Kapitel 1
"Reika..."
Unwilliges Murren.
„Reika...!“
Wieder wand sie sich in ihrem Bett.
„Bitte wach auf!“
Seufzend schlug die junge Elfin ihre Augen auf, bemerkte jedoch, dass die Sonne noch nicht aufgegangen war. Unwillig rieb sie sich ihre müden roten Augen und schwang ihre Beine aus dem Bett, ehe sie sich vollends erhob und aufstand. Ein Blick aus dem Fenster sagte ihr, dass der Morgen noch ein wenig auf sich warten ließ, doch schlafen konnte sie wohl auch nicht mehr.
Ihren Kopf schüttelnd tapste sie leise auf den Kleiderschrank zu, holte ihre schwarze Uniform hervor und schlüpfte widerwillig hinein. Der Schnitt der Uniform war noch erträglich, aber das Kratzen auf der Haut...
Nachdem sie im großen Spiegel am Kleiderschrank ihr Aussehen überprüft, ihre silbernen, feinen Haare gekämmt und ihre Uniform zurecht gezupft hatte, verließ sie ihr kleines, aber durchaus angemessenes Zimmer, um sich vor dem Frühstück die Beine zu vertreten und ihren merkwürdigen Traum abzuschütteln.
Sie erinnerte sich nur noch undeutlich an die Einzelheiten des nächtlichen Phantasiegebildes. Lediglich die durchdringende Stimme, welche sie letztendlich geweckt hatte, verblieb mit einem bitteren Nachgeschmack in ihren Erinnerungen.
Im Gildenhaus schien noch alles ruhig zu sein, bis auf das leise Geklapper, das Reika nur am Rande aus den unteren Geschossen wahrnahm. In den Küchen herrschte schon reger Betrieb, ehe ihre Kameraden überhaupt die Augen aufschlugen.
Ein Gähnen unterdrückend lief sie durch den in Dämmerlicht getauchten, fensterlosen Korridor. Die magischen Fackeln hinterließen gruselige Schatten auf den Wänden und Türen zu anderen Zimmern. Schon bald erreichte sie die schmale Treppe, welche sowohl zwei Stockwerke weiter hoch als auch drei Stockwerke weiter nach unten zur Haupthalle und dem Ausgang führten.
Nach kurzem Überlegen entschied sich Reika für den Weg zum Ausgang. Da in der Küche schon fleißig das Frühstück vorbereitet wurde, nahm sie an, dass die Ausgangssperre bereits vorüber war und ein wenig frische Luft, so glaubte sie, täte ihr sicher gut. Der Wächter am Tor zum Außenhof wirkte, als würde er gleich im Stehen einschlafen.
„Seid gegrüßt“, sprach sie den müden Soldaten leise an, um sonst niemanden zu stören oder ungewollt auf sich aufmerksam zu machen. Der noch recht junge Mann zuckte kurz zusammen, beruhigte sich aber schnell wieder, als er Reika erkannte.
„Seid gegrüßt, Hauptmann Scythe. Was führt Euch zu so früher Stunde nach draußen?“, entgegnete er, wohl froh über die Abwechslung zur sonst eher eintönigen Nachtschicht.
„Ich will mir nur ein wenig die Beine vertreten. Schlecht geschlafen“, fügte sie mit einem leisen Zwinkern hinzu. Der junge Mann lächelte und öffnete ihr einen Flügel des großen, eisernen Tors.
„Meine Schicht ist gleich vorbei, aber ich werde meinem Kameraden von Eurer Abwesenheit unterrichten.“
„Vielen Dank. Ruht Euch gut aus, Drenur.“
Das Lächeln des Soldaten wurde breiter. „Habt Dank. Das werde ich ganz sicher.“
Lächelnd trat Reika durch die halb geöffnete Flügeltür hinaus auf den Außenhof. Nahezu sofort blies ihr ein wohltuender, kühler Wind um ihr bleiches Gesicht. Für den Sommer war es noch recht mild.
Am Rande nahm sie das dumpfe Knarren des sich schließenden Tors wahr, während sie sich kurz streckte, die klare Luft einsog und dann gemächlich zu den östlich gelegenen Blumenbeeten am inneren Rand der hohen Mauer spazierte, welche das Gelände der Gilde umfasste. Unzählige kleine Tautropfen bildeten in den Blüten und Blättern der vielfältigen Blumen einen Teppich, welcher in dem noch übrigen Mondlicht leicht glitzerte. Der Geruch feuchter Erde, duftender Blumen, begleitet von den eher unangenehmen Gerüchen der Stallungen am westlichen Ende des Hofs, spülten Reikas Sinne und so langsam regte sich ihr Geist. Sie warf einen Blick auf das Gildenhaus, dem Zentrum des Geländes, welches prächtig anzuschauen war, auch wenn es im Winter durchaus durch alle Ritzen zog.
Irgendwann mussten sie mal einen Umzug in ein besser geeignetes Gebäude in Betracht ziehen - Pracht und Tradition hin oder her. Schließlich gab es "Zenobia" schon weitaus mehr als fünfhundert Jahre, dementsprechend alt war auch das Gebäude, wenn es auch schon so manches mal von Grund auf restauriert wurde.
Seufzend wandte sie sich den wenigen Bäumen zu, welche nahe den Blumenbeeten gepflanzt worden waren. Es waren einfache Laubbäume, die um diese Jahreszeit in vollem Grün standen. Sie hielt jedoch inne als sie eine dunkle Gestalt vor den Bäumen stehen sah, den Kopf Richtung Himmel erhoben. Als sie genauer hinsah, erkannte sie ihren alten Freund und zugleich Vorgesetzten, Dylan Faelson.
„Guten Morgen“, rief sie ihm entgegen, ehe sie weiter auf ihn zuging.
Dylan senkte den Kopf und sah in ihre Richtung. Im Dunkeln konnte Reika es aus dieser Entfernung nicht gut erkennen, doch schien er sie anzulächeln.
Als sie dann schlussendlich neben ihm stand, sahen sie zusammen in den Himmel.
„Guten Morgen“, erwiderte er dann mit seiner sanften Stimme.
„Was führt dich um diese Zeit nach draußen, Dylan? Müsstest du dich nicht auf die Versammlung später vorbereiten?“
Ohne sie anzusehen, antwortete er: „Dasselbe könnte ich dich fragen, Rei. Du solltest eigentlich noch träumend in deinem Bett liegen, ehe das Frühstück beginnt.“
Sie lachte. „Nun, vermutlich hast du Recht. Ich konnte nicht gut schlafen. Was ist deine Ausrede?“
Auch er lachte. „Dieselbe. Es steht einiges bevor, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Das scheint mir den Schlaf zu rauben.“
Einige Minuten lang standen sie schweigend Seite an Seite und betrachteten die Sterne, welche nach und nach verblassten. Die Sonne würde schon sehr bald über dem Meer stehen und den Alltag „Zenobias“ einläuten.
Dylan senkte den Kopf und sah Reika nun direkt an. Sie sah ihn ebenfalls an.
„Nun denn. Genug mit dem Kopf in den Wolken gehangen. Die Pflicht ruft. Wir sehen uns später bei der Versammlung.“
„Wirst du das Frühstück wieder ausfallen lassen?“, bemerkte Reika streng.
Sein entschuldigendes Lächeln war Antwort genug.
„Übertreib es bloß nicht. Ich werde eine Magd bitten, dir Essen in dein Arbeitszimmer bringen zu lassen.“
„Vielen Dank“, war alles, was er sagte, ehe er zurück ins Gildenhaus ging.
Als sie ihm nachsah, bemerkte sie seine gebeugte Haltung. Besorgte Seufzer entfuhren ihr.
In der großen Halle suchte sie eine Magd, welche gerade nicht allzu beschäftigt schien und wies sie an, ein großes Tablett mit reichlich Nahrung in Dylans Arbeitszimmer zu bringen. Die junge Magd nickte und ging eilig davon. Für sein Frühstück war also gesorgt. Nun suchte sie sich einen Platz am Rande der reich beschmückten Halle. Bunte Kriegsbanner mit mehr oder weniger schlagfertigen Sprüchen, antike Waffen und sogar Artefakte, deren Edelsteine gesprungen waren, zierten die Wände. Unter der hohen Decke schwebten viele magische Leuchtfeuer, welche die Halle taghell erleuchteten. Zu den Essenszeiten standen hier viele Bänke und Tische, doch wurde die Halle auch für Versammlungen aller Arten genutzt, weshalb hier immer hektisches Treiben stattfand, um alles so herzurichten, wie es gerade gebraucht wurde.
Noch war es hier recht leer. Nur vereinzelt fanden sich bereits einige Frühaufsteher zusammen, welche in gemäßigten Ton miteinander redeten oder einfach schweigend in die Leere schauten. Reika indes grübelte über ihren nunmehr verschwommenen Traum nach und ehe sie sich versah, füllte sich nach und nach die Halle. Zu den vielen Soldaten, Angehörige aller zivilisierten Völker, gesellten sich auch die unvermeidlichen Gerüche und lauten Stimmen, welche Reika stets als störend empfand, die sie jedoch über die vielen Jahre in der Gilde irgendwann nahezu ausblenden konnte. Nun, vielmehr konzentrierte sie sich nicht mehr allzu sehr auf sie, was ihr fast inneren Frieden gab.
Die Bankreihen waren nun fast gänzlich ausgefüllt. Während die Dienerschaft entlang der Tischreihen Tabletts mit Brot, Käse, Früchten und Kannen mit Wasser verteilten, kamen nun auch die letzten Ankömmlinge in die Halle. Das gemeinsame Frühstück konnte also beginnen. Von Dylan fehlte jedoch jede Spur. Beachtete man die auf den Mittag angelegte Großversammlung, an der alle Soldaten des Hauptquartiers teilnehmen mussten, wunderte es Reika nicht. Es gab noch viel zu tun.
Nach dem Frühstück begannen die morgendlichen Trainingseinheiten, welche je nach Einheit abgehalten wurden. Magier, Berittene und Fußsoldaten der niederen Ränge trainierten auf dem riesigen Exerzierplatz auf dem Außenhof, während höhere Offiziere, wie Reika, in den Trainingshallen für sich trainierten. Reika zog es vor, ihre morgendlichen Übungen alleine zu absolvieren. Andere Offiziere machten Übungskämpfe, probierten neue Zauber aus oder verbrachten ihre Zeit in Kraft-, Ausdauer- oder Meditationsübungen.
Reika wusste noch nicht so recht, womit sie anfangen sollte, doch dann entschied sie sich für simple Schwertübungen. Als sie ihren tödlichen Tanz vollendet hatte, trat sie an einen der großen Wasserbottiche, die in jedem Raum standen und kühlte ihr Gesicht. Die restliche Zeit verbrachte sie in Meditation.
Sie wunderte sich jedoch, als sie wieder ihre Augen aufschlug.
Wie spät war es?
„Verflucht, ich habe die Zeit vergessen!“, rief sie, rappelte sich eilig hoch und stürmte los.
In der großen Halle angekommen, suchte sie sich schnell einen Platz in den vorderen Reihen. Dylan, der in der ersten Reihe saß, drehte sich halb um und nickte ihr zu.
Einer der älteren Kommandanten hielt gerade eine Rede über ein, wie es ihr schien, unwichtiges Thema. Nach wenigen Minuten endete er und deutete auf Dylan. Dieser erhob sich und ging langsam, aber zielstrebig auf das erhöhte Podest am Ende der Halle zu. Ehe er begann, ließ er seinen Blick fest durch die Halle auf jede Reihe von Soldaten schweifen. Reika schien es, als würde sein Blick für einige Sekunden länger an ihr haften als bei ihren Kameraden. Vielleicht war es aber auch nur Einbildung.
"Nun, ich danke Kommandant Reins für seine... nun... ausführliche Erläuterung der Dinge, aber nun wenden wir uns einer etwas feierlicheren Begebenheit zu", begann er förmlich, den Blick mittig in die Luft gerichtet.
"Gestern Nachmittag erreichte mich folgende Kunde: In vier Monaten wird ein Ereignis stattfinden, welches bestimmt einige unter euch besonders begeistern wird." Sein Blick schweifte erneut über die Versammlung.
"In Tuaman, der Hauptstadt Kol'thors - falls es einige unter euch nicht wissen sollten - wird ein Ereignis veranstaltet, welches das letzte Mal vor etwa einhundertfünfzig Jahren abgehalten wurde: Das Turnier der Krieger!"
Dylan schwieg einige Sekunden, um die Botschaft auf die Gemeinschaft wirken zu lassen - nicht zu unrecht, denn sobald er sich unterbrochen hatte, brach tosendes Gejubel unter den Männern aus. Vorallem die jungen Männer bekundeten ihre Zustimmung auf anschaulichste Weise. Allerdings bemerkte Reika auch einige ratlose Gesichter. Sie selbst war milde überrascht. Zwar wusste sie, dass es zu früheren Zeiten solch ein Ereignis stattgefunden hatte, doch hatte sie dem nicht so viel Bedeutung beigemessen.
Dylan hob seine Hände und langsam beruhigte sich die Menge wieder, sodass er fortfahren konnte. Reika konnte ihm sein unterdrücktes Grinsen ansehen.
"Eurem Gejubel zu urteilen wisst ihr bereits, womit wir es zu tun haben. Doch leider kann ich nicht allen erlauben daran teilzunehmen." Enttäuschtes Gemurmel. "Es werden nur jene daran teilnehmen könnten, die über mindestens mittelstarke Magie und über sehr gute Waffenführung verfügen. Am schwarzen Brett hängt bereits ein Aushang, auf dem ihr euch eintragen könnt. Nach eingehender Prüfung", dabei ließ er seinen Blick streng durch die Runde schweifen, "werde ich dann entscheiden, ob ihr geeignet seid, oder nicht. Insgesamt sind nur zwanzig freie Plätze offen, also werden wir aufs Genaueste überprüfen, wer teilnimmt und wer nicht. Lasst euch nicht zu Dummheiten verleiten. Dieses Turnier wird für unseren Ruf und unsere Ehre sehr wichtig sein - abgesehen von den möglichen neuen Bewerbern, wenn wir das Turnier zu unserem Gunsten entscheiden."
"Welche Belohnung winkt uns denn, wenn wir gewinnen?", wollte jemand aus den hinteren Reihen mit rauer Stimme wissen.
"Die Details des Turniers wurden noch nicht bekannt gegeben. In der Botschaft, die gestern eintraf stand lediglich, wann und wo es stattfinden soll. Die restlichen Details werden sicherlich noch veröffentlicht."
Dylan beendete seine Rede und somit auch die Versammlung. Erleichtert erhob sich Reika von ihrem Platz. Die Bänke waren dermaßen hart, dass ihr Hintern bereits zu schlafen begonnen hatte. Genüsslich streckte sie sich, genoss das entspannende Gefühl, dass sich in ihr ausbreitete und wollte sich schon wieder davonmachen, als Dylan sie aufhielt.
"Warte, Reika."
"Was gibt es, Dylan?"
"Ich möchte, dass du an dem Turnier teilnimmst und den Trupp zusammen mit einem anderen Kommandanten anführst, Reika."
"Vergisst du da nicht etwas, o mächtiger Führer?", stichelte sie ihn. Verwirrt blickte er sie an.
"Ich bin Hauptmann und kein Kommandant, Dylan. Ich kann ihn also nicht anführen, selbst wenn ich es wollte."
Ein Funkeln trat in seine tiefblauen Augen, die im starken Kontrast zu seinen schwarzen Haaren standen.
"Trag dich in die Liste ein, Reika, und überlass den Rest ruhig mir."
"Wie Ihr wünscht, Brigadegeneral Faelson."