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The Idol Mafia

von

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Sizilianische Gastfreundschaft

Traditionell schlug der Markt „Bella Italia“ seine Zelte für zwei Wochen im Aschberger Hauptbahnhof auf. Und zwar wortwörtlich. Direkt in der großen Eingangshalle befanden sich drei Zelte, gehalten in den Farben Grün, Weiß und Rot, an denen ein breites Sortiment von verschiedenen italienischen Spezialitäten verkauft wurde. Seien es Wurst, Käse, Nudeln, Brot, Gebäck oder Desserts – für Liebhaber der mediterranen Küche gab es eine breite Auswahl an Produkten zu finden. Dicht an dicht drängelten sich die Leute an der Auslage. Entweder aus bloßer Neugierde, um die ein oder andere Kostprobe zu vertilgen, sich freundlich beraten zu lassen oder um ihre Einkaufslisten abzuarbeiten.

 

„…Finocchiona Sbriciolona, 7 Stück. Zwei Laib Provoletta und drei große Ciabatta“, wiederholte der Mann und verstaute alles in zwei braunen Weidenkörben. „Du willst dieses Jahr offenbar eine ganze Fußballmannschaft versorgen“, lachte er, wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und nahm das Geld entgegen. „Von wollen kann hier keine Rede sein, Pietro“, seufzte Jack genervt und prüfte noch einmal sorgfältig seine Einkäufe. „Mina und ihr Bruder haben mich – mehr oder weniger – dazu genötigt. Wir haben die nächste Zeit einige Gäste im Haus. Eine Gruppe aus Japan.“ „Was dir ganz offensichtlich nicht wirklich zu gefallen scheint“, stellte Pietro fest und verschränkte die Arme. „Sind das zufällig eure Ehrengäste für das diesjährige Winterfestival?“ Jack nickte. „Das war eine äußerst unerfreuliche Überraschung für mich. Aus heiterem Himmel durfte ich erfahren, dass, zu einem möglichen Besuch im Winter, nun ebenfalls ein garantierter Urlaub im Sommer hinzukommt. Und zu allem Überfluss muss ich sie auch noch beheimaten.“

 

Pietro Costa konnte nur verwundert den Kopf schütteln. Der gebürtige Sizilianer, 52 Jahre alt, war der Geschäftsführer des lokalen Supermarktes „Bella Italia“. Dieser war in der ganzen Stadt für seine Vielfalt an italienischen Spezialitäten bekannt. Über die Sommermonate – seit nunmehr zehn Jahren – kampierte der Markt außerdem abwechselnd in verschiedenen Städten des Landkreises Aschberg. Seitdem wuchs der Bekanntheitsgrad kontinuierlich, ebenso die Anzahl von neuen und nicht minder treuen Stammkunden. Zu diesen zählte auch Jack. Er und Pietro kannten sich bereits seit vielen Jahren. Damals, aus gegebenem Anlass, waren Jacks Onkel, Tante und seine Cousine nach Kalda gezogen. Sein Onkel war gelernter Koch und hatte zuvor lange Zeit erfolgreich in einem namenhaften Hotel in Darmstadt gearbeitet. Es mochte für manchen Außenstehenden wie ein Rückschritt wirken, eine sichere und gut bezahlte Arbeitsstelle gegen eine wacklige Selbstständigkeit einzutauschen, doch mit seinem eigenen kleinen Restaurant konnte sich Jacks Onkel schließlich einen lang gehegten Traum erfüllen.

 

„Was sagen eigentlich Hanna und Alphonse zu all dem?“, fragte Pietro eher beiläufig, während er Jack den Rücken zuwandte, um einer älteren Dame einen Teller mit aufgespießten Käsestückchen zu reichen. Dabei fiel ihm ein recht junger Mitarbeiter der DB-Sicherheit auf. Dieser lief nervös vor dem Eingang eines Treppenhauses auf und ab, nicht unweit von den Zelten entfernt. „Habe ich den nicht schon einmal gesehen?“, dachte Pietro und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Als der Mann zwei Polizeibeamte bemerkte, die sich aus der Richtung des angrenzenden Busbahnhofs näherten, lief er ihnen eilig ein Stück entgegen. „Was da wohl los ist?“ Nach einem kurzen Wortwechsel verschwanden alle drei aus Pietros Blickfeld und betraten das Treppenhaus über eine rote, offenstehende Doppeltüre. Er hätte nur allzu gern gewusst, was die Polizei auf den Plan gerufen hatte. „Ob es Ärger gibt? Vorhin war…“ „Hallo. Hörst du mir überhaupt zu?“, hakte Jack verärgert nach. Seine Neugierde hatte praktisch alles andere um ihn herum ausgeblendet. Für einen Moment hatte Pietro sogar vergessen, dass er sich inmitten einer Konversation befand. „Tut mir leid. Tut mir leid. Ich habe mich ablenken lassen“, lachte der Italiener, drehte sich um und machte mit den Händen eine halbherzig abwehrende Geste. „Würdest du es bitte noch einmal wiederholen?“ Jack schnaubte und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Der Rest meiner Familie stellt sich natürlich auf die Seite von Mina und Fabian.“ „Ich halte es für eine gute Idee. So könnt ihr euch vorab noch besser kennenlernen“, zitierte er missmutig und völlig überspitzt seine Tante. „Aber ob ich überhaupt Lust dazu habe, irgendwelche Pop-Sternchen in spe meinen ganzen Urlaub lang zu bespaßen, danach hatte mich im Vorfeld selbstverständlich niemand gefragt.“

 

Seelenruhig kramte Pietro in zwei Kisten unter einem der Tische herum. Er griff sich gut ein Dutzend der teuren Wildschwein-Salamis und füllte damit die Lücken in der Auslage auf. Anschließend wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu, dessen Stimmung sich offenbar im Minutentakt verschlechterte. Zumindest dem permanenten Grummeln nach zu urteilen. „Was ist denn so schlimm daran? Du wirst über die nächsten Wochen von vielen jungen Frauen umgeben sein. Das ist eher ein Anlass zur Freude, oder nicht?“ Pietro schenkte Jack ein schelmisches Lächeln, der daraufhin lediglich gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Erstens sind es junge Mädchen. Ich mache mir nichts aus Minderjährigen. Aber ich kann es durchaus verstehen, dass die Italiener hier nicht immer eindeutig zu differenzieren wissen. Zweitens bin ich mit meiner Beziehung unterdes vollends zufrieden“, antwortete der Mitzwanziger beherrscht und zog einen Apfel hervor. Gleichzeitig verfinsterte sich seine Miene zusehends. 

 

„Genug von mir“, sagte Jack und hauchte den Apfel an, bevor er diesen gründlich an seinem Shirt abrieb. Pietro verschränkte seine Arme und klopfte nervös mit einem seiner Füße auf den Boden. Von seiner lässigen Haltung, ebenso dem neckischen Grinsen, war nichts mehr übrig geblieben. Stattdessen plagte ihn jetzt eine gewisse Anspannung, er war verstummt und wich jedem direkten Augenkontakt aus. Jack nutzte die Gelegenheit und biss kräftig in den Apfel hinein. Schmatzend wandte er sich an seinen Freund: „Viele Obstsorten sind schmackhaft, saftig und äußerst vitaminreich. Ich persönlich präferiere Äpfel. Wusstest du das schon?“ Pietro nickte. „Dann bin ich beruhigt. Fast hätte ich geglaubt, du wüsstest den Wert dieser Köstlichkeiten nicht mehr zu schätzen.“ Mit dem Oberarm wischte sich Jack den Fruchtsaft aus den Mundwinkeln. Seine Stimme besaß einen unverkennbaren ernsten Unterton. „Die Ernte im nächsten Jahr wird mit Sicherheit ertragreicher ausfallen. Es kann nicht allzu gesund sein, diesem süßen Fallobst auf Dauer widerstehen zu müssen.“ Einige Sekunden lang betrachtete Jack den, zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmten, Apfelgriebs von allen Seiten. Lässig warf er ihn dann über den Tresen vor sich. „Behalte ihn!“, lachte er beinahe höhnisch. „Als eine Art Erinnerungshilfe, falls das denn wieder einmal notwendig sein sollte.“ Angewidert hob Pietro das abgenagte Stück Obst vom Boden auf. „Ich werde mich darum kümmern“, gab er letztlich kleinlaut von sich. Jacks Gesichtsausdruck hellte sich auf.

 

„In Ordnung. Belassen wir es dabei. Jetzt sei so gut und gib mir sechs Packungen deiner hausgemachten Gobbettis.“ Verwundert tat Pietro, wie ihm geheißen wurde. Seine Anspannung konnte er noch nicht in Gänze wieder ablegen, dennoch war er froh, dass Jack offenbar das Thema wechseln wollte. „Du hast wahrlich einen gesegneten Appetit“, meinte er scherzhaft und packte alles zu den restlichen Einkäufen hinzu. „Es sind meine Lieblingsnudeln. Da habe ich lieber eine Packung zu viel auf Lager als zu wenig. Zudem ich befürchten muss, dass mir in den nächsten Wochen die Haare vom Kopf gefressen werden.“ „Kann es sein, dass du einmal mehr einen Hang zu überflüssigem Pessimismus hast? Anstatt sich über seine Gäste zu beschweren, ehe du diese überhaupt kennengelernt hast, solltest du sie lieber mit offenen Armen empfangen. Spiel nicht das trotzige Kind“, mahnte Pietro ernsthaft und übergab ihm die beiden Weidenkörbe. „Würde die typisch italienische Gastfreundschaft auf mich abfärben, bloß weil ich bei dir einkaufe, dann wäre das eine tolle Sache. Tut sie aber nicht!“, raunte Jack missmutig und zückte seinen Geldbeutel. In seinem Blick lag etwas Erwartungsvolles. „Was bin ich dir schuldig?“ Pietro schüttelte den Kopf. „Die Nudeln sind ein Geschenk. Gehen aufs Haus.“ „Ein Geschenk?“, hakte Jack interessiert nach. Schnell verschwand der Geldbeutel wieder in der Hosentasche, wechselte den Platz nun mit seinem Smartphone, dass die ganze Zeit über ausgeschaltet war. „Ich hoffe, dass das stimmt.“ Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Bestechungen sind mir nämlich stets zuwider“, merkte er scheinheilig an und zeigte sich höchst amüsiert. „Interpretiere es einfach wie du möchtest“, erwiderte der Italiener ruhig und entsorgte den Apfelgriebs im Mülleimer. „Auf jeden Fall wünsche ich…“

 

„Warte bitte mal kurz!“, unterbrach Jack plötzlich und prüfte eingehend die Liste der entgangenen Anrufe auf seinem Smartphone. Er stellte fest, dass seine Freundin gut ein dutzend Mal versucht hatte ihn zu erreichen. Zuletzt vor weniger als fünf Minuten. Für gewöhnlich würde er das einfach stillschweigend hinnehmen, auf einen weiteren Anruf warten oder selbst die betroffene Person zu einem späteren Zeitpunkt kontaktieren. Allerdings war es ein absolut untypisches Verhalten von Mina, derart hartnäckig zu sein. Zumindest was das Telefonieren anging. Sie und Jack sahen sich nahezu täglich, da beide nicht nur im selben Ort, sondern auch in derselben Straße wohnten. In der Tat fiel die Anzahl ihrer Anrufe recht spärlich aus. Anrufe ohne einen triftigen Grund gab es praktisch nicht. Und genau deshalb machte Jack sich Sorgen. Es musste mit erhöhter Wahrscheinlichkeit irgendetwas vorgefallen sein, weshalb sie so konsequent versucht hatte ihn zu erreichen. Schnell wählte er. Es brauchte lediglich ein paar Sekunden, bis das Gespräch auf der anderen Seite angenommen wurde.

 

„Jack? Ein Glück, dass du zurückrufst. Wir haben ein Problem“, erzählte Mina hektisch, aber zugleich merklich erleichtert „Immer mit der Ruhe. Geht es dir gut? Ist bei euch alles in Ordnung?“ „Ja… Nein… Es ist…“ „Mina, wie sieht es aus? Hast du ihn erreicht?“, rief ihr jemand aus der Distanz zu. „Ich telefoniere gerade mit ihm“, gab sie zügig zur Antwort. Dessen ungeachtet, dass das Rufen bei Jack nur sehr schwach ankam, erkannte er trotzdem, dass es sich um Fabian handelte. Rasch wanderte sein Blick zu einer der Bahnhofsuhren. „Warte bitte kurz!“ Einen Moment lang hallten Schritte umher. Offenbar verlagerte Mina den Standort des Gespräches. Nach und nach konnte Jack weitere Stimmen im Hintergrund vernehmen, die wild durcheinanderredeten. Ein wirres Gemisch aus Dialogfetzen setzte sich durch, zwar viel zu undeutlich, als dass er diese hätte verstehen können, doch eines ließ sich mit Sicherheit sagen: Es waren ausnahmslos weibliche Stimmen. Mina befahl den dort anwesenden Personen in nahezu akzentfreiem Japanisch etwas, dass Jack in etwa mit „Seid bitte leise!“ übersetzen konnte. Dies war sozusagen das letzte Indiz, das Jack gebraucht hatte, um definitiv zu wissen, was die Ursache für diese Aufregung war.

 

Dem Versuch, sich erklären zu lassen, was eigentlich vorgefallen war, kam er schlichtweg zuvor: „Mina, besteht die Chance, dass etwas mit unseren Gästen nicht stimmt?“, fragte er gelangweilt und hoffte innerlich, dass sie es sofort verneinen würde. „Wie… Woher weißt du das?“ Sie klang hörbar überrascht. „Also doch. Verdammt!“, dachte Jack und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er schnaufte genervt und hakte weiter nach: „Was ist passiert? Fass dich kurz! Keine Einzelheiten!“ „Ein Mädchen aus der Gruppe, Honoka Kousaka, ist verschwunden. Sie hatte während der Fahrt geschlafen und wurde nicht rechtzeitig geweckt, als die anderen in Kalda ausstiegen.“ „Ich verstehe. Und jetzt wisst ihr nicht, wo sie abgeblieben ist, richtig?“ „Ja. Ich glaube aber, dass sie sich irgendwo im Hauptbahnhof Aschberg aufhalten muss.“ „Und was genau bringt dich zu dieser Vermutung? Sie könnte ebenso gut bereits früher ausgestiegen sein“, meinte Jack. „Unwahrscheinlich. Der Rest der Gruppe hatte sie umgehend angerufen, nachdem das Verschwinden auffiel. Zu diesem Zeitpunkt müsste der Zug längst in Aschberg angekommen sein. Sonoda-san erzählte mir, dass Kousaka-san zwar auf den Anruf reagiert hatte, allerdings ohne sich auf irgendeine Art und Weise bemerkbar zu machen. Weiter sagte sie, dass lediglich ein wiederholtes Klopfen zu hören war. Und…“

 

Pietro lauschte Minas Worten aufmerksam, soweit dies beim geschäftigen Treiben um sie herum überhaupt möglich war. Er hatte zwischenzeitlich den Verkaufstand verlassen und sich zu Jack gesellt, der ein wenig abseits, in der Nähe eines DB-Informationsschalters stand. In leicht gebückter Haltung, fast schon am Kopf des anderen klebend, folgte er mit einem Ohr neugierig dem Gespräch. „Polizei? Bist du dir sicher?“ „Definitiv. Sonoda-san konnte sonst nichts wirklich verstehen, mit Ausnahme des Ausrufs Polizei. Dieser soll wohl ein paar Mal gefallen sein, ehe das Telefonat abrupt abbrach“, antwortete Mina. „Warum haben sie nicht einfach ein Gepäckstück verloren? Dann hätte ich schon längst aufgelegt. Stattdessen kommt selbstverständlich einer der liebenswerten Gäste abhanden. Vielleicht hat die Polizei sie ja im Fundbüro abgegeben“, murmelte Jack sarkastisch. Es interessierte ihn in diesem Moment nicht im Geringsten, was dem Mädchen widerfahren sein könnte. „Hast du etwas gesagt?“, fragte Mina vorsichtig nach. „Nein, nichts Wichtiges. Um zum Thema zurückzukommen: Gehe ich recht in der Annahme, dass du aufgrund des Klopfens vermutest, dass sie sich eventuell irgendwo eingeschlossen haben könnte?“ „Du triffst den Nagel auf den Kopf. Theoretisch hätte Kousaka-san bereits zuvor in Ozenheim aussteigen können. Dort gibt es jedoch nur ein kleines Verwaltungsgebäude und keine öffentlichen Räume für Reisende. Zumal..“ „Ja, das weiß ich selbst. Ich sagte keine Einzelheiten. Entweder verweilt sie also noch immer im Zug oder eben nicht. Sie könnte sich irgendwo im Bahnhof Aschberg oder in dessen unmittelbarer Umgebung befinden“, schlussfolgerte Jack gereizt und mit deutlich lauterer Stimme, sodass ein paar Passanten verwundert die Köpfe hoben.

 

Er senkte sein Smartphone und lief zielstrebig ein Stück weit nach links, bis er einen breiten Korridor einsehen konnte. Dieser verband die Eingangshalle mit dem Busbahnhof. Zahlreiche Leute waren dort unterwegs, gemächlich oder hetzend. Etliche standen vor den Eingängen verschiedener Geschäfte, unterhielten sich lautstark oder warteten auf jemanden. Bei diesem ständigen Kommen und Gehen war es nahezu unmöglich, eine bestimmte Person gezielt ausfindig zu machen. Doch das wollte Jack auch gar nicht. Vielmehr fokussierte er eine rote Doppeltüre auf der linken Seite des Korridors. „Das kann kein Zufall sein“, dachte er und winkte Pietro zu sich heran. „Mina? Bist du noch dran?“ Seine Freundin antwortete nicht sofort, sondern erst mit einer geringfügigen Verzögerung: „Bin ich.“ Sie war leiser geworden, klang eingeschüchtert. Jack fuhr sich erneut durch die Haare und schnaufe mehrmals kräftig durch die Nase. Mit der größtmöglichen Geduld versuchte er sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, seinen Ärger herunterzuschlucken und sich zu beruhigen. Es missfiel ihm, nein, er hasste es abgrundtief, wenn er Mina gegenüber die Stimme erheben musste. Jack wollte das Gespräch schnell zu einem Ende bringen, da sein Bauchgefühl ihm sagte, dass er längst wusste, wo Kousaka-san sich aufhielt. „Verzeih meinen harschen Tonfall. Ich bin mir sicher, dass ich bald mit dem Mädchen zurück sein werde.“ Damit legte er auf, ohne eine weitere Reaktion abzuwarten.

 

Pietro verschränkte ein ums andere Mal die Arme und lehnte den Kopf ein Stück zur Seite. „Ich habe nur einige Bruchstücke dessen mitbekommen, worüber ihr gesprochen habt. Ihr sucht jemanden?“, fragte er, obgleich die Antwort bereits bekannt war. Es benötigte keinen Hellseher, um zu erahnen, was Jack in diesem Augenblick für einen Verdacht hegte. „Sie sind dir ebenfalls aufgefallen? Ich rede von den Polizisten“, hakte Pietro nach. „In der Tat. Das sind sie.“ „Und du glaubst, dass diese etwas mit deiner Angelegenheit zu schaffen haben?“ „Höchstwahrscheinlich“, bejahte der Mitzwanziger trocken. „Aber sag du mir doch, ob ich mit meiner Vermutung richtig liegen könnte.“ „Mmh? Was meinst du?“ „Bevor ich hierher kam, ist da etwas Ungewöhnliches vorgefallen? Hat sich vielleicht jemand besonders auffällig verhalten?“ Nachdenklich kratzte sich Pietro am Hinterkopf. „Da fragst du mich ja was. Ich bin schon seit Stunden hier. Glaubst du, dass ich allen Ernstes darauf achten kann, was hier so alles am Rande passiert, wenn ich permanent dutzende Kunden bedienen muss?“ „Nein, aber ich spreche auch nicht von Stunden, sondern erstmal nur von den letzten 30 Minuten. Gab es da etwas, dass dir in Erinnerung geblieben ist?“ Langsam schloss der Italiener die Augen, konzentrierte sich und dachte angestrengt darüber nach. „Ja, da gibt es tatsächlich etwas. Und jetzt weiß ich auch wieder, wo ich den Jungspund heute schon einmal gesehen habe.“ „Jungspund?“, wiederholte Jack. „Na, den Typen der DB-Sicherheit. Ich hatte gerade einem älteren Herrn die Einkäufe gepackt und übergeben. Kaum wandte ich mich jedoch dem nächsten Kunden zu, hörte ich ein lautes Aufschreien. Der Sicherheitsmann war direkt in den Herrn hineingerannt und dabei hatte sich ein Großteil von dessen Einkäufen quer über den Boden verteilt. Er ignorierte völlig, was passiert war. Rannte einfach weiter, ohne sich zu entschuldigen und ohne zu helfen. Zwar hatte ich ihm noch nachgerufen, allerdings vergebens. Im Nachhinein betrachtet, macht mich das ziemlich wütend.“ „Verständlich. Kannst du mir sagen, wie er auf dich gewirkt hatte?“, fragte Jack und lief zur roten Doppeltüre hinüber. Pietro folgte ihm. „Er schien recht aufgeregt und hektisch. Keine Ahnung, woher er kam. Aber er verschwand irgendwo in Richtung Busbahnhof.“

 

Diese Informationen reichten Jack vollkommen. Bevor er das Treppenhaus betrat, bat er Pietro noch darum, auf seine Einkäufe Acht zu geben. „Ich kümmere mich derweil um diesen Störenfried.“ In dem übersichtlichen, quadratischen Raum, der mit beigen Fliesen überzogen war, gab es zur einen Seite hin eine gläserne Front mit einer automatischen Türe und somit eine direkte Anbindung nach draußen. Zwei sperrige, alte Fahrkartenautomaten, an denen die Displays zerkratzt waren und die Farbe bereits abblätterte, befanden sich vor dem Treppenlauf zu den oberen Etagen. Nach unten hin mündete eine weitere Treppe in einem kurzen Gang, an dessen Ende der Toilettenraum lag. Es herrschte eine seltsame Stille. Schritt für Schritt nährte sich Jack der Türe. Er konnte sich nicht helfen, doch irgendetwas sollte hier eigentlich ganz anders sein. Ein stetiges Klopfen; rufende Stimmen; Lautstarke Erklärungsversuche, die jemand mit Müh und Not in englischer Sprache von sich gab. Derartige Dinge zu hören, hatte Jack längst erwartet, als er nun endlich im Toilettenraum stand.

 

Ein beißender Geruch reizte seine Nase. Es stank fürchterlich. „Der Ammoniak muss die Woche im Angebot gewesen sein“, dachte er und hielt sich angewidert mit der Hand die Nase zu. Vor ihm erstreckte sich eine Drehsperre, nach einem Wegzoll lechzend, dahinter gab es jeweils einen Bereich für Männer und einen für Frauen. Grummelnd griff er nach seinem Geldbeutel. Aber die Suche nach einer passenden Münze endete, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte. Plötzlich starrten ihn vier Augenpaare an. Sie gehörten insgesamt zwei Mitarbeitern der DB-Sicherheit und zwei Streifenpolizisten. Die Gruppe verharrte einen Moment lang an Ort und Stelle, bis schließlich einer der Beamten das Wort erhob: „Treten Sie bitte beiseite! Sie behindern eine polizeiliche Maßnahme.“ Der stämmige Mann besaß eine brummende Stimme und den Dienstgrad eines Polizeioberkommissars. Sein Blick schien etwas wie „Leg dich bloß nicht mit mir an“ zu sagen. Normalerweise hätte Jack in dieser Situation einfach gehorcht und die Leute schlicht von dannen ziehen lassen. Es war jedoch die fünfte Person im Bunde, die ihn daran hinderte. Sie stand zwischen den Polizisten und umklammerte beinahe krampfhaft die Riemen einer zinnoberroten Schultertasche, die in Form eines Kreises mit rosafarbenen Herzchen bestickt war. Selbst die Schieber des Reißverschlusses hatten die Form von zwei goldenen Herzen. Das braune Haar fiel in einigen Strähnen über zwei tiefblaue Augen, die unmissverständlich etwas Flehendes vermittelten: „Bitte hilf mir!“
 

Das anhaltende Zischen der Hydraulikbremsen, das während der Einfahrt eines Zuges ertönte, ließ Oskar jedes Mal aufs Neue außer Rand und Band geraten. Fröhlich rannte er am Bahnsteig auf und ab. Zahlreiche Passagiere kreuzten seinen Weg und alle wurden sie mit einem freudigen Bellen begrüßt. Neugierig versuchte er dem Durcheinander aus menschlichen Beinen zu folgen, beobachtete die Leute dabei, wie sie schnellstmöglich ausstiegen und in alle Himmelsrichtungen verschwanden. Kaum jemand registrierte den betagten, aber quickfidelen Hund. Nur die wenigsten hatten einen Augenblick lang Zeit, um Oskar zumindest einmal liebevoll über den Kopf zu streicheln und sein langstockhaariges Fell, gemeinsam mit dem wunderschönen rötlich-cremefarbenen Muster, zu bewundern. Nachdem das Treiben auf dem Bahnsteig allmählich nachließ, beruhigte sich auch Oskar ein Stück weit und lief zielstrebig auf einen älteren Herrn zu. Dieser stand vor einer der geöffneten Doppeltüren des Regionalzuges. „Na, wie sieht es aus, mein Freund? Alles klar?“, fragte er und wuschelte seinem Hund mit beiden Händen durch das Fell. „Du hast deinen Spaß. Das merke ich“, lachte er und kramte ein Taschentuch hervor. Die Sonne war dieser Tage unerbittlich gewesen. Zur stehenden Hitze gesellte sich zudem noch eine schier unerträgliche Schwüle. „Puh, das ist ja nicht auszuhalten.“ Mehrfach wischte sich der Mann den Schweiß von der Stirn. „Ich glaube, wir sollten uns nach einer kühleren Unterkunft umsehen. Was meinst du?“, fragte er und hielt Oskar ein paar Hundekuchen hin. Dieser bellte einige Male, als ob er die Frage bejahen wollte.

 

Die Wagons wurden von einem dezenten Rütteln durchzogen, es zischte und dann hatte der Regionalzug seine Endstation, den Aschberger Hauptbahnhof, erreicht. Dort verweilte er für die nächsten 45 Minuten, bis zur Rückfahrt nach Frankfurt. An den meisten Ausgängen gab es ein wildes Gedrängel, da niemand sich den Vortritt nehmen lassen wollte. In Windeseile waren die Abteile nahezu menschenleer. Lediglich ein paar vereinzelte Personen blieben auf ihren Plätzen zurück, besonders jene, die seelenruhig schliefen und sich scheinbar von nichts und niemanden dabei stören ließen. Und doch gab es Dinge, die selbst gestandene Tiefschläfer aus den schönsten Träumen reißen konnten. „Yukiho, ich will Tee… Äh? Mmh? Was...“ In vollkommener Entspannung saß Honoka auf einer Sitzbank am Ende des Abteils. Der Vorteil einer Vierer-Sitzgruppe war der, dass das Mädchen bequem die Füße hochlegen konnte. Mit halb geöffneten Augen beugte sie sich ein Stück weit nach vorne, sodass sie aus dem Fenster sehen konnte. Es war ein lautes Bellen, das Honoka geweckt hatte. Ein Hund, dessen Fell ein wunderschönes rötlich-cremefarbenes Muster aufwies, machte sich begeistert über mehrere Leckerlis her, die ihm ein älterer Herr reichte. Lautstark bedankte sich der Vierbeiner und stützte sich an den Beinen des Mannes ab. Dann betraten beide den Wagon.

 

Einem herzhaften Gähnen folgte eine schnelle Handbewegung, um den angesammelten Speichel aus dem Mundwinkel zu entfernen. Behäbig erhob sich das Mädchen, streckte die Arme gen Himmel und blickte anschließend im Abteil umher. Links von ihrer Sitzbank aus gesehen, kennzeichnete ein unscheinbares Schild eine Toilette, die sie zugleich aufsuchte. Der winzige Raum bot gerade mal genug Platz für ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel sowie die Toilette selbst. Ansonsten konnte man sich bestenfalls auf der Stelle drehen. Gegenüber der Türe befand sich ein Schiebefenster aus Milchglas, das bis zum Anschlag geöffnet worden war, sodass die heiße Luft ungehindert in den Raum strömen konnte. Prinzipiell mochte Honoka das warme Wetter des Sommers, aber die Temperaturen innerhalb dieser Sardinenbüchse glichen mittlerweile einem Saunaaufenthalt. „Wieso gibt es hier keine Klimaanlage?“, beschwerte sie sich wehleidig und versuchte mit etwas Wasser gegen die Müdigkeit anzukämpfen, was aber eher von mäßigem Erfolg gekrönt war. Sie stützte sich am Waschbecken ab und sah in den Spiegel. Das hellbraune Haar fiel in einigen Strähnen über ihre blauen Augen, die noch immer von einer gewissen Schläfrigkeit gezeichnet waren. Kraftlos ließ sich das Mädchen auf die geschlossene Toilette sinken. Sie wusste längst, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte. Ein tiefes Seufzen entfuhr ihr, während sie das Smartphone zückte. Und wenn Honoka es nicht besser wüsste, würde sie glauben, dass genau in diesem Augenblick eine Art telepathische Verbindung bestehen musste. Kaum dachte sie daran, sich beim Rest der Gruppe zu melden, klingelte auch schon ihr Smartphone. „Hoffentlich schimpft Umi nicht allzu sehr mit mir“, lachte sie trocken und verharrte einen Moment lang mit den Augen auf dem Display. Die Anzeige des Akkustands lag bei nur noch 2%.

 

Als Honoka schließlich den Anruf annahm, donnerte es fast zeitgleich mit einem so gewaltigen Schlag gegen die Türe, dass sie vor Schreck zusammenfuhr. Unsicher darüber, wer oder was diesen Krach verursacht haben könnte, fokussierte das Mädchen die Türe. Das Smartphone hatte sie gesenkt, der Anruf lief bereits. Vielleicht hatte sie kurzzeitig Umis Stimme vernommen, vielleicht aber auch nicht. Sie war abgelenkt. Es klopfte. Immer und immer wieder, bis von außen ein gedämpftes Rufen ertönte, dass sie jedoch nicht verstand: „Hallo? Polizei! Bitte öffnen Sie die Türe, sonst müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen. Hören Sie mich? Hier ist die Polizei. Jetzt machen Sie verdammt nochmal die scheiß Türe auf!“ Es brauchte rund zwei Minuten, dann hatte Honoka sich vom ersten Schrecken erholt. Fortan ignorierte sie das Rufen und warf stattdessen einen Blick auf ihr Smartphone. Das Display war schwarz, die Stimme verstummt und die Verbindung unterbrochen.

 

Unter schnellen Schritten stiegen zwei Männer die Treppe zur Unterführung hinab. Diese war unter anderem über die Rückseite des Bahnhofs erreichbar und bildete die direkte Anbindung zu den jeweiligen Bahnsteigen. Einer von ihnen hastete durch den breiten Gang, auf dem sich allerlei Leute bewegten. „Hey, Jim. Warum hast du es denn so eilig?“ Der großgewachsene Mann blieb stehen und wartete auf seinen Begleiter, der, im Gegensatz zu ihm, ganz gemächlich lief. „Halt‘s Maul, Lukas. Ich werde bald noch verrückt. Nur weil es hier keine Apotheke in der Nähe gibt, muss ich jetzt noch länger ohne diese verdammten Schmerzmittel ausharren“, fluchte er. „Wenn mir dieser Bastard wieder unter die Augen kommt, werde ich Gleiches mit Gleichem vergelten. Besser noch: Ich belasse es nicht bei der Nase, sondern zertrete ihm die komplette Visage.“ Lukas hatte Jim mittlerweile überholt und stand nun vor dem Treppenlauf, der zu den Gleisen 7 und 8 führte. Die Worte, die sein Bruder da von sich gab, kümmerten ihn nicht sonderlich. Er spielte sich nur wieder unnötig auf. „Du bist selbst schuld, wenn du dir mehr Tabletten einwirfst, als es der Arzt verordnet hat. Und jetzt hör auf damit, große Reden zu schwingen, und komm her. Ich habe keinen Bock darauf, mich noch länger dieser Hitze auszusetzen.“ Murrend folgte Jim der Aufforderung. „Halte dich besser zurück. Zumindest bis dein krummer Zinken wieder verheilt ist“, lachte Lukas spöttisch und zog dabei an seiner eigenen Nase. Sein Bruder reagierte deutlich gereizt und ballte demonstrativ die Fäuste: „Ich teile brüderlich, wenn du nicht bald das Maul hältst.“

 

Bevor es noch zu einem handfesten Streit kam, behielt Lukas weitere Witze und Spötteleien lieber für sich. Zufrieden stellte er beim Betreten des Regionalzuges fest, dass sie einen Wagon erwischt hatten, in dem tatsächlich die Klimaanlage funktionierte. Er ließ seinen Blick durch das Abteil schweifen, entdeckte dabei aber lediglich einen älteren Herrn. Dieser saß ganz in der Nähe des Einstiegs und streichelte einem Hund, der friedlich neben ihm schlief, über den Kopf. „Das ist ja widerlich“, sagte Jim und musterte den Mann verächtlich. „Schau dir die Hose an, total verdreckt und Löcher hat sie auch. Und was soll dieses überdimensionale Shirt? Ekelhaft.“ Lukas hinderte seinen Bruder mit ausgestrecktem Arm daran, zu dem Mann hinüber zu gehen, um dann seiner aufbrausenden, streitsüchtigen Art freien Lauf zu lassen. Er war schon immer der cholerische Typ gewesen, der oftmals das  Handeln dem Denken vorzog. „Lass das! Du kannst von Glück reden, dass die Polizei uns das letzte Mal nicht erwischt hat. Denk doch einmal nach. Wenn du jetzt für Ärger sorgst, dauert es schlimmstenfalls ewig, bis du an deine Schmerzmittel kommst.“ „Pah. Von mir aus“, meckerte Jim und lief in die Richtung der Toilette, die am anderen Ende des Abteils lag. Am liebsten hätte er sich etwas Spaß gegönnt. Nicht zuletzt, um sich abzureagieren. „Mmh? Was haben wir da?“ Auf einer der schmalen, seitlich angebrachten Gepäckablagen befanden sich ein Reisekoffer und eine zinnoberrote Schultertasche. Interessiert griff Jim nach der Tasche und hielt sie zugleich in den Händen. „Mal sehen, ob wir etwas Brauchbares finden“, dachte er und wollte gerade den Reißverschluss aufziehen, als sein Bruder ihn am Arm packte.

 

„Ich sagte, du sollst keinen Ärger machen. Und das heißt auch, dass du deine gierigen Finger vom Gepäck der anderen Fahrgäste zu lassen hast, verstanden?“, mahnte Lukas eindringlich. Mit einem Ruck befreite sich Jim aus der laschen Umklammerung. „Du mutierst zu einem regelrechten Spießer“, raunte er und hängte die Tasche über einen der vorderen Sitze. „Lässt du mich wenigstens meine Geschäfte alleine erledigen? Oder willst du mir sogar das Vergnügen nehmen, einen dampfenden Haufen in die Welt zu setzen?“, fragte er Lukas schroff und bekam prompt ein Kopfschütteln zur Antwort. „Das ist nicht notwendig“, erklärte dieser gelassen und deutete auf das Drehschloss der Türe, das anhand eines roten Streifens den Zustand „Besetzt“ erkenntlich machte. Obwohl dies lediglich eine Lappalie darstellen sollte, kochte die angestaute Wut in Jims Körper nun endgültig über und entlud sich schlagartig, indem er aus voller Kraft mit Armen und geballten Fäusten gegen die Türe der Toilette hämmerte. Verwundert über den plötzlichen Lärm, lehnte sich der ältere Herr zur Seite und schaute in die Richtung der beiden Männer. Lukas verdeckte jedoch die Sicht auf seinen Bruder. „Was zum Teufel ist denn in dich gefahren?“, flüsterte er, aber Jim ignorierte ihn und schlug weiterhin gegen die Türe. „Vergiss es. Du erzeugst damit nur unnötige Aufmerksamkeit. So erreichst du rein gar nichts.“ „In der Tat. Dann lass es mich doch einmal auf einem subtilerem Wege probieren.“ Das Klopfen endete, es herrschte Stille, bevor Jim unverhofft zu rufen begann: „Hallo? Polizei! Bitte öffnen Sie die Türe, sonst müssen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen. Hören Sie mich? Hier ist die Polizei. Jetzt machen Sie verdammt nochmal die scheiß Türe auf! Ansonsten sehe ich mich dazu gezwungen, von meiner Dienstwaffe Gebrauch zu machen!“ Die Aktion blieb erfolglos, nichts passierte.

 

Lukas schien perplex. Hatte sein einfältiger Bruder wirklich geglaubt, mit einer solch unglaubwürdigen Masche jemanden hinters Licht führen zu können? Wer wäre derart geistig unterbelichtet, dieses Auftreten, dieses Gebrülle einem echten, leibhaftigen Polizisten zuzuordnen? Reagierten selbige nicht zunächst etwas besonnener, freundlicher und nur im äußersten Notfall lautstark oder vielleicht sogar aggressiv? „Jim, dein grenzdebiler Plan ist gescheitert, jetzt setzt dich verdammt noch mal hin“, schrie Lukas nun seinerseits, da ihm allmählich der Geduldsfaden riss. Abermals packte er ihn am Arm. „Ich kann tun und lassen was ich will, also halt‘s Maul“, schnauzte Jim und stieß seinen Bruder von sich, sodass dieser einige Schritte den Gang hinunter stolperte. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich wieder fangen, sonst wäre er mit dem älteren Herrn zusammengestoßen, der sich scheinbar besorgt den beiden Streithähnen genähert hatte. „Entschuldigen Sie bitte, aber ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, fragte der Mann zaghaft. „Verpiss dich, scheiß Penner“, brüllte Jim und wäre beinahe auf ihn losgegangen, wenn sich nun nicht noch eine weitere Person einmischen würde: „Was soll denn dieser Aufruhr?“, ertönte es ein ganzes Stück weit hinter ihnen. Ein Mitarbeiter der DB-Sicherheit näherte sich. Da es keine Zwischentüren gab, welche die einzelnen Wagons voneinander abgrenzten, war es größtenteils problemlos möglich, den kompletten Zug entlang zu sehen.

 

„Hervorragend! Jetzt haben wir genau den Effekt provoziert, den ich eigentlich vermeiden wollte. Was willst du dem Typen jetzt erzählen?“, fragte Lukas in einem leichten Anflug von Panik und überlegte, wie sie sich in dieser Situation erklären sollten. „Nur die Ruhe. Ich weiß, was wir machen“, sagte Jim, lief schnurstracks an seinem Bruder vorbei, griff nach der Schultertasche und drückte sie dem alten Mann in die Hände. „Ein kleines Geschenk. Und jetzt halt gefälligst die Klappe!“, drohte er und hielt ihn am Arm fest. Auf ein Neues begann er zu rufen: „Hey. Sie da. Helfen Sie uns. Wir haben hier einen Dieb erwischt.“ „Was? Aber was soll das?“ Sichtlich irritiert und verängstigt, versuchte sich der Mann mit Leibeskräften aus Jims Griff zu lösen, dieser drückte als Reaktion aber nur umso fester zu. Mittlerweile war der Mitarbeiter der DB-Sicherheit im benachbarten Abteil angekommen und die Worte hatten seine Aufmerksamkeit erregt. „Lassen Sie mich los! Ich habe nichts getan.“ „Noch nicht. Der Vorsprung darf nicht allzu groß werden.“ Lukas mochte diese abstruse Idee nicht besonders, stellte sich aber trotzdem ein wenig mehr in den Gang, um die Sicht auf die beiden zu verdecken. Gleichzeitig drehte Jim seinem Bruder den Rücken zu, lies die Klinge aus einem  Klappmesser hervorspringen und führte diese an die Halsschlagader seines Opfers. Ein Wimmern war zu hören: „Bitte nicht. Ich..“ „Sobald ich dich loslasse, rennst du davon. Am besten in den Bahnhof oder über die Gleise. Nur weit weg von hier. Verstanden?“ Der alte Mann zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, seine Atmung war flach, das Gesicht bleich, mit den unverkennbaren Zeichen einer Todesangst. Rasch verschwand das Messer wieder in der Hosentasche. Danach lockerte Jim zuerst seinen Griff und ließ schließlich gänzlich los. Und dann, wie aufs Stichwort, rannte der vermeintliche Dieb, so schnell ihn seine Beine trugen. Bloß Weg von diesem Gewalttäter, der ihn noch bis vor Sekunden die Kehle hätte durchschneiden können. Er flüchtete aus dem Zug, stolperte die Treppe hinunter, rempelte in der Unterführung einige Passanten an und stand binnen kürzester Zeit in der Eingangshalle des Aschberger Hauptbahnhofs. Dort angekommen, hetzte er an insgesamt drei Zelten vorbei, um die sich etliche Personen drängelten. Erwartungsgemäß nahm der Sicherheitsmann sofort die Verfolgung auf.

 

Die beiden Brüder blieben alleine zurück. Selbstgefällig lächelte Jim. „Ich wusste, dass das klappen würde.“ Lukas konnte das Ganze nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen. Eine gewisse Erleichterung machte sich aber dennoch breit. „Das war mir ein Ticken zu riskant. Du bist und bleibst ein verfluchter Hitzkopf.“ Jim zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es hätte mich interessiert, ob die Tasche etwas Wertvolles hergegeben hätte. Aber als Ausgleich haben wir jetzt immerhin das ganze Abteil für uns“, gähnte er und pflanzte sich der Länge nach gemütlich auf die eine Hälfte der Vierer-Sitzgruppe gegenüber der Toilette. Die Beine überschlug Jim und legte sie lässig auf die Armlehne, die zum Mittelgang zeigte.  In der Aufregung hatte er sogar ein wenig seine Schmerzen vergessen können. „Es wird Zeit, dass wir endlich von hier wegkommen.“ Kaum hatte er den Satz beendet, öffnete sich die Türe und vor ihm stand ein junges Mädchen mit hellbraunen Haaren. Sie trug einen schwarzen Rock, dazu ein schlichtes, weißes Shirt und darüber eine rosafarbene Strickjacke. Abwechselnd musterte sie zuerst Lukas, als nächstes die Gepäckablage und zuletzt Jim. Sie schenkte den beiden Männern ein Lächeln, dann erkundigte sie sich freundlich: „Do you know where my bag is?“

 

Es ließ sich nicht bestreiten, dass in der Stimme des Polizisten ein Hauch von Übellaunigkeit zu vernehmen war. „Hören Sie schlecht? Sie behindern eine polizeiliche Maßnahme.“ Nein, Jack hörte die Worte klar und deutlich. Er wollte keinesfalls für Ärger sorgen, aber das, was er hier gerade sah, verwunderte ihn doch ziemlich. Sollte er sich dermaßen getäuscht haben? War das Offensichtliche die ganze Zeit über eine bloße Finte gewesen? Ungläubig rieb er sich die Augen, verändert hatte sich allerdings nichts: Vor ihm stand keine 16-jährige Oberschülerin, sondern ein Mann um die 50, vielleicht auch etwas älter. Seine Kleidung war schmutzig und abgetragen, die dunkelbraunen Haare passten farblich zu seinem ungepflegten Schnauzbart. Es ergab ein ulkiges Bild, wie dieser Mann so dastand und diese feminin anmutende Tasche, die wohl nicht seine eigene sein dürfe, umklammerte. „Und jetzt?“, fragte sich Jack in Gedanken, während er händeringend nach einer Antwort suchte. Einem Scanner ähnlich, tasteten seine Augen den Mann ab. Dabei bemerkte er erst, wie ängstlich dieser auf ihn wirkte, hinzu kam ein ausgeprägtes Zittern und eine sichtbare Anspannung. Nach wenigen Sekunden fand er dann tatsächlich etwas, das ihm weiterhelfen könnte. Nebst den Herzen waren noch die Initialen „HK“ in einer Ecke der Tasche aufgestickt. Selbst wenn damit nur eine neue Vermutung gestützt werden sollte, riskierte Jack es trotzdem.

 

„Das Ganze ist ein riesiges Missverständnis. Der Mann ist wahrscheinlich unschuldig“, fing er an und erntete umgehend einige misstrauische Blicke. „Wovon reden Sie überhaupt?“, hakte der ältere der beiden Sicherheitsleute nach. „Mein Kollege hat diesen Herrn verfolgt und ihn letztendlich auf der Toilette stellen können. Es handelt sich eindeutig um einen Dieb.“ Jack merkte, dass er nicht wirklich ernst genommen wurde und setzte deshalb alles auf seine Trumpfkarte. „Sie müssen mir zuhören. Ich kann Ihnen alles erklären. Ich weiß woher diese Tasche stammt.“ Der stämmige Polizeioberkommissar knurrte förmlich, war aber letztendlich derjenige, der ihm zumindest eine Chance geben wollte, seine Aussagen zu beweisen. „Bitte, erklären Sie sich.“ Jack war erleichtert und hoffte sehr, dass er sich nicht ein zweites Mal irrte. „Öffnen Sie die Tasche. Darin müssten Sie einen Reisepass finden, der einem 16-jährigen Mädchen gehört. Sie ist Japanerin und heißt Honoka Kousaka. Sie hat braunes Haar mit einem Seitenzopf und blaue Augen.“ Der Polizeioberkommissar nahm die Tasche vom Beschuldigten entgegen. Zunächst wühlte er eine ganze Zeit lang herum und Jack rechnete bereits mit dem Schlimmsten. Doch dann hielt er ein rotes, dünnes Buch in den Händen, das die Aufschrift „Japan Passport“ trug. Er klappte den Reisepass auf, prüfte und bestätigte alle Angaben zur Person als wahrheitsgemäß. „Nun gut. Es stimmt, was Sie sagen. Jetzt möchte ich aber gerne wissen, woher Ihnen diese Informationen bekannt sind“, verlangte er und übergab die Tasche seinem Kollegen. Daraufhin erklärte Jack, dass das Mädchen Teil einer Reisegruppe wäre, die über die nächsten Wochen bei ihm zu Gast sein würde. Der langen, ermüdenden Reise geschuldet, war sie dann ungewollt mit dem Zug weitergefahren und hier im Aschberger Hauptbahnhof gelandet. Wenig später erfuhr er schließlich von seiner Freundin, die den Rest der Gruppe in Empfang genommen hatte, was genau passiert war. Weiter erzählte er, dass es ein kurzes Telefonat gab, bei dem sich die Vermisste jedoch nicht selbst zu Wort gemeldet hatte. Stattdessen fiel einige Mal der Ausruf „Polizei“. Deshalb lag die Vermutung nahe, dass sie sich Ärger eingebrockt und nun irgendwo aus Angst eingeschlossen haben könnte. Bevorzugt in einer Toilette.

 

In Ruhe hatte der Polizist den Ausführungen Gehör geschenkt. „Das klingt soweit durchaus plausibel. Nur wie passt der Tatverdächtige in die Geschichte hinein, den wir stattdessen hier vorgefunden haben? Und wieso hatte er die Tasche der Gesuchten bei sich?“ „Das sind berechtigte Fragen. Ich kann Ihnen hierzu allerdings keine nähren Details nennen. Ich bin mir aber sicher, dass wir diese schnell in Erfahrung bringen werden“, bekräftigte Jack und wandte sich an den Mitarbeiter der DB-Sicherheit, der den vermeintlichen Dieb verfolgt hatte: „Wo sind Sie dem Dieb begegnet?“ „Im Regionalzug, der demnächst wieder nach Frankfurt fährt. An Gleis 7. Während einer meiner Routinekontrollen vernahm ich urplötzlich Lärm und Schreie aus den vorderen Abteilen. Dort fand ich zwei Männer vor, von denen mir einer auf halber Strecke zurief, er hätte diesen Herrn beim Stehlen besagter Tasche erwischt. Ich war lediglich ein Stück weiter gelaufen, da rannte er auch schon weg und ist eben am Ende hier auf die Toilette geflüchtet.“ „In Ordnung. Sie hatten also nicht selbst gesehen, was passiert war, sondern reagierten und schlussfolgerten nur entsprechend. Eventuell wurde ihm ja etwas angehängt.“ „Moment mal“, widersprach der Polizeioberkommissar, hob seine Dienstmütze an, um sich am Kopf zu kratzen. „Das sind alles Spekulationen. Davon halte ich nichts. Dieter, du bringst den Beschuldigten zum Streifenwagen“, ordnete er an und sein Kollege nickte einstimmig. „Bis wir die Sache vollständig geklärt haben, steht er nach wie vor unter dringendem Tatverdacht. Und Sie kommen mit mir!“, befahl er Jack und trat durch die Drehsperre. „Zumindest das Mädchen müsste sich noch in der Nähe des Zuges aufhalten. Gegebenenfalls auch die beiden Männer. Das würde die Ermittlungen in diesem Fall deutlich erleichtern.“ Bevor Jack weiter darüber nachdenken konnte, standen sie bereits wieder in der Eingangshalle. Einer der Polizisten lief zusammen mit den zwei Sicherheitsleuten in die Richtung des Busbahnhofes davon. Pietro war auf die kleine Gruppe aufmerksam geworden, doch Jack signalisierte ihm rasch, dass er warten soll und sie bald wieder zurück wären. Anschließend machte er sich gemeinsam mit dem Polizeioberkommissar auf den Weg zum Bahnsteig.

 

Unter einem schweren, langgezogen Seufzer warf Honoka einen Blick auf die Bahnhofsuhr. Angestrengt dachte sie darüber nach, wie denn gleich nochmal der Name des Ortes lautete, an dem sie eigentlich hätte aussteigen sollen. In einem Schaukasten hing zwar der Fahrplan, aber von den zahlreichen Haltestellen wollte ihr keine so wirklich bekannt vorkommen. Sie schnaufte genervt. Das Haar klebte ihr in schweißnassen Strähnen auf der Stirn – kein Wunder bei den schier unerträglichen Temperaturen, die an diesem Nachmittag vorherrschten. Mit einem leichten Unwohlsein setzte sich das Mädchen auf einen der metallenen Stühle, die sich ganz in der Nähe des Schaukastens befanden. „Meine Tasche ist weg. Der Akku ist leer. Ich habe kein Geld und auch nichts zum Trinken“, zählte Honoka in Gedanken all die Dinge auf, die bisher schiefgelaufen waren. „Und als ob das noch nicht genug wäre…“, sie blickte an ihrer geschlossenen Strickjacke hinab und zupfte mit den Fingern am Schieber des Reißverschlusses, „…kann ich nicht einmal im Ansatz etwas gegen diese Hitze unternehmen.“ Müde und ebenso verzweifelt, versank Honoka noch tiefer im Stuhl, als sie plötzlich ein Winseln von der Seite vernahm. Oskar, der Harzer Fuchs, war auf den Stuhl neben ihr gesprungen und schien den Unmut zu teilen. Er schenkte dem Mädchen einen traurigen, gar besorgten Blick, als wollte er fragen: „Ist alles in Ordnung?“ Das heiterte sie zumindest ein bisschen auf. „Du wartest auch auf ein kleines Wunder, nicht wahr?“, scherzte Honoka, streichelte dem Hund am Rücken entlang und verschränkte anschließend die Arme hinter dem Kopf. „Warum muss ich bereits am ersten Tag in so einen Schlamassel geraten?“ Sie lächelte ein Stück weit gequält. „Naja, noch schlimmer geht es wohl nicht. Außer ich werde verhaftet“, lachte das Mädchen trocken. „Frau Kisuka?“, ertönte eine brummende Stimme aus Richtung der Treppe. Es brauchte eine Sekunde, bis Honoka den stämmigen Polizisten in seiner Uniform erkannte. Jetzt lächelte sie erst recht gequält. „Sind Sie Frau Kisuka? Homaku Kisuka?“, hakte er auf Englisch nach. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie ihm antworten sollte. Von den Initialen einmal abgesehen, hatte der Name nicht mehr viel mit dem ihren gemein. „Ich heiße eigentlich…“ „Honoka Kousaka. Das ist nicht so schwer. Ho-no-ka Kou-sa-ka. Wenn Sie schon nach einer bestimmten Person fragen, dann bitte mit dem richtigen Namen.“

 

Die Stimme gehörte einem Mitzwanziger, leger gekleidet, in schwarzer Jeans und einem grauen Shirt, der knapp zwei Meter hinter dem Polizisten auftauchte. Seine blauen Augen blieben förmlich an Honoka haften. „Ich spreche Ihnen meinen vollsten Respekt aus, Herr Polizeioberkommissar. Sie haben in der Tat eine exzellente Spürnase.“ Der Beamte konnte es nicht leugnen, dass er sich geschmeichelt fühlte. „Das macht die jahrelange Berufserfahrung aus. Da schärft sich der Blick für auffällige Personen“, erzählte er mit leicht stolzgeschwellter Brust. „Bei diesen Massen an Japanern ist das wahrlich eine Meisterleistung“, kommentierte der junge Mann sarkastisch. „Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich Sie endlich gefunden habe, Kousaka-san“, sagte er und reichte dem Mädchen seine Hand zur Begrüßung. „Mein Name ist Jack Doyle. Meines Zeichens Babysitter vom Dienst und ihr Gastgeber für die nächsten Wochen.“ Mit einem herzlichen Lachen und vielleicht sogar ein paar kleinen Freudentränen, erwiderte sie die Geste. Honoka war erleichtert, dass jemand nach ihr gesucht hatte. Für einen ersten, längeren Dialog blieb allerdings keine wirkliche Zeit, da der Polizist nun darauf drängte, den Sachverhalt endgültig aufzuklären, um damit die Ermittlungen abzuschließen. „Wäre es denn möglich, dass wir das an einem anderen Ort besprechen könnten? Sie stehen mit Ihrem Streifenwagen doch sicher auf dem Busbahnhof. Das wäre dann für mich dieselbe Richtung, um zum Parkhaus zu gelangen. Unterwegs könnte ich noch gleich meine Einkäufe mitnehmen.“ Der Polizist grummelte etwas, war aber ansonsten mit seiner Bitte einverstanden.

 

Zurück in der Eingangshalle machte Jack einen Zwischenstopp beim Markt „Bella Italia“. Pietro hatte schon auf sie gewartet und überreichte seinem Freund dessen Weidenkörbe. „Ihr habt sie also gefunden. Geht es ihr gut? Ist soweit alles in Ordnung?“ „Ja, jetzt schon. Ich hatte ehrlich gesagt befürchtet, dass das Ganze noch weiter ausarten könnte, nachdem ich mich bereits einmal geirrt hatte.“ „Ist es aber nicht. Verschwende keine Gedanken an etwas, was hätte passieren können. Falls du die nächsten Tage einmal Zeit hast, besuch mich doch im Markt und erzähl mir die ganze Geschichte in Ruhe und in allen Einzelheiten. Am besten bringst du auch deine Gäste mit. Ich würde sie gerne kennenlernen. Sie sind herzlich eingeladen“, erklärte der Italiener und winkte Honoka zu, die nach einem raschen, herzhaften Gähnen eilig zurückwinkte. Jack nahm das Angebot dankend an und verabschiedete sich von Pietro.

 

Der grün-silberne BMW stand in einer Ecke des Busbahnhofs, relativ nah am Parkhaus. Zu Fuß waren es dorthin nur wenige Minuten. Der zweite Polizist war via Funk bereits über den neusten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt worden. Nur von dem Hund wusste er nichts, der aufgeregt kläffte und gezielt an der linken hinteren Türe des Streifenwagens kratze. Dahinter saß der vermeintliche Dieb, der mit verschiedenen Gesten versuchte, Oskar zu beruhigen. „Erzählen Sie!“, befahl der Polizeioberkommissar und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Insassen. „Erklären Sie mir bitte, wie dieser Mann an Ihre Tasche gelangen konnte.“ Honoka verschränkte die Arme und überlegte einen Moment, zuckte jedoch am Ende lediglich mit den Schultern. „Das kann ich nicht beantworten. Ich habe den Herrn zuvor noch nie gesehen. Ich hielt mich im Zug für einige Zeit auf der Toilette auf und als ich diese wieder verlassen hatte, habe ich festgestellt, dass meine Tasche verschwunden war. Zu diesem Zeitpunkt war ich alleine im Abteil gewesen.“ Anhand des Murrens konnte sie eindeutig erkennen, dass die Antwort wohl nicht dem entsprach, was man sich erhofft hatte zu hören. „Dieter, was wissen wir über den Tatverdächtigen?" „Sein Name lautet Paul Lissken. 56 Jahre alt. Keine Vorstrafen. Der Beschuldigte lebt aktuell in einer Sozialwohnung, Ecke Friedrichstraße. Laut eigener Aussage hatte man ihn dazu genötigt, sich zusammen mit der Tasche vom Zug zu entfernen. “ „Mmh. Das könnte einer der beiden Männer gewesen sein, die den angeblichen Diebstahl bemerkt haben sollen. So weit, so gut“, murmelte der Polizeioberkommissar. Er nahm die Schultertasche, die noch auf dem Beifahrersitz verweilte, und übergab diese dem Mädchen. „Prüfen Sie bitte sorgfältig, dass Ihnen nichts abhandengekommen ist.“ Sie tat, wie ihr geheißen wurde. Jack konnte beobachteten, dass sich in Honokas Gesicht eine ausgeprägte Anspannung löste, nachdem sie feststellte, dass nichts fehlte. „Da es keine Zeugen gibt, lässt es sich aktuell nicht klarstellen, in welchem Zusammenhang der Tatverdächtige mit einem möglichen Diebstahlsdelikt in Verbindung gebracht werden kann. Es bleibt die Option, dass Sie eine Strafanzeige gegen Unbekannt stellen“, belehrte der Polizeibeamte. „Das möchte ich nicht“, antwortete sie strikt. „In Ordnung. Dieter, du kannst den Mann jetzt wieder laufen lassen.“ Es sah ganz danach aus, als wäre der Polizeioberkommissar froh darüber, dass er sich nicht weiter mit diesem Anliegen beschäftigen muss. Mit einem gut gemeinten Rat an Honoka, in Zukunft besser auf das eigene Gepäck Acht zu geben, verabschiedete er sich und anschließend fuhr der Streifenwagen vom Busbahnhof ab, in Richtung Innenstadt.

 

„Es tut mir äußerst leid, dass diese Göre Ihnen derartige Umstände bereitet hat“, entschuldigte sich Jack. „Bitte machen Sie sich keine Sorgen“, entgegnete Paul gelassen, während er seinen Hund hinter den Ohren kraulte. Oskar genoss die ihm geschenkte Aufmerksamkeit in vollen Zügen. „Sie tragen keine Schuld, also belassen wir es dabei.“ Das wollte Jack allerdings nicht. Er ging nun seinerseits neben dem Mann in die Hocke, stellte einen der Weidenkörbe vor sich und holte zwei Packungen der Gobbettis hervor und dazu passend ein Glas mit Pesto „Siciliano“. „Geschmacklich eine perfekte Kombination. Ich denke da werden Sie mir zustimmen“, lachte er und drückte Paul die Sachen in die Hände. Dieser zeigte sich überrascht und wollte zunächst nicht annehmen, aber Jack gab zu verstehen, dass er ein „Nein“ nicht akzeptieren würde. Es war ihm ein bisschen unangenehm, doch am Ende bedankte sich Paul mehrmals, verabschiedete sich von beiden und lief gemeinsam mit Oskar, der sich zuvor nochmals von Honoka streicheln ließ, zurück in den Bahnhof. „Das ist sehr nett, dass du ihm die Sachen geschenkt hast“, sagte sie und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Geschenkt? Das dürfen Sie ruhig glauben, Kousaka-san. Sie werden am Ende für alle Unkosten aufkommen. Das garantiere ich Ihnen.“ Enttäuscht senkte Honoka den Kopf. Er klang gerade viel unfreundlicher als noch vor wenigen Minuten. „Wir sollten jetzt endlich zusehen, dass wir nach Hause kommen.“

 

Nach knappen 10 Minuten hatten Jack und dessen Begleiterin die dritte Etage des Parkhauses erreicht. Dort angekommen, verstaute er in Ruhe die Einkäufe im Kofferraum seines schwarzen Ford Mondeos. Honoka stand ein Stück weit Abseits und reagierte erst gar nicht, als er nach ihrem Gepäck fragte. „Hören Sie mich? Kousaka-san?“ Das Mädchen wirkte bekümmert. Etwas schien ihr Sorgen zu bereiten. Er trat an sie heran und plötzlich verbeugte sich die Oberschülerin, sodass ihr Kopf fast schon gegen seine Brust drückte. „Es tut mir leid. Ich wollte niemanden Ärger machen.“ Jack wunderte sich doch sehr. Mit einer Entschuldigung hatte er nicht gerechnet. Für einen Augenblick verharrten beide in dieser Position. Ungeachtet dessen, dass ihm der Aufenthalt der Mädchen – angezettelt durch seine Freundin und deren Bruder – nach wie vor nicht sonderlich gefiel, wollte er ebenso wenig, dass die nächsten Wochen von einem Mantel der Übellaunigkeit umhüllt wurden. Zumal ihre Entschuldigung aufrichtig klang. „Dass wir Freunde werden, wage ich zu bezweifeln. Aber zumindest grundlegend sollten wir miteinander auskommen. Was meinen Sie, Kousaka-san?“ „Honoka! Du kannst mich gerne beim Vornamen nennen. Es klingt doch reichlich komisch, ständig beim Nachnamen genannt zu werden.“ Sie hatte den Kopf erhoben und offensichtlich zu ihrer üblichen Frohnatur zurückgefunden. „Ich denke, ich belasse es erstmal beim Nachnahmen“, lehnte Jack gleichgültig das Angebot ab. Daraufhin blies Honoka ein wenig ihre Backen auf, verschränkte die Arme und blickte zur Seite. „Schmollt sie etwa?“, dachte er und konnte dabei ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken.

 

„Wir sollten jetzt wirklich los. Die anderen machen sich sonst nur unnötige Sorgen“, sagte Jack und wischte sich mit dem Oberarm den Schweiß von der Stirn. Im Parkhaus hatte sich die Hitze bereits genauso eingenistet, als stünden sie mitten unterm freien Himmel. Sein Rücken war klitschnass, obwohl er nur ein kurzärmliges Shirt trug. „Ist es Ihnen in der Jacke denn nicht etwas zu heiß?“, fragte er Honoka eher beiläufig und öffnete die Fahrertüre. „Nein, nein. Alles bestens. Ich mag die Wärme“, bekräftigte sie rasch. „Ganz wie Sie meinen.“ Langsam fuhr Jack mit dem Auto nach rechts aus der engen Parklücke heraus und kam ein paar Meter weiter vorne zum Stehen, sodass seine Begleiterin genügend Platz zum Einsteigen hatte. Während er ausparkte, nutzte Honoka die Gelegenheit, öffnete ungefähr bis zur Hälfte ihre Strickjacke und betrachtete das darunter liegende Shirt eingehend. Ein Lächeln, mit einem sanften Hauch diabolischer Zufriedenheit, umspielte ihre Lippen. Der eigentlich weiße Stoff war auf Brusthöhe dezent rot gesprenkelt, an der Hüfte, wo das Shirt über ihren schwarzen Rock ragte, prangten zwei eingetrocknete, blutige Handabdrücke. Mittlerweile war sie optimistischer und zuversichtlicher denn je, die anfänglichen Sorgen schwanden derart schnell, dass sie eigentlich gar nicht mehr existent waren.

 

Schließlich eilte das Mädchen zum Auto und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Klimaanlage sorgte indes für angenehm kühle Temperaturen. Bevor Honoka es womöglich vergessen sollte, gab es noch eine Sache, die klargestellt werden musste: „Ich bin dir einen Gefallen schuldig“, erinnerte sie Jack und hielt demonstrativ ihre Schultertasche in die Höhe. „Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.“ Er verstand nicht ganz, was sie damit sagen wollte. „Das Leben gerettet? Sie besitzen einen Hang zur Übertreibung“, lachte der Mitzwanziger. Honoka gähnte, lehnte sich zurück und starrte für ein paar Sekunden auf die eigenen Hände. „Nein, ich übertreibe nicht. Ich meine es todernst“, dachte das Mädchen und im selben Atemzug schloss sie die Augen und schlief ein.



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