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Im Nebel

von

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Nebelschwaden


 

Für Kinder bot Lanchest nie sehr viel Abwechslung.

Im Winter fegte ein eiskalter Wind über den nahegelegenen See, ganz zu schweigen von den Massen an Schnee, die sich auftürmten und es dennoch schafften, rasch zu schwarzem Matsch zu werden. Dafür gab es im Frühling stets Pollenwarnungen aufgrund der umliegenden Wälder und Felder, was den Aufenthalt im Freien besonders für Personen mit Heuschnupfen schier unmöglich machte. In den Betonschluchten wurde es dann im Sommer derart heiß, dass es selbst in den versteckten Hinterhöfen geradezu unerträglich wurde. Und im Herbst hielten Regen und Nebel die Stadt und ihre Bewohner fest im Griff.

Joel mochte deswegen keine Jahreszeit, aber letztere war zumindest jene mit der er sich am meisten anfreunden konnte. Schließlich musste er nur an besonders schlimmen Regentagen zu Hause bleiben, um nicht krank zu werden. Sobald aber weiße Dunstschwaden die Straßen füllten, durfte er nach draußen gehen und zumindest den Versuch unternehmen, etwas zu spielen. Ein aussichtsloses Unterfangen, da er keine Freunde hatte, aber er liebte die Abwechslung, wenn er so lange nur im Haus und in der Schule gefangen gewesen war.

So durfte er auch an diesem Tag endlich nach draußen gehen.

Die Sicht war derart eingeschränkt, dass Joel kaum etwas sehen konnte. Da es anderen auch so gehen musste, fuhren entsprechend wenige Autos auf den Hinterstraßen durch die er lief und die er sonst nur durch sein Fenster beobachten konnte. Viel mehr Freiheiten gestattete seine Mutter ihm nicht.

Aber er war ja auch erst zehn und unvernünftig, vielleicht lag es also darin begründet.

Darum kümmerte Joel sich aber im Moment nicht, schließlich war er unterwegs, frei. Zu seinem Unglück entdeckte er allerdings niemanden sonst. Keine Erwachsenen, aber vor allem kein anderes Kind war auf den Straßen, was diese Freiheit äußerst langweilig gestaltete. Gut, die anderen hätten vermutlich ohnehin nicht mit ihm spielen wollen, aber sie zu beobachten genügte ihm meist. Besonders wenn er dabei selbst draußen war, konnte er sich immer so fühlen als sei er ein Teil des Spiels. Unter diesen Umständen war das aber nicht möglich, und das frustrierte ihn.

Schließlich hielt er inne und trat frustriert gegen eine Mauer. »Blöder Nebel! Warum ist der überhaupt da?«

Er erwartete keine Antwort, deswegen erschreckte er sich umso mehr als plötzlich eine Stimme erklang: »Weil die Luft zu feucht ist.«

Joel fuhr herum. Nur wenige Schritte entfernt entdeckte er einen anderen Jungen, etwa in seinem Alter, der ihm zuvor nicht aufgefallen war. Aber er war ihm auch noch nie irgendwo anders begegnet, zumindest hätte er sich an die rostroten Haare erinnert, so etwas sah er nicht häufig.

»Was?«, fragte Joel verwirrt.

»Du hast gefragt, warum der Nebel da ist«, erklärte der fremde Junge ihm. »Also habe ich dir gesagt, dass es daran liegt, dass die Luft zu feucht ist. Das Wasser kondensiert und bildet dabei die Tröpfchen, die durch Streuung des Lichts als Nebel sichtbar werden.«

Joel blickte zwischen dem Dunst – oder dem, was davon zu sehen war – und dem Jungen hin und her. »Woher weißt du sowas?«

»Aus dem Unterricht.«

Egal wie angestrengt Joel nachdachte, er konnte sich nicht erinnern, darüber etwas gelernt zu haben. Vielleicht war der andere ja doch älter. Oder er ging auf eine ganz andere Schule. Ja, das musste es sein, deswegen kannte er ihn auch nicht.

Während er noch in Gedanken versunken war, streckte sein Gegenüber die Hand aus. »Ich bin Raymond. Wie heißt du?«

Seine Mutter hatte ihm beigebracht, nicht mit fremden Männern zu sprechen. Aber das galt doch sicher nur für Erwachsene. Bei Kindern musste es etwas anderes sein, besonders wenn sie sich im Nebel begegneten.

»Ich heiße Joel«, sagte er daher und schüttelte Raymonds Hand. »Ich hab dich hier aber noch nie gesehen. Woher kommst du?«

Die Antwort bestand aus einem Deuten in irgendeine Richtung. Joel kannte nicht viel von der Stadt, deswegen wusste er auch nicht, welches Viertel sich dort befinden mochte.

»Eigentlich habe ich mich nur im Nebel verlaufen«, fügte Raymond noch hinzu. »Aber jetzt habe ich dich getroffen. Vielleicht war das ja sowas wie Schicksal

Diese Aussage kannte Joel lediglich aus Büchern und Filmen, vielleicht auch manchen Serien. In der Realität hatte er ihn noch nie gehört.

»Glaubst du denn an so etwas?«

Er selbst hatte über so etwas noch nie nachgedacht, vielleicht sollte er einmal damit anfangen.

Raymond lächelte unschuldig. »Eher nicht. Meine Eltern sind Wissenschaftler, die sagen, das gibt es nicht. Aber sie sagen auch immer, man soll an Dingen zweifeln. Also glaube ich vielleicht doch daran.«

Mit dieser für Joel verwirrenden Aussage begann ein Nachmittag, an dem er das erste Mal in seinem Leben einen Freund fand.

 

»Ich weiß nicht, was meine Eltern erforschen«, antwortete Raymond. »Irgendetwas sehr Kompliziertes, von dem sie mir nichts erzählen. Aber wir haben sogar ein Labor in unserem Keller.«

»Das ist cool~. Wie in einem Film.«

Irgendwo im Nebel waren die beiden auf einen verlassenen Spielplatz gestoßen. Gemeinsam saßen sie nun oben auf der metallenen Rutsche – die viel zu klamm war und rasch immer kühler wurde – und unterhielten sich. Inzwischen wusste Joel, dass Raymonds Familie reich war und in einem großen Anwesen wohnte, dass seine gesamte Familie in der Wissenschaft arbeitete und er Privatunterricht erhielt. Was sie aber gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass ihre Mütter sich so sehr um sie sorgten, dass sie kaum nach draußen durften.

»Heute hab ich mich weggeschlichen«, fügte er hinzu. »Das hat sie gar nicht bemerkt.«

Joel wusste, dass es eigentlich falsch war, aber dennoch war er froh, dass Raymond das getan hatte; nur so war ihnen dieses Treffen schließlich möglich geworden.

»Ist es nicht voll blöd, wenn du nie mit jemandem spielen kannst?«, fragte Joel.

Er kannte das bereits selbst, aber vielleicht war er der einzige, der mit sich nichts anzufangen wusste. Da er dieses Gespräch nie mit anderen führen konnte, war Raymond nun seine einzige Informationsquelle.

»Ich habe eine Zwillingsschwester und einen kleinen Bruder, mit denen kann ich spielen.«

Das klang beneidenswert. Selbst ohne Freunde konnte man auf diese Weise noch Spaß haben und etwas erleben, auch wenn man das eigene Grundstück nie verließ. Jedenfalls vermutete Joel ihm das gegenüber sofort. Doch er hob die Schultern und stieß ein Seufzen aus. »Aber manchmal ist das langweilig, deswegen wollte ich heute was anderes machen.«

Dennoch beneidete Joel ihn, schließlich bedeutete dies, er war nicht wirklich allein, im Gegensatz zu ihm, dem Einzelkind. Könnten sie unter solchen Umständen überhaupt Freunde werden? Zu dumm, dass er es nicht wusste.

»Was machen deine Eltern?«, fragte Raymond.

»Papa ist Lehrer, und Mama arbeitet nicht. Aber sie kann super-gut kochen.« Er liebte ihr Essen, genau wie ihren Duft und eigentlich so ziemlich alles an ihr – außer ihre übertriebene Fürsorglichkeit, die dafür verantwortlich war, dass er so gut wie nie nach draußen durfte. Auch wenn es bei diesem Wetter in der Stadt meist besser war, zu Hause zu bleiben. Oder?

»Du Glücklicher«, sagte Raymond seufzend. »Meine Mama kann nicht kochen. Sie kann nur forschen und schreiben.«

Als er das noch einmal erwähnte, fragte Joel sich, was sie wohl so eifrig erforschte. Aber er hatte bereits gesagt, dass er das nicht wusste, vielleicht war es also zu kompliziert für Kinder und er hätte es ohnehin nicht verstanden. »Und was macht dein Papa?«

Das regte Raymond mehr zum Sprechen an: »Er ist Arzt. Deswegen behandelt er ganz viele kranke Menschen, die bei ihm wieder gesund werden. Außerdem hat er die tollste Stimme aller Zeiten!«

Joels Augen weiteten sich. »Den muss ich mal kennenlernen.«

»Das wirst du auch.« Raymond wandte sich zur Seite, damit er mit einem einzigen Ruck direkt nach unten rutschen könnte. »Jetzt sind wir Freunde. Da lernt man irgendwann auch die Eltern des anderen kennen. So ist das doch, oder?«

»Ich hatte noch nie Freunde.« Das gegenüber anderen zuzugeben war irgendwie seltsam. »Ich weiß nur, wie es aus dem Fernsehen ist.«

»Und ich nur aus Büchern.«

Richtig, Raymond las sehr viel, das hatte er erzählt. Joel dagegen sah lieber Filme und Serien, natürlich die für sein Alter geeigneten, etwas anderes ließe seine Mutter aus Furcht vor Albträumen niemals zu. Er hoffte, dass er seinem neuen Freund so auf Dauer nicht doch noch zu langweilig oder dumm werden würde. Vielleicht sollte er auch versuchen, mehr zu lesen. Irgendetwas Gutes mussten Bücher ja haben, wenn so viele Leute sich damit beschäftigten.

»Dann bleiben wir ab sofort zusammen«, beschloss Raymond, als Joel zu lange schwieg. »So sind wir nicht mehr allein.«

Das klang zu schön, um wahr zu sein. Er fürchtete sich ein wenig davor, aufzuwachen und festzustellen, dass er das nur geträumt hatte. Selbst wenn ihn das am Ende noch mit neuem Selbstbewusstsein angefüllt haben sollte, um echte Freunde zu finden. Er wollte nicht auf diesen ersten Freund, ob echt oder nicht, verzichten.

»Au!« Raymonds Ausruf holte ihn in die Realität zurück.

Irritiert sah Joel ihn an, der andere rieb sich verwirrt den Arm. »Warum hast du mich gekniffen?«

»Habe ich das?«

Als Raymond nickte, kratzte Joel sich verlegen an der Wange. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, ob das alles nur ein Traum ist. Wahrscheinlich wollte ich nur sicherstellen, dass es keiner ist.«

»Oh, verstehe.« Damit kniff Raymond ihm ebenfalls in den Arm. »Ich gehe auch sicher.«

Es war nicht sehr schmerzhaft, aber Joel gab trotzdem ein »Au« von sich und rieb sich danach auch die Stelle.

»Dann dürften wir wohl festgestellt haben, dass wir beide nicht träumen.« Raymond lächelte zufrieden. »Ab sofort sollten wir solche Tests nicht mehr brauchen. Meinst du nicht?«

Das war damit auch das einzige Mal, dass sie in den kommenden Jahren ihrer Freundschaft einen solchen Test gebrauchen sollten.

 

Im Winter war es nicht mehr derart neblig in der Stadt. Normalerweise blieb Joel dann lieber im Warmen, denn ohne Freunde im Schnee zu spielen war kein Spaß. Doch in diesem Jahr gab es endlich Raymond, mit dem er sich treffen konnte; deswegen freute er sich, als er eines Morgens im Dezember aufwachte und feststellte, dass es geschneit hatte.

Inzwischen war er schon mehrmals bei Raymond gewesen, der wirklich in einem riesigen Anwesen lebte, und hatte dessen Familie kennengelernt. Dabei war er vor allem über seine Zwillingsschwester erstaunt gewesen. Ihr Haar war braun, nicht rot, deswegen hätte er nie gedacht, dass es sich bei ihr um die Schwester handelte. Sie war schüchtern und deswegen nie wirklich bereit, viel mit ihm zu sprechen, genau wie der kleine Bruder. Beide versteckten sich bevorzugt hinter den Beinen ihres Vaters, der so riesig war, dass Joel erst Angst verspürte, aber dann bemerkte, wie sanft der Mann eigentlich war und wie viel Ruhe er verströmte. Kein Wunder, dass sie ihm derart vertrauten.

So blieben er und Raymond stets unter sich, wenn sie auf dem Grundstück seiner Familie spielten, Schneemänner bauten, Schneeball-Schlachten veranstalteten oder einfach innerhalb des Hauses, umgeben von Wärme, Geheimnisse entdeckten.

Es war ein großartiger Winter, in dem Joel erstmals keine anderen Kinder beneiden musste.

Auch im Frühling erkundete er gemeinsam mit Raymond dessen Grundstück weiter. Es war von einer Mauer umgeben und schloss nicht nur viel freies Land ein, sondern auch ein Waldstück, in dem es sogar einen Bach gab. Eine kleine Schlange kämpfte sich darin durch die Wirrungen des Schlamms, auf der Oberfläche tanzten Insekten, die sich über die neue Wärme freuten. An einer langsam laufenden Stelle des Bachs entdeckten sie sogar nervös zappelnde Kaulquappen, die sich erstaunlich schnell umherbewegten, ohne sich von ihren Beobachtern stören zu lassen.

Gemeinsam bauten sie einen kleinen Damm, damit diese baldigen Frösche ungestört bleiben konnten. Als sie im Sommer dann wiederkehrten, waren die Kaulquappen inzwischen ausgewachsen und so kaum noch etwas von ihnen zu sehen. Lediglich einen konnten sie noch entdecken, und diesen mussten sie auch noch vor einem Graureiher retten, der leicht beleidigt abzog, nachdem sie ihm seine Mahlzeit streitig gemacht hatten. Anschließend gönnten sie sich kalte Limonade auf der Veranda hinter dem Haus. Von dort konnten sie auch Kolibris beobachten, die mit schnell schlagenden Flügeln an den für sie angebrachten Tränken Zuckerwasser aufnahmen, um dann sofort weiterzuziehen.

So verging ein Jahr, in dem Joel derart viele neue Seiten an den einzelnen Jahreszeiten entdeckte, dass er das Leben fortan mit anderen Augen sah.

 

Eine Nebelbank hatte ihm im letzten Herbst großes Glück gebracht, doch in diesem Jahr brachte sie schlechte Nachrichten mit sich. Statt zu Raymond zu gehen, besuchte dieser Joel an diesem trüben Tag bei ihm zu Hause. Er wirkte geknickt, wollte erst aber nicht über das reden, was ihn belastete.

Es dauerte eine Weile, verbunden mit vielen Keksen und Milch, bis Raymond sich schließlich überreden ließ, etwas über das Thema zu sagen: »Irgendetwas stimmt mit meiner Schwester nicht. Wir standen uns immer so nah, aber jetzt weicht sie mir immer aus.«

»Wie meinst du das?«

»Ich weiß genau, dass etwas sie bedrückt, weil sie immer so nachdenklich aus dem Fenster starrt. Und nachts höre ich sie weinen. Aber wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie immer, dass alles okay ist und ich mir keine Sorgen machen muss.«

Doch genau das tat Raymond. Joel war ein wenig neidisch, dass sein Freund sich solche Sorgen um jemanden machte. Fast wollte er sich ebenfalls ein Problem zulegen, aber das hätte Raymond vermutlich eher belastet und wäre daher dumm gewesen. Dank seiner Freundschaft war er auch ein wenig vernünftiger geworden – jedenfalls glaubte er das.

»Und du bist dir sicher, dass sie ein Problem hat? Vielleicht sind Mädchen einfach so.«

Inzwischen war er elf, aber das andere Geschlecht war für ihn immer noch ein Buch mit sieben Siegeln, mindestens. Vermutlich lag das an seiner immer noch kaum vorhandenen Interaktion mit anderen Gleichaltrigen – aber so wirklich benötigte er das auch nicht, solange er Raymond an seiner Seite hatte.

»Ich weiß nicht«, sagte sein Freund seufzend. »Ich muss vielleicht mal Mama fragen. Aber dann kommt es mir vor, als verpetze ich sie.«

»Ach was, du machst dir doch nur Sorgen. Das hat doch nichts mit petzen zu tun.«

»Ich hoffe, du hast recht.« Nachdenklich blickte Raymond aus dem Fenster.

Einen kurzen furchtbaren Moment lang wurde Joel von der Vorstellung übermannt, dass sein Freund ganz weit fortgehen und ihn verlassen würde. Vielleicht sogar für immer. Doch er kämpfte den Drang nieder, den anderen zu umarmen und sich an ihm festzuklammern. Das kam selbst ihm ein wenig zu eigenartig vor.

Als Raymond ihn schließlich wieder ansah, lächelte er sogar, die Traurigkeit war lediglich als leichtes Glimmen in seinen Augen wahrnehmbar. »Lass uns rausgehen und etwas spielen. Im Nebel sind kaum andere Kinder unterwegs, wir wären wieder ganz allein.«

Das musste er Joel nicht zweimal sagen. Gefüllt mit neuem Enthusiasmus stand er auf und zog dabei auch Raymond nach oben. Gleichzeitig fasste er den folgenschweren Entschluss, mit seinem Freund nicht eingehender über dessen Probleme oder die seiner Schwester zu sprechen, sondern einfach seine Zeit als Kind zu genießen.

 

Der Winter war wesentlich freudloser als letztes Jahr. Zum einen hatten sie bereits so ziemlich alle Geheimnisse entdeckt, zum anderen schwebte die depressive Stimmung von Raymonds Schwester wie eine düstere Wolke über ihnen. Sie wollte nach wie vor nicht darüber reden, und wann immer Joel sie sah, schlug sie die Augen nieder und vertiefte sich rasch in ein Buch, das sie stets mit sich führte und viel zu kompliziert für ihn erschien.

Trotz dieser Umstände mochte Joel die Zeit, die er mit Raymond verbrachte, selbst wenn sie nur stundenlang vor dem Kaminfeuer saßen, heiße Schokolade schlürften und sich über unsinnige Fantasiegestalten unterhielten, die sie sich ausgedacht hatten.

Im Frühling suchten sie wieder den Wasserlauf auf, fanden dieses Jahr jedoch keine Kaulquappen. Ihr künstlich angelegter Damm war ebenfalls fortgeschwemmt worden, möglicherweise von einem heftigen Regenguss aus dem Herbst oder dem Schmelzwasser nach dem Winter. Zwischen den Steinen im Bach fanden sie eines Tages ein verlassenes Lesezeichen, das Raymonds Stimmung ebenfalls dämpfte. Das war das letzte Mal, dass sie dorthin gingen.

Den Sommer verbrachten sie in einem Baumhaus, das nicht weit entfernt von dem Haupthaus war. Mit der Erlaubnis ihrer Eltern durften sie dort in den Ferien sogar übernachten. Zusammengerollt in Schlafsäcken war es sogar überaus angenehm, schließlich waren sie zusammen, fast als wären sie allein auf der Welt. Das ließ sogar die Zombie-Apokalypsen, die sie sich zusammen ausmalten, und in denen sie überlebten, indem sie sich gemeinsam durch die Gegend schlugen, fast real erscheinen.

Er wünschte sich, diese Zeiten würden niemals enden.

 

Der dritte Herbst ihrer Freundschaft war gleichzeitig der schlimmste. An einem nebligen Tag nahm Raymonds Schwester sich das Leben. Joel, der noch nie einen solchen Verlust erlitten hatte, wusste nicht, was er sagen sollte, als er seinem besten Freund bei der Beerdigung begegnete. Glücklicherweise musste er auch nichts sagen. Raymond umarmte ihn lediglich und wich ihm den ganzen Tag nicht von der Seite, ohne ein Wort zu sagen. Am Ende waren es seine Eltern, die Joel mitteilten, wie dankbar sie ihm waren, dass er für ihren Sohn da war. Er konnte nur erwidern, dass er das gern tat, einfach nur damit Raymond nicht allein war. Jedenfalls nicht mehr als sonst, auch wenn er das nicht mehr hinzufügte.

Der Nebel hing während der Beerdigung wie eine Decke über dem Boden des Friedhofs. Bei manchen Schritten befürchtete Joel, vom Weg abzukommen und in ein Loch zu stürzen, das ihn verschlucken und zu einem Zombie befördern würde. Egal wie viele Witze er darüber normalerweise machte, an diesem Tag wirkte die Bedrohung tatsächlich real. Auch aus dem offenen Grab schienen losgerissene Wolken zu schweben, selbst während der Sarg hinabgelassen wurde. Während Joel diesen Vorgang beobachtete, glaubte er, jeden Moment sehen zu können wie der Deckel sich öffnen und eine Hand herauskommen würde.

Doch nichts von all diesen Vorstellungen geschah.

Joel wurde nicht vom Boden verschluckt, auch kein Zombie streckte ihnen gierig seine Hand entgegen. Alles war gut – wenn man von dem Grund ihrer Anwesenheit absah.

Nachdem die Beerdigung vorüber war und die Gesellschaft sich am Ende wieder zu zerstreuen begann, sah Joel seinen Freund an, um ihm mitzuteilen, dass er heute bei ihm übernachten würde. Dabei stellte er erschrocken fest, dass Raymond in den grauen Himmel blickte, ohne dabei wirklich etwas zu fixieren. Nein, es sah vielmehr danach aus, als frage er sich, wie er dort nach oben gelangen könne, vielleicht sogar zu seiner Schwester.

Um ihn davon abzuhalten, einfach zu verschwinden, griff Joel nach seinem Arm, was Raymonds Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenkte. Seine Augen sahen verloren aus, fast so leer und gebrochen wie die seiner Schwester kurz vor ihrem Tod.

»Lass uns heimgehen«, sagte Joel leise.

Raymond sagte nichts, er sah ihn einfach nur an – und dann nickte er langsam.

 

Als trauere der Winter ebenfalls, gab es in diesem Jahr keinen Schnee. Die klirrende trockene Kälte war genug, um Joel und Raymond im Haus zu halten, allerdings mit Tee statt Kakao. Obwohl Joel eigentlich keinen Tee mochte, legte er keinen Widerspruch ein, solange er bei seinem besten Freund sein konnte, der immer noch kaum redete und lediglich ins Kaminfeuer starrte. Manchmal lehnte Raymond auch seinen Kopf an Joels Schulter, was dieser als Dankbarkeit interpretierte. Und er war froh, dass er ihm auf diese Weise helfen konnte.

Der Frühling brachte wieder genug Wärme, dass sie zurück nach draußen konnten. Raymond ging mit ihm an den Ort, wo sie das Lesezeichen im Wasser gefunden hatten. In diesem Jahr lag dort nichts, aber dennoch stand er gedankenverloren am Ufer und starrte auf die Steine am Grund des Baches. Joel hielt neben ihm Wache, bis die Sonne schließlich unterging, dann stieß er ihm spielerisch mit der Schulter gegen den Arm und teilte ihm mit, dass sie zurückgehen sollten. Für einen Moment sah Raymond ihn wieder mit diesem nebelverhangenen Blick an, doch dann nickte er und schloss sich ihm auf dem Rückweg zum Haus an.

Auch im viel zu heißen Sommer hellte sich Raymonds Stimmung nicht auf. An manchen Tagen kam Joel zu Besuch und fand ihn vor dem Zimmer seiner Schwester sitzend, an anderen beobachtete er mit leeren Augen die flatternden Kolibris, die es kaum erwarten konnten, an das bereitgestellte Zuckerwasser zu kommen. Joel bedrängte ihn nicht, er saß dann einfach nur neben ihm und wartete, während er an seiner eigenen Limonade nippte. Von seinen Kurznachrichten, die er mit Raymond austauschte, wusste er, dass sein Freund einen Therapeuten besuchte, aber der schien wohl auch ein wenig überfordert mit ihm, da er nicht redete. Von seinen Eltern erfuhr er außerdem, dass sie bereits nach einem Therapeuten suchten, der sich mit dieser Form des Traumas besser auskannte. Bei all dem Geld, das sie besaßen, dürfte das kein Problem darstellen, hatte Joels Vater ihm versichert.

 

Der dritte Herbst ihrer Freundschaft brachte gleichzeitig eine große Änderung für die beiden. Davon erfuhr Joel, als er an einem nebligen Tag bei Raymonds Familie ankam und einen ihm unbekannten Lastwagen in der Auffahrt entdeckte. Männer in Overalls waren gerade dabei, Kartons auf die Ladefläche zu stellen. Sein Freund und dessen Vater standen vor den Türen und beobachteten die Arbeiter. Auch ohne zu fragen, wusste Joel sofort, was hier vor sich ging.

»Ihr zieht weg?« Unsicher sah er zwischen Raymond und seinem Vater hin und her.

Der große Mann nickte sanft. »Wir haben für Ray einen Arzt gefunden, der ihn behandeln wird und der einen ausgezeichneten Ruf besitzt. Ich bin sicher, es wird ihm viel besser gehen danach. Aber er ist weit weg, deswegen bleibt uns keine Wahl.«

Das verstand Joel. Er wollte, dass es Raymond wieder besser ging und er so wie früher sein konnte, aber gleichzeitig wünschte er sich, dass sein Freund nicht ging, sondern bei ihm blieb. Was sollte er allein machen?

Raymonds Umarmung holte ihn wieder aus seinen Gedanken heraus. Noch immer sprach er nicht sonderlich viel, aber das hinderte ihn nicht daran, seine Gefühle auf andere Art und Weise auszudrücken – und Joel mochte das. So konnten sie sich nah sein, ohne dass jemand es als merkwürdig betrachtete.

»Ihr habt heute noch Zeit, euch zu verabschieden«, versuchte Raymonds Vater, ihn zu trösten. »Und dann seid ihr ja nicht aus der Welt.«

»Stimmt.« Joels Gesicht hellte sich wieder etwas auf. »Wir können telefonieren und chatten und uns Kurznachrichten schicken. Wir bleiben weiter Freunde, ja?«

Raymond nickte, ehe er ihn an der Hand nahm und dann wieder zum Baumhaus führte. Dort verbrachten sie den restlichen Tag, ohne ein Wort zu sagen. Sie genossen einfach die letzten gemeinsamen Stunden, die sie noch teilen konnten.

Erst als die Sonne unterging, kurz bevor Joel gehen wollte, öffnete Raymond den Mund wieder: »Denkst du, ich hätte ihr helfen können?«

Darauf wusste er keine Antwort. Schließlich war er sich nicht einmal sicher, warum sie sich umgebracht hatte. Niemand wusste etwas darüber. Aber dennoch musste er etwas sagen, um seinem Freund zu helfen – und das schnell.

»Ich glaube nicht, dass du dir etwas vorwerfen musst. Was auch immer bei ihr geschehen sein mag, es hat nichts mit dir zu tun.«

Für einen kurzen Moment sah es aus als klärten sich Raymonds Augen, doch dann kehrte der Nebel wieder zurück. Dennoch war Joel überzeugt, dass er seinen Freund erreicht hatte. Er nahm seine Hand und lächelte ihn aufmunternd an. »Wir werden Freunde bleiben. Und dann erzähle ich dir das so oft wie du es hören willst. Also hab keine Sorge.«

Damit beruhigte er vielmehr sich selbst, aber das war ohnehin notwendig. Raymond nickte ihm zu.

Schließlich verließen sie das Baumhaus zum letzten Mal, während der Nebel des Tages der sternenklaren Nacht wich.

 

Joel vermisste Raymond mehr als er geahnt hätte. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er vor der Zeit ihrer Freundschaft gelebt und womit er seine Tage verbracht hatte. Also saß er meistens vor dem PC oder starrte auf sein Handy und wartete darauf, dass Raymond sich meldete.

Im Winter nach seinem Weggang schrieb er jeden Tag mehrmals. Kaum eine Stunde verging, in der sie nicht lange Nachrichten austauschten. Es gefiel Raymond an seinem neuen Wohnort, aber er vermisste Joel. Sein neuer Therapeut war dafür außerordentlich gut und hatte ihm dasselbe gesagt wie Joel. Es war schön, vermisst zu werden, wenn man selbst diese Person vermisste. So saß er oft an seinem Fenster, beobachtete den fallenden Schnee und beantwortete Nachrichten.

Im Frühling wurden die Pausen zwischen den Nachrichten länger. Raymond musste seinen Unterricht fortsetzen und verpasste Stunden nachholen. Joel hatte Verständnis dafür, deswegen beklagte er sich nicht. Stattdessen beantwortete er jede Nachricht mit so viel Enthusiasmus und Leidenschaft wie möglich, um ihm zu zeigen, wie sehr er ihn nach wie vor vermisste.

Zu Beginn des Sommers wurde deutlich, dass Raymond nach den Ferien auf eine gewöhnliche Schule gehen sollte. Sein Privatunterricht sei in Ordnung, aber er müsste den Abschluss auf einer anerkannten Schule machen, also warum sollte er nicht schon im Vorfeld eine solche besuchen? Vielleicht könne ihm das auch beim Heilungsprozess helfen. Joel ahnte bereits, worauf das am Ende hinauslaufen würde, doch er gratulierte seinem Freund zu diesem Fortschritt.

Im Herbst besuchte Raymond die Schule bereits seit einigen Wochen. Er hatte schnell Freunde gefunden, wenngleich der Kontakt oberflächlich blieb. Bei seiner Therapie war er aber auch schon an gute Gespräche mit anderen Patienten gekommen, die in echte Freundschaften auszuarten schienen. Entsprechend wurden die Nachrichten kürzer und kamen seltener. Joel verstand die Zeichen, dennoch ließ er mit seinem Enthusiasmus nicht nach. Raymond sollte selbst in der Ferne wissen, wie viel er ihm bedeutete.

Der Winter hielt wenige Nachrichten für ihn bereit. Dafür lenkte er sich mit Arbeiten für die Nachbarn ab, die hauptsächlich daraus bestanden, dass er die Einfahrten und Gehwege von Schnee befreite.

Er benutzte sein neues Fahrrad im Frühling, um vor seinem stummen Computer davonzufahren. Er erkundete Waldwege, die ihm vollkommen unbekannt waren, mit Bächen, die nicht halb so hübsch waren wie jener, der auf dem Anwesen von Raymonds Familie floss. Doch der Anblick erinnerte ihn stets an die nebligen Augen seines Freundes, als er auf jene Stelle gestarrt hatte, wo das Lesezeichen gewesen war.

Seine Nachbarn erinnerten sich im Sommer daran, wie hilfreich er gewesen war, deswegen boten sie ihm noch mehr Geld dafür, dass er sich um ihre Gärten kümmerte. Also mähte er Rasen, zupfte Unkraut und stutzte Hecken als hätte er nie etwas anderes getan. Manchmal erhielt er Nachrichten von Raymond, in denen er von dem stressigen Schulalltag und seinen neuen Freunden erzählte. All diese Worte ließen Joel mit einer schmerzenden Brust und einem leeren Gefühl in seinem Inneren zurück. In seinen Antworten ließ er sich davon aber nichts anmerken.

In diesem Herbst waren es vier Jahre, seit sie sich das erste Mal getroffen hatten. Gleichzeitig schien es aber auch der Herbst zu sein, in dem diese Freundschaft endete. Jedenfalls kam es Joel so vor, da inzwischen kaum noch Nachrichten eintrafen. Ungeachtet dessen schickte er Raymond weiterhin kurze Mitteilungen über seinen Tag. Dabei versuchte er, nicht zu viel darüber nachzudenken, wie schmerzhaft es war, keine Antwort zu erhalten. Es war egal. Alles war egal, außer einer Sache.

Er würde Raymonds Freund bleiben, das hatte er versprochen.

Eines Tages käme Ray zurück, geheilt von seinen Leiden, dann wäre Joel hier, um ihn willkommen zu heißen.

Und auf diesen hoffentlich nebligen Tag freute er sich bereits.

 

Er blinzelte mehrmals. Das rötliche Licht schmerzte in seinen Augen, aber schließlich gelang es ihm, sie ein wenig zu öffnen. Zuerst erschien ihm alles verschwommen, kunstvolle Schemen, die ineinander übergingen ohne Sinn zu ergeben.

Noch bevor er etwas erkennen konnte, spürte er, dass sein Körper in etwas feststeckte. Es fühlte sich an wie nasse Watte, die sich an ihn schmiegte. Andererseits war es aber auch warm, als wäre er an diesem Ort, von dieser Substanz, geschützt vor allem, was ihm schaden wollte. Hier könnte er für immer bleiben. Er hatte alles, was er brauchte. Warum also gehen?

Er schloss seine Augen wieder.

Nein.

Das Wort schoss durch seine Gedanken und riss ihn wieder aus der Ruhe heraus.

Ich kann hier nicht bleiben. Ray ist nicht hier.

Natürlich. Hier war nicht alles, was er brauchte. Das Wichtigste fehlte ihm noch. Auch ohne zu wissen, wo er sich gerade befand, war ihm klar, dass Raymond nicht herkommen würde. Wenn er ihn also wiedersehen wollte – und das wollte er mehr als alles andere – musste er sich von dieser Substanz befreien und diesen Ort verlassen.

Mit klammen Fingern löste er die nasse Watte von seinem Körper und ließ sie zu Boden fallen. Seine nun wieder offenen Augen gewöhnten sich langsam an das Licht, so dass er sehen konnte, dass es sich bei der Substanz um Gewebe handelte. Aber er fand weder einen dazugehörigen Körper, noch fühlte es sich an als wäre es am Leben. Er wollte sich aber auch nicht zu lange damit befassen, denn der rote Nebel, der ihn umgab, war wesentlich wichtiger für ihn. Er kannte keinerlei Ort auf der ganzen Welt, an dem es einen solchen gab.

Vielleicht wüsste Ray mehr darüber.

Aber er war nicht hier. Er selbst wusste noch immer nicht, wo er sich befand oder wie er dorthin gekommen war. Ganz zu schweigen davon, wie er wieder wegkommen sollte. Die verzerrten Häuser reichten in schwindelerregende Höhen und bogen sich dort, um gemeinsam eine Kuppel zu bilden – und den Eindruck zu erwecken, dass sie auf einen herabsahen. Irgendwo in der Ferne hörte er ein leises Schnauben.

»Aber wie auch immer«, murmelte er leise. »Ich muss hier weg. Ich muss zurück zu Ray.«

Das war alles, was in seinem Inneren zählte. Von dieser Sehnsucht getrieben bewegte er sich vorwärts, um diesen Ort zu verlassen und endlich das nachzuholen, was er vor Jahren versäumt hatte – egal, was er dafür alles tun müsste.
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Elnaro
2018-12-12T18:49:57+00:00 12.12.2018 19:49
Ich fand die Geschichte wunderbar, nur leider muss ich zugeben, dass ich das Ende nicht kapiert habe. Roter Nebel? Gewebe? Spielt hier das Labor eine Rolle?
Antwort von:  Flordelis
12.12.2018 20:44
Danke dir. ^^
Das Ende sollte man auch nicht wirklich kapieren, also keine Sorge. Das dient eher als Verbindung zum Hauptteil, der irgendwann folgt. (Aber ja, das Labor spielt dabei eine Rolle.)
Ich hab so einen Hang zu ... verwirrenden Verknüpfungen. ^^;;;
Von:  lula-chan
2018-12-03T19:43:13+00:00 03.12.2018 20:43
Eine schöne Geschichte. Gefällt mir. Gut geschrieben. Sehr gefühlvoll. Das Thema ist wirklich gut getroffen.

LG
Antwort von:  Flordelis
03.12.2018 23:30
Vielen Dank für deinen Kommentar~.
Freut mich, dass es dir gefallen hat. ^^


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