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The Idol Mafia

von

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Ankunft

„Das Meeting endet gegen 17:00 Uhr. Ich könnte also bis heute Abend bei dir sein“, antwortete die junge Frau ihrem Gesprächspartner am Telefon. „Es tut mir leid, aber daraus wird heute nichts. Wir bekommen noch Gäste, das weißt du doch.“ Sie hielt kurz inne und strich sich einige lange rote Haarsträhnen aus dem Gesicht. Eine geringfügige Enttäuschung zeichnete sich ab. „Ok. Aufgeschoben ist allerdings nicht aufgehoben. Du wolltest mit mir ins Kino gehen, vergiss das bloß nicht, Elias.“ Ein leises Murren war zu vernehmen. „Was ist los… Elias?“ Das Grummeln wurde lauter. „Suchst du vielleicht Streit? Wir hören uns wieder, tschüss.“ Dann legte er auf und sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wie kann man nur so empfindlich sein, wenn es bloß um einen Namen geht?“ Nachdem sie einen schwarzen Aktenkoffer von der Rückbank ihres Wagens geholt hatte und noch einmal aufmerksam dessen Inhalt, in Form verschiedener Dokumente, durchgegangen war, begab sie sich schließlich zügigen Schrittes zum Ausgang des Parkhauses. Auf neun Ebenen bot es rund 2.500 Stellplätze und war stets relativ gut ausgelastet. Vorbei an Hunderten Autos, tief versunken in Gedanken, bemerkte sie erst viel zu spät, dass jemand von rechts her ihren Weg kreuzte. Unter einem leisen Aufschrei landete die junge Frau auf dem Hintern, ihr Aktenkoffer schlitterte ein paar Meter über den Boden.

 

„Verdammter Mist“, fluchte sie und rieb sich das leicht schmerzende Gesäß. „Sind Sie in Ordnung?“, fragte eine weibliche Stimme. Ein Mädchen mit blonden, zu einem Pferdeschwanz gebunden, Haaren streckte ihr eine Hand entgegen. „Ja, alles bestens“, gab sie zurück und lies sich aufhelfen. Penibel klopfte sie den Staub von ihrem Rock ab. Unterdessen hob das Mädchen den Koffer auf und übergab diesen mit einem freundlichen Lächeln. „Bitteschön, der gehört Ihnen, Frau Wagner.“ „Woher weißt du denn wie ich heiße?“, fragte sie hörbar verdutzt. „Von dem Namensschild“, dabei deutete sie mit einem Finger auf die eigene Brust. „Ach ja, stimmt.“ Rasch prüfte die junge Frau die Uhrzeit, nur um festzustellen, dass sie doch später dran war, als gedacht. „Entschuldige bitte, dass ich in dich reingerannt bin. Aber es scheint dir ja glücklicherweise nichts passiert zu sein. Ich muss jetzt los.“ Einen Augenblick lang winkte das Mädchen der flüchtigen Bekanntschaft nach, bis ihr Smartphone klingelte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jemand mit den Worten: „Hast du schon alles erledigt?“

 

Im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens herrschte der typische Hochbetrieb. Unzählige Passagiere waren mit dem Check-in beschäftigt: Sie gaben das Gepäck auf, besorgten sich die Bordkarten, ließen die notwendigen Sicherheitskontrollen über sich ergehen und warteten zuletzt auf den Aufruf ihres Fluges. Die meisten der Passagiere hatten die eigentliche Reise noch vor sich. Andere dahingegen waren längst erfolgreich am gewünschten Ziel angekommen.

 

„Wow. Das ist ja riesig“, sagte Honoka begeistert. Sie klebte förmlich an einer der großen Fenster des Terminal 1, gemeinsam mit Niko und Rin. Von dort aus hatte man eine nahezu perfekte Sicht auf das imposante Gebäude, das direkt über dem Fernbahnhof errichtet wurde. „In der Tat, es ist riesig“, stimmte Umi zu. „Aber das ist bei weitem nicht das Interessanteste.“ Niko verdrehte die Augen und seufzte: „Spar dir die Details, bitte.“ Doch sie war in ihrer Euphorie nicht mehr zu bremsen: „The Squaire ist ein architektonisches Meisterwerk. Erbaut in nur vier Jahren, als eine Kleinstadt in einem einzigen Gebäude und aus aller Welt schnell und unmittelbar erreichbar. 65 Meter breit, 45 Meter hoch und mit 660 Metern doppelt so lang wie der Eiffelturm hoch ist. 86 Säulen tragen dieses gewaltige Bauwerk mit seinen rund 350.000 Tonnen Gewicht. Es bietet auf mehr als 146.000 Quadratmetern genügend Platz für Hotels, Büros namhafter Unternehmen, Gastronomie und Geschäfte“, zitierte sie aus einem imaginären Reiseführer, ohne auch nur einmal Luft geholt zu haben. „Das ist fast schon ein kleines Wunder.“

 

„Wir können dort einkaufen gehen und mit dem Zug weiterreisen“, fasste Niko leise zusammen. „Der ganze Rest ist doch unwichtig.“ „Banausin“, schnaubte Umi aus heiterem Himmel, sodass ihre Senpai ein wenig zusammenzuckte. „Wenn wir schon in anderen Ländern Urlaub machen, dann ist es verdammt wichtig, sich mit den örtlichen Begebenheiten auseinanderzusetzen. Sehenswürdigkeiten dienen nicht nur als bloße Anschauungsobjekte. Wir sollen nach Möglichkeit von ihnen lernen. Beispielsweise über die hiesige Kultur, Geschichte und…“ Ihre Ansprache wurde von einem kurzen Klatschen unterbrochen.

 

Nozomi, die zusammen mit Eri geringfügig abseits stand, zeigte mit dem ausgestreckten Arm in Richtung eines breiten Durchgangs, der das Terminal 1 mit The Squaire verband. „Umi, ich finde es durchaus lobenswert, dass du dich vorab so eifrig informiert hast. Aber für den Anfang wäre es wohl besser, wenn wir diese Sehenswürdigkeit erstmal aus der Nähe begutachten würden, ehe wir davon lernen können. Wir müssen ja ohnehin zum Fernbahnhof.“ Ihr blieb nicht wirklich die Zeit, um eine Antwort zu finden, denn der Großteil der Reisegruppe war bereits mit Sack und Pack vorneweg gelaufen. Etwas missmutig folgte Umi den anderen. „Nimm dir das nicht so zu Herzen“, beruhigte Eri sie. „Abhängig davon wie alles verläuft, haben wir ja nebenher noch die Chance, die Stadt und alles Sehenswerte zu besichtigen.“ „Schlimmstenfalls holen wir das ansonsten im Winter nach“, ergänzte Nozomi beiläufig. Aus ihrer Handtasche zog sie einen Camcorder und begann damit alles zu filmen, was ihr vor die Linse sprang.

 

Knappe 10 Minuten später fand sich die Gruppe auf einem der zentralen Plätze von The Squaire wieder. Insgesamt gab es fünf dieser lichtdurchfluteten Atrien, die allesamt offen angelegt, mit zahlreichen Sitzplätzen ausgestattet und von äußerst gepflegten Grünflächen umgeben waren. Diese Miniaturparks boten direkte Anbindung an eine Vielzahl von Geschäften. Erschöpft saßen die neun Mädchen beisammen und beratschlagten über das weitere Vorgehen. „Der nächste Zug fährt in etwa 45 Minuten“, sagte Umi und prüfte vorsichtshalber den Fahrplan. „Das wäre dann die ICE-Verbindung in Richtung Hauptbahnhof?“, fragte Kotori und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserfalsche zu sich. „Stimmt. Von dort dauert es dann noch etwas mehr als eine halbe Stunde, bis wir unser eigentliches Ziel erreicht haben.“ „Vorausgesetzt natürlich, dass alle Verbindungen relativ pünktlich sind“, fügte Niko halb gähnend hinzu. „Wieso sollten sie das nicht sein?“, wunderte sich Rin. „Deutschland ist doch ein fortschrittliches Land genauso wie Japan. Und bei uns haben die Züge fast nie eine nennenswerte Verspätung.“ Sie lächelte und griff freudig nach einem Sandwich, das Hanayo ihr reichte. „Manchmal ist deine Naivität fast schon niedlich“, seufzte Maki und streichelte Rin sanft durch das orangefarbene Haar, die daraufhin leicht den Kopf zur Seite neigte und die Zuwendung sichtlich genoss. „Wir sollten unsere Zeit aber auf keinen Fall mit bloßem Warten verschwenden“, merkte Honoka an und sprang zugleich voller Elan von ihrem Sitz auf. „Sehen wir uns doch ein bisschen um. Es gibt hier bestimmt einige interessante Dinge  zu entdecken.“ Eri nickte ihr stumm zu. Die Oberschülerin erntete für diesen Vorschlag eine breite Zustimmung, zumal sich der Aufenthalt mittlerweile unfreiwillig um 10 Minuten verlängert hatte.

 

„Ich bleibe hier und gebe derweil auf unser Gepäck Acht“, entschied Nozomi, während sich die restlichen Mitglieder von µ‘s in kleinere Gruppen aufteilten. „Bist du sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?“, hakte Maki nach. „Auf Ebene 2 gibt es ein sehr schönes Café. Begleite uns doch.“ „Nein, nein. Ohne zusätzliches Gepäck geht es sich leichter einkaufen. Danke für das Angebot. Das passt schon“, erwiderte Nozomi. „Außerdem…“, sie beobachtete Niko, die mit verschränkten Armen und einer gewissen Ungeduld zu warten schien, mit einem zufriedenen Grinsen, „…will ich niemandes traute Zweisamkeit unnötig stören.“ „Du bildest dir da etwas ein“, mauschelte Maki verlegen. „Jetzt komm schon. Du hast gehört, was sie gesagt hat“, raunte das schwarzhaarige Mädchen, griff nach der Hand ihrer Freundin und zog sie bestimmend mit sich.

 

Bis beide aus dem Sichtfeld von Nozomis Camcorder verschwunden waren, hatte Eri schweigend daneben gesessen. „Du magst es, die Schicksalsgöttin zu spielen, nicht wahr?“, lachte sie und drückte eine Hand auf die Linse der Kamera,  um nicht gefilmt zu werden. „Ja, wir sind Götter. Aber nicht die Moiren, sondern die neun Musen. Beschützerinnen der schönsten Künste, die je geschaffen wurden“, entgegnete Nozomi mit einem Augenzwinkern und tippte ihrer Sitznachbarin auf die Nasenspitze. „Unser aller Schicksal ist vorherbestimmt. Trotzdem kann es nicht schaden von Zeit zu Zeit die recht eindeutigen Wege anderer zu ebnen.“ Liebevoll strich Nozomi mit der Hand über die Wange ihrer Freundin und sagte: „Bitte, sei vorsichtig.“ Eri erhob sich und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. „Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns später.“

 

In der Zwischenzeit hatten Hanayo und Rin ein Feinkostgeschäft ausgemacht, das auch viele verschiedene Spezialitäten aus Fernost im Angebot führte. „Mmh, lecker“, murmelte Rin und verstaute einige Packungen Ramen in einem grünen Einkaufskorb. Danach ging sie weiter zur üppigen Obst- und Gemüseabteilung. Hier verblieb sie aber nicht sonderlich lange. Europagras, Viereckige Bohnen und Balkapaublätter zählten nicht unbedingt zu ihren Favoriten. 15 Minuten später hatte Rin schließlich die wichtigsten Zutaten beisammen, die für eine wohlschmeckende Nudelsuppe von Nöten waren. „Ramen, Bambussprösslinge, Seetangblättchen, Sojasoße, Dashi-Brühe“, wiederholte das Mädchen in Gedanken, während ihr ein wenig das Wasser im Mund zusammenlief. „Den Rest kaufe ich später.“ Sie hielt Ausschau nach Hanayo, konnte diese aber im ersten Augenblick nirgendswo ausfindig machen. Allerdings wusste Rin ziemlich genau, wo sie abgeblieben sein müsste. Und schon ein paar Gänge weiter bestätigte sich der Verdacht der Oberschülerin.

 

„Hilfe! Helft mir!“, unter größten Mühen versuchte Hanayo einen 35 Kilo schweren Sack weißen Reis aus einem Regal über ihren Kopf zu hieven. „Was machst du denn da, Kayo-chin?“, fragte Rin angstvoll, legte ihren Einkaufskorb ab und half ihr rasch dabei, nicht von der eigenen Leibspeise erschlagen zu werden. Nachdem die Gefahr erfolgreich gebannt war, schnaufte sie einmal kräftig durch und wandte sich lachend an ihre Freundin: „Du liebst weißen Reis, das ist mir durchaus bewusst. Aber selbst für deine Verhältnisse ist das etwas zu viel.“ „Zu… zu viel?“, wiederholte Hanayo gehemmt und warf aus dem Augenwinkel heraus einen flüchtigen Blick hinter sich. Rin staunte nicht schlecht über zwei weitere Säcke Reis, die bereits unten am Regal lehnten. „Kayo-chin, wolltest du wirklich über 100 Kilo weißen Reis mit dir herumschleppen?“ Schweigend wich das Mädchen zunächst der Frage aus. „Ähm… nun ja…“, stammelte Hanayo, als plötzlich ein weiterer Sack umkippte und aus dem Regalfach direkt vor Rins Füßen landete. Überrascht hob sie diesen auf und lächelte. „Jetzt verstehe ich. Du hast lediglich nach den kleineren Varianten gesucht, die auch leichter zu transportieren sind.“ Sie präsentierte einen Sack Reis, der gut fünf Kilo fasste. „Ähm…nun ja…Nicht ganz…also… sie liefern auch…“, Hanayo kam über ein Herumdrucksen nicht hinaus, als Rin sie kurzerhand mit sich zerrte. „Wir müssen zur Kasse.“ Zwar versuchte Hanayo noch Widerstand zu leisten, doch am Ende blieb nur ein trauriger Blick zurück, gefolgt von einem leisen wimmern: „Aber…Mein Reis…“

 

An einem runden Esstisch saßen zwei Gäste vor einem gut besuchten Café, denen gerade ihre Bestellung serviert wurde. Begeistert über die Stücke Frankfurter Kranz, steckten sie dem Kellner ein Trinkgeld zu. Eine der beiden jungen Frauen bot ihrer Freundin mit der Gabel ein Stück ihres Kuchens an, die zugleich das Angebot annahm und genussvoll das Gesicht verzog. Andere, die diese Szene beobachtet hatten, stocherten stattdessen nur lustlos im eigenen Kuchenstück herum.

 

„Was ist los, Niko?“, fragte Maki und setzte ihre Kaffeetasse zurück auf den Unterteller. Sie erhielt keine Antwort, außer einem leisen Grummeln. Etwas bereitete Niko deutliches Unbehagen. Das Mädchen hatte sich von Maki abgewandt und blickte bloß auf die zerkleinerten Überreste ihrer Donauwelle. Seit sie bestellt hatten, wechselten sie kein Wort mehr miteinander. „Anstatt den Kuchen zu malträtieren, solltest du ihn lieber essen. Er schmeckt hervorragend.“ Niko reagierte nicht und schob bloß den Teller beiseite. Anschließend legte sie ihre Arme auf den Tisch und stützte den Kopf auf diese. Gelangweilt schwenkte Maki unterdessen ihre Tasse umher und schaute dem Kaffeesatz beim Wandern zu. „Du bist jetzt schon eine ganze Weile so schlecht gelaunt. Woran liegt das?“, hakte sie schließlich vorsichtig nach. Vergebens hatte sie dabei den Blickkontakt zu ihr gesucht. Es schien ein gewisser Groll in Niko zu keimen, denn nur einen Moment der Stille später entgegnete diese lautstark: „Du bist manchmal schrecklich gemein, weißt du das?“ Sie erhob sich aus dem Stuhl und musterte ihre Freundin missmutig. Das rothaarige Mädchen wirkte überrascht. „Wie soll ich das jetzt verstehen? Was habe ich denn getan?“ Niko legte etwas Bargeld auf den Tisch und drehte genervt den Kopf zur Seite. Sie seufzte enttäuscht: „Du bist nicht nur gemein, sondern stellenweise ungewohnt schwer von Begriff.“ Sie nahm ihre Handtasche und ging. „Ich werde zusammen mit Nozomi auf die anderen warten.“

 

Einige Sekunden verblieb Maki verständnislos auf ihrem Platz sitzen, bis sie ihr schließlich völlig überstürzt hinterherlief. Auf halber Strecke rempelte das Mädchen dabei eine Frau an, die ebenso rotes Haar hatte wie sie und einen schwarzen Aktenkoffer bei sich trug. Nach einer halbherzigen Entschuldigung, die die junge Frau offenbar nicht verstand, da sie auf Japanisch ausgesprochen wurde, setzte Maki ihren Weg fort. Sie erreichte Niko kurz vor dem Aufzug und hielt diese am Arm fest.

 

„Hey. Bleib stehen. Jetzt warte doch mal“, flehte sie fast schon förmlich, als Niko vehement versuchte, sich aus dem Griff zu lösen und demonstrativ kein Interesse daran zeigte, ihren Worten auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu widmen. „Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann sag es mir. Wo liegt das Problem?“ Sie hielt inne und drehte sich langsam zu Maki um. Ihre Augen besaßen einen leicht kühlen Ausdruck. „Wenn ich es dir erst erklären muss, dann hat das Ganze keinen Sinn“, antwortete sie vollkommen beherrscht. Maki umklammerte noch immer ihren Arm, drückte derart grob zu, dass es wehtat, wenngleich es kein körperlicher Schmerz war. Vielmehr wuchsen innerlich gewisse Zweifel heran, die Niko sorgenvoll auf die derzeitige Situation blicken ließen. Sie sollten Händchen halten, ganz friedvoll und vielleicht etwas zaghaft. Stattdessen bahnte sich ein Streit in aller Öffentlichkeit an, und es schien nicht so, als dass das Mädchen – ihre Freundin – überhaupt wusste, was der eigentliche Grund für diese Aufregung war. „Vielleicht hätte ich mich noch mehr bemühen müssen.“ Mit einem kräftigen Ruck konnte sich Niko letztendlich aus dem Griff befreien. „Ich werde zusammen mit Nozomi auf die anderen warten“, wiederholte sie nochmals. Niko sprach es nicht direkt aus, doch ihr garstiger Tonfall verriet unmissverständlich, dass sie aktuell alles wollte, außer Makis Gesellschaft. Wütend über die harsche Behandlung lehnte sich diese gegen das Geländer hinter ihr. Gleichgültig beobachtete sie den Aufzug, bis er in der unteren Ebene verschwand. „Dann mach doch was du willst“, murmelte Maki erzürnt und begab sich auf den Rückweg zum Café. Jedoch hielt sie an, als plötzlich jemand von der anderen Seite aus nach ihr rief. „Maki-chan“, es handelte sich dabei um Rin, die vor dem Eingang eines Feinkostgeschäfts stand. Auch Hanayo war bei ihr. Sie hielt einen kleinen Sack Reis in den Händen. Maki wollte sich nichts anmerken lassen und hoffte sehr, dass die beiden nichts von dem mitbekommen hatten, was gerade passiert war. Mit einem gezwungenen Lächeln winkte sie ihnen zu.

 

„Drei Stück? Wieso musstest du denn gleich drei Käsekuchen kaufen?“, fragte Umi verwundert, als Kotori mit einem äußerst zufriedenen Lächeln die Konditorei verließ. „Einer ist ein Begrüßungsgeschenk für unseren Gastgeber und der zweite Kuchen ist für uns selbst. Zum Kaffee passt er hervorragend.“ „Und was ist mit dem Letzten?“ „Der ist für mich“, erwiderte Kotori kurz und knapp. „Du bist ein regelrechter Vielfraß, Kotori-chan“, kam es von Honoka, die unmittelbar hinter ihr stand. Sie bediente sich gerade schmatzend an einer Tüte, gefüllt mit unterschiedlichen Sorten von Gebäck. „Wenn du das alles isst, wirst du wieder dick“, mahnte Umi und versuchte ihr vorsichtshalber die Tüte abzunehmen. Das gelang aber mehr schlecht als recht, da Honoka einfach vor ihr weglief. „Bleib gefälligst stehen.“ „Nein, kauf dir deine eigenen Plätzchen.“ Kotori amüsierte sich derweil prächtig. „Die beiden benehmen sich wie Kinder. Süß“, dachte sie und beobachtete gelassen ein paar Passanten, die nur Kopfschüttelnd an ihnen vorbei gingen. „Mach dir keine Sorgen. Etwas das so gut schmeckt, kann gar nicht dick machen“, lachte Honoka und wedelte im Rennen mit der Tüte umher. „Das ist die dümmste Ausrede, die ich seit langem gehört habe.“ Mit einem Mal blieb Honoka stehen, derart abrupt, sodass Umi fast mit ihr zusammengestoßen wäre. Sie drehte sich zu dem Mädchen um. „Hör mal, Umi-chan“, begann die Oberschülerin plötzlich mit einer lieblichen Stimme zu sprechen und griff noch einmal in die Tüte, ehe sie diese Umi überließ. „Ich handle gerne so, wie du es von mir möchtest. Aber dann erwarte ich auch, dass du dementsprechend konsequent bist.“ Sie nahm das Plätzchen in den Mund und zog Umi vorsichtig zu sich heran. Mit halb geöffneten Augen sowie einem nun mehr verführerischen Lächeln, umfasste Honoka zärtlich das Gesicht ihrer Freundin. „Warte…bitte…“, Umis Wangen färbten sich schlagartig rot, ihr Herz raste förmlich. Ihre Stimme zitterte: „Das… kann… ich nicht.“ Nervös senkte sie ihren Blick, wandte den Kopf leicht ab. Zwei männliche Schaulustige – sie standen etwas Abseits – hatten ganz offensichtlich Gefallen an diesem Bild gefunden. Auch Umi war dies nicht entgangen. „Honoka… das… ist…“, letztlich musste sie kapitulieren. Mit noch immer knallroten Wangen entfernte sich Umi einige Schritte. Es war ihr deutlich anzusehen, wie peinlich das alles für sie war. Nachdem die beiden Männer allerdings das Interesse verloren hatten, beruhigte sie sich und fand zumindest einen Teil ihrer gewohnten Standhaftigkeit wieder.

 

„Das war absolut niederträchtig von dir“, klagte Umi. „Dass du in der Öffentlichkeit derart schamlos sein kannst, stimmt mich mehr als bedenklich.“ Honoka zuckte lediglich mit den Schultern. Genügsam aß sie das letzte Plätzchen, dass ihr noch verblieb. „Unter anderen Umständen gefällt dir das sonst eigentlich.“ Sie kam nicht umhin, Umi ein schadenfrohes Grinsen zu schenken. „Spar dir das“, raunte das blauhaarige Mädchen verlegen und stopfte die Tüte in ihre Hosentasche. „Ich konfisziere die Plätzchen.“ Kotori, die währenddessen schweigend aber nach wie vor amüsiert zugesehen hatte, erinnerte die beiden schließlich daran, auf die Uhrzeit zu achten. „Fast vergessen“, warf Honoka ein und zückte ihr Smartphone. „Geht ihr schon mal vor. Ich komme dann gleich nach.“ Sie nickten zustimmend. „Wir warten am Gleis auf dich“, rief Kotori Honoka zu, die sich nun langsam auf eine abgelegene Ecke nahe der Konditorei zu bewegte. Dort wählte sie eine der gespeicherten Nummern aus ihrem Adressbuch und prüfte gleichzeitig aufmerksam ihre unmittelbare Umgebung. Als wenig später der Anruf angenommen wurde, erkundigte sich Honoka gezielt bei ihrem Gesprächspartner: „Hast du schon alles erledigt?“ 

 

Die neun Mädchen hatten Glück gehabt. Die Verspätung des ICE erhöhte sich nicht weiter, sodass sie ihren Anschlusszug rechtzeitig erreichten, der dann seinerseits pünktlich den Frankfurter Hauptbahnhof verließ. Auf dem letzten Abschnitt der Reise, die wohl doch ermüdender war als gedacht, schlief der Großteil der Gruppe. Niko und Maki saßen erneut getrennt voneinander. Ein Umstand, der Aufmerksamkeit erregte. „Niko-chan, ist etwas zwischen euch vorgefallen?“, fragte Nozomi mit Bedacht. „Das geht dich nichts an“, antwortete die Oberschülerin zögernd und lenkte ihren Blick aus dem Fenster. Gleise, Signale, Landschaften – alles raste mit hohem Tempo an ihnen vorbei. Eri musste die Neugierde ihrer Freundin im Zaum halten, da diese sich wohl nicht so ohne weiteres abspeisen lassen wollte. „Ich schätze, dass sie sich wieder gestritten haben. Du solltest ihnen jetzt erst einmal etwas Ruhe gönnen“, flüsterte sie Nozomi zu. Bevor diese anders hätte reagieren können, bemerkten beide, dass Niko nun ebenfalls eingeschlafen war. „Bist du denn überhaupt nicht müde, Eri?“, hakte Nozomi nach, als sie ein herzhaftes Gähnen vernahm. „Ein wenig schon, doch allzu lange dauert es nicht mehr, bis wir ankommen. Du kannst aber noch etwas die Augen zu machen.“ Dem Angebot folgte Nozomi dankend und lehnte sich behutsam an Eris Schulter.

 

Unter dem leisen Surren des Zuges war das Schnarchen von einigen der Mädchen gut zu hören. Ansonsten herrschte eine vollkommene Stille. Außer ihnen befand sich niemand mehr im Abteil, was vor allem daran lag, dass die Klimaanlage einen Defekt aufwies. Die warme, verbrauchte Luft stand im Raum und sorgte für einen eher unruhigen Schlaf. Es war stickig und selbst die geöffneten Fenster schafften keine wirkliche Abhilfe. Dafür war es schließlich viel zu heiß. „Nächster Halt: Kalda(Main). Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“, ertönte eine monotone, dezent rauschende Durchsage aus den Lautsprechern. Vorsichtig weckte Eri die anderen und begann damit, das Gepäck aus der Ablage über den Sitzen zu nehmen. Verträumt rieb sich Kotori noch die Augen, als sie ihren gelben Koffer in den Schoß gedrückt bekam. Sie sah nach links und stellte fest, dass Hanayo, Rin und Maki bereits dabei waren, das Abteil zu verlassen. Umi achtete inzwischen darauf, dass nichts vergessen wurde. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen kam der Zug im überschaubaren Bahnhof zum Stillstand. Zugleich sprangen die Türen auf und eine große Menge an Passagieren trat auf den Bahnsteig. Einen kurzen Moment später gab der Schaffner bereits das Signal zur Weiterfahrt und in Windeseile war der Zug hinter der nächsten Kurve verschwunden. In der Nähe eines Schaukastens, in dem der Fahrplan samt diversen Informationszetteln ausgehängt war, sammelte sich die Gruppe.

 

„Sonderlich viel ist hier ja nicht los“, stellte Niko enttäuscht fest. Umi pflichtete ihr bei: „Du hast Recht. Um nach dem ersten Eindruck zu urteilen, scheint es hier nicht wirklich aufregend zu sein. Aber genau deswegen ist dieser Ort auch so ideal, um als Basis für unsere Arbeit zu dienen.“ Mit Händen tief in den Jeanstaschen vergraben, kickte Niko lustlos eine zerdrückte Getränkedose gegen einen Abfalleimer. „Das mag schon sein. Trotzdem finde ich es nicht gerade berauschend. Das ist mit Sicherheit eines dieser winzigen, öden Dörfer, für die sich kaum jemand interessiert“, sagte sie spöttisch und untersuchte die Umgebung rund um den Bahnhof. Hinter dem dritten und letzten Bahnsteig gab es einen kleinen Laubwald. Ein schwacher Wind blies durch die trockenen Baumkronen und brachte das Geäst zum Wanken. Über den wenige Meter entfernten Bahnübergang fuhren vereinzelt Autos und sporadisch gesellten sich ein paar Fußgänger sowie Fahrradfahrer hinzu. Sie waren ganz alleine auf dem Bahnsteig. Nicht eine Menschenseele hatte um diese Uhrzeit Interesse daran, auf einen Zug zu warten, erst recht nicht während der Ferienzeit. „Wenn wir über einen möglichen Urlaub sprechen, dann kann das durchaus langweilig sein“, merkte Umi an, die Nikos Blick gefolgt war. „Behalten wir jedoch unser primäres Ziel im Auge, so ist es wahrscheinlich eine der optimalsten Ausgangslagen, die wir bekommen konnten. Dieser Ort erscheint still, friedvoll und unscheinbar. Zumal wir uns frei und gefahrenlos bewegen können.“ Sie holte ihr Smartphone hervor und verschickte ein PDF-Dokument an den Rest der Gruppe. „Ich habe einmal die relevantesten Informationen zusammengetragen. Dazu gehören unter anderem: Fahrzeiten von Bus und Bahn zu den umliegenden Ortschaften und Städten; Öffnungszeiten der wichtigsten Ämter sowie Adressen von Supermärkten, Post, Zoll und weiteren potenziell wichtigen Geschäften.“

 

„Und eine Liste mit Sehenswürdigkeiten darf selbstverständlich auch nicht fehlen“, stellte Niko kopfschüttelnd fest. Umi hatte nun ein freudiges Funkeln in den Augen.  „Es ist äußerst wichtig, sich auf seinen Reisen zu bilden.“ Belehrend erhob sie den Zeigefinger. „Es gibt hier zum Beispiel einen jahrhundertealten öffentlichen Backofen, genannt Backes. Bis 1937…“  „Hör bloß auf damit“, unterbrach Niko meckernd. „Du wirfst in blanker Euphorie nur wieder mit den unnötigsten Details um dich.“ „Banausin“, schnaubte Umi und stemmte beleidigt ihre Hände in die Hüfte. „Wenn wir hier schon Urlaub machen, dann sollten wir auch von den Sehenswürdigkeiten profitieren. Von ihnen lernen. Über die hiesige Kultur, Geschichte und…“ Sie stoppte, da Eri und Nozomi sie freundlich daran erinnerten, was denn das – von ihr selbst erst vor wenigen Minuten angesprochene – primäre Ziel ihres Aufenthalts sei. Nach kurzer Überlegung räusperte sich Umi mehrfach. Niko und die anderen Mädchen grinsten sie herzlich an. „Natürlich dient diese Liste vorrangig nur der äußerlichen Darstellung unsererseits als ganz gewöhnliche Touristen“, erklärte sie kleinlaut. „Weitere Verwendungsmöglichkeiten sind nur als positiver Bonus aufzufassen.“ Unter einem allgemeinen Gelächter konnte es Umi schlecht verbergen, dass ihr etwas die Schamesröte ins Gesicht stieg.

 

„Jetzt hört schon auf zu lachen“, setzte Eri mit ernstem Ton den Versuch an, die Gruppe wieder zu beruhigen. „Wir sollten uns allmählich nach unseren Gastgebern erkundigen.“ Beschwichtigend, mit einem Augenzwinkern, klopfte sie Umi auf die Schulter. „Eigentlich wollten uns diese vom Gleis abholen. So stand es zumindest in der letzten E-Mail, in der wir die nötigen Details festgemacht hatten.“ Eri schaute auf eine der großen Bahnhofsuhren. „Sie sind jetzt 15 Minuten über der vereinbarten Zeit. Ich bin mir aber sicher, dass sie bald hier sein werden. Am besten laufen wir ihnen ein Stück weit entgegen.“ Mit vollem Gepäck machten sie sich also auf den Weg zur Vorderseite des Bahnhofs. Über eine Treppe gelangten sie zu einer entsprechenden Unterführung. Doch auf halber Strecke hielt Rin, die ganz am Ende hinter den anderen herlief, plötzlich inne: „Wartet mal.“ Verwundert drehten sich alle zu ihr um. „Was ist los?“, fragte Kotori besorgt. „Hast du etwas vergessen?“ „Nein. Ich habe nichts vergessen. Aber…“, mit ausgestrecktem Arm deutete sie der Reihe nach auf jedes einzelne der Mädchen und schließlich auf sich selbst. „…5, 6, 7, 8“, zählte sie lautstark. Wortlos verharrten die Mitglieder der Gruppe noch einen kurzen Augenblick, bis der Funken letztendlich übersprang, und die anfängliche Verwirrung sich in eine Mischung aus Panik und Fassungslosigkeit wandelte.

 

„Wo ist Honoka abgeblieben?“, fragte Maki als erste in die Runde. Zur Antwort bekam sie jedoch nur ein Schulterzucken von Hanayo und Rin. Gleichermaßen schien der Rest nicht minder ratlos zu sein. „Ab Frankfurt Hauptbahnhof war sie definitiv noch bei uns“, meldete sich Niko. „Ihr war es zu warm gewesen“, fiel Umi ein. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung. „Honoka hatte das Abteil gewechselt. Sie war müde und konnte bei der Wärme nicht schlafen. Sie hatte deshalb einen der Wagons aufgesucht, in der die Klimaanlage noch funktionierte. Wie konnte ich das nur vergessen?“ „Umi, beruhige dich. Honoka kann durchaus auf sich selbst aufpassen. Du solltest sie anrufen“, sagte Nozomi gelassen. Das Mädchen stimmte ihr zu. Angespannt wartete sie darauf, dass ihr Anruf angenommen wurde. Einen Moment später hatte sie tatsächlich Glück.

 

„Honoka? Bist du da?“, es gab keine Reaktion. Lediglich ein ständiges Klopfen, nein, fast schon ein regelrechtes Trommeln war zu hören. Als ob jemand kontinuierlich gegen etwas schlagen würde. Zusätzlich vernahm Umi nun auch eine Stimme. Sie klang gedämpft und gehörte definitiv nicht Honoka. „Es spricht jemand. Aber ich kann es nicht verstehen“, teilte Umi den anderen mit. „Lass mich bitte mal hören“, bat Eri und nahm Umis Smartphone. Aufmerksam lauschte sie den Worten: „Hallo? Polizei! Bitte öffnen Sie die Türe, sonst müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen. Hören Sie mich? Hier ist die Poli…“ Abrupt wurde aufgelegt und die Verbindung unterbrochen. Und dann herrschte Totenstille. In Ruhe erzählte Eri, was sie eben gehört hatte. „Polizei? Was ist denn passiert?“, fragte Hanayo. „Ich weiß es nicht“, antwortete Eri unsicher. „Aber wir sollten versuchen, dass wir das schnellstmöglich herausfinden.“ Gerade wollte sie die Wahlwiederholung starten, da rief jemand aus der Richtung des Eingangs nach ihnen: „Hi there. Are you the members of µ's?“    



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