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Das Volk aus den Bergen

Magister Magicae 4
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Trigger-Warnung: Gewalt

Alter Schwede, war dieses Kapitel ein Krampf ... XD
Aber ich hab´s fertig gekriegt. :) Komplett anzeigen

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ungeahnte Fähigkeiten

einige Jahre zuvor, Japan
 

Chippy begutachtete nochmal im Spiegel der Bahnhofs-Toilette ihr Erscheinungsbild und nickte zufrieden. Die abgewetzte Rocker-Lederjacke war zwar drei Nummern zu groß und ihre dreckige Jeans hatte schon Löcher, man konnte mit etwas gutem Willen allerdings behaupten, daß das Absicht wäre. Den peppigen, assymetrischen Stachelhaarschnitt mit dem schrägen Pony hatte einer ihrer Freunde ihr verpasst, genauso wie die lila Haarspitzen, die eingefärbt waren. Der knallrote Lippenstift – den sie geklaut hatte – passte nicht recht dazu, aber wenn man schon klaute, konnte man halt nicht wählerisch sein. ... Ja, alles in allem sah sie ganz vorzeigbar aus, für ein obdachloses Straßenmädchen von 16 Jahren, das schon mehr Männer durchprobiert hatte als andere Leute Teesorten. Eigentlich ein kleines Wunder, daß sie nicht längst schwanger geworden war, oder schlimmeres. Vielleicht sollte sie da in Zukunft mal etwas vorsichtiger werden, denn so gern sie auch mit Kerlen rummachte; das letzte, was ihr jetzt noch fehlte, war ein Kind. Sie hatte genug damit zu tun, selber irgendwie durchzukommen.
 

Nachdem das Rocker-Mädchen sich vor dem Spiegel noch eine Strähne glattgestrichen hatte, spazierte sie halbwegs ziellos weiter. An einer Ramenbude blieb sie stehen und las die ausgehängte Speisekarte. Nudelsuppe mit Huhn, oder mit Rind, oder mit Fisch, oder mit Gemüse, in verschiedenen Würzigkeits-Stufen, ... Das klang alles so verdammt lecker. Chippy angelte in die Innentasche ihrer Jacke und holte heraus, was an Geld noch drin war. Viel war es nicht. Ein 1'000-Yen-Schein und zwei 5-Yen-Münzen, das war ihr letztes Vermögen. Abwägend schaute sie zwischen dem Schein und der Tafel hin und her. Ramen mit Rind waren heute im Angebot. Es half nichts. Ramenbuden waren so ziemlich die günstigste Alternative, die Japan zu bieten hatte, wenn man auf der Suche nach Essen war. Außer man ging in den Supermarkt und kaufte sich eine Tüte Popcorn, oder so. Billiger würde es also kaum werden. Und Chippy war echt am Verhungern. „Ich wünschte, du wärst ein 10'000-Yen-Schein“, murmelte sie leise, raschelte wehleidig mit ihrem Tausender und setzte sich an die Bar der Ramenbude.

Der Koch der Nudelbude tauchte auf und lächelte sie fröhlich an. „Willkommen. Na, was darf es sein, Mädchen?“

„Das Tagesangebot bitte.“ Sie schob ihren 1'000-Yen-Schein über den Tresen.

Der Betreiber zog ein etwas unglückliches Gesicht. „Hast du´s nicht kleiner?“

„Äh ... kleiner?“, machte Chippy verwirrt. Das Tagesangebot kostete 300 Yen. Da war ihr Tausender doch wohl kein unpassendes Zahlungsmittel, oder?

„Ich hoffe, daß ich das wechseln kann“, gab der Koch zurück und verschwand mit dem Geld an die Kasse. Wenig später stand er wieder vor dem Rocker-Mädchen und legte ihr das Wechselgeld passend hin. „Hier. Deine Ramen kommen gleich.“

Chippy glotzte ratlos auf den Haufen Scheine und Münzen. Der Koch hatte ihr 9'700 Yen wieder ausgezahlt. Das war mehr Geld, als das Straßenkind je besessen hatte. Fragend schaute sie dem dicken Mann hinterher, der schon emsig weitergewuselt war, um sich um seine Kochtöpfe zu kümmern. Sie beschloss, das Geld schnell in ihrer Jackentasche verschwinden zu lassen, bevor der den Irrtum bemerkte, und ließ sich beim Warten auf ihr Essen nichts anmerken. Jetzt um Gottes Willen nicht dämlich grinsen oder sowas!
 

„Hi, Chibi!“

„Du sollst mich nicht Chibi nennen!“

Lachend setzte sich der Junge mit den grün gefärbten Haaren zu ihr auf den Fußboden. Wenn sie sich hier im Bahnhof trafen, saßen sie ganz gern in irgendeiner Ecke auf dem Boden herum, denn in den offiziellen Sitzecken waren sie mit ihrem Erscheinungsbild nicht gern gesehen, auch wenn die meisten Japaner zu höflich waren, um das in Worte zu fassen. Die Tatsache, daß sie die stets vollen Bänke binnen Sekunden für sich allein hatten, wenn sie sich mal dort niederließen, sagte genug.

„Ob ich dich nun Chibi oder Chippy nenne, macht doch so einen großen Unterschied auch wieder nicht, oder?“, zog ihr Kumpel sie weiter auf.

„Halt die Klappe, du Freak.“

„Und du sollst mich nicht Freak nennen, du Chibi, du!“ Er piekte ihr mit dem Zeigefinger in die Seite, sie schlug die Hand quietschend weg, und schon war das größte Spaß-Gerangel im Gange. Sie unterhielten mit ihrem schallenden Lachen die ganze Bahnhofshalle und störten sich nicht die Bohne an den tadelnden Blicken der Passanten. Als Straßenkinder waren sie da schmerzfrei.

Obwohl das Gekampel nur Sekunden dauerte, waren sie beide danach völlig aus der Puste. Kichernd und jappsend lagen sie rücklings auf dem blanken Fußboden und schauten zur Decke der Bahnhofshalle hinauf.
 

Kenji rappelte sich als Erster wieder auf und klaubte verwundert die zwei Geldscheine auf, die zwischen ihnen auf dem Boden lagen. „Sind das deine?“

Chippy schnellte wieder in die Senkrechte. „Oh, die sind mir wohl bei der Rangelei aus der Tasche gerutscht“, bestätigte sie und griff danach.

„Wo hast du soviel Geld her?“, wollte Kenji wissen.

„Mir ist heute ein komisches Ding passiert“, begann sie zu erzählen, während sie das Geld wieder in die Innentasche ihrer Jacke stopfte. „Der Ramen-Koch hat sich beim Wechselgeld verzählt. Ich hab ihm 1'000 Yen gegeben, und er hat mir fast 10'000 Yen wieder ausgezahlt. Natürlich hab ich die Klappe gehalten und nichts gesagt“, fügte sie grinsend an.

„Gib mir was davon ab!“

„Nö.“

Kenji wirkte plötzlich beängstigend ernst, fast schon böse. „Gib mir auch welches, hab ich gesagt!“

„Nein. Ich denk ja gar nicht dran. Klau dir selber welches!“

„Ich brauch aber Geld!“ Der junge Mann mit den grün gefärbten Haaren rückte ihr auf die Pelle und krallte sich in ihre Jacke.

„Kenji!?“ Chippy glotzte ihn perplex an. Er war noch nie grob zu ihr geworden. So kannte sie ihn gar nicht. Was erwartete er denn? Sie waren beide Straßenkinder. Er wusste doch nur zu gut, daß sie jeden Yen selber brauchte und nicht teilen konnte. Er hatte ja auch noch nie mit irgendjemandem geteilt. Das war ein unausgesprochenes Gesetz auf der Straße. Jeder musste alleine sehen, wo er blieb. Unter Heimatlosen gab es keine Helden und keine Ehre. Das war das Erste, was Straßenkinder lernten.

„Du Hure! Gib mir das Geld!“

Chippy schlug die Hand weg, die unter ihre Jacke angelte, und schrie dann spitz auf, als ihr Kumpel plötzlich mit den Händen nach oben zu ihrem Hals rutschte und zudrücken wollte. Sie begann zu strampeln und um sich zu schlagen, erzielte aber nicht den erhofften Effekt. Der Schock, daß ein guter Freund aus heiterem Himmel so mit ihr umging, verflog langsam, und wich dem Überlebens-Instinkt. Kenji meinte das ernst, wurde ihr endlich klar. Der blöffte nicht. Der würde ihr für Geld tatsächlich etwas antun. Der junge Mann griff nach, bekam ihren Hals besser zu fassen und würgte sie fester. Ihr Schrei, der scharf in ihre eigenen Ohren geschnitten hatte, erstarb zu einem Röcheln. Chippy schlug ihm linkisch ins Gesicht, erwischte aber nur eine harte, unempfindliche Stelle am Schädel, die ihm nicht viel ausmachte. Sie trommelte mit den Schuhen ungelenk an seine Hüften, so gut sie an ihn heran kam, was Kenji aber ebenfalls nicht weiter störte. Ihn richtig zu treten, war anatomisch nicht mehr möglich. Dafür war er zu nah. Hilfslos zogen ihre Hände an seinen Unterarmen, bekamen diese aber nicht los. Sie kippte nach hinten auf den Rücken und Kenji folgte der Bewegung.

Erstickt drehte Chippy den Kopf und sah sich panisch um. Die Bahnhofshalle war voller Menschen, die allesamt damit beschäftigt waren, angestrengt wegzusehen. Das war so typisch für Japan. Hinterher würde auch keiner was gesehen haben. Die Sprache Japans gegenüber der Polizei war Schweigen. Würde ihr denn keiner helfen? Langsam schwanden ihr die Sinne und ihr Blickfeld wurde trüb. Wieso half ihr keiner? Mit einem letzten Kraftaufgebot versuchte sie Kenji nochmals ins Gesicht zu boxen. Vergeblich. Konnte nicht wenigstens ein Hund oder sowas angerannt kommen und sie retten, wenn die Menschen es schon nicht taten? Hunde waren doch da sicher unparteiischer, wenn sie Gefahr spürten ...
 

In diesem Moment wurde ein kehliges Knurren laut. Mit verschwommenem Blick sah Chippy einen wirklich gewaltigen Schäferhund, der plötzlich mit gefletschten Zähnen neben ihr stand und bedrohlich grollte.

„Hölle!“, quietschte Kenji, ließ das Mädchen los und prallte entsetzt vor dem großen Rüden zurück, welcher ihn mit blutrünstigen Augen fixierte.

Chippy schnappte erstickend nach Luft, als sie unvermittelt wieder atmen konnte, und war noch einen Moment viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um auf den Schäferhund oder auf Kenji zu achten.

„Geh weg, du Töle! Hau schon ab!“, fluchte der Straßenjunge, halb trotzig, halb doch etwas eingeschüchtert von dem gefährlichen Tier. Er bekam nur ein weiteres, dunkles Knurren zur Antwort und der Schäferhund tappte sogar noch zwei Schritte auf ihn zu. Schockiert wich Kenji im Krebsgang rückwärts zurück und kletterte dabei endgültig von Chippy herunter.

Chippy, endlich wieder Herr ihrer selbst, nutzte die Chance, warf sich auf den Bauch herum, sprang auf und ergriff die Flucht. Hinter ihr gab es einen Aufschrei. Es klang, als hätte der große Hund Kenji nun endgültig angefallen. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie war immer noch viel zu sehr in Todesangst und wollte einfach nur in heller Panik auf und davon rennen. Kenji war ihr egal, der Hund war ihr egal, ALLES war egal! Hauptsache sie kam hier weg und konnte aus dieser Situation entfliehen.
 

Chippy stürzte aus dem Bahnhof hinaus auf die Straße und bemerkte erst dort so richtig das Schwindelgefühl, das sie taumeln und stolpern ließ. Stöhnend blieb sie kurz stehen und stützte sich gegen die nächste Hauswand. Das Blut rauschte in ihren Ohren und der Sauerstoff war spürbar noch nicht wieder bis in die letzten Winkel des Gehirns zurückgekehrt. Ihr Blickfeld flackerte kurz, aber sie zwang sich, auf den Beinen zu bleiben. Sie konnte jetzt nicht einfach umkippen. Sie musste weiter. Weg hier. Komme was wolle. Etwas langsamer und vorsichtiger kämpfte sie sich weiter. Nicht nachdenken. Nicht zurück schauen. Nur einen Fuß vor den anderen.

Nach einigen Metern ging es ihr wieder besser und sie konnte ohne die stützende Hauswand weiterlaufen. Wo sollte sie hin? Sie war einfach kopflos davon gerannt und wusste noch gar nicht, wohin. Wo würde am wahrscheinlichsten niemand nach ihr suchen? Instinktiv schlug sie den Weg zu einer alten Abriss-Ruine ein, zu der sie sich schon vor langer Zeit einen unauffälligen Zugang verschafft hatte, und in der sie in besonders kalten oder regnerischen Nächten gern mal übernachtete. Meist versuchte sie es zu vermeiden, dort hinein zu gehen, denn wenn sie zu oft anwesend war, wäre das sicher irgendwann jemandem aufgefallen. Aber im Notfall nutzte sie dieses Versteck schonmal. Und jetzt gerade war ganz eindeutig ein Notfall.
 

Tokyo war verdammt groß. Chippy hatte fast eine halbe Stunde Fußmarsch hinter sich, bis sie endlich an dem besagten, leerstehenden Haus ankam. Leider hatte der Fußmarsch nicht im mindesten dazu beigetragen, daß sie sich wieder beruhigt hätte. Sie war aufgewühlter denn je, ja, regelrecht verzweifelt. Was war nur in Kenji gefahren? So kannte sie ihn gar nicht. Und sie war schon Jahre mit ihm befreundet. Was konnte Geld nur aus einem Menschen machen? War das zu fassen? Und wo zur Hölle kam dieser riesige Hund plötzlich her?

Chippy setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, und spürte, wie ihr endgültig die Tränen in die Augen schossen. Sie war so fertig und verstand die Welt nicht mehr. Ihr Hals schmerzte. Sicher würde sie riesige Würge-Male bekommen. Und die körperlichen Spuren würden wahrscheinlich nicht die einzigen bleiben. Es hatte noch nie jemand versucht, sie umzubringen, Herr Gott! Das Straßenmädchen hatte das Gefühl, daß sie das für den Rest ihres Lebens prägen würde. Musste man auf der Straße wirklich morden, um zu überleben? War das etwa ihre verdammte Zukunft? Sie hatte ja schon oft geklaut, um ihren Magen zu füllen. War eingebrochen, um nicht zu erfrieren. Aber das waren ja Bagatelle, verglichen mit sowas. Sie zog die Knie an, schlang die Arme darum, legte ihre Stirn darauf ab und heulte ungehemmt los. Da sie kein Taschentuch hatte, wischte sie sich die Nase mit dem Handrücken ab, dann fiel ihre Stirn abermals auf die angezogenen Beine. ... Was war nur los mit der Welt?



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