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Unseen Souls

von

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20

Am nächsten Tag auf die Beine zu kommen fiel mir leicht, um mich noch einem ausgiebigen Frühstück hinzugeben und die Ruhe im Speiseraum zu genießen. Morgens um vier Uhr war er selten gut besucht und so blieb Jerry die einzigartige Gelegenheit, sich nur um mich zu kümmern.

Noch leicht zerzaust ließ ich es mir schmecken und so oft ich auch zu jener Tür spähte, so sehr ich auf jemanden wartete, er kam nicht. Ein Fakt, der in diesem Fall nicht ernüchternd war, denn ich würde ihn schon bald zu Gesicht bekommen und seinen Anblick anschließend dauerhaft genießen.

Mit Kanda auf Mission zu gehen hatte sich noch nie als schlecht herausgestellt. Zumeist übertraf er die eigene Motivation und Zielstrebigkeit bei weitem und brach damit ungeahnte Rekorde. Erfolge waren mit ihm sehr greifbar und in diesen Erwartungen schwelgend, leerte ich meine Teller und Schüsseln und legte bald darauf meine Uniform an.

Ich lag gut in der Zeit, konnte bequem die Schnallen schließen und in meine Stiefel steigen. Es war ein guter Beginn, ein entspannter und als ich in das Treppenhaus trat, da lehnte er bereits am Geländer und studierte die Mappe. Letztendlich blieb es bei einem Blick, bevor er sich abwandte und ging. So abweisend und schweigsam, doch ich war sicherlich nicht der Einzige, der in diesen Genuss kam.

Natürlich nicht. Weshalb sollte dem auch so sein?

Es blieb bei dieser auffälligen Stille, die weit über den Bahnhof hinaus anhielt. Wortlos studierte er den Fahrplan und kaum hatte auch ich ihn erreicht, da ließ er sich auf einer nahen Bank nieder. Doch nicht ruppig und wenn ich ihn musterte, zeugte nicht einmal sein Gesicht von einer greifbaren Wut.

Er war auf eine entspannte Art abweisend.

Ich lugte zu ihm, Stirnrunzelnd und durchaus skeptisch, befürchtete, argwöhnte und verwarf.

Die Abweisung hätte jeden Missionspartner getroffen. Er war nicht nachtragend wegen dem Zweikampf. Mein verändertes Verhalten ihm gegenüber fiel ihm sicher auch nicht auf, denn ich hatte ihm zu wenige Gelegenheiten geboten, um auf so etwas zu kommen. Ich schuf mir diese Sicherheit und wiegte mich in ihr.

Bald darauf begann die Reise und tat es wie erwartet.

Bevor wir in den ersten Zug stiegen, hatte ich mir eine Frage einfallen lassen. Etwas Belangloses, um sein seltsames Verhalten auszubauen, bis es Form für mich annahm.

Ob er schon einmal in Huesca war. Ob er sich dort auskannte und wieder blieb es bei einem Nicken, das ich nur vermuten konnte, doch diese Geste sorgte dafür, dass ich die ersten Stunden der Fahrt nachdenklich zubrachte. Die Beine auf der Bank und die Finger am Mund, während meine Augen über das deprimierende, weiße Nichts hinweg schweiften, auf der anderen Seite des Glases. Was Kanda offenbarte, war lediglich Missstimmung gepaart mit altem Frust.

Nichts, das sich gegen mich lenkte, sondern mich nur traf, weil kein anderer da war.

Eine klare Sache und doch hatte ich schwer damit zu tun, diese Tatsache für mich anzunehmen. Ich arbeitete wirklich schwer daran, dieses seltsame Ding zu verinnerlichen und als wir am späten Nachmittag in Gipúzkoa den Zug verließen, war es mir tatsächlich gelungen.

Ich war so schuldunbewusst und angestrengt naiv, dass ich Kanda tun und unterlassen ließ, wonach ihm der Sinn stand. Alles, ohne es von mir abhängig zu machen.

Der Bahnhof Gipúzkoas war kaum als ein solcher zu erkennen. Nur drei Gleise, umgeben von einem überdachten Steg und auch in den Mantel gehüllt war es nicht angenehm, die Wartezeit auf sich zu nehmen. Ich verkroch mich in dem Stoff, wippte auf den Fußballen und blickte um mich, während der Wind unter die Kapuze drang und mein Haar zerzauste. Auch Tim steckte seit geraumer Zeit unter dem wärmenden Stoff und es dauerte nicht lange, da ärgerte ich mich, nicht nach Amerika unterwegs zu sein. In meinem Rücken hielt sich Kanda in Bewegung, schritt auf und ab und natürlich fiel mir nicht erst jetzt auf, was er für eine Uniform trug.

Ich erinnerte mich, wie ihm die eigene abhandenkam und es war wohl unmöglich gewesen, in der kurzen Zeit eine neue anzufertigen. Die Uniform, die er trug, ähnelte der von Lavi. Die obere Robe war nicht lang, reichte bis zu den Oberschenkeln und erlaubte die freie Sicht auf seine Beine. Ein verheerender Anblick.

Während dieser Wartezeit hatte ich mit mir zu ringen und wie oft versagte ich und verfluchte diesen dicken Mantel, der vor mir verbarg, worauf ich aus war.

Das Eintreffen des Zuges war also mehrfach erleichternd. Es war das Ende dieser süßen Verlockung sowie das der Kälte und wie eifrig schob ich mich in das warme Abteil und aus dem Sichtfeld Kandas.

Was uns nun bevorstand, war eine weitaus längere Fahrt. Über Navarra führte uns die Strecke bis in die Nähe Huescas. Wir würden nördlich davon aussteigen, nahe der Grenze Spaniens und wieder war es nichts als eine weiße Landschaft, die Stunde um Stunde an meinem Fenster vorbeizog.
 

Es musste in den frühen Abendstunden sein, als sich die Stimme des Schaffners in der Nähe meines Abteils erhob und mich auf die Beine brachte. Es war soweit, die Wärme verlor mich, die Kälte wartete und kaum stieg ich auf den gefrorenen Boden der abgelegenen Haltstelle hinaus, da tat es auch Kanda.

Ein eisiger Wind blies, ohne dass Flocken fielen und sofort vergrub ich mich wieder in meinen Mantel.

Wir waren in der Einöde gelandet. Ich sah keinen Weg, keine Häuser. Nur eine unendliche Steppe.

Neben Kanda blieb ich stehen und verfolgte, wie er aufblickte und um sich spähte. Er suchte nach Orientierung und wie angenehm war es, wie erleichternd, als er sich an mich wandte.

„Wir gehen gen Osten.“ Nur undeutlich drang seine Stimme durch das Pfeifen des eisigen Windes. Seine Hand wies in das pure Nichts. „Circa drei Kilometer entfernt ist ein Dorf.“

Ich streifte mir die Kapuze über und hielt mich neben ihm, als er sich in Bewegung setzte.

„Wenn es so weitergeht, kriegen wir einen Schneesturm“, erhob sich seine Stimme wieder.

„Einen Schneesturm?“, rief ich zurück und keuchte unter dem Wind, der sich in meine Lunge presste.

Die Mappe wanderte unter Kandas Mantel und so bahnten wir uns unseren Weg durch den Schnee.

Es wurde schwer. Selbst das Atmen.

Kälter und kälter wurde auch der Wind und mit beinahe erstarrten Gliedern sahen wir irgendwann durch das Tosen und Stieben der Schneeflocken die schwarzen Umrisse eines kleinen Dorfes vor uns. Nur wenige Häuser ohne Licht und trotzdem waren wir erleichtert bei diesem Anblick, einigten uns auf eine Pause und fanden einen kleinen Schuppen.

Das Dorf schien nicht groß genug, um eine Herberge zu beinhalten. Keine Menschenseele hätten wir fragen können, doch dieser Ort war besser als nichts. Eilig tastete ich die Tür ab, fand den Knauf und unter einem Knacken ließ sie sich wirklich öffnen. Sofort traten wir in das Innere des kleinen, hölzernen Gebäudes und in den nächsten Momenten keuchten wir in der Finsternis. Es war nicht warm, jedoch windstill und mehr als das brauchten wir nicht. Das Quietschen der Bodendielen zeugte davon, dass Kanda sich bewegte. Er schien mir die Suche nach einem Licht abzunehmen und so lauschte ich dem äußeren Tosen.

Vorsichtig trat ich einen Schritt zur Seite, tastete neben mich und spürte die Bewegungen Tims. Er stahl sich aus der Sicherheit meines Mantels, flatterte neben mir empor und beinahe blind ertastete ich die hölzernen Griffe verschiedener Werkzeuge. Es mussten Besen sein.

Irgendetwas, das sofort umfiel, als ich es betastete und kaum nahm ich in dem kurzen Lärm das Quietschen wahr, das sich nicht weit entfernt erhob. Es klang nach Blech und vorsichtig tat ich einen Schritt. Unter meinen Füßen erstreckten sich Holzdielen. Sie mussten von Wind und Wetter verzogen und schief sein, denn der Schritt blieb nicht heimlich.

Dieser Ort brachte weitaus wenig, wenn man nicht einmal die Hand vor Augen sah, doch plötzlich zuckte neben mir ein Licht auf. Es war ein Streichholz, das entflammte und dann sah ich Kanda dort kauern. Es war eine Öllampe, die er gefunden hatte und wie erleichtert atmete ich durch, als der Ölgetränkte Docht Feuer fing und sich uns die Umgebung preisgab. Es waren wirklich Besen, die neben mir lagen, doch auf der anderen Seite häufte sich getrocknetes Stroh. Kanda blies das Streichholz aus und kam auf die Beine.

„Wir warten, bis der Schneesturm vorüber ist“, sagte er und so begann ich mich von meinen Handschuhen zu befreien.

„Lass mich eine Runde schlafen.“

Jetzt wo etwas Ruhe einkehrte, bemerkte ich, wie nötig ich es hatte und als mich sein Blick traf, da stieg schon dieses Gähnen in mir höher. Ich gab mich ihm hin, rieb mir die durchgefrorene Wange.

„Nur kurz“, kam ich seinen nächsten Worten zuvor und sank in das Stroh. „Wir können uns abwechseln.“

„Mm.“ Es klang nach einer Zustimmung.

Ich zog den Mantel von meinen Schultern und zog ihn über mich. Es war bequem und schon gähnte ich erneut, als ich lag. Neben mir atmete Kanda tief durch. Er hatte sich niedergekniet und behaglich verschränkte ich die Arme unter dem Kopf. Ich blinzelte zum Dach des Schuppens, erkannte dort eine schiefe, defekte Lampe und spähte anschließend auch zu der Öllampe, die tapfer ihren Dienst tat.

Das Öl würde reichen und kurz streiften meine Augen Kanda, bevor sie sich schlossen.

Er blickte zur Tür geblickt und dann wurde es schwarz. Müde lauschte ich dem leisen Knacken des Dochtes. Das Stroh unter mir war weich und es dauerte nicht lange, bevor ich in den Schlaf fiel und in meine abgeschiedenen, seltsamen Gefilde driftete. Sie hatten mir Glück gebracht in letzter Zeit und gerne war ich diesmal gutgläubig. Ein tiefer, dunkler Schlaf, der ereignislos blieb, war alles, was ich mir wünschte, doch bemerkte ich rasch, dass ich Gebieten entgegen trieb, die alles in mir enttäuschten.

Ich fiel, sank in dieses schwarze Nichts und spürte diese Wärme, die mich begleitete. Auch ein Trugbild, das ich sofort als ein solches erkannte. Die Realität hielt derzeit keine Wärme für mich bereit. Ich erinnerte mich an diesen eisigen Schneesturm, vor welchem Kanda und ich uns zurückzogen.

Es war noch nicht lange her.

Diese Wärme hingegen war nicht real. Es gab sie einfach nicht und augenblicklich verblasste sie.

Ich nahm lieber diese Kälte an. Lieber die Realität, als dass ich mich in all diesem Unwirklichen verlor.

Fröstelnd sank ich weiter hinab und streckte die Hände von mir, um zu tasten, zu erspüren, worauf ich traf, doch gleichsam wurde ich mir dieser Tatsache bewusst.

Ich träumte. Ja, ich tat es wieder und noch nie hatte diese Traumwelt Angenehmes für mich bereitgehalten. Was für ein Teufel führte nur die Stricke, an denen ich hing?

Ich hatte mich zu schützen, auf mich zu achten, komme was wolle, und plötzlich trafen meine Hände auf einen festen Widerstand. Ich wurde geblockt, das Sinken meines Körpers endete und irritiert betastete ich diese ebene Fläche, durch die ich nicht zu dringen vermochte. Eine unsichtbare Barriere im schwarzen Nichts meines Traumes.

Es ging nicht weiter. Hier sollte es enden, doch ich akzeptierte es nicht, denn mein Weg endete niemals.

Ich blieb nicht stehen, gab mich nicht mit Sackgassen zufrieden und umso hektischer wurden die Bewegungen meiner Hände. Das Tasten, das Fühlen und wie schwer fiel es meinem Körper, meinen Armen zu folgen. Als wäre ich an diesem einzigen Platz gelähmt. Als gebe es keine Möglichkeit für mich, flexibel zu sein und einen Umweg zu nutzen.

Es war Versagen, mit dem ich konfrontiert wurde und so hart meine Hände auch gegen diese Grenze vorgingen, nichts bewegte sich und wie erstarrt ertastete ich kurz darauf auch neben mir das Ende des Raumes. Eine Sperre, die vor kurzem noch nicht dort gewesen war. Mein Atem stockte, versiegte in meiner Brust und hektisch tastete ich auch zur anderen Seite.

Weder Vorankommen noch Entkommen?

Ich stemmte mich in die Höhe und mit einem Mal traf auch mein Rücken auf diese Fläche.

Ich war gefangen, begann mich zu winden, mich in dieser Enge zu bewegen, es zu versuchen. Wie heftig pressten sich diese Wände gegen mich. Von allen Seiten schienen sie mich zu bedrängen und mir etwaigen Ausweg zu versperren. Doch hatte es denn jemals einen gegeben?

War nicht ich es, der sich letzten Endes von diesen finsteren Fetzen der Angst losriss?

War es nicht die Kraft meiner Verzweiflung, die den letzten Retter darstellte?

Es musste funktionieren. Ein weiteres Mal, denn das hatte es immer. All meine Gelenke schienen zu knirschen und zu krachen, als ich mich in den Versuch verstrickte, meine Arme zu bewegen, freizukommen, doch nicht einmal meine Finger konnte ich spreizen, um etwas zu ertasten.

Ich steckte fest in diesem Wahnsinn und der Schrei, der mir entrann, war kaum mehr als ein stimmloses Keuchen, während ich versuchte, die Augen zu öffnen.

Meine Zähne bissen aufeinander. Schmerzhaft, knirschend. Zischend stieß ich einen weiteren Atemzug aus und lautlos rief ich nach der Realität. Nach der Rettenden, der Wahren.

Wenn auch entfernt und distanziert, war sie nicht dennoch immer bei mir gewesen?!

Meine Lunge eröffnete sich dem Atmen, als hätte sich ein Schalter umgelegt. Mit einem Mal gelang mir dieser tiefe Atemzug und ein Schrei, laut genug, um die Realität zu erreichen. Und ich flehte, bettelte und unterwarf mich ihr. Mit Demut klagte ich, betete sie in ihrer Macht an und mit einem Mal spürte ich ihre Präsenz. Der Schleier schien zu fallen, das finstere Bild der Realität entflammte in wilden Farben und mit einem Mal verfiel mein Körper der hektischen Bewegung, derer er zuvor nicht fähig gewesen war.

Er zuckte, fuhr in die Höhe und unter einem kläglichen Stöhnen starrte ich an diese hölzerne Wand direkt vor mir und nahe meinen Füßen, die auf verblasstem Heu gebettet lagen.

Die frische Luft, die ich atmete. War das die Realität?

Mein offener Mund gierte nach ihr, starr tasteten meine Augen diese hölzernen Bretter ab und nicht zuletzt spürte ich die Kälte auf meinem Gesicht und die Feuchtigkeit, über die die Luft des rauen Klimas wie eine Klinge schnitt. War ich zurück?

Mir gelang kaum ein Blinzeln, kaum eine weitere Regung und wie zuckte ich zusammen, als sich ein Schatten vor mein Gesicht hob. Mit einem Mal und gleich eines schemenhaften Fetzens, der mich streifte und sich auf meine Stirn bettete. Perplex gelang mir ein Blinzeln, stockend bewegten sich meine Lippen und wie bestürzt spürte ich diese warme Hand auf meiner Stirn.

„Kan...“ Meine Stimme versagte mit einem Mal, als sie Druck auf mich ausübte und meinen Leib hinab drängte. Zurück in das Heu, in dem ich starr liegen blieb und nur langsam spähte ich anschließend zur Seite und zur Gestalt meines Kameraden. Er saß noch immer neben mir. Seine Hand hinterließ Kälte auf meiner mit Schweiß überzogenen Stirn, während er zur Tür blickte.

„Du hast noch eine Stunde.“

Stockend wandte ich das Gesicht ab und rieb es mir unter einem leisen Ächzen.

Der Kampf in meinem Unterbewusstsein hatte soviel länger gedauert.

Die alte Stille kehrte ein. Kanda schwieg, lauschte in die Lautlosigkeit unserer Raststätte und matt verbarg ich die Augen unter dem Arm. Ich bettete ihn auf meinem Gesicht, presste die Lippen aufeinander und versuchte zu realisieren, dass die erneute Gefahr vorüber und ich in Sicherheit war.

Wie schwer fiel es mir selbst nach dieser Zeit?

Wie misstrauisch war und blieb ich? Wie vorsichtig?

Hier und jetzt würde ich keinen erneuten Versuch wagen. Hier und jetzt blieb ich wach und beruhigte meinen Atem. Es war vorbei. Erneut. Wie ernüchternd.

Wann ließ man mir den Frieden, um erholt zu mir zu kommen?

Hatte ich es nicht verdient?

Wie musste der Ernst des Lebens über mich lachen.

Ich rang mit mir und wie gleichgültig war mir Kandas Anwesenheit und dass er Zeuge meiner verborgenen Tiefen wurde. Ich hatte akzeptiert, dass ich zurückzugeben hatte, was ich an ihm entdeckte. Letztlich war es nur gebührlich. Gleichsam bekam ich zurück, was ich gab und lange blieb ich liegen, wie lange lauschte ich dem Pfeifen des Windes, der durch die Ritzen der alten Hütte blies.

Meine Lippen schwiegen, so wie es auch die von Kanda taten. Was gab es auch zu sagen?

Er musste keine Fragen mehr stellen. Er wusste es doch längst.

Ich hatte mich vor ihm nicht zu verbergen und hier und jetzt spürte ich diese Ruhe, die dieser Fakt mit sich brachte. Ich konnte mich fallen lassen, konnte mich zeigen wie ich war. Mit all meinem Leid, all meinen Abgründen. Er sah mich nicht an, er saß still und erst als ich mich erneut aufsetzte, regte auch er sich.

„Ich übernehme“, flüsterte ich, erkannte ein Nicken und verfolgte, wie er bald darauf den Rücken spannte und sich aufrichtete. Seine Hände betteten sich in seinem Schoß und nur wenige Momente später senkte er den Kopf und schloss die Augen. Er meditierte, während ich im Heu zur Seite rutschte und mich an die Wand lehnte. Es war kühl, auch etwas feucht aber als ich meinen Mantel über mich zog, wurde es besser. Ich kroch in mich zusammen, zog die Beine an und legte die Arme um die Knie.

Und ich beobachtete ihn weiterhin.

Wie reglos er verharrte, wie schnell er in die Meditation zu finden schien.

War er sicher vor etwaigen Schreckensbildern, wenn er nur einen Teil seines Bewusstseins hergab?

Ich atmete tief durch und regte die Schultern. Tim leistete mir Gesellschaft, ließ sich auf meinem Kopf nieder und sank auf und nieder, als ich seufzte.

Wann hatte ich die Gelegenheit gehabt, ihn mir zu betrachten, ohne dass er darauf aufmerksam wurde?

Ich folgte der Neugierde meiner Augen und die nächsten Momente verbrachte ich damit, ihn einfach anzusehen. Sein Gesicht. Wie ebenmäßig es war, wie anmutig. Es fiel kaum auf bei seiner verdrießlichen Miene. Seine Augenbrauen, seine Lippen. Wie vertiefte ich mich in diesen Anblick, wie verlor ich mich in ihm und gab mich selbst mit der wenigen freien Haut seines Halses zufrieden. Seine Kehle. Sein Haar. Mein Hinterkopf sank gegen das Holz, als ein genüsslicher Atemzug über meine Lippen strich.

Er war wunderschön.
 

Es kam der Augenblick, in welchem er die Augen öffnete, aus der Meditation auftauchte und sich zu regen begann. Der Schneesturm war vorbei. Schon seit einigen Momenten vernahm ich nicht mehr sein Pfeifen und Tosen und so traten wir aus dem Schuppen. Der hart gefrorene Schnee knackte und knirschte unter unseren Sohlen und erleichterte uns den weiteren Weg. Nun hatten wir es nicht mehr mit der gnadenlosen Natur aufzunehmen, nur mit gnadenlosen Gegnern.

Während des Weges blieb es größtenteils und abermals still zwischen uns. Wir verfolgten unser Ziel Seite an Seite, die Augen nach vorn gerichtet und nur selten auf unsere Umwelt. In dieser Entfernung zu jener Stadt hatten wir nichts zu befürchten und so hielt ich mich nicht davon ab, erneut nachdenklich zu werden. Ich hatte die Zeit, ich hatte die Gelegenheit und in jene Gedanken vertieft geschah es öfter, dass ich zu Kanda blickte.

Er studierte das weiße Nichts, schlug des Öfteren die Mappe auf, um sich auf der Karte zu orientieren und er schwieg und tat damit genau das, was mir nicht gefiel. Gerade hier und jetzt.

Wir hatten doch die Möglichkeit, oder nicht?

Ich gelangte an diesen Punkt, an dem mir nach einem Gespräch zumute war. Das Thema spielte keine Rolle. Eher legte ich Wert darauf, seine Stimme zu hören und einen Beweis zu erhalten, dass er wirklich bei mir war. Ich wollte ihn intensiver spüren, als ihn nur zu sehen, denn meine Augen konnten täuschen.

Was sie zeigten, genügte meinem anspruchsvollen Wesen nicht. Sie verfolgten, wie er die Stirn runzelte, um sich blickte und mit einem Mal wuchs Hoffnung in mir. Ohne dass ich es beabsichtigte musterte ich ihn längst erwartungsvoll und folgte seinem Blick zur Seite, wo sich ein kleines Dorf erstreckte.

„Dieses Dorf ist nicht verzeichnet“, murmelte er währenddessen und wie frohlockten meine Ohren unter dem Klang seiner Stimme. „Was ist das für eine Karte?“

Wieder starrte er auf das Papier und auch ich erkannte dort nichts, was einem Dorf ähnelte.

„Möglicherweise ist sie nicht mehr aktuell“, meinte ich.

Wenn ich antwortete, dann lief es auf ein Gespräch hinaus. So hoffte ich.

„Oder wir sind hier falsch.“

Ich betastete meinen Gürtel, zückte den Kompass und dann betrachteten wir die Nadel, die gen Norden pendelte. „Es ist die richtige Richtung.“

„Wir laufen jetzt seit drei Stunden“, erwiderte er und blätterte in der Mappe, bis er die Koordinaten vor sich hatte. „Huesca dürfte kaum noch einen halbstündigen Marsch entfernt sein aber ich sehe nichts.“ Er wies gen Horizont.

„Das hat nichts zu bedeuten. Die Kämpfe könnten zum Erliegen gekommen sein.“ Das sagte ich und kaum blickte Kanda zu mir, da begriff ich es und öffnete den Mund. Wir sahen uns an, der eine bitter, der andere bestürzt.

„Das kann nicht sein“, ächzte ich kurz darauf und zischend wandte er sich ab. „Kanda, wir hätten Bescheid bekommen, wenn die Stadt gefallen wäre!“

„Hast du eine bessere Erklärung?“ Er verstaute die Mappe unter dem Mantel und setzte sich in Bewegung. „Beeilung!“

Ich schloss mich seinem Tempo an, problemlos und rasch und nach wenigen Schritten begannen wir zu eilen, zu rennen. Es ließ sich gut laufen in dem harten Schnee und spätestens jetzt gab es in meinem Kopf nichts anderes als diese Mission und das Ziel, das nicht mehr weit entfernt sein konnte.

Könnte es wirklich sein?

War der Widerstand der Finder niedergeschlagen?

Komui hätte uns sofort kontaktiert und mit diesem Wissen wäre es uns nie in den Sinn gekommen, dem Schneesturm aus dem Weg zu gehen.

Wir ließen einen Hügel hinter uns und überquerten eine Ebene mit gefrorenen Feldern. Was uns hinter dieser erwartete, war ein kleiner Wald und eilig durchquerten wir auch diesen.

Waren die Finder gefallen? Welcher Gegner erwartete uns in Huesca?

Es waren so zahllose Gedanken, die in meinem Kopf tobten und als wir keuchend den Wald verließen, war es ein letzter Abhang, der sich zwischen uns und Huesca erstreckte. Dort in der Talsenke lag jene Stadt und wie sprinteten wir dieses Gestein hinauf und jeglichen Antworten entgegen.

Ich sprang über einen Vorsprung, sofort folgte mir Kanda und schlitternd rutschten wir hinab zum Abhang und stoppten, bevor er steil abfiel. Schwer fiel unser Atem, als wir in das Tal hinab starrten.

Die gesamte Stadt schien in Trümmern zu liegen. Was einmal Menschen ein Zuhause bot, war nicht mehr als ein Schlachtfeld, in dem wir keine Bewegung ausmachten, doch erspähten wir inmitten der Stadt den hellen Schein einer Barriere. Quadratisch umgab sie ein Gebäude, das selbst bereits in Schutt und Asche lag.

Unter einem dumpfen Dröhnen fiel ein weiteres, schwer beschädigtes Haus in sich zusammen, bevor sich unsere Blicke trafen. Schützte die Barriere ein Innocence? Wie lange hielt sie noch?

Ein kurzer Blick, mit dem wir uns verständigten und mit einem Mal sprangen wir über diesen Abhang und stürzten uns in die Tiefe. Donnernd schlug uns der Wind entgegen, wild bäumten sich unsere Mäntel auf und nach Sekunden im freien Fall setzten wir auf einer schrägen Felswand auf und schlitterten hinab. Ich hielt mich auf den Beinen, sprang über eine hohe Kerbe und kaum hatte ich den ebenen Boden erreicht, stieß sich auch Kanda ab und ließ die letzten Meter mit einem großen Sprung hinter sich.

„Wie gehen wir vor?“, rief ich ihm zu, als wir wieder zu rennen begannen, die Ebene zur Stadt überquerten. „Wir kennen die Lage nicht!“, antwortete er. „Wir kundschaften aus, bevor wir handeln!“

Diesen Worten zu folgen, verlangte mir nicht viel ab, denn vor allem in Momenten wie diesen erinnerte ich mich daran, dass er erfahrener war. Ohnehin war es selten, dass er von Auskundschaften sprach, anstatt alles auf sich zukommen zu lassen.

Ich kam ihm mit einem Nicken bei und spähte zurück zur Stadt.

Hoffentlich waren wir nicht längst gesichtet worden, denn wir bildeten einen scharfen Kontrast zum Schnee, doch keine Schüsse richteten sich auf uns und unbeschadet erreichten wir die ersten Ruinen und schoben uns in eine Gasse, die sich zwischen zwei noch stehenden Mauern bildete. Wir dämpften unseren Atem und spähten um uns, doch es war Totenstille, die uns umgab. Leise rieselte neben uns der Putz aus der Mauer.

„Wir haben keine Zeit für langes Planen“, ergriff Kanda das Wort. „Wie lange die Barriere noch hält, wissen wir nicht und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Innocence birgt, ist so hoch, dass wir sofort eingreifen sollten.“

„Lass mich nach dem Innocence suchen und halt mir den Rücken frei“, meinte ich dazu und begegnete seinem seltsam zielstrebigen Blick.

„Schaffst du es denn, dich nur auf das Innocence zu konzentrieren?“, präsentierte er mir umgehend seine Zweifel und hob die Brauen, als ich verständnislos das Gesicht verzog. „Bohnenstange, ich muss wissen, dass du dich nicht für das Leben jedes Finders aufopferst, sondern beim Wesentlichen bleibst.“

„Mach dich nicht lächerlich.“

Zugegeben, ich war wütend, ohne den Anlass zu kennen. Im Grunde hatte er Recht, denn in manchen Gebieten fiel es mir schwer, die objektiv richtigen Prioritäten zu setzen. Möglicherweise war es seine direkte und ungezierte Einschätzung, die mich ernüchterte.

„Wage es nicht, mich zu enttäuschen.“ Er verwarf meine Worte wie gewohnt und auch auf meine finstere Miene achtete er wenig, als er auf die Beine kam und nach Mugen tastete.

Verbittert entblößte ich meine linke Hand. Wir wussten beide was geschehen würde, sobald wir den Schutz dieser Mauern aufgaben. Die Akuma konnten weder besiegt noch zurückbeordert worden sein, wenn die Barriere noch stand und ihnen das Vorrücken verbot. Sie lauerten.

Flink klemmte ich den Handschuh unter den Gürtel, streifte mir die Kapuze vom Kopf und so traten wir

zum Ende der Gasse und spähten auf die Straße, die zwischen all den Trümmern kaum noch als eine solche zu erkennen war. Der Schutt begrub sie beinahe vollständig unter sich und nachdenklich spähte ich zur anderen Seite, während Kanda sein Innocence aktivierte und sich unter dem gleißenden Licht auch das zweite Schwert in seiner linken Hand manifestierte.

Es bereitete mir keine Schwierigkeit, ihm meinen Rücken zu überlassen, obgleich wir nicht wussten, was uns erwartete und was er von mir fernhalten müsste. Ich hatte Respekt vor dem, was uns bevorstand und es blieb bei einem flüchtigen Zeichen, bevor ich mich in Bewegung setzte. Wir würden es herausfinden.

Ich sprang hinaus auf die Straße sowie Kanda auf die Mauer und kaum drei Schritte hatte ich getan, da zerriss es das Gestein neben mir unter dumpfen Schüssen.

Wie früh mussten sie uns erspäht haben, wie durchdacht vorgehen.

Kein Level-1, schoss es mir durch den Kopf und kurz war ich versucht, mich zu überzeugen, doch der Glaube an Kanda ließ mich weitersprinten und geradewegs hinein in einen schmalen Pfad. Ich rannte, stets umgeben vom tosenden Lärm des Kampfes, ließ den Pfad zwischen den Trümmern hinter mir, sprang auf eine weitere Straße hinaus und wechselte sofort die Richtung, als sich mir von dort mehrere Level-1 näherten. Ich bog in einen Durchgang, blickte nicht zurück, erspähte eher noch den hellen Schein der Barriere nicht weit vor mir. Es gab keine Häuser, die mir den Blick versagten. Beinahe war es eine freie Flur, die sich vor mir auftat und schon vernahm ich die weiteren Explosionen in meinem Rücken.

Kanda hielt sich nahe bei mir und eilig sprang ich über steinerne Trümmer, setzte über eine halbwegs zerstörte Mauer hinweg und ließ eine Hauptstraße hinter mir.

So rasch wie ich auf den freien Platz hinaus sprang, so rasch verschwand ich wieder und es waren nichts als Bewegungen, die ich wahrnahm. Kreaturen, die hinter Ecken hervorschnellten und mich doch verfehlten. Die runden Körper der Level 1, die mir schwerfällig folgten und meiner Eile nicht beikamen. Hinter mir tobte der Kampf. Das Kreischen eines Level 2 drang an meine Ohren, als ich mich über eine weitere Mauer zog.

Er würde es nicht bereuen, mir vertraut zu haben.

Der Gedanke ließ mich schneller laufen und eilig meinem Ziel entgegen. Die Barriere vor mir wurde größer und endlich sprang ich auf die Fläche hinaus, auf welcher sie sich erhob, doch das einzige, was sie schützte, war ein Trümmerhaufen. Hoffentlich war das Innocence nicht beschädigt.

Ich eilte an den Talismanen vorbei, umging die Barriere und nach nur wenigen Augenblicken erspähte ich das Beige eines Findermantels hinter zerfressenen Ruinen. Nur kurz offenbarte es sich meinen Augen und wie zuckten die beiden Finder in sich zusammen, als ich über die Mauer sprang und sie erreichte. Zitternd klammerte sich der eine an ein Kommunikationsgerät, während sich der andere auf einen Talisman stemmte. Ihre entsetzten, bleichen Gesichter entspannten sich nur stockend, als sie mich erkannten.

Ohrenbetäubend erhob sich eine Explosion in unmittelbarer Nähe und verschluckte ihre Worte.

Der Krawall des Kampfes hatte uns beinahe erreicht.

„Das Innocence!“, keuchte ich und wies auf die Barriere. „Unter den Trümmern?“

Hastig wurde genickt. „Wir hatten es gerade gefunden, da jagten die Akuma das Gebäude mit all unseren Kameraden in die Luft!“

„Es ist uns gerade noch gelungen, die Barriere zu errichten!“

„Das Passwort?“ Ich schob mich zum Ende der Mauer und spähte zur Barriere.

„Dezember“, wurde geantwortet und im nächsten Moment verließ ich den Schutz des Gesteins und sprintete zu den Talismanen. Mehrfach stiegen indessen die schwarzen Rauchwolken brennender Akuma auf und krachend wurde ein Level 2 durch eine Hausfassade und gegen die Barriere geschmettert. Unter einem grellen Aufblitzen schien er annähernd zu schmoren und nur knapp neben mir schlug der leblose Körper auf, als ich die Barriere erreichte und mich vor einem Talisman auf die Knie warf. Eilig öffnete ich die kleine Luke des Talismans, hob ein Fach aus der Öffnung und warf es zur Seite. So tat sich das Buchstabenfeld vor mir auf, doch abrupt hielt ich inne.

Es war ein Reflex, der mich dazu trieb, eine plötzliche Befürchtung, und kaum wandte ich das Gesicht, da erfassten meine Augen die schwarze Gestalt eines Level 3, der sich von einem Dachgiebel abstieß und sich auf mich stürzte.

Es war eine zu kurze Distanz, um das Wort einzutippen und augenblicklich aktivierte ich mein Innocence. Mit aller Kraft traf er auf mich, mit all seinem Gewicht und schlitternd wurde ich zurückgedrängt, als ich den Schlag seiner Pranken blockte.

Es schienen weitaus mehr zu sein als erwartet, denn das nahe Krachen und Tosen der Explosionen zeugten davon, dass Kanda in mehrere Gefechte verstrickt zu sein schien. So hatte ich mich wohl diesem einen anzunehmen und mit einem Mal schloss ich die Klaue um die schwarze Pranke des Akuma, fuhr herum und schleuderte ihn gegen eine nahe Hausfassade. Krachend brach sie zusammen und unter einem dumpfen Tosen ging der Akuma in all dem Schutt und umherstiebenden Staub unter.

Er war noch nicht besiegt, lediglich Zeit hatte ich mir verschafft und kaum regte sich der Akuma in den Trümmern, erfasste ich die Gestalt Kandas. Er sprang von einem Dach, setzte auf dem Nächsten auf und stürzte sich auf den Level 3, kaum dass sich dieser aufrichtete. Er übernahm ihn, doch als ich zu dem Talisman herumfuhr, boten sich meine Augen etwa zwanzig Level 1. Mit einem Mal stiegen sie aus den Ruinen der Stadt auf, doch der Bannkreis erhob sich zwischen uns und so kniete ich mich erneut hinab und tippte das Wort.

Ich wusste, was mich erwartete, sobald der Bannkreis erlosch. Kanda würde es nicht leicht haben, den Platz zu verteidigen, doch wieder blieb es bei blindem Vertrauen. Wenn er mir etwas versicherte, waren es für mich schlicht und ergreifend Tatsachen, auf die ich bauen konnte.

Unter einem Surren verblasste das Licht des Bannkreises. Er erlosch und zurück blieb der Berg aus Trümmern. Ich hatte zu suchen und begann sofort. Nur wenige Schüsse waren es, denen ich auszuweichen hatte und kaum versenkte ich die Klaue im Schutt, da sprang Kanda an mir vorbei und stürzte sich auf das Heer der sich nähernden Akuma.

Ich begann zu graben, Gestein zur Seite zu schleudern und trotz allem hatte ich doch die ganze Zeit über vorsichtig zu sein. Innocence war fragil. Auch nur eines zu verlieren, war undenkbar und es forderte eine gewisse Konzentration, keinen Wert auf den Kampf zu legen, der um mich herum tobte. Oft näherten sich mir Level 1 gefährlich, oft suchte ich dennoch verbissen weiter und stets gingen die monströsen Körper in grelle Explosionen auf, noch bevor ein Schuss auf mich abgegeben werden konnte.

Ein schwerer Stahlträger war es, der mir in Quere kam und so zog ich auch ihn aus dem Schutt. Wenn mich das Pech ein weiteres Mal zu fassen bekam, verbarg sich das Innocence ganz unten. Ich arbeitete mich vor, suchte, wühlte und schmiss Gestein zur Seite. Es waren wahre Brocken, die ich zu entfernen hatte, während Tim mich umflatterte.

„Wo habt ihr es gefunden?!“, schrie ich kurz darauf zu jenen Grundmauern, hinter denen sich die Finder verbargen und sofort neigte sich einer von ihnen ins Freie.

„Im Obergeschoss!“, rief er zurück. „Auf der linken Seite!“

Es konnte nicht tief liegen und vorsichtig stieg ich nach links und suchte weiter. Eine weitere grelle Explosion erhob sich, krachend schlug ein Level 1 neben dem Schuttberg auf und nur beiläufig bemerkte ich das Auftauchen eines weiteren Level 3.

Ich biss die Zähne zusammen, ließ mich auf die Knie sinken und wurde immer unerbittlicher in meiner Suche. Kanda musste gleichzeitig überall sein. Die Gegner näherten sich von jeder Seite und ich spürte, wie sich die Situation zuspitzte. Weitere Level 1 gingen zu Boden und nur kurz spähte ich auf und verfolgte, wie Kanda sich auf den Level 3 stürzte, kurz bevor er sich auf den Weg zu mir machen konnte und kaum trafen sie aufeinander, rückten die Level 1 näher. Die Kanonen richteten sich auf mich und nur kurz konnte Kanda von dem Level 3 ablassen, um sich um jeden von ihnen zu kümmern.

Ich durfte nicht hinschauen. Ich musste vertrauen!

Hektisch beteiligte sich Tim an der Suche, stürzte sich auf einen Stein, biss hinein und versuchte ihn vom Fleck zu bewegen, während ich Schutt zur Seite räumte und in all dem Staub, der mir entgegen stiebte, hustete. Meine Hand traf auf einen festen Widerstand. Es war ein weiterer Stahlträger, der mir im Weg war und sofort umfasste ich auch ihn mit meiner Klaue, bewegte ihn, zog ihn aus dem Dreck und schleuderte ihn nach drei Level 1, die sich mir bedrohlich näherten. Der Aufprall war heftig, er riss sie mit sich und mir entrann ein lautes Ächzen, als ich dort tief unten und in einem Schacht der Ruine jenes Leuchten erspähte. Das Innocence!

Es wurde nicht von Gestein belastet, doch lag circa drei Meter tiefer. Ich konnte es schnell erreichen, doch musste gleichsam darauf achten, es nicht zu verschütten. So gab ich mir Mühe, das Gestein nichts ins Rollen zu bringen. Stein für Stein entfernte ich, schob mich auf den Knien näher, tastete weiter und hielt inne, als ich ein Ächzen vernahm.

Kanda!

Ich fuhr herum und sah ihn straucheln. Ein Schuss schien ihn getroffen zu haben. Er stolperte, doch ebenso rasch wandte er sich wieder den Gegnern zu. So wie ich auf ihn vertraute, hatte ich auf seine Fähigkeiten zu vertrauen. Ich durfte nicht hinsehen, mich nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, wo ich mein Ziel vor Augen hatte und wie kalt kroch die Gänsehaut über meinen Rücken, als ich weitere Level 3 erspähte. Zwei von ihnen in Kandas Rücken. Sah er sie? Er musste es!

Verbissen schüttelte ich den Kopf und schob mich tiefer in den Schacht. Er war zu eng, ich kam nicht weit genug hinab. Nicht einmal annähernd, als ich den Arm nach dem Innocence ausstreckte! Fluchend schob ich mich zurück und begann abermals im Schutt zu graben.

Der Kampf ging weiter. Nicht minder unerbittlich, wie ich mit diesem Gestein zugange war. Ich war ungeduldig und aufgebracht, schmetterte mehr und mehr zur Seite und konnte kaum noch unbeachtet lassen, was in meinem Rücken geschah. Kanda ging beinahe unter in diesem Meer aus Level 1. Sie schienen ihn geradewegs zu verschlucken, bis es mehrere durch Explosionen zerriss und er wieder auftauchte. Nervenkitzel und Erleichterung gaben sich die Hand und wie schwer fiel mein Atem nach wenigen weiteren Momenten. Weitere Stahlträger. Ich verfluchte diese Zufälle und mit einem Mal blickte ich auf und erspähte über mir zwei Level 1. Nahe. Zu nahe!

Eine Explosion ließ mich vermuten, dass Kanda nicht darauf achten konnte. Er behauptete sich an einer anderen Ecke des Platzes. Ich konnte nicht auf ihn warten und ohne zu zögern stieß ich mich ab und zerriss die beiden monströsen Körper mit einem Hieb meiner Klaue. Gleichsam schmetterte ich sie zur Seite und fort von jenem Schuttberg, bevor sie dort einschlagen konnten, wo ich zugange war.

Es war nicht problematisch, doch zeugte all das davon, dass Kanda überfordert zu sein schien.

Ich schürfte nicht weiter, fuhr viel eher herum und sah ihn auf der Kante eines Daches aufsetzen. Von einem weiten Sprung ging er nieder und mit stockendem Atem sah ich ihn dort oben straucheln.

Er schien keinen Halt zu finden, klirrend brachen die Dachziegel unter ihm und wie ein Blitz stürzte dieser Level 3 auf ihn zu. Mein Körper zuckte. Ein Reflex befahl mir, sofort zu ihm eilen, die Distanz war jedoch zu groß und ich durch unsere Abmachung an diesen Ort gebunden.

Doch Kanda war dem Angriff gewachsen. Der kraftvolle Schlag wurde sicher abgewehrt, doch während der Akuma zur Seite geschmettert wurde, stürzte auch Kanda vom Dachgiebel. Es war ein leichter Sturz, der keine Gefahr für ihn darstellte und angespannt arbeitete mich weiterhin vor. Mit zusammengebissenen Zähnen tauchte ich erneut ein in den Schacht und streckte mich dem Innocence entgegen.

Ich erreichte es fast, doch realisierte in diesem Augenblick die ungewohnte Stille, die seit kurzem herrschte. Keine Explosionen erfüllten die Luft und sofort stemmte ich mich in die Höhe und hielt nach Kanda Ausschau.

Weitere Level 1 zogen mir entgegen, während der Akuma des 3ten Levels auf einen nahen Dachstuhl niederging und wie still war es auch weiterhin. Der ohrenbetäubende Lärm hatte jeden Moment unseres Aufenthaltes bestimmt. Wie verbittert suchten meine Augen nach meinem Kameraden und mein Atem stockte, als ich ihn fand. Langsam schob sich der massive Körper eines Level 1 aus meiner Sicht und lautlos öffnete ich den Mund.

Stockend regte er sich, bebend tastete seine Hand nach Mugen und erreichte es doch nicht. Er war fixiert, aufgespießt und die Waffe ihm entglitten. Ein stählerner Pfahl ragte aus seiner Brust und wie zuckte ich zusammen. Er gelangte nicht an seine Waffe. Er war verletzt.

Wie schmerzhaft rasten diese Gedanken in meinem Kopf, als mein Körper reagierte und ich auf die Beine sprang. Ich wusste, dass diese Wunde nicht seinen Tod bedeutete, doch die Zahl der Feinde war noch immer so immens und er jedem von ihnen ausgeliefert.

Mein Atem raste, alles an mir zitterte und keuchend blickte ich zurück zu dem Innocence.

Es zerriss mich. Hier an diesem Punkt, an den ich gehörte und an welchem ich doch nicht sein wollte!

Ich gehörte zwischen Kanda und die Akuma.

Das Donnern eines Schusses riss mich aus meinen fieberhaften Gedanken und ein Ächzen entrann mir, als alles um Kanda herum aufstob. Wie ausgeliefert war er und wie eilig sprang ich von dem Schuttberg, setzte auf dem Boden auf und zerriss mehrere Level 1 mit einem Schlag.

Niemand legte Hand an Kanda, wenn ich in der Nähe war!

Verkrampft umklammerte er diesen Pfahl, versuchte ihn zu bewegen und ich rannte weiter, rannte zu ihm und durch die Mauer der Feinde, die sich um ihn schloss. Keuchend erreichte ich ihn letztendlich und blieb stehen. Er in meinem Rücken, vor mir die Akuma und ich zu allem bereit.

Eine seltsame Regung ging durch die Reihen der Angreifer. Abrupt hielten die Level 1 in ihren Bewegungen inne, ihre Kanonen gaben keinen weiteren Schuss ab und mit schwerem Atem starrte ich auf die Massen, die uns umgaben. Es waren geschätzt dreißig Level 1, während zwei weitere Level 3 über Häuserfassaden krochen. Es blieb eine Masse, mit der ich es aufnehmen konnte, doch mit einem Mal stockte mir der Atem. Er setzte sich in meiner Brust fest, während sich meine Augen weiteten und nur unterschwellig vernahm ich das Ächzen hinter mir.

„Was tust du! Kümmere dich um das Innocence, verdammt!“

Stockend hob ich den Kopf, nur langsam drifteten meine Pupillen zur Seite und kalt überkam mich ein Schauer, als aus sämtlichen Ruinen, aus sämtlichen Kellern und Fenstern ein wahres Heer aus Level 2 kroch. Ein buntes Getümmel erhob sich um mich herum und röchelnd verstummte auch Kanda.

Weniger problematischer wäre es, würde ich sie bekämpfen, ohne jemanden zu schützen. Doch zu schützen hatte ich hier und jetzt zweierlei Dinge, von denen eines einen weitaus geringeren Wert einnahm.

Was war ein Innocence im Vergleich zu Kandas Leben?

Ich würde es sofort opfern, wenn man mich vor die Wahl stellte.

Langsam bewegte ich meinen linken Arm, umschloss das Handgelenk mit der Rechten und zog mein Schwert ins Freie.
 

-tbc-



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