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Unseen Souls

von

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14

„Wie versprochen!“ Kaum erreichte ich den Tresen, da erreichte ihn auch Jerry und das mit einem Tablett, das schon länger auf mich gewartet zu haben schien.

Von seinem sonnigen Gesicht blickte ich zu all den Schoko-Donuts und war in den ersten Momenten unentschlossen, wie ich zu reagieren hatte. Jerry hatte daran gedacht aber als ich Luft holte und mich zu einem Lächeln zwang, bemerkte ich, dass mir jeder Appetit fehlte.

„Koste diese Donuts“, sagte er berauscht, „und du wirst nicht nur die Schokolade sondern auch meine Liebe schmecken!“ „Danke.“

Dieser Situation entkommen. Auf etwas anderes war ich nicht aus und so versuchte ich das Treffen abzukürzen, indem ich das Tablett an mich nahm. Jerrys Euphorie war ich nicht gewachsen. Seine Welt war soviel heller als meine.

„Ach, bevor ich es vergesse!“ Sofort hielt ich inne und sah Jerry grinsen. „Ich soll dir etwas von Kanda ausrichten.“

Stirnrunzelnd blickte ich auf.

Seit geraumer Zeit machten mich gewisse Schlagworte aufmerksam und wie liebevoll erwiderte Jerry meinen Blick.

„Er sagte, es hätte vorzüglich geschmeckt und ist dir sehr dankbar, dass du diesen Weg auf dich genommen hast.“

Meine Miene entspannte sich und dann stand ich dort und starrte den Koch an. Das konnte doch nicht wahr sein.

„Warum meinst du, solche Witze machen zu müssen?“, erkundigte ich mich.

Ich befürchtete, wie jemand auszusehen, der Aufheiterung brauchte. Jerrys Aufmerksamkeit hatte ich nur selten so intensiv eingeschätzt aber das Lachen, in das der Mann daraufhin ausbrach, verschaffte mir Beruhigung. Es war nur ein Witz am Rande gewesen. Eine Bemerkung, die man einfach aussprach und sich nicht viel dabei dachte.

„Klingt doch gut, oder?“ Nur schwer schaffte Jerry es, sich unter dem Lachen aufzurichten. Er hielt sich den Bauch, während ich zur Seite spähte. „Wer weiß, vielleicht passiert es eines Tages? Wäre nur angebracht.“

Das, was hier geschah, war alles andere als angebracht aber mir gelang noch ein knappes Lächeln, bevor wir uns voneinander abwandten. Ich war schnell darüber hinweg, kurz darauf nämlich schon viel zu sehr darauf fixiert, mir einen abgelegenen Platz zu suchen. Es minderte die Gefahr, dass sich jemand direkt neben mich setzte.

Nur kurz lugte ich zu den Donuts, als ich bequem saß, rückte an einem von ihnen und griff dann doch nur nach dem Saft. Die Donuts waren frisch. Deutlich zog mir dieser Duft in die Nase aber nichts an mir war bereit, sich so einfach locken zu lassen. So ließ ich mir Zeit, nippte und trank in so kleinen Schlucken, dass ich eine Weile damit zubringen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Als ich dann doch nach einem Donut griff, drifteten meine Gedanken haltlos zu den finstersten Stunden dieser Nacht zurück.

Es geschah wieder und wieder. Ein widerlicher Verlauf, der keinen Wert darauf legte, ob ich ihm gewachsen war.

Manchmal war ich so ausgeliefert, wie ich es auf dem Schlachtfeld nie sein könnte. Würde es einen Ausweg geben, einen Umweg, einfach einen Pfad, der mich am größten Leid vorbeiführte, ich hätte ihn längst gefunden. Meine Augen waren nicht nur aufmerksam, sie waren verzweifelt und ebenso ungläubig auf die Tatsache gerichtet, dass ich mich wohl damit abzufinden hatte. Vermutlich gehörte es einfach zu mir.

Ich musste nicht in Licht gehüllt sein, um lange Schatten zu werfen.

„Guten Morgen!“ Eine heitere Stimme riss mich aus meinen tiefschwarzen Gedanken, ließ mich blinzeln und die Umwelt erkennen. Ein Klaps traf meine Schulter und ich spürte den seltsamen Anflug eines Erschreckens, als ich Lavi erkannte.

Grinsend wurde er sein Tablett auf dem Tisch los und schob sich mir gegenüber auf die Bank, während ich ihn noch anstarrte und nicht wusste, wie verheerend dieser Zufall wirklich war.

„Hast du es schon gesehen?“ Heiter begann er Ordnung auf sein Tablett zu bringen. „Heute Nacht hat es gar nicht geschneit. Es sieht sogar fast so aus, als wäre eine Menge Schnee weggeschmolzen. Und weißt du, was das heißt?“ Er sah mich an und ich schüttelte den Kopf. „Wir kriegen Frühling, Allen.“

Fast erwartungsvoll behielt er mich in Augenschein und verfolgte, wie ich den Donut zwischen den Fingern bewegte. Auch nach beiden Seiten spähte ich, nur flüchtig und wohl auf der Suche nach einer Rettungsleine.

„Mm.“ Letztlich nickte ich nur zu seinen Worten und pflückte den Donut auseinander. „Scheint wohl so.“

Weiterhin nickend wandte ich mich meinem Donut zu und gab mich als jemand aus, der zu hungrig war, um gleichzeitig gesprächig zu sein. Lavi antwortete nicht und so versenkte ich das erste Stück im Mund und versuchte meine Frustration auch weiterhin zu verbergen. Auf der anderen Seite des Tisches knackte ein frisches Brötchen. Ein Messer traf auf den Teller und kurz darauf meinte ich, ein tiefes Durchatmen zu hören.

„Allen.“ Dieses eine Wort ließ mich kurz erstarren.

„Mm?“ Angespannt versenkten sich meine Finger im weichen Gebäck und ein weiteres Seufzen mir gegenüber verfestigte nur den ernsten Klang, dem seine Stimme mit einem Mal verfallen war.

„Es hat die ganze Nacht geschneit und wir haben Mitte Dezember. Wo soll da der Frühling sein?“

Meine Lippen pressten sich aufeinander und als ich aufblickte, war das grüne Auge mit so einer Geradlinigkeit auf mich gerichtet, als wolle es sich geradewegs durch meine Fassade bohren. Bis in mein Inneres, das in diesen Momenten so aufgewühlt war wie eine Beute, die ein Raubtier witterte und doch keine Höhle fand.

„Ich habe noch nicht aus dem Fenster geschaut“, sagte ich dann nur und achtete darauf, mich nicht zu sehr zu verteidigen. Es sollte nicht den Anschein erwecken, als fühle ich mich ertappt. Es war nur ein Gespräch am Rande. Es hatte nicht viel zu bedeuten.

Nicht, wenn ich nicht so tat.

Doch während ich weiterrupfte und kaute, ließ Lavi nicht von mir ab. Ich spürte seinen Blick und die Stille hielt nicht lange an. In einer beunruhigenden Bewegung wurde er das Brötchen auf dem Teller los, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. Er verschärfte seine Beobachtung und ich war reichlich genervt, als ich mich aufrichtete und der Konfrontation stellte. „Glaubst du, mir fällt es nicht auf?“ Er wies mit einem Nicken auf mich. „Du bist seit einiger Zeit nicht mehr bei uns.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Irritiert lächelte ich und wie verfluchte ich ihn innerlich.

Hier und jetzt befand ich mich in der Situation, die schrecklich genug war, um ebenso gut meinen Alpträumen zu entspringen. Die Aufmerksamkeit eines Bookman, der stets zu viel sah. Wie hätte ich vorsichtig genug sein können?

Wie hätte ich bemerken sollen, dass er, während er lachte und mit Linali sprach, über Sinne verfügte, die sich in so ganz andere Richtungen lenkten!

Stirnrunzelnd regte er das Kinn in der Hand, blickte zum Tisch und wirkte dabei fast verdrossen.

„Ehrlich“, raunte er dann und zuckend versenkten sich meine Finger tiefer im Donut. „Hast du dich mal angeschaut? Du bist blass, siehst aus, als hättest du seit Nächten nicht mehr richtig geschlafen. Du bist völlig neben der Spur.“

Als würde er geradewegs auf dem Grund meiner Seele spazieren gehen.

Aber es ging ihn nichts an.

Ohne meine Erlaubnis hatte er sich dort nicht zu bewegen.

Permanent blieben meine Finger am Donut zugange sowie meine Miene gelöst und mein Lächeln unerschütterlich. Und dann zuckte ich mit den Schultern.

„Ich bin sehr spät eingeschlafen. Tim war aufgeregt und hat mich wohl angesteckt.“

„Und kommt das öfter vor?“ Die nächste Frage folgte so schnell wie gnadenlos und unter einem Seufzen begann ich auf meinem Tablett zu tasten.

„Es ist nur so, dass…“ Meine Stimme versiegte, als meine blind geführte Hand auf den Becher traf und ihn zur Seite und vom Tisch wischte. Es war nicht gerade wenig Saft in ihm gewesen und bestürzt folgten ihm meine Augen.

Sie folgten seinem Sturz gen Boden und blieben an zwei Füßen hängen, die mit einem Mal im Mangosaft badeten. Jemand war neben mir im Gang stehengeblieben und während ich zur Seite gebeugt blieb und die Augen ungläubig nach unten gerichtet, verhielt sich auch Lavi still.

Langsam regten sich die Zehen in der Feuchtigkeit. Die Füße steckten in bequemen Schlappen und nur stockend blickte ich auf und erkannte eine schwarze Hose. Mein Mund öffnete sich, ohne dass ich wusste, was es zu sagen gab. Ich musste nicht mehr sehen, um zu wissen, wie sehr sich meine ohnehin prekäre Lage mit einem Mal weit mehr verschlimmert hatte.

Plötzlich war mir nach einem Lachen zumute. Dem, was folgen würde, war ich nicht gewachsen.

Kanda betrachtete sich das Malheur. Er sagte nichts, bewegte nur die Zehen in der klebrigen Feuchtigkeit und kaum legte sich seine Stirn kraus, verbarg ich die Augen hinter der Hand. Zusammengesunken blieb ich sitzen und schüttelte nur den Kopf. Es war unglaublich und es brauchte ein tiefes Durchatmen, bis ich den Mut fand, ihn anzuschauen.

„Es tut mir leid.“ Ich brachte es einfach über die Lippen, denn es war die Wahrheit. Wieder schüttelte ich den Kopf, ernüchtert von mir selbst. „Wirklich. Das war keine Absicht.“

Fast glaubte ich, Lavis Nervosität zu spüren. Dabei hatte er doch nichts mit alledem zu tun.

Es ging nur um mich und die Tatsache, dass ich jede Umsicht verlor. So etwas hatte nicht zu passieren. Jedenfalls nicht bei Kanda. Ein Brummen läutete den Untergang ein.

„Lass das nicht nochmal vorkommen.“

Sofort nickte ich, wollte jeder Konfrontation aus dem Weg gehen und wartete auf die Fortsetzung. Doch plötzlich setzte sich Kanda in Bewegung und nur zögerlich blickte ich auf. Er ging und der Rest der Fassung bröckelte geradewegs aus meinem Gesicht. Er kehrte einfach zur Tür zurück, schüttelte einen Fuß, befreite ihn von wenigen Tropfen und dann verschwand er.

Am Tisch herrschte Stille. Der Rothaarige bewegte sich nicht und auch ich brauchte einen Augenblick, um mir der Tatsache bewusst zu werden, wie versessen ich auf jene Tür starrte. Er starrte immer noch an mir vorbei, als ich unter einem Räuspern nach dem nächsten Donut griff.

Konnte es sein?

Und wenn dem so war, könnte ich es annehmen?

In letzter Zeit passierten so viele ungewohnte Dinge, dass mein Verstand sich überfordert fühlte.

„Sag mal…“ Als ich aufspähte, lehnte sich Lavi über den Tisch und schirmte den Mund mit der Hand ab, als folge ein waschechtes Geheimnis. Ich interessierte mich im Grunde nicht für die kommenden Worte, sondern nur dafür, dass jede Ernsthaftigkeit aus seinem Gesicht gewichen war.

„Ihr habt doch irgendeine Abmachung getroffen, oder?“

„Was meinst du?“, erwiderte ich. Dieses Gerede war mir lieber, als das an Gnadenlosigkeit grenzende Verhör.

„Was ich damit meine?“ Unter einer Grimasse lehnte er sich zurück, betrachtete mich skeptisch, ja, annähernd frustriert. „Erinnerst du dich daran, als mir der Kuchen vom Teller gerutscht ist und er rein trat? Erinnerst du dich, was da los war?“

Natürlich erinnerte ich mich, denn ich war dabei gewesen, aber mein Nicken war nicht nötig, denn er verfiel seiner alten Gesprächigkeit.

„Einem bösartigeren Dämon bin ich nie begegnet“, murrte er. „Es war auch nicht so, als wäre es ein ganzes Stück gewesen. Vielleicht waren seine Schuhe neu? Verdammt, warum geht er mir an die Gurgel und dir einfach aus dem Weg?“

Ja, weshalb?

Ich aß noch einen Happen und dann lugte ich erneut zu dem Becher. Er lag noch immer dort, also hob ich ihn auf. Und ich war so nachdenklich, dass Lavi eigentlich Selbstgespräche führte.

„Seid ihr wieder eine Einheit? Oder hast du seine Schwachstelle gefunden?“, wollte er wissen. „Irgendeine peinliche Schrulligkeit? Hast du versprochen, es niemandem zu sagen, wenn er sich benimmt?“

„Ich habe gar nichts gemacht“, murmelte ich nur und stöhnend sank Lavi in sich zusammen.

„Das glaubt mir Crowley nie.“

Immerfort erhob sich seine Stimme und ebenso rasch verdrängte ich sie aus meiner Wahrnehmung. Es waren Tatsachen, die sich mir hier boten. Verhaltensweisen, die weitaus durchschaubarer waren, als sie wirkten. Ich verstand und wusste nicht, wie ich dabei fühlte. Kanda hatte mich gesehen und das im wahrsten Sinne des Wortes. Keine Maske, keine Schauspielkunst.

Schon zum zweiten Mal. Ich schwankte und stolperte und er wusste es. Was soeben geschah, war ein Versehen, das im Irrgarten seines Charakters auf eine seltsame Nachsicht traf.

Ich blickte zu den hohen Fenstern und bewegte die Schokolade im Mund, ohne sie zu schmecken.

Stand es wirklich so schlimm um unsere Verbindung?

Irgendwann kam er zurück. Ich bemerkte ihn, als er unseren Tisch hinter sich ließ und einen nicht unerheblichen Bogen machte, als würde er weitere Desaster erwarten aber das einzige Desaster saß mir gegenüber. Lavis witzig gemeinten Worte und die Erzählungen von Dingen, die mich nicht interessierten, wurden allmählich schlimmer als die vergangene Befragung und so kam mir diese Abwechslung, in welcher ich Kanda nachblickte, sehr gelegen. Den Ellbogen auf den Tisch gestemmt, bewegte ich den nächsten Donut am Mund und spähte an Lavi vorbei.

Kanda bewegte sich so entspannt wie zuvor. In bequemen Hausschuhen erreichte er die Theke und kurz darauf erhob sich schon das berauschte Seufzen Jerrys.

„Da bist du ja wieder!“, hörte ich ihn jauchzen und verfolgte all das ganz genau.

Kandas Reaktion ließ nicht auf Wut schließen. Nicht einmal die geringste Gereiztheit formte die Geste, in der er die Hand zum Nacken hob und diesen rieb. Während Jerry wieder dem Seufzen verfiel, lugte ich kurz zu Lavi.

Was mich anging, ich war gereizt, ohne Saft über die Füße geschüttet bekommen zu haben. Ich war es allmählich wirklich und resigniert schob ich den Donut in den Mund und biss ab. Es wurde zur Zerreißprobe und zahllose Momente, in denen ich mir die Frage stellte, welches Defizit mich dieser Situation auslieferte.

Weshalb ich nicht zugab, müde zu sein und Lavi bat, seinem Mund den Fleiß zu nehmen. Es war doch normal, schlechte Tage zu haben. Ich hätte mich nicht zu rechtfertigen, doch ich schwieg, schluckte, biss die Zähne zusammen und spähte zu Kanda, als würde mir sein Anblick helfen.

Er war weit entfernt, kehrte uns den Rücken und letztendlich war es der Zufall, der mich rettete.

„Was? Schon so spät?“ Abrupt und verwirrt starrte Lavi zur Uhr. „Wo ist die Zeit geblieben? Ich muss los!“

Mit einem Mal wurde ich aufmerksam und verfolgte, wie er das Brötchen auf den Teller zurückwarf.

„Jetzt bin ich kaum zum essen gekommen.“

Das wäre er, hätte er die Klappe gehalten.

Ich hob die Brauen und eine schwere Last fiel von meinen Schultern, als er wirklich auf die Beine kam.

Er griff nach seinem Tablett und schickte mir ein Grinsen.

„Na dann, tut mir Leid. Ich werde mich mal auf die Socken machen.“

„Pass auf dich auf“, verabschiedete ich mich und schon setzte er sich in Bewegung.

„Du auch.“

Ich sah ihm nach, als er zum Tresen eilte und kaum war er außer Hörweite, sank ich erleichtert in mich zusammen.

Wie genoss ich die zurückgekehrte Stille und das letzte Lächeln, das ich Lavi auf seinem Weg nach draußen schickte, zeugte vielmehr von Entlastung als von Sympathie.

Von nun an zwang ich mich nicht mehr dazu, rasch zu essen. Mir blieb jede Zeit und viel von ihr verging nicht, bevor ich aufblickte und Kandas Rücken abermals studierte. Abwesend erkundeten meine Fingerkuppen die Oberfläche des Tisches. Mit einem Mal fühlte ich mich so entlastet und frei, als folgte ich einem neu entdecken Interesse inmitten dieses freien Tages.

Durfte ich es behaupten? Es für mich annehmen und akzeptieren?

Die Offensichtlichkeit brachte mir die Erlaubnis und die Sicherheit, dass mich meine Wahrnehmung diesmal nicht täuschte. Er verschonte mich, als ich den Becher über seinen Füßen verschüttete. Er nahm Rücksicht. Abrupt hielten meine Finger inne und perplex spürte ich, wie ein Großteil der Schwere, die bislang in meiner Brust herrschte, verblasste.

Mein Atem, der durch die Vorkommnisse der Nacht so gedämpft fiel und so angespannt, erhob sich nun so leicht, so unbeschwert, wie ich es an diesem Tag nicht mehr erwartete. Meine Augen lösten sich von Kanda und abermals atmete ich tief ein, tief aus und entspannte meine Schultern.

Was war das für ein seltsames Gefühl?

Meine Wahrnehmung geriet beinahe in Verwirrung über diesen jähen Wechsel meines Befindens.

Wie könnte ich es nennen?

Ich fühlte mich gedrängt, all das mit nur einem Wort für mich festzulegen und nach einem weiteren, genüsslichen Durchatmen zuckten meine Mundwinkel zu einem Lächeln.

Meine Lippen trugen diesen milden Ausdruck mit aller Aufrichtigkeit und bald schüttelte ich den Kopf, überfordert und doch behaglich.

Ich erinnerte mich, wie wir uns begegneten, früh am Morgen und in den Duschen und wie irritiert stellte ich mir die Frage, weshalb ich es nicht schon dort begriff. Kurz bevor ich in den Duschen verschwand, als ich flüchtete und das vielmehr vor der Aufmerksamkeit Jonnys, war es nicht Kanda gewesen, der diesen sofort aufforderte, sich auf ihn zu konzentrieren?

Hatte er Jonny nicht abgelenkt, bevor er mir gegenüber zu aufmerksam wurde?

Ungläubig vertiefte sich mein Lächeln. Wenn auch zittrig.

Ich verstand und ich akzeptierte. Wie um alles in der Welt konnte ich davon ausgehen, dass es um mich und Kanda übel stand?

Er war soviel wohltätiger als ich, doch stets in einem Rahmen, in welchem er es jederzeit dementieren könnte.

Er war so vorsichtig mit seiner Humanität, hielt sie versteckt und wie glaubhaft könnte er alles abstreiten. Es blieben keine Beweise. Nur zweideutige Taten, zu denen er niemals stehen müsste. Was für eine Vorbeugung. Auf Dank würde er so abweisend und verständnislos reagieren, dass man selbst an der eigenen Auslegung zweifeln würde.

Er erwartete nichts und umso ehrlicher und selbstloser wurde dadurch sein Handeln. Allmählich sah es so aus, als wäre von uns beiden ich der einzige Unmensch. Der, von dem man es am wenigsten erwartete, während er lächelnd und friedlich neben dem finstersten Gesicht aller Zeiten stand. Was für eine Tücke.

Nichts war, wie es schien.

Langsam hob ich die Hand, bettete sie auf meiner Brust und spürte das ruhige Schlagen meines Herzens. Es widersprach der Realität. Meine Unfähigkeit, Schonung und Hilfe anzunehmen und sie für mich zu akzeptieren, wenn man sie mir offensichtlich zukommen ließ, war so kompatibel, dass es fast erschreckend war. Wie genoss ich Kandas versteckte Aufmerksamkeit und Unterstützung. So wie er alles abstritt, könnte auch ich tun, als nähme ich all das nicht wahr.

Sein Beistand war meiner Eigenart so angepasst, dass ich mich hier und jetzt zum ersten Mal am Punkt vermutete, diese Geschenke annehmen zu können. Es war ein neuartiges Gefühl, das mich so unbeschwert sein ließ, dass dieser Tag sofort heller wurde.

Ich fühlte mich so wohl in seiner Anwesenheit. Und ich aß, genoss die Ruhe, die mich dabei umgab und der letzte Donut klemmte zwischen meinen Lippen, als ich mich von der Bank erhob. Ich war fertig, gesättigt und gestärkt. Bereit für den Tag, könnte man meinen und wie wenig hätte ich es nach dieser Nacht erwartet. Wie sehr hatte ich mich darauf eingerichtet, meinen Kampf noch länger führen zu müssen, mit meinen Erinnerungen und dem Zittern meiner Hände zu ringen.

Doch völlig ruhig hielten sie jetzt das Tablett und zum ersten Mal an diesem Tag begegnete ich Jerry mit einem befreiten Lächeln.

„Wie hat es geschmeckt?“

„Unwirklich delikat.“ Den letzten Donut zwischen den Fingern wendend, lehnte ich mich an die Theke. „Aber was soll ich sagen, Jerry? Bei dir kann man nichts anderes erwarten.“

„Ach, hör doch auf.“ Jerry drohte rot zu werden. „So viel Lob ertrage ich doch nicht.“

„Soll ich weitermachen?“

„Ich bitte darum.“

„Das Gebäck war so weich, dass es mir im Mund zerschmolzen ist und diese Schokolade. Wie machst du das nur? Das war doch keine normale Schokolade.“

„Nicht?“ Jerry grinste bis über beide Ohren. „Was war es sonst?“

„Ehrlich, keine Ahnung.“ Ich weitete die Augen. „Vielleicht irgendetwas Glitzerndes aus dem Feenland, das kleine Lichtgeschöpfe mit Zauberstaub bestreut haben. Irgend so ein Kram eben.“

Jerry brach in Lachen aus und ungezwungen schloss ich mich ihm an, lachte so klar und heiter wie lange nicht mehr. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung und als ich den Kopf wandte, erkannte ich Kanda. Soeben hatte er uns erreicht, wurde das Tablett los und rückte augenblicklich in Jerrys Mittelpunkt.

„Und?“ Lieblich nahm er Kanda in Augenschein. „Wie hat es dem Herrn geschmeckt?“

„Du hast es so gemacht wie immer.“ Kanda runzelte die Stirn, während Jerry mir einen verschmitzten Blick sendete.

„Was ist mit dem Zauberstaub?“, erkundigte er sich dann und wie aufmerksam musterte ich Kanda.

Viel gab es nicht zu sehen, denn sein Gesicht entspannte sich und letztendlich reagierte er demonstrativ überhaupt nicht. Unseren Blödsinn begriff er spätestens in diesem Moment und natürlich spendete er kein Wort an Feenländer oder glitzernde Sachen. Die Atmosphäre erfror für einen Moment und so blieb meinen Augen genug Gelegenheit, sich unauffällig auf das Armband zu richten, das Kandas linkes Handgelenk zierte. Seit dem Tag, an dem wir uns kennen lernten. Es gehörte zu ihm und wie vertieft verfolgte ich die knappe Regung seiner Finger. Unserer Albernheit zum Trotz leistete er uns weiterhin Gesellschaft und wie grenzenlos genoss ich diese Momente.

„Habe ich das richtig mitbekommen?“, wandte sich Jerry kurz darauf erneut an ihn. „Du sollst den ganzen Tag frei haben.“

Ich hob die Brauen. Wie mildtätig Komui doch war. Kandas Brummen klang wie eine Zustimmung und unweigerlich erkannte ich die Art der Antwort wieder. Anders hatte auch ich nicht reagiert, wenn man mich darauf ansprach.

Doch Kanda wirkte fast wie jemand, der diese Tatsache akzeptierte.

Die letzte Zeit hatte ihn gefordert und als ich wieder um ein Stück aus meiner Gedankenwelt auftauchte, stemmte er die Hände in die Hüften. Ohne dass ich es meinen Augen auftrug, drifteten sie zu dem tiefen, lockeren Dutt, zu dem er sein Haar gebunden hatte.

„Zu etwas Wichtigerem“, erhob er mit einem Mal die Stimme und nicht nur Jerry zelebrierte diese Seltenheit mit überraschter Aufmerksamkeit. „Als ich aus Russland kam, war ich hier und wollte etwas essen.“

„Bitte? Gleich danach?“ Jerry schnitt eine Grimasse. „Wie hast du es bis hierher geschafft?“

„Spielt keine Rolle“, erwiderte Kanda und störte sich herzlich wenig an meinem Starren. „Was hingegen eine Rolle spielt, ist das, was passieren wird, wenn mir noch einmal so eine Vertretung unter die Augen kommt. Bei der ersten überflüssigen Frage werde ich ihm Kochmütze in den Mund stopfen.“

Unter einem unwillkürlichen Lachen ließ ich den Kopf sinken. Jerry seufzte schuldbewusst, doch Kanda war noch nicht fertig.

„Du musst nicht fort, um Zutaten zu kaufen“, klärte er Jerry auf. „Selbst ein kompletter Idiot kann einen Zettel lesen. Du hättest jeden Schwachkopf schicken können, der hier faul herumlungert. Den hier zum Beispiel.“

Eine Handbewegung wies in meine Richtung und perplex richtete ich mich auf. Es überraschte mich, dass er mich einbezog, doch unangenehm war es keinesfalls, denn mir stand der Sinn danach, mit ihm zu sprechen. Auf welche Art auch immer.

„Ich habe doch keine Ahnung von Zutaten“, sagte ich. „Ich will sie nur essen.“

„Du willst immer nur alles essen.“ Wie genussvoll seufzte meine Seele, als er sich an mich wandte.

Als er meinen Blick erwiderte und Jerry den Zuschauerposten einnahm.

„Gott bewahre, dass du kennst, was du in dich stopfst. Deine Welt ist erstaunlich flach, Bohnenstange.“

„Allen.“ Meine Gesichtszüge zog es tiefer. „Wie viel Zeit hattest du jetzt zum Üben?“

„Weniger als du denkst aber natürlich ist es schwer, die Spanne einzuschätzen, wenn man seine Tage damit zubringt, als nutzloser Teil der Gesellschaft herumzuschmarotzen.“

Mit einer Grimasse versuchte ich diesen unerwarteten, absolut perfekten Schlag zu verdauen, doch er ließ mir keine Gelegenheit.

Im Grunde waren Worte dieser Art der einzige Dank, den ich ihm entgegenbringen konnte und den er auch bereit war anzunehmen. Ich befürchtete, ihn allmählich zu begreifen.

„Lass es uns großzügig 'Glück' nennen, dass es damals nicht deinen Kopf getroffen hat. Knochen brauchen kein Denkvermögen, um zu heilen, und was du noch an Verstand besitzt, lässt dich essen, schlafen und atmen. Wir bleiben also beim Standard.“

Er sprach es aus.

Ganz beiläufig erwähnte er eine Sache, die mir die letzten Tage erschwert hatte, doch ich spürte keine Wut.

Als wäre er der einzige, der das Recht hatte, den Fuß in dieses Gebiet zu setzen. Ganz im Gegensatz zu Lavi und all den anderen.

„Nenn es Glück, dass es überhaupt passiert ist“, antwortete ich letztendlich. „Stell dir vor, wir wären zusammen nach Russland gegangen. Es wäre schwer gewesen, sich während des Kampfes zu verstecken. Aus jeder Ecke hätte ich dich gekratzt, unter jeder Brücke vorgezogen, egal wie sehr du bettelst und weinst. Dein Heldentum hätte mit Zeugen nicht funktioniert.“ Hochnäsig gestikulierte ich mit dem Donut. „Und gegen wie viele Akuma hast du nochmal gekämpft? Behaupten kannst du alles, nachdem du die ganze Nacht jammernd vor einem einzigen davongelaufen bist.“

Seine Schultern hoben und senkten sich unter einem tiefen Durchatmen, während er die Arme verschränkte, doch diesmal ließ ich ihn nicht zu Wort kommen. „Letzten Endes bist du eh nur neidisch, weil ich Urlaub hatte, als du es noch mit Russlands sympathischer Tundra aufnehmen musstest. Du hast dir doch keinen Schnupfen geholt, oder? Hat der kalte Wind deine Haut rau gemacht?“

„Wirklich genutzt hast du den Urlaub scheinbar nicht.“ Plötzlich richtete sich sein Zeigefinger auf mein Hemd. „Die Knopfübungen wurden jedenfalls vernachlässigt.“

Mist, es stimmte.

Mein Hemd saß schief und unter einer Grimasse tastete ich nach dem Schlamassel.

„Das Leben ist voller Prüfungen, Bohnenstange. Gerade mit einem beschränkten Horizont sollte man nicht mit der Schwierigsten anfangen, also heb dir die Knöpfe für später auf.“

„Was bist du? Experte für beschränkte Horizonte?“

„Ihr seid wirklich süß, wenn ihr streitet“, mischte sich da Jerry ein, „aber die beiden hinter euch fallen schon vom Fleisch und das kann ich mir als Koch nicht anschauen.“

Erst jetzt wurde ich auf die beiden Wissenschaftler aufmerksam. Mit einem Mal rückten sie in meine Wahrnehmung und tatsächlich sahen sie recht hungrig aus. Ich erkannte ein verhaltenes Lächeln, während sich Kanda bereits fügte. Die Geste seiner Hand war nur zu erahnen, da wandte er sich schon ab und auch ich musste mich lösen. Es war schön gewesen, umso schöner durch die Seltenheit und Kürze. Ich schmunzelte, als ich mich von der Theke löste und mich daran machte, es Kanda gleichzutun.

„Mach's gut, Jerry.“ Heiter winkte ich ihm und ebenso heiter winkte er zurück, bevor auch ich ihm den Rücken kehrte.

Wohin ich wollte, dass wusste ich noch nicht, doch welcher Ort es auch immer werden würde, ich war gewappnet.

Dennoch hatte ich aufzupassen und mich von Übermut fernzuhalten. Dieser vergangene, wertvolle Moment und die Stimmung, die ich aus ihm zog, hielten noch an, doch unerschöpflich war nichts.

So stand ich dann im Flur und wurde auf etwas aufmerksam, das so prägnant war, dass es mir schon eher hätte auffallen müssen. Ich senkte das Gesicht. Abermals fanden meine Augen zu dem Hemd und dann zupfte ich wieder. Dass ich es jetzt richtig geknöpft hatte, machte nicht viel wett. Ich trug dasselbe Hemd, das mich in der Nacht kleidete und man roch es.

Auch Tim begleitete mich nicht und so hatte ich zwei Gründe, mein Zimmer anzusteuern.
 

Es war der letzte freie Tag. Schon morgen lockte eine Mission, lockte der Alltag, den ich derzeit so dringend brauchte wie die Luft zum atmen. Wie unzufrieden wäre ich selbst mit dieser verbleibenden Zeit gewesen und bestimmt auf dem Weg zum Arzt, um mich verstohlen vor diesen letzten Stunden zu bewahren. Ich hätte es so eilig gehabt, doch jetzt dachten meine Beine nicht daran, mich zur Krankenstation zu führen. Es war ein Gedanke, der sich in meinem Kopf einnistete, ohne dass ich nach ihm zu suchen hatte. Nicht nur ich war hier. Kanda war es auch.

Mir blieb die Möglichkeit der Begegnung, Zeit mit ihm zu verbringen und somit diesem neuen, bizarren, doch umso stärkeren Drang zu folgen. Er hatte mich gelockt mit diesem Moment im Speiseraum und auch wenn es keine weiteren Worte waren, auf die ich hoffen konnte, weniger würde mir auch reichen. Es genügte, ihn einfach in der Nähe zu wissen und so begann ich sie erneut zu suchen.

Wohin er gegangen war, das wusste ich nicht und so dreist es auch war, ein Finder kam mir gelegen und die Frage problemlos über meine Lippen.

Hatte man ihn gesehen? Nein? Wie schade.

Aber ich meinte es ernst.

Spätestens am nächsten Morgen würden wir wieder ausschwärmen und niemand konnte sagen, wann man sich wiedersah.

Blieb er unversehrt? Blieb ich es? Die Zukunft war für uns so undurchsichtig, dass ich dem Zufall kein Vertrauen mehr schenkte.

Ich begegnete auf meinem Spaziergang so einigen Findern. Menschen, die ich fragte und die antworteten.
 

Leise öffnete ich die unscheinbare Tür. Es war die Bibliothek, zu der mich eine positive Antwort führte und als ich in diesen großen Saal trat, erwartete mich eine schummrige, friedliche Atmosphäre. Der fensterlose Ort wurde von mehreren Kerzen sowie Wandlampen erhellt und war kaum besucht. Nur der Bibliothekar saß hinter seiner Theke und blätterte in einem Buch. Zwischen den hohen Regalen herrschte Stille. Nur in einer Ecke saßen zwei Finder an einem Tisch. Es war eine wohlige Stimmung. Ein Ort, den man aufsuchte, um sich zurückzuziehen.

Ich ließ den Bibliothekar hinter mir. Nur kurz blickte er auf, erkannte mich und es blieb bei einem stillen Zunicken, bevor ich in die Gänge zwischen den Regalen eintauchte und mich umzusehen begann. Mir stand der Sinn danach, in einem der Werke zu blättern. Wenn auch gedankenverloren, es war und blieb eine Ablenkung und ein Entrücken aus der Realität, die ich derzeit als so bedrohlich und unsicher empfand.

Doch sie würde es schwer haben, mich hier zu finden.

Hier würde ich mich verstecken sowie in Kandas Schatten.

Ich hatte ihn längst erfasst.

Nur kurz, bevor ich in den nächsten Gang trat und sich meine Augen weiter über die Buchrücken tasteten. Meine Aufmerksamkeit war flüchtig gewesen, so beiläufig, als bedeute es mir nicht viel, ihn hier zu treffen. So mochte es aussehen. Während dieses Seitenblickes war soviel mehr in mir geschehen, als es den Anschein hatte und sofort lenkte sich meine Aufmerksamkeit zurück auf die Suche. Was interessierte mich? Vermutlich hatte ich mich so oft mit mir selbst zu befassen, dass ich gewisse Dinge verlernte.

Was ich hier tat, war kein Job, keine Tätigkeit, es war ein Leben, das Zeit schluckte.

Ich blieb stehen. Meine Augen waren an einem Buch hängen geblieben und kurz darauf streckte ich mich auch schon in die Höhe und griff danach. Durch seine goldene Verzierung war es mir aufgefallen, nicht weniger durch den Titel und so bettete ich es auf dem Unterarm und schlug es auf.

Leise erhoben sich Tims Flügelschläge in der annähernden Stille des Ortes und als ich zu blättern begann, legte sich schon der bekannte Druck auf meinen Kopf. Kurz balancierte er sich aus, bevor er es gemütlich hatte. Ich brauchte nur einen kurzen Überblick, blätterte vor, blätterte zurück. Damit würde ich mich beschäftigen. Wieder ging ich leise und näherte mich ihm. Das Buch unter den Arm, hielt ich mit der anderen Hand Timcanpy. Ich konnte mir Besseres vorstellen, als ihm die Gelegenheit zu bieten, sich zu Kanda zu verfliegen, wollte ihn nicht stören und ebenso wenig, dass seine Augen mich erfassten.

Ich erreichte einen Sessel. Schräg hinter Kanda postiert, lag er außerhalb seines Blickwinkels und so war es mir lieb, denn es blieb nur einem überlassen, den anderen zu betrachten und so wollte ich ihn. Genauso und in dieser Haltung. Es war ein Bild, an dem sich meine Augen ergötzten wie eine trockene Kehle am Wasser.

Vergleichbar mit einem Bann, der mich für sich einnahm und mich blind nach der Armlehne des Sessels tasten ließ. Die nackten Füße auf das Polster gezogen und die Beine angewinkelt, hielt er ein Buch auf den Oberschenkeln und war darin vertieft. Die Fingerkuppen seiner Hand.

Abwesend streiften sie die Kanten der Blätter, bearbeiteten sie, folgten ihrem Verlauf und zupften, während sein Gesicht zur Schrift gesenkt blieb. Er offenbarte sich mir so unverfälscht, so neutral. Nichts in diesem Umfeld schien zu stören, nichts seine Unzufriedenheit heraufzubeschwören und nur kurz konnte ich mich dazu durchringen, die Aufmerksamkeit von ihm zu lösen. Ich hatte aufzupassen, schob mich auf den Sessel und befreite meine Füße von den Schuhen. Vor wenigen Momenten hatte mich der Inhalt des Buches so verlockt aber hier und jetzt fand ich die Prioritäten verdreht vor.

Wissbegier pendelte in unerhebliche Gebiete, meinen Augen war es noch nicht einmal gelungen, den Titel erneut zu erfassen. Alles an mir war so fixiert auf etwas anderes und ich dachte mir nicht viel dabei. Wie könnte man es nennen? Gemächlich lösten sich seine Finger von den Kanten des Papiers, fanden zu seinen Lippen.

Man könnte meinen, ich entwickelte mich zu einem Spezialisten, was ein gewisses Gebiet anbelangte.

Neue Seiten seines Verhaltens, seines Handelns. Hier und jetzt bot sich mir ein weiteres dieser Beispiele und ich nahm an dieser Schule teil wie der wissbegierigste Lehrling aller Zeiten. Es war nicht lange her, dass ich daran gezweifelt hätte, ihn in solch einer konzentrierten Lage vorzufinden, so vertieft in eine solche Beschäftigung.

Nur das Buch, mehr schien für ihn nicht zu existieren.

Was waren das nur für Aspekte? Existierten sie erst jetzt, weil ich früher nicht nach ihnen suchte?

War meine Umsicht so mangelhaft gewesen, meine Aufmerksamkeit ihm gegenüber so gedämpft?

Dabei war er so interessant.

Kurz rückte er sich zurecht und mit einem tiefen Atemzug suchte ich mir den Rückweg in die Realität.

Ich hielt doch auch ein Buch in den Händen. Ich überflog die wenigen Zeilen, die sich über die erste Seite zogen. Was mich hierher und zu ihm führte, war vorrangig die Sehnsucht nach Entspannung und Ruhe. Als wäre er vor Erschöpfung schwer, sank mein Körper gegen die Rückenlehne. In der Stille tickte eine nahe Uhr und nur leise nahm ich irgendwann das Rascheln wahr, als mein Zeitgenosse umblätterte. Wie hätte ich mich vor einiger Zeit für den Gedanken verhöhnt. Dass es möglich wäre, mich in seiner Gegenwart so wohl zu fühlen, wie kaum in einer anderen und nach ihr zu trachten wie ein Falter, der blind taumelnd nach dem Licht suchte. Seine Verhaltensweisen zu respektieren, als wäre ich ihnen nie mit Unverständnis begegnet.

Mich von seinen Facetten überraschen zu lassen, als hätte ich all das längst hinter seiner stets unzufrieden erscheinenden Miene vermutet.

Man könnte meinen, er tat mir gut.

Immerzu betasteten meine Finger dieses Papier, den Umschlag aus Leder. Sie tasteten sich über die Strukturen, zupften an den Seiten und irgendwann schloss ich die Augen und atmete tief durch. Dieser Ort war richtig und lange tat ich nichts anderes, als dem Ticken zu lauschen und darauf zu warten, dass sich das Rascheln in meiner Nähe erhob. Dass er umblätterte.

Wie schnell verlor ich das Gefühl Timcanpys neben mir. Wie rasch verloren auch meine Finger das Interesse an dem Buch und in einer seltsamen Bereitschaft spürte ich die Schwere meines Kopfes.

Schlief ich ein? War das der richtige Ort dafür? Fürchtete ich den Schlaf nicht? Misstraute ich ihm nicht?

In letzter Zeit war es fatal gewesen, sich ihm hinzugeben, doch wie eine seltsame Bestärkung erhob sich das Rascheln des Papiers erneut. Als wolle es mich daran erinnern, dass ich nicht alleine hier saß und dass die Augen, die mich hier und jetzt erreichten, mich auch sehen durften. Waren die Zufälle, an denen ich nichts ändern konnte, zu Akzeptanz geworden? Zur Freiheit, die ich mir ihm gegenüber schenkte? Und wenn ich auch von den alten Teufeln heimgesucht wurde und meinem finstersten Freund, wenn ich auch schweißgebadet in die Höhe fuhr und diese dunklen Augen zu mir fanden, es wäre nicht schlimm.

Es konnte geschehen.

Matt sank mein Gesicht zur Seite, nur kurz regten sich meine Beine und unter einem letzten, tiefen Durchatmen verlor ich das Gefühl des Buches unter meinen Fingern, des Polsters unter meinem Körper und das Empfinden für die Realität. Eingehüllt in dem Ticken der Uhr und dem Rascheln verlor ich mich in einem tiefen, ruhigen Schlaf.
 

Wie lange ich schlief und wie tief ich in dieser Abwesenheit versank entglitt meiner Wahrnehmung, die selbst nur stockend zu altem Leben erwachte. Irgendwann spürte ich diese Berührung im Gesicht, diesen Druck auf meiner Wange und kaum hatte ich mich geregt, auch die unbequeme Lage, in der sich mein Körper befand.

Das Ticken der Uhr. Es schien so weitentfernt, als ich die Miene verzog, noch gefangen im warmen Halbdunkel die Finger bewegte. Sie regten sich im Freien und kaum zuckten meine Zehen, da rutschte der gesamte Fuß vom Polster und entzog mir den letzten, fragwürdigen Halt.

Ich rutschte tiefer, mein Nacken knackte und als ich die Augen öffnete, stand die Umgebung beinahe Kopf. Die Regale der Bibliothek offenbarten sich mir schief, fast waagerecht und ich benötigte so einige Momente, bis ich mir der Tatsache bewusst wurde, wie zusammengerutscht ich in diesem Sessel kauerte. Mein Kopf ruhte auf der Armlehne, schummrig erkannte ich auf dem Boden das Buch und es kostete mich nicht viel Überwindung, mich zu bewegen.

Die Haltung war unkomfortabel, fast gefährlich für die Wirbelsäule und als wäre diese genau meiner Meinung, knackte und schmerzte sie, als ich mir mit den Händen ungeschickt Halt suchte und mich in die Höhe stemmte. Das Haar glitt mir in die Augen und träge strich ich es zurück. Dabei entgingen mir nicht die Knitterfalten, die das Polster auf meiner Wange hinterlassen hatte. Benommen rieb ich mir die Stelle. Es war wirklich passiert.

So schnell hatte mich der Schlaf zu fassen bekommen, so abrupt wachte ich auf und es schien, als hätte sich dem Alb nicht die Gelegenheit geboten, zutage zu treten. Fast fiel es mir schwer, es zu realisieren und während ich meine Gedanken ordnete, wandte sich mein Leib zur Seite. Mein Blick suchte nach einem Punkt, auf dem meine Aufmerksamkeit solange geruht hatte, dass mir diese Richtung vertraut war, doch es war nur ein leerer Sessel, der sich mir bot.

Ich kauerte alleine hier und spähte nach einem irritierten Stirnrunzeln zur Uhr.

Wie lange hatte ich geschlafen? Vier Stunden.

Gähnend schob ich Tim von mir. Er umflatterte mich, als wolle er mich zu Eile antreiben, doch heute gab es nichts, wofür ich mich beeilen müsste. Unter einem matten Kopfschütteln schob ich mich vom Polster und tastete auf dem Boden nach dem Buch. Irgendwie saß meine Kleidung schief, als ich auf die Beine kam, den einen Hausschuh verlor ich kurz darauf und zerzaust und müde tastete ich mit dem Fuß nach ihm und schlüpfte hinein.

Die guten Dinge des Lebens erreichten einen offensichtlich nur, wenn man sie nicht erwartete. Bald streckte ich mich hinauf und verstaute das Buch am alten Platz. Es war in den späten Mittagsstunden aber Hunger spürte ich nicht. Ich musste erst einmal wach werden und so trat ich in den steinernen Flur hinaus, trottete und schlenderte, rieb mir das Gesicht, fuhr mir durch das Haar und begrüßte jede Ecke, die ich erreichte, mit einem Gähnen. Mein Körper schien dem Schlaf nachzutrauern, mich geradewegs dazu aufzufordern, die Wohltat fortzusetzen. Später vielleicht, nur nicht jetzt.

Das Glück war mir noch nie hold genug, um mich zweimal zu umgarnen. So erst recht nicht zweimal hintereinander. Ich hatte nicht gierig zu werden. Nach einem kleinen Abstecher in die Baderäume schien ich wieder vollständig an der Realität teilzunehmen. Meine Sinne erwachten, meine Augen boten mir ein klares Bild und in behagliches Recken und Strecken vertieft, ging ich einfach geradeaus. Ein zielloser Spaziergänger fand immer seinen Ort.

Durch das Treppenhaus, hinein in den nächsten Gang, um eine Ecke, um eine Zweite und gerade schlich ich mich an einer gewissen Tür vorbei, da lockten Geräusche meine Aufmerksamkeit. Es schien Stimmengewirr zu sein und sofort zog es mich zur Seite und an das massive Holz. Es war ungewohnt laut auf der Seite dieses Flügels. Im Speisesaal schien etwas los zu sein und ich lauschte nur kurz, bevor weitere Laute mich dazu zwangen, nachzuschauen.

Alles, was sich im Speisesaal abspielte, interessierte mich und so streckte ich den Kopf in die Halle.

Flatternd drängte sich Tim über mir durch den Spalt. Alle Bänke sowie Tische waren durch die fleißigen Hände so einiger Finder zur Seite und an die Wände geräumt worden.

Nur vereinzelte waren zurückgeblieben und in einen Halbkreis geschoben. Im Treiben aus Helfern verteilte Jerry Instruktionen. Eine Festlichkeit. Irritiert spähte ich zu den Findern, die auf hohe Leitern gestiegen waren. Sie lehnten an zwei gegenüberliegenden Mauern und dort oben schienen sie mit kleinen Haken beschäftigt zu sein. Ein Banner.

Schlendernd trat ich näher, hörte nun auch die Stimmen der Köche, die hinter der geöffneten Küchentür in allem Fleiß arbeiteten, irgendwas vorbereiteten. Ein neuer Kollege? Ich blieb stehen und juckte mir den Bauch.

Das wäre mir zu Ohren gekommen.

Dann vielleicht ein Geburtstag?

Während Tim mich umflatterte, verfolgte ich grüblerisch, wie die Finder an den Tischdecken zupften, sie zurechtrückten und sich dabei allerlei Mühe gaben. Vermutlich wüsste ich Bescheid, wenn ich selbst mehr Wert auf Dinge solcher Art legen würde.

In meiner Welt reichte es zu wissen, wann man selbst um ein Jahr alterte und so kam es dazu, dass ich planlos dort stand. „Allen!“ Winkend kämpfte sich Jerry durch das Meer der Helfer und lächelnd winkte ich zurück. „Bist du hier, um zu helfen?“ Keuchend erreichte mich der Mann und mein unentschlossenes Stirnrunzeln entging ihm, da er sofort und gerührt seufzte.

„Das finde ich aber nett von dir.“

„So bin ich.“ Es konnte wohl nicht schaden und so blieb ich friedlich neben ihm stehen, das Treiben verfolgend und mir immer noch die alte Frage stellend. Neben mir wurden die Hände in die Hüften gestemmt.

„Wir haben noch drei Stunden!“

Bis was passierte?

Voller Begeisterung fanden seine Augen zu mir. „Glaubst du, er wird sich freuen?“

Wer denn?

Ich nickte und hielt nach dem Banner Ausschau. Wenn sie es jetzt hochzogen, das wäre praktisch. Aber es war nur eine große Rolle Papier, die von zwei Findern herangeschleppt wurde. Ich verengte die Augen und starrte auf dieses Ding.

Ein herzlicher Klaps traf meine Schulter.

„Nun denn, mein herzallerliebster Helfer. Ich zeige dir, was es zu tun gibt.“

Zu tun gab es eine ganze Menge. Ich wusste nicht, für wen ich schuftete aber vermutlich machte ich nichts falsch, wenn ich Einsatz zeigte. Es war ein Berg aus Tellern, den ich zuerst aus der Küche trug.

Vielleicht Lavi?

Nein, wenn ich mich recht erinnerte, feierten wir seinen Geburtstag erst vor kurzem. Ganz würdevoll in einem Zug, kurz nach einer anstrengenden Mission und nicht weit entfernt von der nächsten. Kurz gerieten meine Schritte ins Stocken und schon befreite ich mich von der Last und postierte den Tellerberg auf der Tischdecke.

Doch nicht etwa Kanda?

Seinen Geburtstag konnte sich vermutlich kaum einer merken. Immerhin hatte es zu diesem Anlass noch nie eine solche Feier gegeben, denn an jenen Tagen war er stets und sehr zufällig auf langen Missionen.

Wieder wurde ich auf die Papierrolle aufmerksam. Sie lag jetzt in einer Ecke und offenbarte mir das Geheimnis immer noch nicht. Bookman legte auch wenig Wert auf so etwas.

Ach, es blieben zu viele Möglichkeiten und so vertiefte ich mich wieder in meine Arbeit. Ich kehrte in die Küche zurück und zu weiteren Bergen aus Geschirr und Besteck, die in die Halle geschleppt werden mussten. In der Küche war genauso viel los wie im Saal. Es war laut, eng und hektisch und somit nicht gerade der perfekte Ort für mich. Meine Geduld sowie meine Nerven schienen aufgetankt zu sein nach der Bibliothek und all der Ruhe und Entspannung, die ich dort fand.

Übermütig zu werden, wäre also eine gefährliche Sache. Gerade jetzt, wo ich von der anstehenden Feier erfahren hatte. Es würde so einige Leckereien geben. Bequem klemmte ich mir einen Besteckkasten unter den Arm, griff noch nach der einen oder anderen Kelle und machte mich wieder auf meinen gewohnten Weg. Immer wieder schaute ich nach dem Banner, schaute auch nach den Findern und hoffte, der Fleiß, der mir fehlte, würde sie zu fassen bekommen, auf dass sie sich sputeten.

Lahm schob ich den Besteckkasten auf eine der Tafeln, rückte ihn zur einen Seite, rückte ihn zurück und kratzte mir den Steiß.

Wann kamen die Platten und Häppchen?

Die Köche waren immer noch so eilig am schuften und langsam sah es wirklich so aus, als entstünden die Ergebnisse. Die erste Platte wurde aus der Küche geschleppt und mit einem Mal tauchten auch Blumengestecke auf. Vasen wurden aneinandergereiht, die einen oder anderen Blumen ein letztes Mal gestutzt und während ich dort am Tisch lehnte und Däumchen drehte, nahm alles um mich herum Gestalt an. Es wurde festlich, Platten mit kalten Häppchen reihten sich bald darauf auf dem Tisch und mit jedem Geruch, der mir in die Nase stieg, wurde ich aufmerksamer und wacher.

Mein Appetit war zurück und verstohlen betrachtete ich mir das Meer aus Leckereien, bevor ich in die Küche zurückkehrte. Diesmal war es ein Tablett mit Gläsern, das ich auf der Hand balancierte, als ich mir meinen Weg durch die Masse suchte und die Finder ausweichen ließ. Wie oft ich den Weg gegangen war, das wusste ich nicht mehr aber als ich neben Jerry stehenblieb und noch ein Tablett auf dem Tisch loswurde, beschloss ich, eine Pause einzulegen.

Seufzend besah er sich die Früchte seiner Arbeit und rückte an einzelnen Platten, während ich mich gähnend neben ihm streckte.

„Wunderbar“, bezeugte er seine Zufriedenheit. „Genauso habe ich es mir vorgestellt. Ist es nicht herrlich?“

„Oh ja.“ Beiläufig nickte ich, als mir eine spezielle Platte auffiel. Ich vertrat mir die Beine, plante Übles. „Da wird er sich freuen.“

„Er hat heute Nacht seine Mission beendet und wurde schon zurückgerufen. Bestimmt ist er bald hier. Wir müssen uns sputen.“

Meinetwegen konnten sich alle sputen, mir reichte es.

Plötzlich schnappte Jerry nach Luft und eilte davon.

„Ich bitte Sie!“, hörte ich ihn rufen, als er in der Masse verschwand. „Sie dürfen noch nicht naschen!“

„Aber es sieht so lecker aus!“ Es war Komui, der ebenso energisch antwortete, irgendwo im Gedränge. „Ich muss doch auch mal was essen. Sehen Sie mich an! Ich bin schön völlig abgemagert!“

Die Augen wieder auf jene Platte richtend, stahl ich mich einen Schritt zur Seite, noch einen und nach einem kurzen Prüfen meiner Umgebung einen weiteren.

„Dann gehen Sie in die Küche und lassen Sie sich etwas kochen!“

„Ich kann nicht so lange warten! Sie sind Schuld! Wieso richten Sie das auch so anschaulich her?“

Jetzt oder nie.

Mit unauffälliger Beiläufigkeit bekam ich das Tablett zu fassen, zog es vom Tisch, sobald ich hinter diesen getreten war. Mir die Lippen leckend verschwand ich, hockte ich mich hin, setzte das Tablett auf meine Oberschenkel und machte mich an die Arbeit. Fisch-Häppchen.

Die hätte er verstecken sollen.

Ich hatte meine Ruhe, während ich zwischen Tisch und Mauer hockte und kaute.

Was stellte sich Komui auch so ungeschickt an?

Ich griff nach dem Nächsten, kaute noch und verschlang es trotzdem. Da warteten auch noch Shrimps auf mich und kurz lutschte ich an meinen Fingern, befreite sie von der Marinade und machte gleich darauf wieder von ihnen Gebrauch. Die große Eingangstür wurde stetig geöffnet und geschlossen. Helfer kamen, Helfer gingen und dann zog das laute Rascheln des Banners meine Aufmerksamkeit auf sich.

Fleißig zerrten ein paar Finder an der Leine und mit einem Mal entfaltete sich das Papier und wurde in die Höhe gezogen.

Mit großen Augen blickte ich auf und tastete kauend nach dem nächsten Häppchen.

Crowley war der Glückliche. Da schau her.

Oh, was war das denn?

Neugierig beäugte ich eines der Häppchen, die ich im Mund hatte. Das war ja göttlich. Viel war nicht mehr übrig und ich tat gut daran, den Rest auch noch zu vernichten. Endlich zeigte ich wahren Fleiß und nur beiläufig zog ich Tim am Schweif zu mir, als er sich flatternd über meinem Kopf bewegte. Behaglich kaute ich weiter, spähte zur Seite, spähte zur Tür und bald darauf verlangsamten sich die Bewegungen meines Mundes.

Ich stockte und richtete mich, als Kanda die Halle betrat.

Dass er auftauchte, hatte ich nicht erwartet, doch ich musste zugeben, dass mich etwas anderes viel mehr verblüffte. Es war die Tatsache, dass es seinem Gesicht an jeglichem überraschten Ausdruck fehlte, als sich ihm der Speiseraum in so völlig anderer Form offenbarte. Wie musste ich bei diesem Anblick dreingeschaut haben aber Kanda reagierte so ganz anders und wie so oft in letzter Zeit legte ich immensen Wert darauf, sein Verhalten zu analysieren. Seine Schritte, die nicht innehielten, als er sich einen Weg durch vereinzelte Finder bahnte.

Er hatte es auf einen der Tische abgesehen und letztendlich nur auf eine Flasche Wasser.

Ich hatte mich gereckt, ihm nachgeblickt und während ich nach dem letzten Häppchen tastete, befiel mich ein gruseliger Gedanke. Stirnrunzelnd verfolgte ich, wie er den Deckel vom Flaschenhals löste und sich einen Schluck gönnte. Entweder ihm waren diese Vorbereitungen heute nicht zum ersten Mal begegnet, oder…

Seit geraumer Zeit befasste ich mich auch mit unmöglich erscheinenden Eventualitäten. Sinnierend tastete ich mit den Lippen nach dem letzten Häppchen, schob es mir in den Mund.

War es denkbar, dass ich unter uns beiden der einzige war, der nichts von den Geburtstagen anderer wusste?

War er es vielleicht, der all das nicht vergaß, obgleich es für ihn nicht von Bedeutung sein konnte?

Er ließ sich nicht einmal blicken. Bei keiner Feierlichkeit, doch das schloss nicht aus, dass er davon wusste. So plötzlich, wie er kam, so plötzlich ging er wieder. Das Fläschchen baumelte an seiner Hand und natürlich verfolgte ich, wie er nach draußen verschwand. Er hatte andere Ziele. Bei ihm ging man nicht davon aus, dass er behilflich sein wollte. Seufzend schob ich das leere Tablett unter den Tisch. Noch kurz an der Tischdecke gezupft, die Schandtat getarnt und mit einem Mal tauchte ich wieder ein in das Meer aus Hektik und Lautstärke.
 

-tbc-



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