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Unseen Souls

von

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13

Nur wenige Minuten später war ich auf dem Weg. Auf dem Unterarm ein Tablett und den würzigen Geruch der Nudeln in der Nase, zog ich durch die Gänge und hatte dabei auch auf den Becher zu achten. In ihm war nur Wasser aber unter meinem anderen Arm klemmte noch ein Fläschchen Tee.

Der Gang zu jener Tür - schon er war ungewohnt.

Kurz darauf erreichte ich auch schon das Ziel, rückte das Tablett auf meinem Unterarm zurecht, raffte die Flasche höher und hob die Hand. Ich klopfte an und ich tat es laut, bevor ich die Wangen aufblähte. Flüchtig spähte ich nach links, spähte nach rechts und bald zurück zur Tür. Ich war geduldig und wartete lange, konzentriert lauschend, doch es tat sich nichts, also klopfte ich erneut. Diesmal lauter und energischer, um sicherzugehen.

Wenn er das nicht hörte, dann war er tot und hatte er es gehört, dann war er sauer.

Wieder wartete ich und lauschte und bald darauf kratzte wirklich die Türklinke und dann wurde mir geöffnet.

Nur langsam und genauso erschien dann auch Kanda vor mir.

Sein Gesicht zeugte davon, dass er gerade noch schlief. Außerdem auch davon, dass er mich nicht erwartete und sein anhaltend schlummernder Kopf ihm die Auffassungsgabe versagte.

Erwartet hätte ich mich auch nicht und anstatt auf das Tablett aufmerksam zu werden, gab er sich damit zufrieden, mich anzustarren und seine mangelnde Begeisterung über diese Störung zum Ausdruck zu bringen. Erst als ich mit einem Nicken auf mein Mitbringsel wies, begriff er es. Seine dunklen Augen senkten sich zum Tablett, während seine Hand müde den Weg zum Bauch fand und den Stoff des schlichten Hemdes kratzte.

„Mit besten Grüßen von Jerry.“

Es war ein angenehmer Moment. Nicht zuletzt, weil sein Zustand ihm jedes beleidigende Wort verbot. Trotz meiner aufopferungsvollen Art wäre er bestimmt dazu imstande gewesen aber er war nicht einmal zu einem Brummen imstande und öffnete die Tür weiter, als ich ihm das Tablett reichte.

Er trat einen Schritt in den Gang und kaum spürte ich, wie das Gewicht von meinem Arm gehoben wurde, da wurden meine Augen von dem kleinen Spalt gelockt.

Dort, direkt neben ihm und geradlinig erblickte ich sein Zimmer.

In der Abenddämmerung lag es deutlich vor mir, doch es blieben nur wenige Augenblicke.

Meine Wissbegier durfte nicht auffällig sein und beiläufig reichte ich ihm auch die Flasche.

Es war ein Schrank, den ich sah. Ein verschiedenfarbiges, wenn auch leicht kaputtes Fenster und einen schlichten Tisch. Nur zwei Sekunden blieben mir, um auch eine Lotusblüte zu erkennen. Dort, hinter dem sauberen Glas einer kunstvollen Sanduhr und kaum hatte sie mein Interesse geweckt, da trat Kanda schon zurück. Das Tablett auf die Hüfte gestützt, zog er die Tür mit der Schulter herum. Sie neigte sich in mein Blickfeld und gerade gelang es mir noch, zu winken, bevor er hinter der Tür verschwand und sie in ihr Schloss zurückdrängte.

Schon stand ich wieder alleine dort.

Tief atmete ich ein, ließ mich von dem Geräusch der Flügelschläge locken und spähte zur Seite. Tim schien es eilig zu haben. Er bewegte sich schon vor meiner Tür und ein letztes Mal blickte ich zu der anderen, bevor ich mich abwandte.

Ich ertappte mich bei Grübeleien, als ich in mein Zimmer trat und gedankenverloren aus den Schuhen schlüpfte.

Diese Blüte. Kandas Raum hatte etwas karg gewirkt, und umso seltsamer war die Anwesenheit dieses Lotus’.

Dieser Raum passte zu Kanda, denn er wirkte wie sein Charakter.

Nüchtern, geradlinig und ordentlich. Nur diese Blüte versteckte sich wie eine verborgene Facette seiner Persönlichkeit.

Ein außergewöhnlich schöner Punkt inmitten dieser rationalen Umgebung.

Wirklich interessant.

Kopfschüttelnd sank ich in mein Bett, tastete nach der Decke und streifte sie über mich.

Die düsteren Befürchtungen hielten sich fern. Die vergangenen Nächte hatten mir gut getan.

Das nicht zu unterschätzende Gewicht Timcanpy’s verlagerte sich kurz darauf auf meinen Bauch. Allmählich war er etwas zu schwer dafür und so drehte ich mich auf die Seite und ließ ihn hinab rutschen.

Der Tag, der hinter mir lag, hatte schlecht begonnen und gut geendet.

Es gab sie noch, die Wendungen, auf die ich nicht mehr zu hoffen wagte.

Um mich herum herrschte Stille und wie genoss ich sie. Schwer neigte sich die Müdigkeit über mich und ich ergab mich einem Gähnen, bevor ich die Decke höher streifte. Ein letztes Mal bewegte ich mich, zog die Arme an meinen Leib und dann wurde es dunkel.

Schwer wallte die Finsternis um mich. Dumpf offenbarte sie sich in ihrem stickigen Gewicht. Schwerer als jede Last, undurchsichtiger als der düsterste Schacht. Trübe betrachtete ich mir die tiefen Schatten.

Es war schön hier, in meiner heilen Welt.

Hier gab es nichts und wie spürte ich die Wärme zu meinen Füßen, in jeder Faser meines Körpers, als durchflutete sie mich.

Trunken bewegte ich mich in meiner Welt, einem nicht existierenden Pfad folgend, ohne Ziel und Sinn.

Kein Weg zu meinen Füßen, kein Himmel über mir, auch kein weit entfernter Horizont, dem ich entgegen strebte.

Nur niemals stehenbleiben.

Taub und blind entfernte ich mich so von meinem Ausgangspunkt. Keinen anderen schien es zu geben und doch unzählige von ihnen, die weiterführten und viel versprachen.

‚Hier gibt es nichts’, sagte ich mir.

Nichts, das schmerzte. Nichts, das bekämpft werden musste.

Langsam hob ich die Arme, streckte sie von mir und durchstreifte mit den Händen das Nichts.

Wie leicht fühlte ich mich in diesen Augenblicken, bis mich geradewegs aus dem Nichts eine Brise erreichte.

Ein kühler Luftzug, unter dem ich blinzelte.

Woher kam er?

Wie hatte er mich gefunden?

In meinem Nichts konnte nichts auferstehen und nichts leben und doch erreichte er mich abermals und wie der Hauch eines nahen Sommers. Kühl, wie der letzte Bote des Winters und doch duftend wie die Blumen, die sich durch die dünne, zurückbleibende Eisschicht kämpften. Kitzelnd streiften die Strähnen meine Stirn und leise knirschte es unter meinen Füßen, als ich mich umdrehte. Der Luftströmung folgend, die sich diesmal gegen meinen Rücken drängte.

Nur kurz blickte ich in das horizontlose Bild, achtete kaum auf das weitere Knirschen unter meinen Füßen.

Ich spürte Unebenheiten unter meinen Fußsohlen. Bislang war der Boden eben gewesen, ohne jeden Makel, glatt und angenehm. Nicht so wie dieses Mal, doch ich dachte nicht daran, den Blick zu senken. Dachte nicht daran, zu überprüfen, woran es keinen Zweifel gab.

Es war wie immer, denn es war noch nie anders gewesen. Und doch erfasste mich dieser Windhauch erneut, umspielte mich und summte in meinen Ohren.

Was war das für ein Ton?

Langsam legte ich den Kopf schief, setzte mich in Bewegung, folgte dem Summen des Windes in eine mir unbekannte Richtung.

Das Knirschen begleitete jeden meiner bedächtigen Schritte, während ich die Hände in dem Zug bewegte, der sich zu einem permanenten, leichten Wind zu entwickeln schien. Seltsam. Wie kalt er war und wie er mich frösteln ließ.

Hier in meiner Welt hatte ich mich nie an etwas gestört und umso aufmerksamer erforschten meine Augen das Nichts.

Etwas schien aus ihm zu mir zu dringen, mich zu erreichen und nur beiläufig drang in meine verschwommene Wahrnehmung, wie sich das Knirschen unter meinen Füßen verstärkte. Es klang hohl, trocken, und leicht sank mein Fuß bei dem nächsten Schritt in den Untergrund. Der Boden schien nachzugeben, doch gegensätzlich ging ich nur schneller, als befände ich mich auf einer Verfolgung, um etwas zu sehen, das sich nicht greifen ließ, das nicht vorhanden war und auch gar nicht vorhanden sein konnte.

Ich schrieb die Gesetze dieser Welt.

Sie gehörte mir.

Sie wurde durch meinen Willen geformt und umso bedrohlicher war der Wind, der mir mit jedem Schritt mächtiger entgegen stieß, mich fernzuhalten schien.

Was geschah hier?

Meine Schritte wurden schneller, knirschend sanken meine Füße ein und ich spürte, wie sich mein Atem vertiefte. Gierig nahm ich die Luft in mir auf, labte ich mich an ihr, während ich blinzelte, den Kopf wendete, bald die rechte Hand hob und sie der Finsternis entgegenstreckte. Etwas stimmte nicht mit der Kälte. Auch mit dem Weg.

Etwas rief mich, lechzte nach meiner Beachtung. Es schien der pure Instinkt, der mich lenkte und abrupt hielt ich inne, als mein Fuß noch tiefer sank und spitze Kanten einen seltsamen Schmerz in ihm hervorriefen. Ein letztes Mal schöpfte ich tiefen Atem, bevor ich den Blick zum Boden senkte.

Es war dunkel zu meinen Füßen, so undurchsichtig und eine leichte Bewegung genügte, um es erneut knirschen und knacken zu lassen. Langsam bewegte sich meine rechte Hand in mein Blickfeld. Sie neigte sich gen Boden, ihre Finger streckten sich ihm entgegen und langsam ging ich in die Knie, um zu ertasten, was sich vor meinen Augen verbarg.

Stetig umspielte mich noch immer dieser Wind, als ich den Arm streckte und auf eine bizarre, raue Fläche traf. Trocken, hart, und vorsichtig tastete ich mich weiter, spürte Risse im Untergrund, eine Wölbung, in der ich die Finger versenkte. Meine Augen verengten sich, drifteten zur Seite, doch völlig blind, was den Boden anbelangte. Wäre es doch heller.

Abrupt hielt ich inne.

Ich war doch der Herr über diese Welt.

Sie war so ruhig, wie ich wollte. So weit, wie ich wollte.

So hell, wie ich wollte.

Und augenblicklich brach gleißend das Licht aus dem Boden und blendete meine Augen.

Kein Trug.

Vorsichtig blinzelte ich, bereit, mich dem Bild zu stellen und starrte auf meine Finger, die sich in den Augenhöhlen eines Totenkopfes versenkt hatten.

Das fahrige Ringen nach Atem drang an meine Ohren, als ich herum schnellte und mit geweiteten Augen auf das Meer aus Gebeinen und Skeletten starrte, das sich zu meinen Füßen erstreckte. So unendlich weit. Die blanken Rippen ragten bis zum finsteren Horizont in die Höhe und erstickt erhob sich mein Ächzen, als ich die Hand von jenem Schädel löste.

So übereilt, so überstürzt, dass mein Fuß durch die Schädeldecke eines weiteren Kopfes brach. Knirschend gab der Knochen nach, haltlos sank ich tiefer und raschelnd bewegten sich die Gebeine unter den stolpernden Schritten, unter denen ich zurückwich und doch nur hinein in weitere Knochen.

Umso eisiger erfasste mich auch jener kalte Wind und wie hektisch bettete ich die Hände auf den Ohren und schloss die Augen.

Es war nicht die Wirklichkeit!

Nichts, was ich hier sah, war wirklich!

Der Wind verstärkte sich. Lauter und lauter dröhnte er in meinen Ohren und gellend trug er eine Stimme zu mir und tief in mich hinein. Einen Schrei, so laut, so stimmlos und doch so bekannt, dass ich mit einem Mal in die Höhe fuhr und in das pechschwarze Nichts starrte, das sich über mir erstreckte.

Ich achtete kaum noch auf das Knirschen und Knacken.

Ebenso wenig auf die Schmerzen, als sich splitternde Knochen in meine Füße bohrten.

Linali!

Sie hatte meinen Namen geschrien!

Wo war sie?

Gehetzt rang ich nach Luft, um zu antworten, sie zu rufen, sie zu finden, doch so sehr ich auch den Atem hervor presste, kein Laut kam über meine Lippen. Schmerzhaft raste der Puls in meinem Kopf. Ich spürte jeden Schlag meines Herzens und fuhr unter dem ohrenbetäubenden Schall einer weiteren Stimme zur anderen Seite herum. So laut.

Lavi! Crowley! Sie alle!

Blind setzte ich mich in Bewegung, begann zu rennen, gehetzt und röchelnd einfach drauf los.

Wo waren sie?!

Sie brauchten mich.

Jeder Schmerz, jeder Knochensplitter, der sich durch meine Haut bohrte, hielt mich nicht auf und kopflos rannte ich weiter, versuchte zu rufen und erschauderte unter meinen stummen Schreien.

Sie hörten mich nicht!

Woher sollten sie wissen, dass ich kam?!

Ich war auf dem Weg zu ihnen!

Und fortwährend erhob es sich weiterhin - ihr Flehen, Klagen, ihre Schmerzensschreie.

Sie starben!

Starben irgendwo an einem Ort, an den ich nicht gelangen konnte!

Sengend heiß spürte ich den Schweiß auf meinem Gesicht, die feurige Hitze meines Körpers, die sich gegen die eisige Kälte des Windes zur Wehr setzte.

Stechend lebte ein abrupter Gedanke in meinem Kopf auf.

Ich war mächtig! Ich besaß Macht.

Mein Arm besaß sie.

Mein Arm würde sie retten und sofort ballte ich die linke Hand zur Faust. Mein Wille erfasste das Gefühl des Innocence’, augenblicklich ließ ich es erwachen und der nächste, laute Schrei brach aus mir heraus, als ich den Arm nach vorne riss.

Ich würde die Finsternis zerreißen, würde meine Kameraden retten! Mit diesem Arm!

Und vor Entsetzen vereiste der Atem in meiner Lunge, als ich die rosige Haut erblickte, die diesen Arm überzog.

Es war eine menschliche Hand, die sich machtlos streckte. Ich begann zu stolpern, bis ins Tiefste fassungslos und ungebremst sank mein Fuß bei dem nächsten Schritt in den Untergrund. Es riss mich hinab, riss mich zu Boden und schmerzhaft traf mein Kopf auf einen festen Widerstand.

Laut schallte mein trockenes Ächzen und Röcheln wider, als ich mich benommen räkelte, mich wand und krümmte. Es war ein Moment, der mich taub werden ließ, den eisigen Wind aus meiner Wahrnehmung riss, die Schmerzen meiner Füße erstickte und den ersten Atemzug, den ich imstande war, in mir aufzunehmen, presste ich unter einem gellenden Schrei wieder hervor.

Sofort riss ich auch die Augen auf, zitternd fanden meine Hände Halt und abrupt fuhr ich in die Höhe, doch meinen geweiteten Augen bot sich nur ein bekanntes Fenster, hinter dem die Sonne aufging. Ächzend fuhr ich herum und starrte auf das Bett, das sich neben mir erhob.

Ich war zu Boden gestürzt, kauerte inmitten meines Zimmers und fühlte mich doch nicht, als wäre ich wirklich hier.

Ich zitterte.

Der fieberhafte Atem in meiner Lunge und ein aufkeimender Druck in meinem Hals ließen mich unter einem trockenen Husten in mich zusammensinken. Ich hustete, röchelte, spürte, wie sich mein Hals verengte und währenddessen nur gedämpft das peinigende Pochen meiner Rippen. Alles in mir quälte sich, alles in mir krampfte und wie dumpf ging kurz darauf meine linke Hand auf den Boden nieder.

Mit zusammengebissenen Zähnen hob ich den Kopf.

Ich musste es sehen! Ich musste mir sicher sein, doch es war eine pechschwarze Hand, die sich auf den steinernen Boden stemmte. Ein verfluchter Arm, ein mächtiger Arm!

War ich zurück?

War es vorbei?

Hektisch zog ich die Nase hoch, presste die Lippen aufeinander und zwinkerte unter den Strähnen, die im Schweiß meiner Stirn hafteten. Das Flattern des Golems drang kaum zu mir, als ich mich stockend und ungeschickt zu regen begann.

Es war die Realität. Sie musste es sein.
 

Matt tastete sich meine Hand an der Wand entlang und ungelenk folgten ihr meine Schritte.

Ich konnte mich nicht verstellen, ich dachte nicht einmal daran und bisher umgab mich das Hauptquartier still und leblos. Keine Augen, keine Aufmerksamkeit und erschöpft quälte ich mich Schritt um Schritt, quälte mich weiter und von Gang zu Gang.

Meine Knie waren so weich, mein Gesicht eiskalt und nass. Ich war noch immer benommen, nicht ich selbst und doch das Sinnbild meines bodenlosen, finsteren Abgrundes.

Verbittert presste ich die Lippen aufeinander und schob mich um eine Ecke. Dort.

Meine Augen weiteten sich, als sie das Ziel erspähten. Ich streckte die Hand, strauchelte dieser Tür entgegen, riss sie auf und schob mich hastig an ihr vorbei.

Die Duschen.

Meine Augen suchten nach ihnen, suchten nach dem kleinen Durchgang, der vom Bad aus zu ihnen führte und unter einem Stich in meiner Herzgegend versagte mein Atem.

Den Spiegeln zugewandt saß er dort im Schneidersitz auf einem Hocker und seine dunklen Augen waren so aufmerksam, so durchdringend auf mich gerichtet, dass sich das Schicksal spätestens zu diesem Zeitpunkt als erbarmungsloser Tyrann offenbarte.

Kanda.

Er sah mich an. Nur wenige Momente länger als er es sonst tat, während Jonny hinter ihm stand und eine Schere zwischen den Fingern bewegte. Eine der langen, schwarzen Strähnen lag bereits in seiner Hand und seine Mimik offenbarte so eine angespannte Konzentration, dass mich seine Aufmerksamkeit nur kurz streifte. Beiläufig und viel zu oberflächlich, um ihn innehalten zu lassen.

Noch immer war ich zu keiner Regung imstande. Die Bewegung, in der er die Schere zum kurzen Gruß hob, lief wie in Zeitlupe vor meinen geweiteten Augen ab.

„Einen wunderschönen guten Morgen.“

Kaum erreichte mich Johnnys Stimme, denn noch immer waren diese Augen auf mich gerichtet. Weitere Augenblicke. Wahrscheinlich nur wenige, bevor sich Kanda wieder den Spiegeln zuwandte.

„Wehe, du schneidest zu viel ab“, erhob sich seine Stimme und ich nutzte den Moment, in dem sich der Wissenschaftler nervös die Lippen leckte. Fast fliehend bewegte ich mich an den beiden vorbei und nur andeutungsweise bemerkte ich, wie Jonny erneut zu mir spähte, bevor ich im Duschraum verschwand.

„So früh so in Eile“, hörte ich dann sein Seufzen. „Er legt viel Wert auf Körperpflege.“

„Ich lege viel Wert darauf, dass du dich auf meine Haare konzentrierst.“

„Keine Sorge.“ Wieder seufzte Jonny. „Was soll man schon falsch machen bei den Spitzen?“

„Das will ich nicht herausfinden.“

Die Duschen.

Sehnsüchtig blickte ich ihnen entgegen, wand mich schon auf dem Weg zu einer von ihnen aus meinem Hemd. Nur schwerlich war mein Atem zu unterdrücken, ebenso schwer taten sich meine Finger, den Knopf der Hose zu ertasten und dann rutschte auch sie zu Boden. Eilig bekam ich den Wasserhahn zu fassen und riss ihn herum und wie ächzte ich unter dem kalten Wasser, das auf mich niederprasselte.

Es war der nötige Schock, der mich endgültig in die Realität finden ließ.

Ich spürte ihn wieder - meinen Körper.

Von dem Hahn sank meine Hand gegen die Fliesen der Wand. Auch die andere bettete sich auf ihnen und dumpf folgte meine Stirn. Es tat so gut, es tat so weh, doch es half.

Jeden Zentimeter meiner Haut nahm ich wahr und weiterhin lehnte ich nur an der Wand, bis das Wasser wärmer wurde, noch wärmer, und heiß. Dann tastete ich mich hinab und kauerte kurz darauf auf den Fliesen, zog die Knie zu mir und umschloss meine Beine mit den Armen.

Der warme Wasserdampf stieg mir stickig entgegen, entlockte mir ein Husten, unter dem ich die Stirn auf die Knie sinken ließ.

Der Alp.

Nicht immer begegnete er mir in seiner wahren Gestalt. Nicht immer versuchte er mich mit seinem Leib zu erdrücken, sondern vielmehr mit schaurigen Bildern, die mir vor Augen führten, was meine Seele am meisten fürchtete. Als würde er mich besser kennen, als ich es selbst tat.

Er wusste, was er mir zu zeigen hatte.

Wie ich ihn hasste, wie ich ihn verachtete.

Weiterhin hockte ich reglos dort, zusammengesunken dem Prasseln und Rauschen des Wassers zuhörend. Doch nicht nur diese Laute drangen an meine Ohren. Auch andere, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte.

„Das sind nicht die Spitzen.“

Es war Kandas Stimme, die das Gefühl der Wirklichkeit vertiefte und mir gut tat.

Zu wissen, dass er in der Nähe war, war wie ein Rettungsseil, nach dem ich sofort griff.

Langsam drehte ich den Kopf und bettete die Wange auf den Knien, um mir das Zuhören zu erleichtern. Mit geschlossenen Augen lauschte ich und genoss das Kribbeln, das sich unter dem Wasserschauer über meinen Rücken zog.

„Was sind denn 'nur die Spitzen'?“ Jonny klang irritiert. „Ein bisschen was muss ich schon wegschneiden. Mehr als beim letzten Mal wird es nicht und da warst du zufrieden. Bitte nicht so zappeln.“

„Ich zapple nicht.“

„Vertrau mir doch einfach.“ Ein Seufzen schallte in den Waschräumen. „Ich mache es schon richtig. Warte, ich zeige es dir.“ Eine kurze Stille folgte, das Rauschen gewann die Oberhand und konzentriert nahm ich das baldige Brummen wahr. „Soviel?“

„Mm.“

„Na also.“
 

Es wurde besser.

Meine Muskeln schienen sich zu lockern, mein Atem sich zu legen und irgendwann kauerte ich dort und war nur noch erschöpft.

Mein Mund wollte nicht sprechen, meine Augen nicht sehen und ich hatte nicht einmal bemerkt, wie die Stimmen im Nebenraum verstummten.

Es herrschte Stille und kaum wurde ich mir dieser Tatsache bewusst, da erhoben sich Schritte und brachten mich dazu, die Lider zu heben. Ich hatte vorsichtig zu sein. Vor allem jetzt und in meinem Zustand, der nicht für jede Augen bestimmt war.

Jemand betrat den Raum, doch mein Körper reagierte nicht auf ihn, zwang sich keine Haltung auf, kein trügerisches Zeichen von Stärke.

Das Erscheinen jenes jungen Mannes alarmierte ihn nicht und zermürbt verharrte ich in meiner kleinen, unauffälligen Haltung, als Kanda die hölzernen Bänke erreichte. Das Werk schien vollbracht und so verfolgte ich, wie er aus seinen Schuhen schlüpfte und sich das Hemd über den Kopf streifte.

Er kehrte mir den Rücken.

Vermutlich hatte er mir nicht einmal einen Blick geschickt und auch weiterhin existierte keine Aufmerksamkeit.

Während er zu einer der Duschen ging, fuhr er sich durch das Haar, zog es sich über die Schulter, zupfte hier und dort und betätigte kurz darauf den Hahn.

Was war es, fragte ich mich, als er das Gesicht in den Strahl hob.

Was brachte mich dazu, mich hier und jetzt so zu zeigen, wie ich war?

Ich könnte aufstehen und meine letzten Kräfte einsetzen, um jemand zu sein, der nur duschte und sich säuberte.

Doch ich tat es nicht. Was hielt die Entrüstung von mir fern?

In Japan, als ich mich ihm auslieferte, war sie so gegenwärtig gewesen.

Ich hatte mich gescholten, mich gehasst für meine Fahrlässigkeit. Es wäre mir so wichtig gewesen, seinen Augen zu entfliehen und es nicht soweit kommen zu lassen.

Und was immer Kanda dachte, ich hätte mir eingeredet, seine Gedanken in andere Gefilde lenken zu können und ihm erst gar keinen Grund zu geben, sie auf mich zu richten. Wenn er es denn überhaupt tat.

Doch ich blieb kauern, zusammengesunken und matt, und das in seiner Anwesenheit.

Es machte mir nichts aus. Es kostete mich jedenfalls keine Überwindung.

Möglicherweise hatte ich vor ihm kapituliert, möglicherweise eingesehen, dass er der verlässlichste Mitwisser war, den es geben könnte. Verlässlich durch sein Desinteresse.

Die Geschehnisse würden niemals zur Sprache kommen.

Gedankenverloren waren meine Augen noch immer auf ihn gerichtet.

Meine Wange hatte sich neu gebettet, als wolle ich noch länger in dieser Haltung verharren.

Breite Rinnsale bahnten sich ihren Weg über seine Schulterblätter, rannen über seinen Rücken und seine Beine hinab. Er bewegte den Kopf im prasselnden Strahl, beiläufig tastete sich eine Hand zum Nacken, fand ihn und rieb ihn ausgiebig.

Trübe verfolgte ich jede seiner Bewegungen und war doch längst nicht so teilnahmslos, wie ich wirkte.

Nur selten hatte ich die Zeit beziehungsweise den Antrieb besessen, ihn mir genauer zu betrachten. Es hatte keine Gründe gegeben, kaum Gelegenheiten. Stets war zu viel anderes in mir vorgegangen. Die Konfrontation mit mir selbst hatte es mir verwehrt, mir dieser Tatsache bewusst zu werden, doch hier und jetzt tat ich es und während er sich die Haare wusch, vertiefte ich mich sorgfältig in seinen Rücken und seine Oberarme. Meine Augen begannen ihn abzutasten, jeden Zentimeter seiner Haut.

Konnte es sein?

Meine Augen drifteten zu seinen Beinen.

Seine Haut wirkte so unangetastet, so rein, als hätte es nie eine Verwundung gegeben und doch war er so oft verletzt worden.

In all der Zeit, in der wir miteinander arbeiteten, in der wir dieselben Wege gingen und uns in dieselben Gefechte stürzten.

Wie oft sah ich sein Blut, wie oft war er zusammengebrochen durch Wunden, die letztendlich verschwanden, als hätten sie nie existiert.

Ich senkte die Lider, als das Wasser die Seife an ihm hinab rinnen ließ und er sich das Gesicht wusch.

Langsam drifteten meine Augen zu meinen Beinen. Ich war übersät von Narben, denn meine Wunden vergingen nicht.

Vorsichtig strich ich über meine Oberschenkel. Selbst unter meinen Fingern spürte ich das Narbengewebe. All das gehörte zu mir, all das gehörte zu meiner Geschichte.

Unter einem tiefen Durchatmen schloss ich die Arme wieder fester um die Knie.

Noch immer prasselte das Wasser auf meinen Rücken und es war ein seltsames Empfinden, das mich lenkte und mich zurück zu Kanda führte. Er rieb sich die Unterarme, bewegte die Hände in der Seife und war so vertieft, als wäre ich nicht anwesend.

Doch ich war es und die Grübeleien, die in mir aufstiegen, irritierten mich selbst.

Mit einem Mal war es gekommen – das Verlangen, mit ihm zu sprechen.

Einfach das eine oder andere Worte zu wechseln und seine Stimme zu hören. Ich hatte das Gefühl, als gäbe es in mir noch immer etwas, das erwachen musste.

Ich verfolgte, wie er sich wusch, sich pflegte, doch wusste nicht, was ich sagen sollte. Nicht einmal die unwichtigsten Worte fielen mir ein. Dabei war es nicht schwer, eine Reaktion von ihm zu bekommen, wenn es auch nur die für ihn typischen Bemerkungen waren. Selbst sie würden mir helfen.

Aber ich schwieg.

Und war es denn wirklich seine bissige Stimme, die ich hören wollte?

War es nicht vielleicht doch eine andere?

Lächerlich.

Weshalb sollte er so mit mir sprechen und warum zur Hölle ging ich davon aus, dass hier und jetzt der Augenblick gekommen war, in welchem ich zum ersten Mal ein ruhiges, sachliches Gespräch mit ihm führen könnte!

So etwas hatte es zwischen uns noch nie gegeben. Nur Besprechungen, bei denen er genauso strikt und kurz angebunden war wie bei den Worten, mit denen er die Planung begleitete. Es gab nur die Fixierung auf die Arbeit und daneben die Foppereien, mit denen wir uns den Tag versüßten. Nicht einmal das gab er mir und nach wenigen Momenten griff er nach einem Handtuch und kehrte zu der hölzernen Bank zurück. Die Aufmerksamkeit blieb einseitig, die Gelegenheit war vorbei.

Meine Augen blieben auf den Boden gerichtet und bevor ich mich versah, hockte ich wieder alleine dort.
 

Es brauchte seine Zeit, bis ich mich dazu durchringen konnte aufzustehen. Es war mit einer enormen Überwindung verbunden, denn im Grunde fühlte ich mich auf den Fliesen sicher. Wenn ich nur dort saß und der zurückgekehrten Stille in den Baderäumen zuhörte, könnte nichts passieren, sagte ich mir.

Doch die nächsten Besucher kamen. Finder, Wissenschaftler.

Ich hörte ihre Stimmen in den Umkleideräumen und noch bevor der erste den Duschraum betrat, verließ ich ihn. Mit gesenktem Kopf, flink und unauffällig wie ein Schatten, der sich über eine Fassade flüchtete. Keine Konversation, kein Wort, nur ein Nicken hatte ich für höfliche Grüße übrig und es verging keine lange Zeit, da war ich angekleidet und auf dem Weg in den Speiseraum.

Durch die schwere Tür. Meine Lippen schwiegen, meine Augen tasteten sich über den Boden und für weitere Morgengrüße hatte ich nicht vielmehr übrig, als eine trübe Geste. Es war so laut um mich herum, so belebt und umso haltloser schien ich geradewegs in diesem Meer aus Heiterkeit und Lebenslust zu versinken.

Wie in einem tückischen Moor, das aus der Ferne für sicheren Boden gehalten wurde.
 

-tbc-



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