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The Name of the Game

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So.. es geht weiter. Viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen

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Zweiter Versuch

Obwohl er noch lange wach gelegen hatte, stand er wieder früh auf. Den restlichen Schlaf vertrieb er mit einer kalten Dusche aus seinem Körper und beruhigte damit auch den Teil seines Körpers, der schon viel zu wach war. Durch den unerwarteten Verlauf des vorherigen Abends war er sofort ins Bett gegangen, statt wie er es eigentlich vor gehabt hatte noch ein bisschen zu arbeiten. Das holte er jetzt nach.

Doch um halb neun packte er alles zusammen und begab sich hinüber in das Kongresszentrum. Zum einen brauchte er dringend wieder einen Kaffee, zum anderen hoffte er, jemand Bestimmten in der Menge über den Weg zu laufen. Sie hatten festgestellt, dass sie prinzipiell die gleichen Themen interessierten, aber Joseph Pegasus hatte sich partout nicht entlocken lassen, welche Vorträge er sich anhören würde. Für einen kurzen Moment hatte Seto mit dem Gedanken gespielt, den Veranstaltungsserver zu haken. Doch dann war ihm der Vorfall vom Nachmittag eingefallen und, dass er, selbst wenn er den Plan kannte, keine Gewissheit hatte, dass der andere tatsächlich auch dort auftauchte.

Um das Buffet herrschte bereits wieder großes Gedränge und Seto wappnete sich innerlich für ein energisches Vorgehen, als ihn eine Berührung an der Schulter herumfahren ließ. Die Hand, die ihn herumgeführt hatte, hielt einen der Keramikbecher und einen Schokomuffin. „Guten Morgen! Verzeihen Sie, dass ich ihnen nicht die Hand schüttle, aber wie Sie sehen, habe ich die Hände voll“, begrüßte ihn ein gut gelaunter blonder Mann und trieb Setos berüchtigte Schlagfertigkeit in die Flucht. „Das ist übrigens für Sie.“ Verdattert nahm Seto Getränk und Gebäck entgegen und biss auf den ersten Schock ein großes Stück von der Schokoladenglasur ab.

„Gern geschehen.“

„Danke.“

„Sie sollten nicht immer das Frühstück ausfallen lassen. Was soll da bloß Ihre bessere Hälfte dazu sagen, wenn Sie morgens völlig entkräftet sind?“

„Ich habe keine“, antwortete Seto zu seiner eigenen Verblüffung wahrheitsgetreu.

„Na, vielleicht ist auch das der Fehler?“

Joseph zwinkerte ihm zu und war, ehe er etwas Passendes erwidern konnte, in der Menge verschwunden, die sich allmählich in den Saal bewegte. Unter dem finsteren Blick des Sicherheitspersonals aß er den Muffin auf und suchte sich dann wieder einen Platz in den vorderen Reihen. Unauffällig sah er sich drinnen um, doch blonde Haare konnte er nirgends entdecken.
 

Nach dem für ihn wenig überzeugenden Vortrag zum Thema „Achtsamkeit“ - einige um ihn herum nahmen das Ganze sehr begeistert auf - durfte er sich noch einen Vortrag zu „Balance zwischen Arbeit und Familie“ anhören, von dem er stark vermutete, dass Mokuba ihn auf die Anmeldungsliste geschmuggelt hatte. Seto war sich zwar nicht sicher, ob es dabei nicht ebenfalls um Achtsamkeit ging, da ein paar Aspekte genau gleich klangen, aber im Großen und Ganzen hörte es sich machbar an. Für den Anfang sollte man festlegen wie viel Zeit man mit der Familie verbringen wollte und dann entsprechend Termine festlegen, in denen die Familie den Rang des wichtigsten Kunden inne hatte. Angeblich würden sich dadurch Rituale wie das des gemeinsamen Abendessens bilden und irgendwann verbrachte man automatisch ausreichend Zeit mit der Familie und ließe sich während dieser Phasen nicht von der Arbeit stören. Naja, immerhin frühstückten er und sein kleiner Bruder am Wochenende gemeinsam - wenn dieser denn vor Mittag aus den Federn kam. Häufig nutzte Seto die Stunden aber bereits für seine Arbeit. Der abschließende Rat „Und vergessen Sie nicht, Ihre Famlienmitglieder in die Termine miteinzubinden!“ könnte vielleicht etwas bewirken ...

Den leeren Kaffeebecher in der Hand verließ er den Saal, füllte sich nach und machte sich auf die Suche nach dem Raum, in dem der Vortrag zu „Entspannungsmethoden für Eilige“ gehalten werden sollte. Der Kurs war anscheinend weniger beliebt, denn er musste eine Weile gehen und der Flur blieb überraschend leer. Daher sah er auch schon von Weitem Martine Pegasus, die angeregt telefonierte und dabei etwas auf und ab ging.

„Mach dir keine Sorgen. Es geht ihm meiner Einschätzung nach gut. Chef und er haben sich den halben Abend lang unterhalten.“ Während sie weiter lauschte, hob sie plötzlich den Kopf und sah ihn direkt an. „Keine Ahnung. Aber ich sehe ihn gerade. Warte kurz“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. Sie streckte den Arm aus und versperrte ihm so den Weg. „Haben Sie schon Pläne für heute Abend?“

„Nein, aber ... “

„Prima. Dann seien Sie bitte heute um halb acht da. Die Suite im zehnten Stock“, erstickte sie seine Einwände im Keim. Auch hatte er keine Chance ihr eine adäquate Antwort zu geben, da in diesem Moment eine Nachricht mit dem Ton einer Alarmsirene auf ihrem Handy ankam und sie mit einer entschuldigenden Geste von dannen schritt. Er hörte nur noch wie sie sagte: „Mokuba, sei unbesorgt. Zumindest heute Abend wird er richtig essen!“

Verdutzt blickte er ihr nach. Was war das denn gewesen?

Er hatte noch genug Zeit und nutzte sie um sich innerlich wieder etwas zu sammeln. Aus Angst es könnte doch noch jemand anderes vorbeikommen, steuerte er die nächste Toilette an und verzog sich in die hinterste Kabine. Er stellte den Koffer ab, den Becher darauf und lehnte sich gegen die gekachelte Wand.

Gut. Zunächst die Fakten. Er hatte für heute Abend, 19:30 Uhr eine Essensverabredung mit der Schwester seines wichtigsten Geschäftspartners, von der er bis vor einem Tag noch nicht einmal gewusst hatte. Diese Schwester kannte wiederum seinen kleinen Bruder. Und zwar so gut, dass er sich mit ihr wohl über sein Wohlbefinden und die von ihm so oft bemängelten Essensgewohnheiten unterhielt.

Jetzt die Fragen. Woher kannten sie sich? Er war sich bis dahin sicher gewesen Mokubas Freundeskreis, wenn auch nicht persönlich, aber wenigstens dem Namen nach zu kennen. Der Name Martine war bisher nicht gefallen. Hieß das, dass es vielleicht eine Finte war, um ihn rumzukriegen? Sie hatte nicht den Eindruck auf ihn gemacht, eine Frau zu sein, die auf solch billige Tricks zurückgreifen musste. Gewissheit würde er wohl erst erlangen, wenn er mit seinem Bruder direkt sprach. Doch der Empfang in der Toilette war bestimmt zu schlecht. Außerdem bekam man nicht mit, wer vielleicht lauschte.

Mit Schwung öffnete er die Kabinentür und merkte seinerseits, dass er zu wenig auf die Umgebung geachtet hatte. Auf der äußeren Klinke lag ebenfalls eine Hand, der jetzt unweigerlich ein Körper folgen musste. Seto sah noch kurz schwarzen Stoff, bevor ihn etwas Warmes auf der Nasenspitze berührte. Die Berührung war sanft und hinterließ ein leichtes Prickeln. „Das hätte auch ins Auge gehen können“, stellte Chef verschmitzt fest und löste den Kontakt mit der rückwärtigen Wand, wo er sich abgestützt hatte, um nicht vollends mit ihm zu kollidieren. Oder auf die Lippen, erlaubte sich Seto für einen kurzen, schwachen Moment zu denken.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte die Kabine sei leer“, wich der Größere weiter zurück, um einen sozial verträglichen Abstand zwischen sich zu bringen. Seto hoffte stumm, dass weder sein Gesicht noch seine Stimme ihn verraten würden, als er entgegnete: „Mein Fehler. Ich hätte abschließen müssen. Ich geh dann mal.“

Er hielt kurz bei den Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, vermied dabei aber sorgsam den Blick zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Kurz musterte er sein Spiegelbild. Es wirkte wie immer. Also setzte er entschlossen seine Flucht fort. Zwar hatte er noch keine Erfahrung damit, aber den Darmaktivitäten eines anderen zu lauschen, fiel für ihn nicht in die Kategorie Romantik.
 

Als sich der kleine Raum allmählich füllte, glaubte Seto sich verirrt zu haben. Außer ihm gab es nur noch einen weiteren Mann und den Referenten, der viel zu heiter wirkte. Er stand vor einem kleinen, fast ausschließlich weiblichen Publikum und wirkte wie die Ruhe selbst. Seto konnte und wollte das nicht verstehen. Vielleicht war er auch einfach zu sehr von seinem so genannten „Fanclub“ aus kreischenden Furien - pardon - Frauen traumatisiert. Insgeheim beneidete er den Mann jetzt schon.

Nur mit einer kurzen Einführung darüber, dass man vor allem in stressigen Situationen die Entspannung nicht vergessen dürfe, startete er direkt in den Vortrag und erklärte ein paar effektive Methoden. Im Kern ginge es jedes Mal darum, die Energie, die der Körper entweder zum Kämpfen (sich dem Problem stellen und schwungvoll nach Lösungen suchen und sie auch gleich umsetzen) oder zum Fliehen (vor ebendiesen Problemen davonrennen) bereitstelle, nach getaner Arbeit wieder loszuwerden. Er könne nur Beispiele nennen und Tipps geben, aber die effektivste Methode müsse jeder für sich selbst finden.

Zu seinem Glück enthielt der Vortrag auch einen praktischen Teil. Normalerweise hätte Seto solche Spielereien gestört, doch so konnte er absolut unauffällig seinen Puls beruhigen, der jedes Mal nach oben schnellte, sobald sein Kopf sich ausmalte, was noch alles hätte passieren können. Gut, er hatte sich nicht vorgestellt, dass sein erster Kuss auf einer Toilette stattfinden würde, aber es gab bestimmt schlechtere Partner dafür. Wenn bloß nicht dieser verdammte Größenunterschied zwischen ihnen gewesen wäre! Auf der anderen Seite wusste er immer noch nicht, auf was Chef stand. Nach diesem Zusammenstoß erlaubte er sich immerhin ihn in Gedanken mit der Kurzform seines Namens zu bezeichnen.

Sobald er sich nicht mit etwas ablenken konnte, und sei es noch so kurz, fing seine Nasenspitze wieder an zu kribbeln und seine Mundwinkel zuckten gefährlich. Das war doch absolut entwürdigend! Er würde sich auf keinen Fall wie ein verknallter Teenager verhalten, der zufällig von seinem Schwarm berührt worden war. Aber wem machte er hier etwas vor? Wenn es um Liebesdinge ging, hatte er genauso viel, wenn nicht gar weniger Erfahrung als ein durchschnittlicher Teenager. Und das wurmte ihn seit er ein Alter erreicht hatte, in dem man selbstverständlich von einem gewissen Erfahrungsschatz ausging. Vor allem bei einem Seto Kaiba.

Die Wut, die er über diese Unzulänglichkeit empfand, wurde er erstaunlicherweise durch das kräftige Werfen eines weichen Balls gegen die Zimmerwand wieder los. So einen sollte er sich vielleicht für die Firma zulegen. Das empfahl ihm sogar der Referent begeistert.

„Möchten Sie vielleicht mit uns zum Mittagessen?“, fragte eine der Frauen, als sie alle Bälle, Gummibänder und Luftballons wieder einsammelten. „Dann müssten Sie nicht wieder alleine an einem Tisch stehen.“

War das Mitleid, was er aus ihrer Stimme heraushörte? Nicht dieses hämische Bedauern, mit dem er seine Umwelt bedachte, sondern ernsthaft besorgt.

„Nein, danke. Ich bin verabredet“, erwiderte er schnell, bevor ihm das Gefühl unheimlich werden konnte. Sie gingen dann trotzdem gemeinsam zurück, auch wenn er weder Teil noch Inhalt ihrer Gespräche war. Die Frauen sprachen über die alltäglichen Probleme in ihren mittelständischen Unternehmen oder warnten sich gegenseitig vor den Anmachsprüchen aufdringlicher Teilnehmer. Manchmal schien es als ob sie seine Meinung zu etwas erwarteten, ließen sich aber nicht davon bremsen, dass er stumm blieb und sprachen einfach weiter.

Nach der Essensausgabe trennten sie sich, wobei diesmal eine andere fragte, ob er sich ihnen nicht doch anschließen wolle. Doch Seto steuerte wieder einen kleinen Stehtisch an und wartete. Mehrere Herren der schleimigen Sorte visierten seinen Tisch an. Aber er blickte so eisig zurück, dass sie es selbst einsahen und ihn in Ruhe ließen. Schließlich hatte er weder die Lust sich mit ihnen zu beschäftigen, noch wollte er einen Platz, den er Chef anbieten konnte, an sie verlieren. Trotzdem er wurde bitter enttäuscht. Den ganzen Mittag und Nachmittag sah er kein einziges naturblondes Haar.
 

Um Punkt 19.25 Uhr fuhr er in den zehnten Stock. Unsicher ob der Natur dieses Essens hatte er seinen Anzug von der Kongresseröffnung wieder angezogen, die Schuhe poliert und die Krawatte besonders ordentlich gebunden. Überrascht stellte er fest, dass der Flur deutlich kürzer war als in seinem Stockwerk und es nur drei Türen gab. Auf der einen stand „Kein Zutritt!“, auf der anderen „Treppen“ und auf der letzten „Owner Suite“ . Bitte was?! Er hatte zwar erwartet, dass Martine Pegasus als Organisatorin sich nicht mit dem geräumigen Doppelzimmer, das er Zähne knirschend bezogen hatte, zufrieden geben würde, aber das war wohl der Gipfel der Dekadenz! Schnell musste er lernen, wie falsch er gelegen hatte.

Als er klopfte, öffnete ihm eine Frau in weitem Herrenhemd und Leggins, die das lange Haar zu einem Zopf geflochten trug. Das konnte er deswegen so gut erkennen, weil sie ihm direkt wieder den Rücken zuwandte. „Du bist spät dran, Jo! Mokubas Bruder müsste bald hier auftauchen.“

Seto interpretierte das als Einladung einzutreten und sah sich ausgiebig in dem großen Raum um, der mit seiner bodentiefen Glasfront die Stadt überblickte. Direkt neben der Tür war ein Bereich mit mehreren gemütlichen Sitzmöbeln. Dem gegenüber war ein großzügiger Essbereich mit Platz für acht Personen und an der Wand war eine kleine Küche eingebaut, wo Martine jetzt in den Töpfen rührte.

„Was ist? Beeil dich!“, fuhr sie herum und blinzelte überrascht. „Oh. Mit Ihnen hatte ich noch nicht gerechnet. Wie spät haben wir?“ Statt seine Antwort abzuwarten, sah sie selbst auf die Uhr an der Wand und schimpfte: „Ich habe ihm doch ausdrücklich gesagt, dass ... Aber das soll nicht Ihr Problem sein. Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich. Was möchten Sie trinken? Wasser? Wein? Saftschorle? Ich muss das Essen im Auge behalten, aber Sie machen es sich bitte gemütlich.“

Etwas überfordert mit ihrer Art, gehorchte Seto und setzte sich so, dass er ihr beim Kochen zusehen konnte. „Wasser reicht für den Anfang.“

Sie schenkte ihm aus einer Karaffe ein und reichte ihm das Glas. Nach einem ersten großen Schluck fragte er: „Wen erwarten Sie eigentlich noch?“

„Meinen Neffen natürlich.“

Es folgte eine Pause, in der sie mit dem Pfannenwender hantierte und sein Puls sich beschleunigte. Um sich davon abzulenken, fragte er als nächstes: „Und woher kennen Sie und Mokuba sich?“ Er nahm noch einen großen Schluck Wasser und verschluckte sich bei ihrer Antwort daran.

„Durch Sie.“

„Mich?“

„Ja, Sie hatten mich doch damals für seine Bewerbungsfotos angeheuert. Dafür wollte ich mich sowieso noch bei Ihnen bedanken. Mokuba hat im Anschluss so sehr die Werbetrommel für mich gerührt, dass ich mich als Fotografin in Domino City etablieren konnte.“

Allmählich ging Seto ein Licht auf. Von „der Fotografin“ sprach Mokuba in der Tat häufiger. Bevor er aber darauf groß etwas erwidern konnte, wurde die Zimmertür erneut geöffnet. Der Mann in hautenger Laufkleidung ignorierte ihn völlig und legte Martine einen Arm um die Taille, während er sie auf die Wange küsste. „Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst! Seto Kaiba ist bereits hier! Und es ist unhöflich seine Gäste warten und das Essen verkochen zu lassen!“

Chef lugte vorsichtig über seine Schulter nach hinten. „Sorry, ich hatte unterschätzt wie lange ich für die neue Strecke brauche. Aber hattest du nicht gesagt, es käme der Bruder eines Freundes?“. flüsterte er gut vernehmbar ebenfalls in Englisch zurück.

„Ja, der Bruder meines besten Freundes. Also beeil dich! Die Nudeln sind schon im Wasser.“

Ohne weiteren Kommentar oder Seto gar zu begrüßen, durchquerte Chef den Raum, wobei er sich weiter auszog, und verschwand in dem Flur, der die gegenüber liegende Wand teilte. Für einen kurzen Moment hatte Seto einen guten Blick auf einen trainierten, nackten Rücken. Als er sich zurückdrehte, um zur Beruhigung einen sehr großen Schluck Wasser zu trinken - ein Tipp, den er aus dem Entspannungsvortrag mitgenommen hatte - blickte er unerwartet in ein Paar bernsteinfarbener Augen und all seine Hoffnungen und Fantasien verflüchtigten sich.

„Sie sehen so aus als wollten Sie fragen, weswegen er mein Neffe und nicht mein Mann ist.“

Seto brachte es nur fertig sie stumm anzustarren. Seit wann konnte man in seinem Gesicht sehen, was er dachte? Falls ja, ließ er eindeutig nach, und das beunruhigte ihn.

„Keine Angst! Ich kann Sie beruhigen. Ich bin lediglich der Blitzableiter für diese Flirtmaschine. Es sind einfach zu viele gutaussehende Männer auf dem Kongress. Und manchmal sehnt er sich nach etwas Nähe und Häuslichkeit.“

Seto fiel es schwer, das zu glauben, bis sein Kopf die Aussage in ihrer vollen Bedeutung begriff. Nicht sie lief Gefahr bei der großen Auswahl an Männern schwach zu werden, sondern er, was er sich als Schirmherr der Veranstaltung natürlich nicht erlauben konnte. Aber das hieß auch, dass seine eigenen Chancen gerade nicht unerheblich gestiegen waren. Statt explizit danach zu fragen, trank er lieber noch einen Schluck und war froh, dass gerade die Nudeln Aufmerksamkeit brauchten. Während sie eine davon gekonnt aus dem Topf fischte, fiel ihm jedoch noch etwas anderes ein. „Die Beschriftung der Suite draußen... Wieso steht da Owner Suite?“

„Weil das hier nur die bescheidene kleine Unterkunft des Hotelbesitzers ist. Die eigentlichen Suiten sind deutlich größer und die hier oben wird nur im äußersten Notfall vergeben.“

„Ich dachte, Chef hätte nur das Hotel am Meer.“

„Als ob ihn das auslasten würde! Das Hotel hier betreut er schon seit dem Studium, auch wenn es einen anderen Manager hat. Sagen wir einfach, es liegt perfekt zwischen dem Hotel am Meer und unserem eigentlichen familiären Schwerpunkt. Und die Kongressräumlichkeiten sind ein gewisser Bonus.“

Martine goss die Nudeln ab, mischte sie mit dem Inhalt der großen Pfanne und begann sie auf drei Teller zu verteilen. Dann stellte sie je einen davon auf die drei eingedeckten Plätze am Kopfende, wo bereits Seto saß. Es folgte eine Dose mit gehobeltem Käse. Sie goss sich und auf dem leeren Platz Wein ein, fragte, ob er auch wollte, stellte die Flasche weg, ließ die Pfanne und andere Utensilien, die sie nicht mehr brauchte, in einem schmalen Geschirrspüler verschwinden. Anschließend setzte sie sich endlich über Eck neben ihn und blickte genervt auf die Uhr. Das hielt sie nicht einmal eine halbe Minute aus. Dann stand sie wieder auf und tippte auf eine Schaltfläche in der Wand ein. Zufrieden setzte sie sich wieder, während vertraute Gitarrenklänge den Raum füllten.

„Come as you are, as you were

As I want you to be

As a friend, as a friend

As an known enemy

Take your time, hurry up“

Doch schlagartig änderte sich das Lied.

„Come on over, come on over, baby

Hey, boy, don't you know

I got something going on

I got an inviatation

don't you keep me waiting all night long.“

Chef nahm nur bekleidet mit einer Anzughose Seto gegenüber Platz und grinste seine Tante breit an, die ihn kritisch musterte. Auch ihr Gast musterte ihn unauffällig, wobei sein Blick an dem schmalen Streifen dunkelblonden Haars oberhalb des Bundes etwas zu lange verweilte.

„Was hast du? Du wolltest, dass ich hier erscheine wie ich bin. Bitte sehr. Weiter kam ich noch nicht. Außerdem bist du auch ziemlich leger gekleidet!“ Gespielt kritisch musterte er den durchscheinenden Hemdstoff und die Anzahl der offen gelassenen Knöpfe. Dann fiel sein Blick auf Seto, der mit seinem formellen Anzug eindeutig overdressed war. Etwas verlegen, aber erpicht darauf, zu zeigen, dass auch er durchaus ansehnlich war, zog dieser das Jackett aus, legte es auf den leeren Stuhl neben sich, lockerte etwas die Krawatte und öffnete den obersten Knopf des schmal geschnittenen Hemdes.

„Können wir jetzt endlich essen?“, wollte Martine mit einem Augenrollen wissen. Ihr Neffe grinste sie an: „Natürlich, liebste Tante! Was hast du denn Leckeres ... “ Entgeistert starrte er auf seinen Teller. „Nudeln a la Julia? Du machst Nudeln a la Julia, wenn der wichtigste Geschäftspartner deines Bruders zum Essen kommt?“

Seto selbst nahm nun das Gericht genauer unter die Lupe. Der Pfanneninhalt entpuppte sich als Mischung aus grünen Oliven, Schinkenwürfeln, frischen Pilzen und ...

„Es ist sehr offensichtlich, dass du heute niemanden mehr küssen willst.“

... einer nicht unerheblichen Menge Knoblauch.

„Das bisschen Knoblauch muss die Liebe abkönnen“, erwiderte Martine zuckersüß und begann zu essen.

„Nur, weil du von meinem Koch flachgelegt wirst ...“

„Erstens legt er mich nicht flach. Hans kann sich durchaus benehmen. Und zweitens, wenn ich Küchenpersonal hätte, wäre es vor dir noch weniger sicher.“

Seto beschloss ebenfalls anzufangen, um nicht in die Schussbahn zu geraten. Wider Erwarten schmeckte es köstlich und selbst der Knoblauch war nicht zu dominant.

„Das sagt gerade die Richtige, mein Rapunzel!“

Aus den Augenwinkeln sah Seto Martines Mundwinkel gefährlich zucken. „Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit welchem Feuer ich spiele, mein lieber Kalaf. Und jetzt iss endlich, bevor es kalt wird!“

„Mit dem größten Vergnügen. Ich muss nur manchmal sicher gehen, dass du vor lauter Arbeit nicht vergisst ein Mensch zu sein“, grinste Chef breit zurück. So schnell wie sich die Spannung zwischen ihnen aufgebaut hatte, so schnell war sie auch schon verflogen und sie saßen beide entspannt am Tisch, aßen und tranken Wein.

„Apropos Arbeit. Wieso hatte ich bisher noch nicht das Vergnügen mit Ihnen?“, wollte Seto wissen, als er kaum noch etwas auf dem Teller hatte.

Statt ihr antwortete Chef mit einem weiteren Grinsen, das ihn erneut an jemand vollkommen anderen erinnerte: „Weil Ihre Zusammenarbeit mit meinem Vater einigermaßen harmonisch verläuft. Sie übernimmt so Fälle wie von Schroeder, nachdem er das Eröffnungsturnier von Kaibaland manipuliert hatte.“ Die erwartete Gehässigkeit in der Aussage fehlte. Es war eine bloße Feststellung.

„Spielen Sie selbst auch Duel Monsters und nehmen an Turnieren teil?“, fragte Seto weiter, da er ihn einmal zum Reden gebracht hatte. Er war am Nachmittag einer Eingebung gefolgt und hatte die Statistik der weltweiten Turniere überprüft, aber kein einziges Mal war dort ein anderer Eintrag mit dem Familiennamen Pegasus aufgetreten als die von Maximilion. „Oh nein. Nicht mehr. Das überlasse ich lieber Martine. Denn Ich habe meistens mehr Glück als Verstand gehabt. Aber ich habe mich zu einem ganz passablen Go-Spieler gemausert. Falls Sie nachher Lust auf eine Partie haben ... “

„Gerne.“ Seto wurde unter dem Blick des anderen unruhig, als ob dieser ihm zwischen den Zeilen etwas mitgeteilt hatte, und nun darauf wartete, dass er es verstand. Eine Ablenkung suchend, blickte er hinunter auf seinen leeren Teller.

„Tut mir leid. Ich kann Ihnen leider keinen Nachschlag anbieten. Die Einladung war spontan und ich hatte keine Zeit mehr weitere Zutaten einzukaufen“, deutete Martine sein Verhalten. „Aber wir haben noch Nachtisch im Kühlschrank.“

Unaufgefordert sammelte Chef die Teller ein und stellte sie in den Geschirrspüler. Dann ging er zum Kühlschrank, öffnete die Tür und fragte: „Ist das dein Handy, Martine?“ Das Gerät lag neben einer großen, mit etwas hellem gefüllten Glasschüssel und vibrierte. „Ja, es ist deins“, versicherte er sich mit einem genaueren Blick. „Und du hast anscheinend einen Shooting-Termin verpennt.“

Mit einem „Aber der ist doch erst morgen!“, sprang Martine auf, griff in den Kühlschrank und fluchte herzhaft. „Zum Glück sind deine Kinder gerade nicht in der Nähe. Maximilion hätte dich für die Ausdrucksweise sicherlich einen Kopf kürzer gemacht.“

„Hauptsache du hast deinen Spaß! Du verträgst dich mit Mokubas Bruder? Teilt den Nachtisch unter euch auf. Könnte spät werden.“

Sie wartete keine Antwort ab, sondern sprintete hinüber in den Flur, verschwand kurz in einem anderen Raum als zuvor ihr Neffe und kam in Jeans und Jacke und mit einer großen Kameratasche heraus. „Herr Kaiba, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Lassen Sie sich nicht alles von Jo gefallen. Wir sehen uns hoffentlich morgen noch einmal.“ Etwas verdutzt schüttelte er ihr die Hand, dann war sie auch schon verschwunden.

Mit einem tiefem Seufzer streckte sich Chef. „Dann kann ja jetzt endlich der gemütliche Teil des Abends beginnen. Nehmen Sie bitte die Schälchen und die Löffel mit?“ Er selbst trug die Glasschüssel zu dem niedrigen Tisch zwischen den Sitzmöbeln und ging zurück, um die Gläser und den Wein zu holen. Auch zog er sich zu Setos Enttäuschung ein Hemd über und knöpfte es zu, während er sich in einem der Sessel niederließ. Seto selbst nahm nach einigem Zögern auf dem Sofa direkt daneben Platz und blickte hinaus in die dunkle Winternacht.

„Möchten Sie auch noch?“ Chef hielt die Flasche hoch.

„Ja, bitte.“

Der Blonde goss ihnen beiden nach und schwenkte die rote Flüssigkeit in seinem Glas. „Wussten Sie, dass der Wein mich und Maximilion Pegasus erst zusammengebracht hat?“ Die Fragen war wohl rhetorisch gemeint, denn er sprach gleich weiter und Seto, erpicht auf mehr Details, wagte es nicht, ihn zu unterbrechen: „Es war während der ersten Praxisphase meines Studiums. Ich arbeitete in einem großen und noblem Hotel in New York an der Bar und er orderte einen Wein bei mir, während mein Kollege sich um die Schwangere kümmerte, die etwa zur gleichen Zeit an die Bar gekommen war. Später erfuhren wir, dass sie seine Schwester war. Für mich als Somelier war sie aber gänzlich uninteressant. Also kam ich mit dem einzigen anderen Gast ins Gespräch, der mir am Ende des Abends die Unterstützung bei meinem Traumprojekt zusicherte. Als die Zwillinge auf die Welt kamen, war ich irgendwie bereits ein fester Teil der Familie geworden. Wie dem auch sei. Was halten Sie von einer Partie Go? Ich weiß, es ist nicht ganz so wie Schach, aber das Prinzip, dass alle Steine gleich mächtig sind, hat mich irgendwie schon immer fasziniert.“

„Meinetwegen. Aber beantworten Sie mir vorher noch eine Frage“, stimmte Seto zu. „Ihre Tante hatte vorhin etwas erwähnt und ... Wie kommt es, dass Sie kein Paar geworden sind? Also Sie und Maximilion Pegasus, meine ich.“

Überrascht sah ihn Chef an und trank einen großen Schluck Wein, um seine Kehle zu befeuchten. „Weil immer zwei dazu gehören. Aber den Fehler, ihn für schwul zu halten, machen viele. Dabei ist er einfach nur exzentrisch und hängt nach wie vor an seiner verstorbenen Frau. Und ich kann Sie darüber hinaus beruhigen. Er ist nicht mein Typ. Ich stehe mehr auf blaue Augen. Am liebsten in Kombination mit dunkelbraunem Haar.“ Bei den letzten Worten beugte er sich so weit vor, dass sich ihre Lippen fast berührten, und blickte Seto tief in die Augen als suche er dort nach etwas.

Seto spürte zwar wie sich sein Puls erneut beschleunigte, aber er war nicht in der Lage sich zu bewegen. Der Beinahe-Kuss am Vormittag war Zufall gewesen. Doch das hier spielte in einer ganz anderen Liga. Joseph Pegasus hatte gerade zugegeben, dass er absolut in dessen Beuteschema passte. Er bot sich ihm gerade auf dem Präsentierteller an. Seto konnte nur raten, wie viel Erfahrung er hatte auf Grund dessen, was er zuvor im Gespräch mit seiner Tante gehört hatte. Aber er selbst? War er bereit dafür? Dass er es wollte, stand außer Fragen. Doch was wenn ... ?

Mit einem leichten Lächeln des Bedauerns zog sich Chef zurück, unterbrach ihren intensiven Blickkontakt, und wollte von ihm wissen: „Und was halten Sie jetzt von einer kleinen Partie?“

Von woher auch immer zauberte er ein Brett und zwei Goke mit Spielsteinen hervor. „Wenn Sie wollen können wir gerne eine Extra-Regel einführen. Wenn ich verliere, muss ich ein Kleidungsstück mehr anziehen. Wenn Sie verlieren, legen Sie eines ab. Aber wehe, Sie fassen mich mit Samthandschuhen an! So etwas merke ich sofort.“

In der Tat konnte Seto es sich nicht erlauben, auch nur einen Spielzug zu verschenken. Nach drei Partien auf dem etwas kleineren 13x13 Brett, trug er nur noch Hose und Hemd. Was die sichtbare Anzahl an Kleidungsstücken anbelangte, hatte Chef nach allen Regeln der Kunst für Gleichstand gesorgt. Schnell unterdrückte Seto den Gedanken daran, dass sein Kontrahent nichts unter der Hose tragen könnte, bevor er zu einem ernsthaften Problem heranwachsen konnte. Er war sowieso Welten davon entfernt diesbezüglich Genaueres zu erfahren. Zum einen hatte er drei Niederlagen in Folge einstecken müssen, zum anderen hatte Chef sämtliche Flirterei eingestellt, obwohl sie während des Spiels weitersprachen. Allmählich machte sich die Angst in ihm breit, sein vorheriges Verhalten könnte als Desinteresse fehlinterpretiert worden sein.

„Einigen wir uns angesichts unserer Kleidung auf unentschieden? Was halten Sie von etwas Nachtisch?“

Verblüfft nickte Seto einfach und nahm kurz darauf eine Schale mit gelblichem Inhalt entgegen. „Was ist das?“, wollte er wissen, während er in der Masse herumrührte und Stückchen darin fand.

„Vanillepudding mit Dosenananas. Leider hat frische Ananas zu viel Säure und die Milch flockt aus. Probieren Sie ruhig. Es ist nicht vergiftet!“ Wie zur Bestätigung seiner Worte begann er selbst zu essen und offensichtlich schmeckte es. Genüsslich verzog er das Gesicht und zog den Löffel erst wieder aus dem Mund, als er vollkommen sauber war. Dann nahm er sich wieder etwas und wiederholte die Prozedur.

Seto war so perplex, dass er völlig vergaß, ebenfalls zu probieren. Dieses Minenspiel. Diese Gestik. Er hatte diese Kombination bisher nur an einem Menschen gesehen - beim Verzehr eines Eisbechers mit Schokolade und Himmelblau und es hatte mal wieder mit einem Streit zwischen ihnen beiden geendet. Vermutlich hatte er zu viel Wein getrunken, denn er sagte einfach: „Wissen Sie, was merkwürdig ist? Sie erinnern mich die ganze Zeit schon an einen ehemaligen Mitschüler von mir. Aber das kann natürlich nicht sein.“

„Und wieso nicht?“, fragte der andere ruhig und sah ihm dabei gelassen und zugleich fest in die Augen. „Wieso kann das nicht sein?“

„Weil Sie zwei vollkommen verschiedene Menschen sind. Natürlich gibt es äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit, aber in Ihrem Verhalten sind Sie komplett verschieden. Selbst wenn man die gehobeneren Umgangsformen außer Acht lässt. Joey Wheeler hätte sich die Herren gestern Abend persönlich ohne großes Federlesen vorgeknöpft, hätte eine riesen Szene gemacht. Er hätte mir heute morgen keinen Kaffee in die Hand gedrückt und darauf geachtet, dass ich etwas esse. Er wäre heute Abend nicht Laufen gewesen, sondern auf der Couch. Er wäre eine halbe Stunde zu spät zum Essen erschienen. Er ... “

Er hatte seine Freunde immer beschützt. Er war immer aufmerksam gewesen, wenn es um anderen ging, selbst wenn ihm Details entfielen, machte das aber durch seine lebensfrohe Art wieder wett. Er war schon immer sportlich gewesen. Er hatte seinen zeitlichen Rahmen immer voll ausgeschöpft.

Entgeistert starrte Seto Kaiba Joseph Pegasus an.

„Für ein Genie hast du für diese Erkenntnis wirklich lange gebraucht, Kaiba.“
 

Es dauerte eine Weile, bis Seto seiner Stimme wieder soweit traute, dass er sprechen konnte. Das konnte einfach nicht sein! Joey Wheeler konnte sich nicht zu diesem unglaublichen, anbetungswürdigen Traum von einem Mann entwickelt haben! Allein, dass er ihn in Gedanken mit diesen Attributen bedachte, war nur schwer vorzustellen! Und dennoch war es so. Joey Wheeler saß ihm gelassen gegenüber und verputzte vergnügt Vanillepudding, während er selbst unfähig war sich überhaupt zu rühren.

„Wieso hast du nichts gesagt?“, krächzte er endlich.

„Du erinnerst dich an unsere letzte Begegnung in Domino?“

Er nickte. Wie könnte er diese Ansprache jemals vergessen.

„Dann muss ich das ja nicht weiter ausführen, oder?“

„Aber warum hast du mich nicht einfach ignoriert?“

„Hätte es etwas gebracht? Es ist außerdem spannend zu sehen, wie du Leute behandelst, die nicht ich sind.“

„Ja, aber du hättest nicht ...“ ...nett zu mir sein müssen. „Wieso sind wir hier?“, fuhr er stattdessen fort.

Chef legte fragend den Kopf schief. „Du fragst mich ernsthaft nach dem Sinn des Lebens?“

„Nein, ich meinte ... “

Das Lächeln auf den Lippen des anderen ließ Seto verstummen. „Ich weiß, wie du es gemeint hast. Und ich habe keine Antwort für dich, die dich auch nur annähernd befriedigen könnte. Denn ich weiß es selbst nicht. Noch Pudding?“

„Nein. Aber ... “

„Vergiss nicht zu atmen! Ich habe keine Lust bei dir Erste-Hilfe leisten zu müssen. Einatmen. Ausatmen. Frage stellen.“

„Was hat dich bewogen deine Seele an den Teufel zu verkaufen?“

Schallendes Gelächter. „Ausgerechnet du fragst das? Also ich würde behaupten, dass Maximilion in der Gesamtsumme besser wegkommt als Gozaburo. Klar, er hat seine Fehler gemacht, aber insgesamt hat er sich als ziemlich zuverlässiger Familienmensch herausgestellt. Martine wird dazu natürlich auch ihren Teil beigetragen haben. Aber ich hätte es wirklich schlechter treffen können. Du bist das beste Beispiel dafür. Hast du es überhaupt geschafft dir außerhalb der Arbeit ein Leben aufzubauen?“

„Ich sitze hier und nicht vor meinem Notebook, oder?“, brachte Seto zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Da wusste jemand wirklich, wo seine Schwachstellen waren. Und das nach all der Zeit.

„Touché.“

„Wie haben die restlichen Clowns darauf reagiert?“

„Meine Freunde haben es im Großen und Ganzen sehr positiv aufgenommen. Sie waren wohl ziemlich froh, dass ich nach dem Tod meines ... Naja, sie haben sich auf jeden Fall über den Familienzuwachs für mich gefreut.“ Verlegen strich sich Chef die Haare nach hinten und löffelte wieder Pudding. Hatte Seto das gerade richtig verstanden? Joeys Vater lebte nicht mehr?

„Wann?“

„Kurz nach dem Abschluss. Du erinnerst dich an den entgleisten Zug?“

Seto nickte und begann zu rechnen. Das Bergen des Körpers, das Ermitteln der Identität, das Abklären aller Formalien. die eigentliche Beerdigung. Schmerzhaft zog sich sein Magen zusammen. Er versuchte ihn mit einem großen Löffel Pudding zu beruhigen, doch das machte es nur noch schlimmer. Er hatte Joey am Tag der Beisetzung seines Vaters gesagt, dass seine Träume nie wahr werden würden. Und das hatte noch zu seinen netteren Kommentaren gezählt. Er hatte ihn mal wieder nur als seinen Blitzableiter missbraucht, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es ihm tatsächlich ging.

Er griff nach dem Weinglas und stürzte den gesamten Inhalt auf einmal runter. Das vertrieb zwar nicht seine Schuldgefühle, doch es hielt ihn von weiteren Dummheiten ab. Statt sich zu entschuldigen, wechselte er plump und offensichtlich das Thema: „Und was hat es mit Martine und deinem Küchenpersonal auf sich?“

Unfassbarerweise ging Chef darauf ein und erzählte ihm von dem Koch, den er in Italien gefunden und angeheuert hatte. Oder genauer, hatte Martine ihn entdeckt und so lange auf ihren Neffen eingeredet, bis er ihm die Stelle anbot. So weit, so harmlos. Wenn er sie nur nicht im letzten Sommer in der Küche gesehen hätte. „Am helllichten Tag kochten die beiden kaum bekleidet und küssten sich dabei so leidenschaftlich, dass selbst ich rot wurde! Als sie mich sahen, meinte Martine schlicht, einer müsse Hans ja an Shins freiem Tag helfen.“

Seto konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen bei so viel berechtigter Entrüstung. Außerdem war seine Neugier geweckt. Doch statt zu fragen, weshalb die Schamesröte so seltsam war oder umgekehrt Martines Küchenpersonal nicht sicher gewesen wäre, wollte er wissen: „Und wer ist Shin?“

Das war der andere Koch und gleichzeitig der Kollege, der bei dem alles besiegelnden Gespräch zwischen Chef und Pegasus Martine mit alkoholfreien Cocktails verwöhnt hatte. Neben ihm gehörte noch eine junge Frau zum Team, die das Essen zu den einzelnen Ferienhäusern brachte und ihn im Management vertrat, wenn nötig. Das Team war aber erst mit einem Iren, einem wahren Putzteufel, und einem ruhigen Kanadier komplett, der die Familie wohl schon länger kannte und zwei grüne Hände statt eines einzelnen Daumens hatte.

Gespannt hörte Seto zu und war erneut verblüfft, wie leicht ihm das fiel. Bei jedem anderen wäre er mehr als versucht gewesen, zu unterbrechen und mit seinem eigenen „Hofstaat“ aufzutrumpfen. Aber hier saß er still, lauschte und aß Pudding.

Von alleine brachte Chef das Gespräch anschließend auf die Orte, die er gesehen und bereist hatte. Wo möglich, brachte sich Seto mit seinen Erfahrungen ein. Es war erstaunlich, wie selbstverständlich sie sich unterhalten konnten, auch wenn er das Gefühl nicht los wurde, dass sie sich wie zwei rohe Eier behandelten, die jederzeit zerbrechen konnten. Selbstverständlich neckten sie sich gegenseitig, doch gingen sie nicht tief genug, um den anderen zu verletzen.

„Vermutlich hast du davon nur den Flughafen gesehen.“ - „Nein, ich habe es sogar bis zum Hotel geschafft!“

„Wusstest du denn wie man die isst?“ - „Bei der ersten nicht. Nachdem ich mein Hemd mit Fruchtsaft eingesaut hatte, erbarmte sich Maximilion und zeigte mir wie es geht. Die Zwillinge fanden es unglaublich lustig!“ - „Ich bezweifle, dass sie besser aussahen.“

„Du hast bestimmt mit deinen Anwälten gedroht, solltest du kein Extra-Handtuch bekommen.“ - „Für das, was meine Anwälte dafür in Rechnung gestellt hätten, hätte ich das Schwimmbad kaufen können.“

Irgendwann blickte Chef auf und sah auf die Wanduhr. „Martine müsste bald wieder kommen. Sie hat heute Nachmittag etwas davon gefaselt, dass sie mindestens sechs Stunden Schlaf am Stück bräuchte, um morgen durchzustehen. Und das wird allmählich schwierig“, stellte er trocken fest. Seto folgte seinem Blick. Es war nach Mitternacht.

„Dann sollte ich wohl jetzt auch gehen.“

„Brauchst du etwas Schönheitsschlaf?“

„Nein, aber meine Firma leitet sich nicht von allein. Wie du genau weißt.“

Chef grinste ihn an und begleitete ihn die wenigen Schritte zur Tür der Suite und öffnete sie für ihn. „Also dann, Kaiba. Da ich weiß, was sich gehört“, streckte er ihm die Hand entgegen. „Danke, im Namen der Familie Pegasus für diesen Abend und eine angenehme“

Seto hatte die Hand ergriffen und genutzt, um ihn näher zu sich heranzuziehen. Die andere legte er ihm in den Nacken, damit er den Kopf nicht wegziehen konnte, und küsste ihn.

„Nacht“, vollendete er den Satz, während er schon wieder losließ und schleunigst Richtung Treppe davon stürmte. Er wollte nicht sehen, wie der andere reagierte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hinter den Kulissen:
Detailberatung mit meiner besten Freundin: In der Szene (Chef setzt sich beim Abendessen) müsste man eigentlich bei Joey Haare in der unteren Hälfte des Bauches sehen.
Bei einzigem blonden Freund wegen der Haarfarbe nachgefragt. Aussage: Hmh, es kommt drauf an, worauf das Augenmerk liegt und was er über ihn denkt... Wenn sie später im Bett landen kann man es einbauen, wenn kein Interesse an ihm besteht, dann eher nicht

Ohne zu viel zu verraten, kann ich guten Gewissens sagen, dass diese FF nicht mal annähernd in die Nähe eines Adult-Ratings kommen wird. Süß wird es trotzdem... Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Alistor
2020-05-30T07:39:25+00:00 30.05.2020 09:39
Was schon zu Ende?
Ich muss sagen ich hab das Kapitel echt genossen
Ich mag deinen Schreibstil sehr
Daumen hoch 👍

Antwort von:  flower_in_sunlight
01.06.2020 15:32
Ja, aber ich kann dir versprechen, dass das nächste Kapitel länger wird. ;-)

Danke!
Antwort von:  Alistor
01.06.2020 17:12
Juhu
Da freue ich mich schon darauf


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