernste Augen blinzelten sie verständnislos an.

„Atsushi?“

„Gehören die etwa alle zur Detektei?“ Fukuzawa wandte verstört seinen Blick ab. „Wenn das meine Leute sind … wie konnte ich sie dann vergessen?“

Der Anblick des so tieftraurigen Chefs schnürte Kyoka regelrecht den Hals zu. Sehr wahrscheinlich lag es an seinem jetzigen Aussehen, aber Fukuzawa wirkte, als würde er gleich anfangen zu weinen.

„Es ist nicht Ihre Schuld, Chef.“ Yosano hatte auf dem Weg zum Krankenzimmer noch einmal gestoppt und sich dem erschütterten Jungen wieder zugedreht. „Ich weiß, dass Sie keinen von uns je vergessen würden.“ Sie lächelte betrübt. „Besonders nicht ihn, wo Sie ihn doch so sehr lieben.“

Fukuzawa konnte gerade einmal ihren Blick erwidern, bevor er erschrocken die Luft einzog. Auch Kyoka erschrak und von jetzt auf gleich breitete sich eine unbändige, nackte und kalte Angst in ihrem Innern aus.

Yosano war verschwunden.

 

„Wenn du dich umdrehst, Menschentiger, töte ich dich.“

Atsushi hielt fast den Atem an, als er seinen Blick schnurstracks gen Boden richtete. Warum musste ausgerechnet Akutagawa neben ihm sitzen? Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass sein Erzfeind ein Gesicht machte, als würde er ihm gleich den Kopf abbeißen wollen.

Alle Männer ihrer unfreiwilligen Reisegruppe saßen, den Rücken zum Inneren des Raumes gewandt, im Kreis auf dem Boden von Wells kleinem Haus und starrten die Wände an. In ihrer Mitte befanden sich Sei und Higuchi und Erstere werkelte gerade daran, Letztere „präsentabler“ zu machen. Sei hatte Fujitsubo um Hilfe gebeten, die daraufhin die gesamte riesige Truhe voller edler Gewänder aus dem Palast hatte bringen lassen. Die Kleider, die sich in der hölzernen Kiste befanden, waren allesamt mit duftendem Weihrauch eingeräuchert worden und Atsushis feine Nase protestierte beinahe bei einem so penetranten Geruch. Sei hingegen ging es sichtlich gegen den Strich, Fujitsubo um ihre Dienste zu bitten, doch für die Rettung Murasakis schluckte sie ihren verletzten Stolz hinunter. Fujitsubo hatte mit ihrer großen Beliebtheit bei wirklich jedem im Palast sogar einen Wagen samt Ochsengespann und Kutscher organisieren können, der ihnen nun zur Verfügung stand.

„Ich will mir sicher nicht Higuchi angucken“, gab Atsushi auf Akutagwas Drohung hin zurück.

„Hey!“, empörte sich die erwähnte Frau lautstark. „Willst du damit sagen, ich wäre nicht attraktiv, Menschentiger??“

„D-doch, natürlich-“, stammelte Atsushi perplex.

„Menschentiger, das ist meine letzte Warnung“, knurrte daraufhin wieder Akutagawa und Atsushi war nach Schreien zu Mute.

„Ich seh schon, ich seh schon“, meldete sich Dazai unverblümt zu Wort, „ihr braucht einen unbefangenen Dritten, der sich die Sache mal ansieh-“

„WAGE ES JA NICHT!!“ Kunikida und Chuuya brüllten ihn von beiden Seiten an und hielten seinen Kopf fest, damit er sich auf keinen Fall umdrehen konnte.

„Auauau, was habt ihr immer mit meinen Haaren? Ist das ein Fetisch?“

Kurze Zeit später gab Sei endlich ihr Okay und die Herren der Runde durften sich den Damen wieder zuwenden.

„Hi-higuchi?“, entfuhr es Chuuya atemlos, als er seine Untergebene betrachtete. Higuchi trug mehrere, farblich aufeinander abgestimmte Kimonos in den schönsten Pastelltönen, ihre Haare waren trotz ihrer kurzen Länge hochgesteckt und mit Haarnadeln und feinsten Stoffblüten geschmückt. Ihre Lippen leuchteten in einem edlen Rot – und wie sie von allen (inklusive Akutagawa) so angestarrt wurde – erröteten auch Higuchis Wangen und ließen sie noch hübscher aussehen.

„Leider habe ich nichts zum Zähneschwärzen da“, beklagte Sei, doch Dazai winkte ab.

„Bei manchen Schönheitsidealen ist es doch das Schönste, wenn sie sich überleben. Da fällt mir ein: Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal ernsthaft sage, aber … Higuchi, möchtest du mit mir Doppelsui-auuuuuuuuu!“

Zwei gleichzeitige Kopfnüsse ließen ihn verstummen.

„Dafür ist jetzt eindeutig keine Zeit!“ Kunikida räusperte sich und zwang sich, seinen Blick von Higuchi zu nehmen. „Wir müssen die letzten Vorbereitungen treffen und dann aufbrechen.“

Auch Chuuya räusperte sich und tat sein Bestes, um an Higuchi vorbeizusehen. „Mir passt diese Zusammenarbeit immer noch nicht, aber wenn uns nichts anderes übrig bleibt, dann lasst es uns wenigstens schnell hinter uns bringen!“

 

Außerhalb der alten Hauptstadt, oben auf dem Rand eines steilen Hügels und umgeben von viel Wald, lag das Anwesen des Fürsten Yugiri. Es war natürlich um einiges kleiner als der Kaiserpalast, doch war die Bauweise der Gebäude ähnlich und Atsushi konnte seine staunenden Augen kaum von den kunstvollen Dächern nehmen, auf deren Ziegeln die Sonne in der Abenddämmerung glitzerte. Von Sei hatten sie erfahren, dass Yugiris Vater ein hohes Tier am Hofe gewesen war und der Sohn nun aus diesem Wohlstand und Einfluss Nutzen zog und selber Ambitionen hatte, ein noch höheres Tier zu werden.

Durch das Eingangstor hatten sie es bereits geschafft. Ranpo hatte aus dem Inneren des Wagens beinahe losprusten müssen, als Kunikida ihren Tross bei den Wachen angemeldet hatte.

„Fürst Edogawa ersucht ein Treffen mit dem Fürsten“, hatte Kunikida schrecklich steif und förmlich und Blut und Wasser schwitzend von sich gegeben. „Er kommt mit einer Bitte und einem höchst … höchst en-entzückenden Geschenk.“

Atsushi lag es fern, Kunikidas Darbietung zu bewerten, denn er war froh, dass er nicht das Reden hatte übernehmen müssen. Da ansonsten momentan nur noch Akutagawa zu Fürst Edogawas Dienerschaft gehörte, war es unausweichlich gewesen, dass Kunikida das Sprechen übernahm. Es half auch nicht gerade, dass Akutagawa noch mürrischer guckte als er es sonst sowieso schon tat. Nicht nur, weil er Ranpos Diener spielen musste (und die Diener den ganzen Weg hier hoch neben dem Wagen hatten herlaufen müssen), sondern auch weil er auf Dazais Geheiß hin von ihm und Chuuya überredet worden war, seinen Mantel abzulegen. Der passte schließlich so gar nicht ins altertümliche Bild und außerdem mussten sie es um jeden Preis verhindern, dass Akutagawa ein weiteres Mal die Selbstbeherrschung verlor und irgendetwas zerstörte. Irgendwo zwischen Chuuyas „Es ist ein Befehl deines Vorgesetzten“ und Dazais „Tust du es für mich?“ hatte der dunkelhaarige Mafioso tatsächlich seinen Mantel ausgezogen.

Ranpo entstieg mit der gleichen Anmut, die er zuvor bereits an den Tag gelegt hatte, dem Wagen und hielt der verdatterten Higuchi sogar eine Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

„Ich lass mir doch nicht von einem der Detektive helfen“, zischte sie.

„Wir wollen mal nicht unsere Rolle vergessen, oder?“, entgegnete Ranpo schelmisch und Higuchi ergriff widerwillig und miesepetrig seine Hand.

„Habt Ihr noch Gepäck dabei?“, fragte einer der Wachen.

„Oh ja, das ist ebenso ein Geschenk für euren verehrten Herrn“, antwortete Ranpo überschwänglich. „Meine Diener können das hineintragen.“

Die Wachen nickten und die wenig begeisterten Diener machten sich ans Werk, die schwere Kleidertruhe aus dem Wagen zu hieven. Kunikida war sich sicher, sich schon mehrere Muskeln beim Einladen dieser Truhe gezerrt zu haben, sie nun wieder herauszunehmen und auch noch zu tragen, würde ihn wahrscheinlich umbringen. Und er wusste, dass dieser Umstand einem gerade das größte Vergnügen seines Lebens bescherte. So wie sein Leid ihm immer Vergnügen bereitete.

Fürst Edogawa wies den Kutscher an, zurückzufahren, was dieser sofort befolgte. Die Wachen übergaben daraufhin Ranpo und Higuchi, die sich ständig ins Gedächtnis rufen musste, sich verschämt einen Ärmel vors Gesicht zu halten, den Dienern Yugiris, welche die zwei und deren keuchende Bedienstete in ein Empfangszimmer geleiteten.

Es war unschwer zu erkennen, wer von den Anwesenden im Raum der Herr der Hauses war. Fürst Yugiri saß auf einem dunkelroten Brokatkissen und war in der Gesellschaft zweier Damen. Er war ein stattlicher Mann in seinen Dreißigern, mit längeren, dunkelblonden Haaren und einigen Grübchen im Gesicht, die ihn jünger und recht reizvoll aussehen ließen. Seine leuchtend roten und gelben Gewänder ähnelten in der Machart stark denen, die Ranpo gerade trug.

Yugiri blickte erstaunt auf, als die unerwarteten Gäste eintrafen. Seine Diener hatten die Besucher angekündigt und so musterte der Fürst den vorangehenden Ranpo erst einmal eindringlich, ehe sein Blick auf die hinter dem Meisterdetektiv stehende Higuchi fiel und die Muskeln um seinen Mund freudig zu zucken begannen.

„Fürst Edogawa, ja? Ihr wollt mich sprechen?“ Yugiri blieb auf seinem Kissen sitzen und machte eine Handbewegung, nach der einer seiner Diener umgehend ein weiteres edles Kissen gegenüber von Yugiri auf dem Boden platzierte. „Bitte, setzt Euch.“ Der Fürst deutete auf das Kissen und Ranpo machte es sich umgehend auf diesem bequem.

„Ähem ...“, keuchte Atsushi, immer noch dabei helfend, die schwere Truhe zu tragen. Er trug den vorderen Teil, Kunikida den hinteren und Akutagawa hielt die Mitte der riesigen hölzernen Kiste hoch. „M-mein Herr, verzeiht, aber ...“ Atsushis Blick ging nach hinten zu der Truhe.

„Hm?“ Ranpo legte den Kopf leicht schief. „Ach so. Lasst sie einfach hier herunter.“

„Vorsichtig“, zischte Akutagawa den beiden anderen zu, was Kunikida aber nur halbherzig befolgte und die Truhe eher unsanft zu Boden gleiten ließ. Für alle anderen Anwesenden musste es glatt so wirken, als hegte der große Blonde einen Groll gegen diese Kiste.

„Ich wundere mich“, sprach Yugiri überrascht und gleichzeitig interessiert, „was wohl ein mir vollkommen unbekannter Adliger aus dem Osten von mir will?“

Ranpos Augen glänzten spitzbübisch. „Ich will nicht lange drumherum reden: Ich trage mich mit dem Gedanken, am Hofe mitzumischen und bin daher auf der Suche nach jemandem mit politischem Einfluss.“

„Oh ho!“, rief Yugiri amüsiert aus. „Was für direkte Worte, welch schöne Abwechslung zu dem steifen Gehabe am Hofe. Daher will ich ebenso ehrlich mit Euch sein: Ihr wollt als jemand von außerhalb ein Amt bekleiden? Das ist ein schwieriges Unterfangen.“

„Nicht wenn man einen mächtigen Fürsprecher hat“, erwiderte Ranpo schlagfertig und ließ Yugiri erst stutzen und dann laut lachen.

„Ihr scheint Euch gut informiert zu haben, wenn Ihr mich als Euren Verbündeten auserkoren habt. Warum denkt Ihr, ich würde Euch helfen?“ Während er dies alles sagte, wanderten seine Augen immer wieder zu der immer noch im hinteren Teil des Raumes stehenden Higuchi.

Ranpo grinste noch eine Stufe verschmitzter. „Ihr habt mein Geschenk doch bereits bemerkt, oder etwa nicht?“

Atsushi, Akutagawa und Kunikida rückten ein Stück von Higuchi weg, die bei diesen Worten begann, eine (zum Glück nur für sie spürbare) Mordlust auszustrahlen.

„Ahh~“, machte Yugiri erfreut, „ich hatte es bereits gehofft. Eine Schönheit fürwahr. Wenn auch schon ein bisschen alt.“

„Hat der gerade 'alt' gesagt??“, knurrte Higuchi aufgebracht in ihren Ärmel hinein.

„Zum Ausgleich dafür“, sagte Ranpo unumwunden, „habe ich noch ein paar erlesene Gewänder mitgebracht.“

„Zum Ausgleich?!“ Higuchi biss ungesehen in den Stoff ihres Ärmels und ließ Atsushi milde in Panik geraten.

Hoffentlich geht das gut, dachte er zum wiederholten Male seit ihrer Ankunft in der Vergangenheit. Aber wer sonst hätte die Frau spielen sollen, mit der sie sich bei dem Fürsten anbiedern wollten? Yugiri kannte Sei von seinen Besuchen im Palast, sie kam deswegen nicht in Frage. Atsushi konnte sich nach wie vor nicht mit dem Gedanken anfreunden, Higuchi als „Geschenk“ anzubieten, selbst wenn das Mafiamitglied ihm nicht sympathisch war. Dieses Vorgehen war für ihn moralisch alles andere als in Ordnung, doch Ranpo hatte ihm erklärt, dass vor eintausend Jahren die Männer des Hochadels viele Ehefrauen gehabt hatten, weil sie damit ihren Wohlstand hatten zeigen wollen. Und genau aus diesem Grund boten sie diesem schmierigen Kerl jetzt Higuchi als weitere Nebenfrau an.

„Wie heißt du, schöne Frau?“, richtete sich Yugiri an Higuchi.

„Higu- ich meine, Ichiyo“, antwortete sie und versuchte, mit einem schlecht gespielten schüchternen Lachen ihren Lapsus zu überdecken.

„Ichiyo“, der Fürst lächelte sie an, „komm näher und setz dich zu uns.“

„Urgh“, entfuhr es Higuchi leise und aus nächster Nähe konnte man ihre Abneigung förmlich spüren.

„Higuchi“, raunte Akutagawa ihr für den Fürsten unhörbar zu, „enttäusche mich nicht.“

Eine plötzliche Röte stieg wieder in die Wangen der jungen Frau und wild entschlossen – und etwas unbeholfen in den mehrlagigen Kimonos – stapfte sie zu Yugiri und ließ sich bei ihm, Ranpo und den anderen Damen nieder. Zu ihrer rechten Seite saß eine junge, schwarzhaarige Frau ihres Alters, die sie kaum eines Blickes würdigte. Der blassblaue Kimono, den sie zuoberst trug, machte die Frau noch bleicher als sie es sowieso schon war. Zu Higuchis anderer Seite saß eine in Blutrot gekleidete Dame mit dunkelbraunen Haaren, die älter als sie war und eine Miene machte, als würde sie die Blondine gleich fressen wollen.

„Ah, ich hatte schon befürchtet, du wärst zu schüchtern.“ Yugiri lachte selbstgefällig. „Aber zum Glück scheinst du das nicht zu sein. Ein wenig Schüchternheit mag ich ja, doch wenn die Frauen zu schüchtern sind, sind sie doch recht langweilig, findet Ihr nicht, Fürst Edogawa?“

„Langeweile ist mir zuwider“, antwortete Ranpo, ohne tatsächlich auf die Frage zu antworten.

Yugiri schien über diese Reaktion mehr als erfreut zu sein. „Ihr seid ein kluger Zeitgenosse! Wir sollten uns bei einem Spiel besser kennen lernen, aber erst würde ich noch gerne einen Blick auf die mitgebrachten Gewänder werfe-“ Yugiri stockte, als Atsushi sich panisch auf die Truhe stürzte und auch die beiden anderen Diener unerklärlicherweise plötzlich erschrocken dreinblickten.

„Stimmt etwas nicht?“, hakte der Fürst verwundert nach.

„Nicht doch“, entgegnete Ranpo gelassen, „wenn Ihr einen Blick IN die Truhe werfen wollt, könnt Ihr das gerne tun. IN der Truhe herrscht wahrscheinlich durch unsere lange Reise nur etwas Durcheinander.“

„Das ist nicht weiter tragisch.“ Yugiri schüttelte den Kopf und wies einen seiner Diener an, den Deckel der Truhe anzuheben. Auf Ranpos subtiles Zeichen hin zog Atsushi sich von der Kiste zurück. Er, Kunikida und Akutagawa hielten den Atem an, als der Diener den massiven Deckel hochhob.

„Oh?“ Yugiri blinzelte, als er die geöffnete Truhe von seinem Platz aus betrachtete. „Das sieht wirklich chaotisch aus.“

Hastig schaute Atsushi in die Truhe hinein. Die unzähligen Kleider darin lagen kreuz und quer übereinander, als hätte jemand sie hastig dort hinein geschmissen oder darin gewühlt, aber ansonsten war nichts Besonderes zu sehen. Atsushi atmete hörbar aus.

„Bringt sie in das Zimmer unseres Gastes. Vielleicht ist irgendetwas dabei, mit dem ich ihre Laune heben kann“, befahl der Fürst und seine Diener schickten sich an, die Truhe wegtragen zu wollen. Sie ächzten, als sie sie hochhoben.

„Wie viel Kleidung ist denn da drin?“, stöhnte einer von ihnen. „Das muss ja schwerer Stoff sein.“ Unter den nervösen Blicken Atsushis und Kunikidas trugen sie die Kiste davon.

„Nun denn“, Yugiri klatschte in die Hände, „wir wollten gerade eine Partie kai-awase spielen. Vielleicht möchte Ichiyo gegen meine Besucherin Aoi antreten?“ Die Frau im blassblauen Kimono verzog das Gesicht, als sie „Besucherin“ genannt wurde. „Mir ist nicht mehr nach Spielen. Rokujo, tritt du bitte für mich an.“

Die Dame im blutroten Kimono nickte bedächtig und ihre Miene wurde sogar noch strenger. „Sehr gerne. Ich will nur hoffen, die Dame aus dem Osten ist mit dem Spiel vertraut. Mir ist es neu, dass man so weit weg vom Hofe sich gediegen zu amüsieren weiß.“ Ihr Tonfall war so abfällig, dass Higuchi sich zusammennehmen musste, um ihr nicht „Ich mach dich gleich mit meinen Fäusten vertraut!!“ entgegen zu schreien.

„Natürlich kenne ich das Spiel“, antwortete Higuchi so aufgesetzt freundlich und mit einem so forcierten Lächeln, dass es den Zeitreisenden einen Schauer über den Rücken jagte.

Rokujo breitete zwei Dutzend Muschelschalen auf dem Boden aus und Atsushi wunderte sich, dass Higuchi dieses Spiel kennen sollte. Er hatte keine Ahnung, was in aller Welt da vor sich gehen sollte – und wie es sich schnell herausstellte: Higuchi auch nicht.

Rokujo machte Punkt um Punkt und geizte nicht mit immer beißender werdender Häme gegenüber ihrer Mitspielerin, der von Runde zu Runde mehr Schweiß auf der Stirn stand.

„Mir scheint, ihr ist dieses Spiel doch nicht so vertraut“, äußerte Yugiri, sichtlich enttäuscht von der vermeintlich erschreckend niedrigen Intelligenz der Frau.

Higuchi verlor eine weitere Runde und endgültig die Nerven. „Verdammte Schei-“

„Ha ha!“, lachte Ranpo in ihren Kraftausdruck hinein und übertönte ihn so. „Es ist doch immer wieder dasselbe mit ihr. Sie tut so, als würde sie nicht wissen, dass man die Muschelhälften suchen muss, die zueinander passen, nur um die Gastgeber nicht zu verärgern, indem sie gewinnt.“

Higuchis Gesichtsausdruck in diesem Moment ließ sich mit nichts Geringerem als dem kleinen Wort „Aaah~“ beschreiben und auch bei Atsushi fiel der Groschen. Antikes Memory also.

Akutagawa und Kunikida waren in der Zwischenzeit damit beschäftigt, sich eine Hand gegen die Stirn zu schlagen.

So lange es nicht viel schlimmer als das wird, fallen wir immerhin nicht auf, dachte Letzterer, als eine weitere Frau den Raum betrat.

Sie hatte lange, wallende, schwarze Haare und trug zuoberst ein dunkelblaues Gewand, das mit Gold besetzt war. Ihre Mimik war ähnlich streng wie die Rokujos, doch kam bei ihr noch eine deutliche Bitterkeit hinzu.

„Jemandem absichtlich gewinnen zu lassen, spricht nicht für sie“, sagte sie mit spitzen Lippen. „Du kannst unmöglich Gefallen an so jemandem finden, oder Yugiri?“

„Kokiden, meine Liebste“, erwiderte der Fürst, „sicher hat Ichiyo andere Qualitäten, mit denen sie unser Haus bereichern könnte.“

Die hinzugekommene Frau schüttelte abwertend den Kopf. „Ich bin gelangweilt. Könnt ihr nicht etwas spielen, das mich unterhält?“

Erneut klatschte Yugiri in die Hände. „Wonach steht dir der Kopf, Liebste? Du hast immer so vorzügliche Ideen.“

Kokiden grübelte einen Augenblick lang, dann lächelte sie ein kaltes Lächeln. „Ein Dichtwettbewerb. Aber damit die Dame aus dem Osten sich nicht wieder verstellen muss, soll sie gegen jemanden von ihren Leuten antreten.“ Kokidens eisiger Blick wanderte zu den drei Dienern des Fürsten Edogawa. „Oh, der Junge mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck. Sei du ihr Mitspieler.“

Akutagawas Blick ging sofort zu Atsushi und Kunikida bereute, was er eben gedacht hatte. Atsushi selbst blinzelte ein paar Mal, bevor er langsam begriff und fragend auf sich zeigte.

„Wer soll sonst gemeint sein, Menschentiger?“, brummte Akutagawa und schubste ihn nach vorne zu der Gruppe der Sitzenden.

Vor Verlegenheit und Überforderung fast eingehend, sahen sich Higuchi und Atsushi mit großen Augen an. Keiner von beiden hatte auch nur den geringsten Schimmer, was sie nun tun sollten.

„Nur um uns den lokalen Gepflogenheiten anzupassen“, kam Ranpo ihnen zu Hilfe, „wird ein Thema vorgegeben, zu dem jeder dann abwechselnd einen Vers dichten muss oder steht den beiden die Themenwahl frei?“ Bei der erneut subtil vorgetragenen Erklärung atmeten beide Teilnehmer erleichtert auf.

Kokiden hob kritisch eine Augenbraue. „Ich will ein Thema vorgeben. Wie wäre es mit 'eine unerwünschte Nebenbuhlerin'?“

Das ist nicht so subtil, ging es Atsushi durch den Kopf. So langsam blickte er hier durch. Kokiden schien eine Ehefrau Yugiris zu sein; Rokujo vermutlich eben so, nur Aoi nicht, was dieser wiederum allerdings nicht gefiel, wenn man das Gesicht bedachte, das sie gemacht hatte, als sie „Besucherin“ genannt worden war. Es hatte den deutlichen Anschein, dass die Ehefrauen nicht noch weitere Frauen hier haben wollten.

„Wir warten“, sagte Kokiden hochmütig und schaute dabei Higuchi an.

„Häh?“, entfuhr es der Blondine, die sich daraufhin hastig räusperte. „Äh, ja, ähm …“

Oje, ob Higuchi einen Vers zustande kriegt? Atsushi schluckte. Ob ICH einen Vers zustande kriege??

„Mir zerreißt es das Herz“, trug Higuchi mit überraschend fester Stimme vor, „dass ich ihr, die meinem Liebsten zu nahe kommt, nicht das Herz herausreißen kann.“ Während sie abwartend zu Atsushi sah, wunderte dieser sich, wie ungeahnt poetisch ihre Zeilen waren – und doch ihrer dunklen Mafiaseele treu blieben.

„Äh“, stotterte er selbst, „vielleicht muss ich sie auch nicht gleich töten und es lässt sich mit ihr reden, dass sie ihn nicht weiter … äh, behelligt ...“

Im Hintergrund hörte Atsushi das Geräusch von zwei Händen, die von neuem gegen zwei Stirne geschlagen wurden.

Dichtet ihr doch mal aus dem Stand heraus!

„Was redest du da für einen Müll, Menschentiger?“, fauchte Higuchi leise in seine Richtung, bevor sie laut weiter dichtete: „Hell brennt nur das Feuer meiner Liebe für ihn, dessen schwarzes Haar nur meine zarten Hände berühren dürfen.“

Dessen schwarzes Haar …? Ging es noch eindeutiger?? Der junge Detektiv warf über seine Schulter einen Blick zurück auf Akutagawa, der ungerührt dreinblickte. Er hatte wahrscheinlich keine Ahnung ….

„Darum wünsche ich mir, dass sie jemand anderen findet“, fuhr Atsushi diplomatisch fort, „der ihre Liebe erwidert.“

„Ansonsten jage ich sie, wie ich einen Tiger jagen würde, der meinen Weg immer und immer wieder kreuzt“, schloss Higuchi bedrohlich.

Wäre dies ein Manga, dachte Ranpo angesichts der ausbleibenden Reaktionen, würde nun das lautmalerische Geräusch für Stille in Großbuchstaben über ihnen erscheinen.

„Das war … interessant“, sagte Yugiri schließlich perplex. „Wie anders die Gedichte aus dem Osten doch sind. Vielleicht bestreiten die nächste Runde zwei aus unseren Reihen, dann seht ihr die Unterschiede selbst.“

Erleichtert atmete Atsushi aus. Hoffentlich war seine öffentliche Erniedrigung hier nicht umsonst gewesen und es verschaffte ihm die nötige Zeit für den zweiten Teil ihres Plans.

Hoffentlich.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kokiden ist im „Genji Monogatari“ wie Fujitsubo eine Frau des Kaisers, wird aber nicht zur Kaiserin ernannt, was sie extrem stinkig macht – und den Prinzen Genji kann sie auch nicht leiden.
Entschuldigt bitte, dass ich mich beim Dichtwettstreit nicht an die damals üblichen Versmaße und Regeln halte, da es sonst komplizierter geworden wäre, Higuchi und Atsushi diesen Stuss fabrizieren zu lassen. XD Komplett anzeigen

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