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The Name of the Game

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Damit ihr nicht zu lange warten müsst, folgt hier zum weiteren „Anfüttern“ Kapitel1. So schnell konnte ich ja gar nicht schauen bzw. schlafen wie ein paar von euch diese FF gefunden und favorisiert hatten. Ich hoffe, sie wird euch gefallen.

Kurz etwas Formales: Die Kapitel folgen wie zuvor den tatsächlichen Tagen. Es werdend daher wenige, lange Kapitel werden. und je nach notwendigem Feinschliff kann es sich deshalb auch etwas ziehen, bis ein neues Kapitel kommt. Komplett anzeigen

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Der Kongress

Das Foyer war gefüllt mit Stimmengewirr und der freudigen bis bangen Erwartung, die einem Kongress vorausgeht. Würde man Neues lernen, seine Karriere vorantreiben oder zumindest gut essen können oder stellte er sich als komplette Zeitverschwendung heraus?

In Seto Kaibas Fall hatte sich die Stimmung von „vollkommene Zeitverschwendung“ vor wenigen Minuten auf „gegebenfalls lassen sich neue Kontakte knüpfen“ gehoben. Von seiner Position am Rand des Geschehens aus hatte er die Ankunft eines jungen, blonden Mannes bemerkt, der augenblicklich von einer Schar anderer junger Männer umringt war. Generell waren die meisten Anwesenden in ihren Zwanzigern und fast alle ausnahmslos männlich. Mokuba hatte bereits gewitzelt, dass doch so für ihn das Paradies aussehen müsste, als er ihn davon überzeugte, dass der Besuch eines ''Unternehmer Unter 30''-Kongresses sich für ihn lohnen könnte. Die Veranstaltung gab es wohl bereits einige Jahre, doch erst mit Mokubas Unterstützung hatte die Einladung den Weg auf seinen Schreibtisch gefunden und so recht wusste Seto immer noch nicht, was er hier sollte. Viele viele der Anwesenden hatten genau wie er selbst ihre jetzige Position quasi geerbt. Doch er hatte bereits deutlich früher angefangen zu arbeiten, während viele der anderen noch im Sandkasten spielten als er das erste Mal im größeren Umfang Personalverantwortung übernahm. Er hätte ein eigenes, tagesfüllendes Programm mit seiner Erfahrung und seinem Wissen bestreiten können, stattdessen würde er sich langweilige Vorträge unbekannter Redner anhören. Immerhin konnte er das hier Mokuba als Urlaub verkaufen und nächstes Jahr war er laut den Regeln des Kongresses bereits zu alt. Es würde also eine einmalige Sachen bleiben.

Genervt blickte er hinüber zu der Gruppe, die er die letzten Minuten bewusst ignoriert hatte. Dieses künstliche Gelächter war grauenvoll. Was waren das? Ernstzunehmende Geschäftsleute oder Teenie-Mädchen? Die wenigen Frauen waren allerdings in ruhige Gespräche vertieft oder sichtlich genervt von den ungläubigen bis lüsternen Blicken der anderen. Schnell fiel ihm auf, dass der Mittelpunkt der Gruppe keineswegs zu den Hyänen gehörte. Zwar hatte er wohl den Witz erzählt, jedoch lächelte er gerade einmal höflich. Kurz war sich Seto sicher, dass er in seine Richtung schaute. Aber der Moment war so schnell wieder vorbei, dass es auch Zufall hätte sein können.

„Mister Kaiba“, wurde er von der Seite angesprochen. „Was für eine freudige Überraschung Sie hier zu sehen. Wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ich bin meinem Vater erst vor drei Monaten nachgefolgt. Mein Name ist ... “ Ohne Interesse für mich. Ein Blick genügte für Seto um den Mittzwanziger mit erschreckend weit gelehrtem Sektglas als schmierig einzuordnen. Er konnte nur hoffen, ihn möglichst bald abzuwimmeln. Bis dahin müsste er wohl oder übel ein paar höfliche Floskeln tauschen müssen.

Eine Viertelstunde später half leider nur noch die Flucht und er entschuldigte sich höflichst in Richtung der Toilettenräume, um endlich seine Ruhe zu haben. Die Reihe der Pissoirs an der Wand war leer und so konnte er unbehelligt in einer Kabine verschwinden. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, einfach vorne am Waschbecken zu bleiben, doch kämen andere herein, könnte er dort maximal noch für die Zeit des Händewaschens verweilen. Also schloss er einfach die Tür hinter sich ohne Abzuschließen und hoffte, er würde eine Zeit lang allein bleiben. Die Position seines Gesprächspartners hatte es unmöglich gemacht nicht den blonden Mann anzusehen, was ihn ein paar Mal ablenkte. Wie schon an der Messe trug er einen Anzug mit Weste, hatte die Haare nach hinten frisiert und überstrahlte durch seine bloße Präsenz alle in seinem unmittelbaren Umfeld. Statt Sekt trank er Wein und sprach nicht laut genug, dass Seto es hätte verstehen können. Und er musste wichtig sein, denn gleich drei Typen der schmierigen Sorte hingen an ihm dran, neben ein paar wenigen, denen gegenüber er anscheinend echte Sympathie verspürte. Was nicht in das Bild passte, war die Information, dass er für Industrial Illusions arbeitete. Pegasus würde nie die Leitung seiner Firma abtreten. Oder war er gar ein Hochstapler, der mit einem gefälschten Ausweis auf der Messe unterwegs gewesen war, um die Vorteile des großen Namens auszunutzen. Aber was machte er dann hier?

Das Geräusch der Tür unterbrach seine Gedanken. Er spülte, wartete kurz und trat dann hinaus. Die beiden stehenden Männer zuckten bei seinem Anblick deutlich zusammen. Der dreckige Witz, den der eine gerade erzählte, war wohl anscheinend nicht für fremde Ohren bestimmt gewesen. Seto wusch sich die Hände und verließ den Raum. So konnte ihn seine drückende Blase vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal retten.

Leider sollte sich dieser Trick als notwendig herausstellen. Auch bedauerte er, dass es zu auffällig wäre, wenn er zu oft auf Toilette ginge. Die anderen Gäste würden sich bestimmt sonst etwas zusammenreimen. Seine einzige Hoffnung bestand darin, sich ebenfalls zu verabschieden, sobald sich die Reihen etwas lichteten. Sein Versuch in Hörweite des seltsamen Mannes zu kommen, scheiterte indes.
 

Einen Kater konnte man es beim besten Willen nicht nennen, was er beim Aufwachen spürte, aber sein Umgang mit Alkohol am Vorabend mit „Schönsaufen“ zu betiteln, traf es dafür umso mehr. Mit großen Mengen kalten Wassers in seinem Gesicht vertrieb er das widerliche Gefühl, bevor er kurz duschte, sich die Haare föhnte und anzog. Das Frühstück würde er ausfallen lassen, um noch etwas zu arbeiten.

Kurz vor neun sah er überrascht auf seine Uhr. Der Veranstalter hatte extra eine Anwendung entwickeln lassen, mit der die Teilnehmer ihren persönlichen Plan erstellen konnten und der sie zudem an bevorstehende Termine erinnerte. „9.00 Uhr KEYNOTE“, schrie ihm das kleine Display entgegen. Entsetzen packte ihn. Er war zu spät dran! Das Hotel war direkt mit dem Kongresszentrum verbunden, doch für den Weg würde er mindestens fünf Minuten brauchen, da er zunächst in den ersten Stock hinunter musste. Hektisch packte er Notebook und Aktenkoffer und stürmte los.

Ab der Fahrstuhltür im ersten Stock konnte er nur noch entschlossen schreiten. Schließlich war er der} Seto Kaiba und als solcher rannte er nicht. Zudem war ihm selbst vollkommen unklar, wieso er es als wichtig ansah, pünktlich zu erscheinen. Immerhin hatte er eine Firma zu leiten! So wie hundert Prozent der übrigen Teilnehmer auch.
 

Der Saal war bereits gut gefüllt und es war eher Zufall, dass er in den vorderen Reihen noch einen Platz bekam. Wie selbstverständlich setze er auf dem Stuhl am Gang. Jemand hatte wenigstens hier mitgedacht und die Reihen waren weit genug auseinander und garantierten eine gewisse Beinfreiheit. Nicht mitgedacht worden war bei der bescheuerten Regel, weder Speisen noch Getränke in diesem Raum zuzulassen. Denn so langsam merkte er die Abwesenheit von Koffein in seinen Adern.

Punkt 9 trat eine Frau auf die Bühne und die Gespräche verstummten. Seto glaubte ein paar unterdrückte Pfiffe und ungläubige Bemerkungen zu hören. Vielleicht war sie wirklich attraktiv, aber definitiv nicht sein Fall. Sie war groß und schlank, was der dunkelgrüne Hosenanzug dezent betonte. Doch weder die langen blonden Haare, noch die bernsteinfarbenen Augen zogen ihn wirklich in ihren Bann. „Guten Morgen und herzlich Willkommen zu unserem neunten “Unternehmer Unter 30“-Kongress. Die organisatorische Leitung hat mich wiederholt“, dieses Wort schien ihr eindeutig zu missfallen, „daraufhin gewiesen, dass ich seit Ende letzten Jahres gegen die von mir aufgestellten Regeln für die Teilnahme verstoße.“ Sie ließ diese Aussage kurz wirken und tatsächlich hörte Seto vereinzelt ein geflüstertes „Pegasus ist schon 30?“ und „Ich dachte, sie ist deutlich jünger als ihr Bruder“.

„Wie dem auch sei. Das bietet mir die Chance mich allein auf die Organisation im Hintergrund zu konzentrieren und das Rampenlicht einer jüngeren Generation zu überlassen. Chef, würdest du bitte den Kongress eröffnen?“ Sie blickte hinüber in den Zwischenraum aus dessen Schatten ein gut gelaunter, ebenfalls blonder Mann trat.

Seto wäre beinahe der Mund aufgeklappt. „Zumindest bleibt es in der Familie“, murmelte es in seinem direktem Umfeld. Hatte Maximilion Pegasus wirklich Familie? Er würde dem unbedingt nachgehen müssen, aber zunächst beschäftigten in andere Dinge. Wie konnte man in einem schwarzen Anzug so verboten gut aussehen? Wie der grüne Anzug sah auch dieses Exemplar nach einer Maßanfertigung aus, betonte die die sportlich schlanke Figur und ließ auch unter dem Stoff Vielversprechendes erahnen.

„Vielen Dank, Martine, für die einleitenden Worte. Auch wenn ich befürchte, dass die Fußstampfen, in die ich trete, größer sind als du es während der Vorbereitung hast klingen lassen. Auch ich möchte Sie herzlich Willkommen heißen und gleich in medias res gehen. Schließlich ist für uns alle Zeit Geld.“ Vereinzeltes Gelächter. „Glücklicherweise kann man aber auch mit Geld die Zeit sehr angenehm gestalten.“ Die Leinwand flackerte kurz und ein kitschiges Bild mit Sandstrand und Palmen erschien.„Wie einige von Ihnen sicherlich wissen, kann ich von mir selbst behaupten, dort zu arbeiten, wo andere Urlaub machen.“ Viele nickten. „Doch während Sie dort entspannt die Füße hochlegen können, gilt und galt es für mich fortwährend Entscheidungen zu treffen.“ Untermalt mit weiteren Bildern und Comiczeichnungen beschrieb der Redner wie er ein kleines, exklusives Hotel aufbaute. Nebenbei streifte er verschiedene Methoden der Entscheidungsfindung, Risikobewertung, die Suche nach geeigneten Bewerbern, wie wichtig es war, Aufgaben abzugeben, Kurz um, schnitt er alle Themen an, die jeden Anwesenden im eigenen Unternehmen umtrieben. Mit „ich hoffe, Sie werden das ein oder andere Thema in den nächsten Tagen hier vertiefen können. Und scheuen Sie sich nicht, mit ihren Gleichgesinnten auszutauschen. Luft nach oben ist immer - und manchmal erreicht man neue Höhen nur gemeinsam“, schloss er. Noch während der Applaus aufbrandete, verschwand er in den Schatten der Bühne und ließ ein begeistertes Publikum zurück.

„Ich wünschte, meine Profs hätten uns das damals so erklärt.“

„Das Hotel ist wirklich unglaublich!“

„Ja, man hat wirklich seine Ruhe dort.“

Seto bewegte sich an der Spitze des Stroms nach draußen. Er brauchte dringend Kaffee.

„Ich habe ihn zuvor noch nie gesehen.“

„Ich schon. Er ist Pegasus' Adoptivsohn.“

„In dieses Projekt wurde viel zu viel Geld hineingepumpt.“

„Aber so ist doch die ganze Familie.“

Es gab offensichtlich auch weniger begeisterte Besucher.

„Jeff? Ist das sein richtiger Name?“

„Nein. Aber“

Er wurde in den Vorraum gespült und steuerte direkt das Buffet an der gegenüberliegenden Wand an. In einen Keramikbecher füllte er den Rest von zwei Thermoskannen, stürzte den Kaffee hinunter und goss sich nach. Dann wanderte sein Blick zu den geplünderten Platten daneben. Dieser Schokomuffin sah genau nach dem aus, was er jetzt brauchte. Er stellte den Koffer ab und streckte die Hand danach aus. Doch jemand anderes kam ihm zuvor und statt des Muffins fasste er auf einen Handrücken.

„Verzeihung, aber das ist mein Muffin!“, beharrte Seto auf seinem Recht, während sein Blick den schwarzen Jackettärmel nach oben wanderte.

„Und ich würde behaupten, wir haben gewissermaßen beide anrecht auf ihn. Denn selbst, wenn Sie ihn zuerst gesehen haben, so war ich doch schneller“, entgegnete Setos Konkurrent mit einem charmanten Lächeln. „Daher schlage ich vor, das wir das ganz einfach schlichten. ... Am gerechtesten wird geteilt, wenn einer halbiert und der andere auswählt.“

Er nahm aus dem bereits leeren Brotkorb ein Messer, schnitt den Muffin in der Mitte durch und hielt Seto beide Hälften im Papierförmchen hin. Setos Puls raste. Nicht vor Wut wie er eigentlich erwartet hätte, sondern vor Aufregung. Das Objekt seiner Begierde sprach mit ihm und war ihm gegenüber angenehm unerschrocken.

„Ein salomonisches Urteil so früh am morgen?“, erwiderte er wie er hoffte sympathisch, nahm sich die einen Hauch größere Hälfte und biss hinein.

„Guten Appetit!“, wurde ihm daraufhin geantwortet und mit einer leichten Kopfbewegung vorgeschlagen, etwas zur Seite zu treten, um vom Rest der hungrigen Meute nicht überrannt zu werden. Wie selbstverständlich griff er dafür nach Setos Koffer und stellte ihn zwei Meter weiter direkt neben seinem Bein wieder ab. Für einen kurzen Moment waren sie sich so nah, dass Seto sein Aftershave riechen konnte, aber dann ging er wieder auf normale Gesprächsdistanz.

„Mhm, die Küche hat sich mal wieder selbst übertroffen!“, schwärmte der Blonde. wobei seine Gebäckhälfte in großen Bissen verschwand. Noch zögerte Seto. Allerdings wusste er, würde er jetzt nicht fragen, würde er sich nachher selbst verfluchen, sich eine solche Gelegenheit entgehen gelassen zu haben. Und ein Mann wie er ließ nur selten eine gute Gelegenheit aus. Also fragte er vor einem weiteren Bissen: „Wie heißen sie eigentlich?“

Für einen kurzen Moment wurde er überrascht angesehen, als ob das offensichtlich wäre, doch dann kam die schlichte Antwort: „Joseph Pegasus.“ Er könnte also tatsächlich zu Maximilion Pegasus Familie gehören.

„Sehr erfreut. Seto ... “ Erst jetzt fiel ihm auf, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte und noch beide Hände voll hatte. Schnell schob er sich das letzte, eigentlich zu große Stück Muffin in den Mund, streckte die Hand aus und vollendete den Satz nach kurzem Kauen mit „Kaiba.“

Mit einem freundlichen Grinsen ergriff der junge Pegasus sie. Sie war angenehm warm. „ Sehr erfreut. Auch wenn ich Sie schon erkannt habe. Ihre technischen Entwicklungen haben für das Spiel meines Adoptivvaters wahre Wunder bewirkt und das Interesse auch bei weniger fantasiebegabten Menschen geweckt.“

Das Kompliment ging Seto runter wie Öl und er traute sich etwas weiter vor. „Danke. Aber Duel Monsters ist ja auch ein fantastisches Spiel, Mr Pegasus. ... Joseph ... Hatte ihre Tante“, er sah ihn fragend an, bekam ein Nicken und fuhr fort, „Sie nicht vorhin Jeff genannt? “

„Naja, da fragen Sie am besten meinen Cousin. Er hat mitbekommen wie mich mein Vater nennt und hat das mit seinen zwei Jahren nicht so wirklich hinbekommen und irgendwie ist das dann hängen geblieben. Es ist übrigens Chef nicht Jeff. Wie in Chef de Cuisine.“

„Aber wäre Joe oder Joey nicht näher liegender gewesen?“, fragte Seto erstaunt.

„Das dürfen nur meine Freunde!“, kam die Anwort wie aus der Pistole geschossen. Zwar milderte Joseph den Eindruck mit einem Zwinkern etwas ab. Doch die Art der Betonung, die Wortwahl. Für einen kurzen Moment hatte Seto das Gefühl einem ganz anderen Joseph gegenüber zu stehen. Einem Joseph, den er nur ein einziges Mal im Anzug gesehen hatte - an dem Tag als er urplötzlich und mit ziemlich heftigen Worten aus seinem Leben verschwand. „Wobei ... selbst die nennen mich inzwischen eher Chef. Wenn er eines Tages alt genug ist, um es zu verstehen, muss ich wohl den Versuch starten mich zu revanchieren“, fuhr dieser Joseph fort. Seto wollte gerade etwas erwidern, wurde jedoch vom einstimmigen Summen der Smartphones unterbrochen.

„Ich muss leider weiter. War schön Sie - kennenzulernen.“

Joseph Pegasus schüttelte ihm erneut die Hand und bewegte sich dann in großen Schritten von ihm weg.

Verdutzt blieb Seto stehen. Nicht nur hatte sich sein heimlicher Tagestraum als kompetent und unglaublich charmant herausgestellt, nein, irgendetwas an ihm wirkte auch beunruhigend vertraut. Als ob er ihn eigentlich kennen müsste. Aber woher? Denn für ihn war es ausgeschlossen, dass es sich bei ihm um Joseph Wheeler handeln könnte. Es gab bestimmt viele Männer mit braunen Augen und blondem Haar. Die äußerliche Ähnlichkeit war bloßer Zufall.

Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass er sich erneut beeilen musste. Und so lief er mit Becher und Koffer in der Hand schon zum zweiten Mal an diesem Tag viel zu schnell den Gang hinunter.
 

Zwischen den ersten beiden Vorträgen konnte Seto glücklicherweise sitzen bleiben. Nach „das Vorzimmer im Griff“ zog er das Jackett aus und ließ es auf dem Stuhl zurück, während er mit dem Koffer nach draußen ging, um sich einen frischen Kaffee zu holen. Seltsamerweise durfte man nämlich den Becher doch mit hinein nehmen. Als nächstes stand „Bonjour! How do you do? “ auf dem Plan und er fragte sich allmählich zwei Dinge. Erstens wer hatte sich diese bescheuerten Namen ausgedacht? Zweitens wieso hatte er Mokuba fast freie Hand bei der Planung gelassen? Man hatte sich - wohl zur besseren Raumaufteilung - bereits vorab für die Vorträge eintragen müssen und Mokuba hatte für ihn einfach eine ganze Reihe Soft Skills ausgesucht. Zwar gab es auch ein paar handfestere Themen, aber man musste ihm wohl nicht mehr erklären, wie man seine Jahresbillanz aufstellte

Der Raum füllte sich wieder und die freien Plätze wurden von neuen Zuhörern eingenommen. Ganz in seiner Nähe hörte er jemanden sagen: „Mister Pegasus, ich bin freudig überrascht Sie hier zu sehen. Ich dachte Sie übernehmen nur die Leitung.“

Möglichst unauffällig drehte Seto den Kopf bis er aus den Augenwinkeln blondes Haar ausmachen konnte.

„Wenn es Sie glücklich macht, können Sie es als Qualitätskontrolle bezeichnen.“

War da etwas ein unterdrücktes Schnauben gewesen? So ganz konnte Seto es nicht glauben. Aber sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet.

„Sie schreiben tatsächlich von Hand?“

Dieses Mal war es überdeutlich, dass Joseph Pegasus von der Frage genervt war. Überaus freundlich antwortete er: „Das ist ein Tablet mit einem aktivem Stift. Dinge, die von Hand geschrieben werden, kann sich das Gehirn besser merken, als wenn man sie nur auf einer Tastatur tippen würde.“

Das betretene Schweigen daraufhin verbuchte Seto als klaren Punkt für den Blonden, auch wenn er selbst immer bestens mit auf dem Computer getippten Notizen zurecht gekommen war.

Der Referent betrat das kleine Podest und machte es für Seto notwendig, sich etwas zu drehen, sodass er nun tatsächlich auch Joseph im Blickfeld hatte. Die Situation hatte etwas seltsam vertrautes und er kam während der darauffolgenden Stunde einfach nicht darauf, wieso.

Einige schrieben eifrig jedes Wort mit, andere machten sich gar keine Notizen, Seto selbst tippte dann und wann etwas in sein Notebook, aber Joseph war mit einer Ernsthaftigkeit dabei, die überraschte. Er schien sich gezielt Notizen zu machen, markierte Querverbindungen und lauschte so aufmerksam, dass ihn vermutlich nicht einmal die Schulglocke aufgeschreckt hätte. Moment. Schulglocke? An was dachte Seto da schon wieder? Seine Schulzeit war seit neun Jahren vorbei und hier waren maximal die Timer der Handys ein Taktgeber. Aber ob der andere ein guter Schüler und zumindest später Student gewesen war? Hatte er eine normale Schule besucht oder vielleicht einen Privatlehrer gehabt? Wann genau hatte Pegasus ihn eigentlich adoptiert? Zu Zeiten des „Königreichs der Duellanten“ war von einem Sohn zumindest nichts zu sehen gewesen. Auf der anderen Seite hatte Seto bis vor wenigen Stunden auch nicht gewusst, dass sein Geschäftspartner eine Schwester hatte.

Mit zeremoniellen Worten und einer gekonnten Verbeugung wurde der Vortrag beendet und alle sprangen schnell auf, um schnellst möglich beim Mittagessen zu sein. Joseph hingegen blieb sitzen und so ließ sich Seto auch Zeit mit dem Zusammenpacken. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“, fragte der andere höflich und ging nach die wenigen Meter nach vorne.

„Selbstverständlich. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Einer meiner Köche stammt aus Deutschland und hat behauptet, dass es dort zum guten Ton gehört auf die Frage, wie es einem ginge, ehrlich zu antworten. Leider konnte ich das bisher nicht verifizieren. Wie sind Ihre Erfahrungen diesbezüglich?“

Der ebenfalls junge Mann bekam leuchtende Augen. „Oh, ja. Das ist ein weitverbreitetes Phänomen! Angeblich ist es zwar rückläufig, aber dennoch sehr erfrischend. Und so viel direkter! Man fühlt sich einem Menschen gleich ganz anders verbunden. Da kommt mehr Nähe auf als sogar bei dem Begrüßen mit Wangenküsschen bei den Franzosen! ... “

So ging es noch einige Minuten weiter und Seto konnte beim besten Willen nicht mehr so tun, als müsse er noch etwas einpacken. Daher schlenderte er in aller Gemütlichkeit zum Ausgang und wurde kaum einen Meter hinter der Tür eingeholt. „Warten Sie! Dann können wir gemeinsam ... “, ließ der junge Pegasus seinen Satz verklingen. Anscheinend war er sich nicht vollkommen sicher, was sie denn dann gemeinsam machen könnten. Doch er kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. „Vielen Dank! Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich vermutlich die gesamte Pause über gefachsimpelt und dann mit leerem Magen in den nächsten Vortrag gemusst.“

„Sie legen wohl ziemlichen Wert auf regelmäßige Mahlzeiten“, versuchte Seto ihn ein wenig zu necken. Doch er wurde überrascht: „Naja, weniger als die meisten glauben würden. Aber meine Köche achten relativ streng darauf, dass ich mich ausreichend und einigermaßen gesund ernähre, und nach einer Weile gewöhnt sich der Körper an so etwas. Und definitiv an die Qualität. Das macht mich manchmal zu einem wirklich schwierigen Gast. Ist das Ihr Telefon?“

In der Tat vibrierte Setos Smartphone unangenehm laut in seiner Jacketttasche. Er holte es hervor, blickte aufs Display und als er den Namen las, blieb im nichts anderes übrig als zu sagen: „Da muss ich leider ran gehen. Gehen Sie ruhig schon vor.“
 

Nach dem Telefonat war seine Laune sichtlich schlechter als zuvor. Es hatte über eine Viertelstunde gedauert dem Projektleiter die relevanten Details aus der Nase zu ziehen, ihn mit gefährlich ruhiger Stimme klar zu machen, was er persönlich davon hielt, dass ein einziger Bug in Code, der ungetestet in die aktuelle VR aufgenommen worden war, das gesamte System lahm gelegt hatte, und die notwendigen Schritte zum retten des Projektes zu zitieren. War er zuvor schon etwas spät dran gewesen zum Essen, so grenzte es jetzt bereits an ein Wunder, wenn er überhaupt noch etwas bekam. In zwanzig Minuten würde es weiter gehen und wie er beim Betreten des Foyers, in dem ein Mittagsbuffet aufgebaut worden war, feststellen musste, waren die anderen Teilnehmer mehr als hungrig gewesen. Griesgrämig ließ er sich Fisch mit etwas Reis und Gemüse in eine Schale füllen und suchte den Raum nach blonden Haaren oder jemandem, der ihn zu sich winken würde, ab. Ohne Erfolg steuerte er schließlich einen kleinen, leeren Stehtisch an und aß ohne wirklichen Appetit schnell seine Portion. Zwar wollte er es nicht zugeben, doch ein wenig war er doch enttäuscht, dass man nicht auf ihn gewartet hatte.
 

Um halb sechs endete der letzte Vortrag des Tages - etwas über den richtigen Umgang mit seinem Sekretariat - und entließ die Teilnehmer in den „Feierabend“. Ein paar von ihnen schienen das wortwörtlich zu nehmen und berieten sich bereits, wo sie zum feiern hingehen würden. Seto konnte nur hoffen, dass sie ihre Firmen mit der gleichen Begeisterung führten. Er selbst ging hinauf auf sein Zimmer, zog das Jackett aus, knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes auf und arbeitete die nächsten zwei Stunden das Dringendste ab. Das VR System lief wohl wieder und alle Terminanfragen waren auf die nächste Woche verschoben worden. Er streckte sich und sah auf die Uhr. Ein wenig würde er wohl noch raus gehen können. Mokuba hatte ihm eine Liste mit Ausgehmöglichkeiten zusammengestellt, damit er „nicht nur einsam auf seinem Zimmer sitzen“ würde, und eine der Bars war zu Fuß nur wenige Minuten entfernt. Wenn er dorthin ging und eine Stunde blieb, würde er nicht zu viel Zeit verlieren und müsste gleichzeitig Mokuba nicht anlügen.
 

Ein Kellner hatte gerade den bestellten Calvados vor ihm abgestellt, als sich zwei Stimmen aus dem allgemeinen Gewirr herauskristallisierten. „Ich habe dich noch gar nicht gefragt. Wie ist dein erster Tag als Schirmherr gelaufen?“, fragte die Frau. Ihre Stimme kam ihm bekannt vor, doch erst als ihr der Mann antwortete, konnte Seto sie als Martine Pegasus einordnen. „Besser als gedacht. Nur der Nachmittag war stressig. Ich habe drei Vorträge verpasst, weil so ein Idiot mir unbedingt sein traditionelles Rollenbild aufdrücken wollte.“

Deswegen hatte Seto ihn nicht mehr gesehen. Dabei hatte er extra nach ihm Ausschau gehalten, versucht immer einen Platz neben sich frei zu haben, den er anbieten konnte und ... Jetzt erst fiel ihm auf, wie lächerlich er sich eigentlich verhalten hatte. Seit wann hatte ein Seto Kaiba es denn notwendig, sich anzustrengen, um die Aufmerksamkeit anderer zu bekommen? Er trank den ersten großen Schluck und lauschte weiter. Anscheinend saßen sie in der Sitznische direkt hinter ihm und besprachen den Tag. Vermutlich hatten sie ihn noch nicht einmal gesehen, da zu der alten, wenn auch gepflegten Einrichtung aus dunklem Holz geschnitzte Paneele gehörten, die entlang der Wand kleinere Bereiche abtrennten. Der restliche Platz war durch Podeste und Treppen unterteilt, was einem Raum dieser Größe eine überraschende Behaglichkeit verlieh. Weiter als bis zur Analyse der Key Note und einem ersten Nippen an ihren Getränken, kamen sie allerdings nicht. Mit betont zerknirschtem Gesicht lief ein Mann an Seto vorbei und blieb vor ihrem Tisch stehen. „Es ist mir unglaublich peinlich, aber der Pianist, der für heute Abend gebucht war, hat gerade angerufen und hat wegen einer starken Erkältung abgesagt. Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass er doch auftreten könnte, aber er niest wohl so sehr, dass er die Tasten ständig verfehlt. Und da habe ich Madame unter den Gästen gesehen. ... Wären Sie bereit, zumindest für eine Weile etwas zu spielen? Sie haben selbstverständlich die freie Auswahl was.“

Seto konnte sich das verzagt hoffnungsvolle Gesicht regelrecht vorstellen, aber die gut gelaunte Antwort „Natürlich! Gerne! Chef, kannst du solange auf mich verzichten?“ überraschte ihn. „Als wenn dich das davon abhalten würde!“

Sie schwebte vorbei zum Flügel, der in der Mitte des Raumes stand und begann ohne große Geste einfach zu spielen. Fast ohne erkennbare Übergänge wechselte sie von Jazz zu Klassik zu moderneren Stücken. Währenddessen wurde die Bar voller und Seto hing seinen Gedanken nach. Oder zumindest versuchte er es, denn die Präsenz des anderen in seinem Rücken konnte er nicht vollständig ausblenden. Es lenkte ihn sogar so sehr ab, dass er selbst es gar nicht merkte, als er leise mitsang: „You've got your dumb friends. I know what they say. They tell you I'm difficult, but so are they. But they don't know me.“

„Guten Abend. Tut mir leid, dass ich Sie vorhin nicht gesehen habe.“

Seto konnte nicht verhindern, dass er erschrocken und ertappt zugleich zusammen fuhr. Joseph Pegasus linste zu ihm herein. „Ich wusste gar nicht, dass Avril Lavigne Ihren Geschmack trifft.“

„Mokuba, mein kleiner Bruder, hat ihre Musik eine zeitlang gehört. Da muss wohl was hängen geblieben sein.“, versuchte Seto die Situation zu retten, aber kaum hatte er den Mund zugemacht, wusste er, dass sich dadurch weitere Fragen ergaben. Wieso hatte Mokuba so laut Musik hören dürfen? Wieso hatte er dennoch mitgesungen? Wieso gerade bei dieser Textzeile? Um in der Gegenwart des anderen nicht schon wieder an Joey Wheeler denken zu müssen und die Situation in sichere Gefilde zu lenken, schob er rasch nach: „Ihre Tante spielt sehr gut Klavier.“

„Ja, nicht wahr? Sie hatte in ihrer Jugend allerdings auch genug Zeit um zu üben. Und ein bisschen überrascht es mich, dass sie ausgerechnet dieses Lied ... Verdammt!“

Seto folgte Josephs Blick und sah eine Gruppe von vier Männern an einem Tisch in Flügelnähe, die offensichtlich über etwas - oder jemanden - herzogen. Mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, winkte er den Mann herbei, der mit seiner ungewöhnliche Bitte zuvor zu ihnen gekommen war, und forderte:„Lassen Sie die Männer sofort entfernen, Mike! Im Notfall gehen ihre Getränke auf mich.“

Mike wurde augenblicklich blass um die Nasenspitze, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte besagte Gruppe an.

„Bekannte von Ihnen?“, fragte Seto innerlich zutiefst beeindruckt.

„Mehr oder weniger. Sie gehören zum Fanclub eines Arschlochs, das seine Freundinnen alle drei Monate wechselt und erst wieder etwas von der Mutter seiner Kinder wissen will, wenn er erfährt, dass sie in Wahrheit auf den Namen Pegasus hört.“

Die Erinnerung an einen kleinen weißblonden Jungen schoss Seto durch den Kopf und fügte dem Bild ein weiteres Puzzleteil hinzu. Vielleicht war es ja nur Josephs ... Cousin (?) gewesen. „Und wie sieht es bei Ihnen mit Nachwuchs aus?“

Der andere verschluckte sich heftig an seinem Rotwein und brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte, in der sich die Szene weiter vorne in lautstarken Protest verwandelte, der zwei breitschultrige Türsteher herbeirief. „Mir reicht es vollkommen, wenn Martines Kinder zweimal im Jahr das Hotel auf den Kopf stellen. Und bei Ihnen?“

War das der Moment, in dem Seto gestehen sollte, dass er schwul war? Und schließlich schloss das eine das andere längst nicht aus. Also wählte er einen diplomatischen Mittelweg und sagte: „Das Aufziehen meines kleinen Bruders hat mir für die nächsten Jahre gereicht.“

„Haustiere?“

„Nein. Nicht genug Zeit, mich um sie zu kümmern. “ Wobei so ein kleines Hündchen auf zwei Beinen ... Er zwang sich den Gedanken abzubrechen, bevor er zu plastische vor seinem inneren Auge wurde. Die Situation wurde bestimmt nicht dadurch besser, dass er ständig an einen anderen dachte. „Und Sie?“

„Leider nein. ich bin die letzten Jahre immer zu viel unterwegs gewesen und jetzt passiert es mir immer häufiger, dass ich den ganzen Tag im Büro sitzen muss. Mein Team könnte sich zwar mit um die Hunde kümmern. Aber irgendwie wäre es nicht dasselbe und ich hätte vermutlich ein schlechtes Gewissen.“

Einen Moment schwiegen beide, dann fragte Joseph: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie sich zu mir setzen? Dann müsste ich nicht den Kopf so verrenken.“ Beinahe hätte Seto zu schnell „Natürlich nicht!“ gesagt und sich damit verraten. Der andere wollte sich anscheinend weiter mit ihm unterhalten und ihn dabei sogar ansehen. Ein viel zu irrationaler Teil seiner selbst freute sich eindeutig zu sehr über eine solche Kleinigkeit. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang sich direkt neben ihn zu setzen und nahm stattdessen ihm gegenüber Platz, wo noch das Glas von Martine stand. „Ich rutsch rein, wenn sie wieder kommt.“ Insgeheim hoffte er darauf, dass es bald war, da er so einen Grund gehabt hätte auf der u-förmigen Bank nah genug an den anderen heranzurutschen, dass sich ihre Beine „zufällig“ berühren konnten. Doch sie schien sich erst warm gespielt zu haben und verlor sich gerade in einem Stück von Chopin.

„Was machen Sie sonst so in ihrer Freizeit?“

„Außer, dass es sie für mich eigentlich nicht gibt?“

Joseph wirkte für einen Moment überrascht, nickte dann aber.

„Ich lese gerne, versuche regelmäßig zu schwimmen und etwas mit Mokuba zu unternehmen. Der Rest besteht bei mir mehr oder minder immer aus Arbeit“, antwortete Seto.

„Und ich dachte schon, ich hätte kein Privatleben!“, schmunzelte Joseph und genehmigte sich einen großen Schluck Wein. Sein Blick glitt durch den Raum als suche er ein neues Thema über das sie reden könnten. Oder erwartete er, dass er nach seinem Privatleben gefragt wurde? Aber das war für Seto unbekanntes Terrain. Er war zwar gut im Smalltalk, doch in der Regel interessierte ihn das private Geblänkel herzlich wenig. Also fragte er erst gar nicht danach.

„Ich höre gerne klassische Musik“, fuhr der andere nach einer Weile immer noch in Gedanken und den Blick von seinem Gegenüber abgewandt fort. „Das erste Mal in der Oper war ich zwar erst, als ich während der Studiums in New York war, aber bereits davor konnte ich die Stücke den ganzen Tag hören - meistens zum Leidwesen meiner Mitbewohner und Kollegen. Nur leider haben meistens die Stücke mit der tragischsten Handlung die schönste Musik. Das habe ich allerdings erst gemerkt, als mein Italienisch besser wurde.“

Da war sie. Seine Chance auf Smalltalk. Also frage Seto:„Wie viel Sprachen sprechen Sie denn?“

„Fließend? Lassen Sie mich überlegen... Japanisch als Muttersprache, Englisch und Französisch in der Schule, Italienisch und Spanisch im Studium“,er zählte an einer Hand mit, „Das macht also fünf plus etwas Deutsch dank meines Kochs.“

Das beeindruckte Seto dann doch. Er selbst hatte es gerade einmal auf die ersten beiden geschafft. Dafür brillierte er in anderen Bereichen, versuchte sein Ego sich selbst zu trösten. Doch angesichts der Key Note ließ sich nicht von der Hand weisen, dass Joseph Pegasus sein Handwerk verstand.

Von da an plätscherte ihr Gespräch mehr oder minder fließend entlang der üblichen Smalltalkthemen vor sich hin. Hin und wieder enthielten die Äußerungen persönliche Informationen und Seto versuchte für spätere Recherchen alles im Kopf zu behalten. Joseph war in Japan geboren und aufgewachsen. Die Praxisphase seines Studiums hatte ihn dann in die USA geführt. Mindestens einer seiner Schulfreunde war fürs Studium sogar nach Europa gegangen und damit immer noch nicht fertig. Neben dem Hören klassischer Musik, las er wohl sehr gerne und schwamm ebenfalls. Den Versuch mit ihm über die Vorzüge verschiedener Schwimmstile zu fachsimpeln brach er zum Glück schnell ab. Denn Allgemein hatte Seto Schwierigkeiten mit dem breit gefächerten Allgemeinwissen seines Gegenübers mitzuhalten und mehr als einmal tat sich vor ihm plötzlich eine Wissenslücke auf. Und so nahm er das Erscheinen von Martine Pegasus als willkommenen Anlass, sich zu verabschieden, auch wenn er gerne noch länger geblieben wäre.
 

Den Blick starr auf die Decke gerichtet, dachte er nach. Es war nicht abzustreiten, dass Maximilion Pegasus einen außergewöhnlichen, jungen Mann gefunden hatte. Wie viel von dem, was er an diesem Tag hatte bestaunen können, bereits vorhanden gewesen war, war aber unsicher. Bei allen Schilderungen die mehr als sieben Jahre zurücklagen, hatte es so geklungen, als ob seine Lebensumstände völlig andere gewesen wären. Auch wenn er wohl schon damals sehr klug und an seiner Umwelt interessiert gewesen war.

Mit Entsetzen musste er auch feststellen, dass ihn seine Wissenslücken weniger nervös gemacht hatten, weil er nicht als unwissend dastehen wollte, sondern weil er befürchtet hatte, den anderen zu langweilen. Denn dieser hatte keinesfalls so gewirkt als wäre ihm der Klang der eigenen Stimme und ein an seinen Lippen hängender Zuhörer genug. Er hatte einen Dialog mit Seto über die Themen führen wollen, sie erörtern, diskutieren, von verschiedenen Seiten beleuchten ... über sie streiten?

Ungebeten schob seine Erinnerung einen schon etwas verstaubten Kasten mit Dias in sein Bewusstsein, öffnete ihn und präsentierte Momente mit einer anderen Person, mit der er so gerne gestritten hatte. Wheeler war mit seinem hitzigen Temperament ein so herrlich leichtes Opfer für seine Sticheleien gewesen und hatte dabei wohl nie gemerkt, dass es ihm dabei um so viel mehr ging. Er selbst hatte es ja erst bemerkt, als es längst zu spät war. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass er nach Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit in der Nähe bleiben würde, aber er und der Kindergarten hatten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut und keiner hatte ihm noch Auskunft über ihn geben können.

Lag es daran, dass er bei ihrer letzten Begegnung einen schwarzen Anzug getragen hatte, dass ihm jetzt ein anderer blonder Mann im schwarzen Anzug so gut gefiel? Und dazu noch der gleiche Vorname! Zwar hatte Seto ihn damals nie verwendet, aber es machte es ihm schwer, nicht nach weiteren Parallelen zwischen den beiden Männern zu suchen. Dabei waren sie doch so verschieden! Wo Wheeler hitzig, ungebildet und eine absolute Zumutung gewesen war, war Joseph Pegasus charmant, weltgewandt und so anziehend, dass Seto sich mehrmals innerlich zur Ordnung hatte rufen müssen.

Wenn er nur wüsste, wie viel davon erst durch Maximilion Pegasus entstanden war. Wenn er nur wüsste, ob er eine Chance hatte. Wenn er nur wüsste, ob Joseph Wheeler unter seiner Anleitung sich ähnlich hätte entwickeln können. Wenn er nur wüsste, wo er inzwischen war und was er machten. Wenn er nur wüsste, was er damals hätte anders machen müssen. Wenn er nur ...

Frustriert schrie er auf, die Hände zu Fäusten geballt und schlug auf die Matratze ein. Er musste endlich damit abschließen. Akzeptieren, dass er seinen größten Fehler nicht mit seiner Firma sondern in seinem Privatleben begangen hatte. Doch die Alternativszenarien schlichen sich immer wieder zurück und quälten seinen Verstand. Er wusste, dass man die Vergangenheit nur in der Zukunft verändern konnte, indem man aus Fehlern lernten. Und ein Aspekt von diesem speziellen Fehler war gewesen, dass er zu bequem gewesen war, von sich aus einen Schritt, der keinen Zweifel an seinen Absichten ließ, auf den anderen zu zumachen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Alistor
2020-05-24T19:35:57+00:00 24.05.2020 21:35
Oh wie spannend, sowas von cool.
Deine Story liest sich gut und leider viel zu schnell durch. Man merkt, dass du ein Fan von Pegasus bist. ;)
Ich freue mich sehr auf weitere Kapitel. Angefüttert bin ich jetzt. Mich hast du mit deiner Story schon gefesselt.
Lass dir die Zeit, die du für das nächste brauchst.
Auch wenn ich es eigentlich nicht erwarten kann


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