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Das Volk aus den Bergen

Magister Magicae 4
von

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erfolglose Suche

jetzt, Moskau
 

Der Gestaltwandler hatte die Stirn in die Hand gestützt, wodurch er nur noch mit einem Auge in das Buch schauen konnte, das er vor sich liegen hatte. Aber das machte den Inhalt auch nicht besser oder erträglicher. Es war frustrierend. Er hatte sich in die Bibliothek gesetzt und sich ein paar Nachschlagewerke über japanische Genii gekrallt. Nur weil Vladislav davon ausging, daß es sich um Gestaltwandler handelte, mussten es ja noch lange keine sein.

Das Schlimme war: sie waren alle völlig unterschiedlich zu handhaben. Es gab kein Patentrezept gegen Yokai. Allein die drei Arten, die er für die wahrscheinlichsten Übeltäter hielt, Kizune, Tanuki und Mujina, waren so grundverschieden wie Tag und Nacht, obwohl sie allesamt Tiergeister waren. Kizune, die Füchse, hatten in ihrer tierischen Gestalt keinen stofflichen Körper. Jedweden Einsatz von Schusswaffen, Schlagwaffen, bloßen Fäusten oder konventionellen Fallen konnte man sich sparen. Denen kam man nur mit Magie bei. Tanuki, die Marderhunde, waren wiederrum immun gegen die meisten Arten von Bann-Magie. Die konnte man nur gepflegt über den Haufen schießen, damit Ruhe war. Vorausgesetzt, man verwendete Silberkugeln. Aber woher nehmen, auf die Schnelle? Und die Mujina, die Dachse ... nun, wenn sie nicht freiwillig eines natürlichen Todes starben, dann wurde man sie nur los, indem man ihren Körper komplett vernichtete. Und was das anging, schienen die wirklich verdammt viel Körperschaden kompensieren zu können. Verstümmeln, ausbluten, erschlagen, durchbohren, verbrennen ... kein Thema. Mujina erholten sich von allem. Ihre Regenerationsfähigkeit war unbeschreiblich. Alles was nicht mindestens 'Kopf ab' war, juckte sie wenig. In diesem Buch hier hieß es, daß der einzige bekannte Kerl, der jemals ein Mujina getötet hatte, ein Drachen gewesen war. Und der hatte den Mujina einfach mit Haut und Haar aufgefressen ...

Drachen ... Auch so ein Stichpunkt, den Victor sich nochmal näher anschauen sollte. Die asiatischen Drachen waren mit den europäischen nicht zu vergleichen. Die waren eine RICHTIG haarige Kategorie von Genii. Die Super-Genies unter den Schutzgeistern. Es gab offenbar nichts, was die nicht konnten, und sie waren nicht aufzuhalten! Mit nichts! Nagut, sicher übertrieben die Bücher in dieser Hinsicht. Ganz so allmächtig würden die schon nicht sein. Und die asiatischen Drachen galten außerdem als die ultimativen Glücksbringer und Segenspender. Als Heilige oder gar Gottheiten. Die würden wohl kaum in Horden durch das Land ziehen, Raubüberfälle begehen und Schnaps plündern.

Victor überflog die Passage noch zweimal, dann nahm er die Stirn aus der Hand und lehnte sich deprimiert zurück. Er wusste nicht, welches dieser Viecher am schlimmsten war. Er hoffte einfach, daß es bei ihrer Mission um keines davon ging, wenn sie in Japan waren. Inzwischen wünschte er, er hätte sich die optischen Beschreibungen der Augenzeugen zumindest einmal angehört, auch wenn der Boss hundertmal glaubte, es seien sowieso nur Tarngestalten gewesen. Vielleicht hätte es ihm ja trotzdem irgendeinen Anhaltspunkt geliefert. Ernüchtert griff Victor in seine Umhängetasche und holte etwas zu schreiben heraus. Er musste sich Notizen machen. Das konnte er sich nie alles merken, wenn er außer diesen dreien noch mehr japanische Genii-Arten unter die Lupe nehmen wollte und die ebenfalls alle so verschieden waren. Nebenbei warf er einen kurzen Blick auf die Uhr, wieviel Zeit ihm blieb. Die Bibliothek schloss um 19 Uhr. Warum nur musste Vladislav unbedingt morgen schon fliegen? Hätte das nicht noch eine Woche oder zwei Zeit gehabt?
 

Das letzte Shirt segelte in hohem Bogen in den Koffer. Da er nicht sonderlich scharf auf diese Reise war, packte er seine Sachen nicht unbedingt sorgfältig oder gar pfleglich. Er wusste nichtmal, wie lange Vladislav in Japan zu bleiben gedachte und wieviele Klamotten man folglich mitnehmen sollte. Der Blick aufs Handy lenkte Victor von seiner Grübelei über eventuell noch vergessene Dinge ab. Da war ja noch was. Er angelte das Telefon vom Nachttisch und wählte kurzentschlossen eine Nummer.

da!?“, meldete sich jemand ohne Namen.

Kurz verwirrtes Schweigen. Da ging einer auf Russisch ran? „Äh ... Ruppert?“, fragte der Vize also vorsichtshalber nach.

„Ja, anwesend.“

„Hallo, Kollege. Hier ist Victor.“

„Ich weiß. Du bist der einzige, der mich ständig mit unterdrückter Nummer anruft“, gab Ruppert salopp zurück. „Wie geht´s dir? Bist du nicht ein bisschen spät dran? Wieviel Uhr ist es gerade bei euch in Russland?“

„Noch nicht zu spät für einen netten Plausch. Ich wollte mich bloß verabschieden.“

„Ja, wie ich höre, schickt der Boss dich mal wieder in der Weltgeschichte rum!?“

„Schlimmer. Vladislav kommt mit.“

„Wie!?“, machte Ruppert überrascht, als hätte er sich verhört.

„Er kommt mit. Er steigt in ein Flugzeug und fliegt nach Japan“, beharrte Victor.

„Ihr zwei geht zusammen auf Mission?“

„Sieht so aus. Er will Action. Und glaub mir, ich bin gar nicht begeistert davon, die ganze Zeit unter seiner Beobachtung zu stehen.“

Am anderen Ende der Leitung erklang ein unglückliches Seufzen. „Das erklärt, warum ich eine Rechnung für drei Flugtickets nach Japan bekommen habe. Ich hab mich schon gefragt, wen du da wohl mitnehmen sollst. Hör zu, sei vorsichtig, ja? Du neigst langsam dazu, hier und da irgendwelche Sachen zu sabbotieren und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, um dem Boss ins Handwerk zu pfuschen. Aber das solltest du besser lassen, wenn er direkt daneben steht.“

„Ach, das macht es doch nur spannender. Und im Ernstfall sage ich, du hättest mich dazu gezwungen.“

„Sauhund!“, betitelte der Engländer ihn.

„Also bitte!“ Victor gab sich erschüttert. „Was kennst du denn für russische Wörter!?“

„Ich meine das ernst! Ich bin wirklich ein Fan von deiner Sache. Ich finde es gut, daß du Vladislav das Leben schwer machst. Du tust das Richtige. Aber riskiere deinen Kopf nicht unnötig, sonst hast du vielleicht nicht mehr viel Gelegenheit, Vladislav zu ärgern.“

„Ich pass auf mich auf.“

„Tu das bitte!“, stimmte Ruppert grummelig zu.

Victor ließ sich rückwärts in sein Bett fallen und telefonierte auf dem Rücken liegend weiter. Seiner lustlosen Stimmlage hörte man an, was Phase war. „Das wird so furchtbar. Ich werde mich vor Vladislav am laufenden Band beweisen müssen. Ich darf mir keinerlei Unprofessionalität oder Nachlässigkeit leisten. Und wenn ich versehentlich ohne ihn aus Japan zurückkomme ...“ Er ließ den Satz unvollendet hängen.

„Was meinst du mit 'versehentlich ohne ihn zurückkommen'?“, wollte Ruppert am anderen Ende argwöhnisch wissen.

„Du weißt schon, was ich damit meine. Ich soll da seinen Bodyguard spielen. Und das, obwohl er einen Genius Intimus hat. Keine Ahnung, wie dieser Genius Intimus so drauf ist. Ich kenn ihn kaum. Wahrscheinlich ist er nicht besonders stark, wenn der Boss lieber auf mich zählt. Und wenn der Boss wirklich in Schwierigkeiten gerät – wovon ich bei seiner mangelnden Erfahrung mal schwer ausgehe – kann ich nicht einfach daneben stehen, warten und zugucken. Das wäre mir ja das Liebste. Oder noch besser: ich bring ihn gleich selber um die Ecke. Aber das kann ich leider nicht. Wenn ich die Motus auffliegen lassen will, muss ich das klüger und weniger auffällig anstellen. Sonst rückt einfach ein anderer an Vladislavs Stelle nach und alles bleibt beim Alten.“

„Lass uns solche konspirativen Themen lieber nicht am Telefon klären, Victor“, brummte der englische Finanz-Chef der Motus dazwischen.

„Wieso? Hast du Angst, daß ich abgehört werde?“

„Ich würde das jedenfalls tun, wenn ich Vladislav wäre.“

„Unsinn. Erstens wäre es dann jetzt eh zu spät. Also können wir auch weiterreden. Und zweitens mache ich es ihm so leicht nun auch wieder nicht. Mein Telefon ist nicht so ohne Weiteres abzuhören. Ich bin Bann-Magier.“

„Das ist der Boss auch“, betonte Ruppert humorlos.

Victor setzte sich lustlos wieder auf. Das Bettgestell knarrte leise unter ihm. Er verzichtete darauf, anzumerken, daß er dem Boss da – in aller Bescheidenheit – um einiges überlegen war. Vladislav war kein besonders begabter Bann-Magier. Er hatte nur ein Talent dafür, zwielichtige Gestalten um sich zu scharen und für seine Sache mobil zu machen. Er war ein besserer Gangster-Boss als ein Magier.

„Und du hast vermutlich keine Ahnung, was sein Genius Intimus so drauf hat“, fuhr Ruppert fort.

„Nein, tatsächlich nicht. Du etwa? Was ist das denn für einer?“

„Ich hab keine Ahnung.“

„Hast du keine, oder willst du keine haben?“, hakte Victor näckisch nach. Ruppert kannte den Boss schon seit so vielen Jahren. Da musste er doch auch mal irgendwas über dessen Schutzgeist mitbekommen haben.

„Ich hab noch nie mehr als ein 'Hallo' mit ihm gewechselt. Und Vladislav plaudert für gewöhnlich nicht mit anderen über seinen Genius. Selbst mit mir nicht.“

Naja, da waren sich Ruppert und Vladislav ziemlich ähnlich, dachte Victor. Ruppert hielt seinen Genius Intimus ja auch sehr konsequent vor anderen versteckt. „Hör mal, wieso ich eigentlich anrufe ... Haben wir in Japan Leute?“, wechselte der kleingeratene, langhaarige Russe das Thema.

Kurz war Ruhe, als der Finanz-Chef über diese unvermutete Frage nachdachte. „N-Nicht, daß ich wüsste, nein. Wieso?“

„Mist. Ich bräuchte jemanden, der uns dort Waffen zuspielt. Am besten mit Silber-Schrot statt normaler Munition. Durch die Flughäfen können wir ja keine mitbringen.“

„Da wirst du wohl diesmal auf Magie ausweichen müssen.“

„Wenn es die Viecher sind, die ich denke, dann hab ich mit Magie schlechte Karten. Tanuki sind gegen die meisten Bann-Zauber resistent. Und Flüche dauern im Ernstfall zu lange. Flüche sind nicht kampftauglich.“

„Ihr jagt Tanuki?“, hakte Ruppert verwundert nach. Berechtigterweise, denn mit denen hatte sich die Motus noch nie beschäftigt.

„Wir wissen noch nicht genau, was das für Viecher sind. Das sehen wir erst vor Ort. Aber ich halte Tanuki unter allen Möglichkeiten für die wahrscheinlichste. Das einzige, wovon ich weiß, daß es gegen Tanuki helfen soll, sind Scheinwerfer. Die sind nachtaktiv und mögen kein helles Licht. Oder ein lautes Radio, oder eine Sirene. Lärm mögen sie nämlich auch nicht. Das sind aber alles keine sehr nachhaltigen Lösungen. Damit verjagt man sie bestenfalls.“

„Willst du sie denn meucheln? So gefährlich sind die ja nun auch wieder nicht.“

„Ich will das vielleicht nicht. Aber du musst bedenken, daß ich Vladislav im Schlepptau habe. Und der glaubt, diese Marderhund-Geister würden mordend und plündernd durch die Dörfer ziehen.“

Ruppert brummte. „Na schön. Wenn du wirklich in die Bedrängnis kommst, ein Tanuki töten zu müssen, dann versuch es mit Kuhmilch. Das ist Gift für sie.“

„Achso?“ machte Victor verdutzt und überdachte das. „In Japan gibt es aber meines Wissens nach nirgendwo Milch oder Milchprodukte.“

„Ja. Deshalb gibt es in Japan ja auch Tanuki. Weil die meisten Asiaten laktose-intolerant sind. Lass dir irgendwas einfallen.“

„Okay ... Gut, das hilft mir trotzdem sehr weiter. Danke.“

„Dafür nicht. Auf Mordbeihilfe bin ich nicht stolz.“



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