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Winter Carols

von

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Türchen 1 - Schnee

Seto Kaiba hasste Schnee.

Es war nicht so, dass dieses bisschen gefrorene Wasser ihm jemals etwas getan hatte oder er es mit etwas sentimentalem wie Weihnachten in Verbindung brachte. Es war auch nicht so, dass er Schnee als etwas grundsätzlich Schlechtes betrachtete oder er in jungen Jahren ein Schneetraumata erlitten hatte.

Im Gegenteil.

Er war sogar recht schön anzusehen, wie er frisch gefallen in seinem Vorgarten lag und die Hecken und Sträucher mit einer weißen Schicht überzog. Es verschaffte ihm sogar eine Art friedliche innere Ruhe, wenn er ihn so betrachtete. Eine Ruhe, die er nur schwer bekam bei seinem stressigen Alltag. Zudem wusste Seto Kaiba, dass der Schnee auch sehr nützlich für die Pflanzen und den Boden war.

Es gab also keinen Grund ihn zu hassen.

Ja, sogar die freudigen Schreie seines Bruders am morgen sorgten nicht dafür, dass er diese weiße Pampe hasste.

Auch die Kälte trug nicht dazu bei, dass er Schnee hasste oder die freudigen Schreie seines Bruders am frühen morgen.

Er hasste dieses weiße Zeug einfach deshalb, weil seine Angestellten nun eine nützliche Ausrede bekamen, um morgens länger im Bett zu bleiben und später zur Arbeit zu kommen, wohl wissend, dass er ihnen den Lohn nicht abziehen durfte, da Schnee unter höhere Gewalt zählte.

Höhere Gewalt. Das er nicht lachte!

Wenn einer von ihnen auch nur ansatzweite Radio oder TV besaß, davon konnte man ausgehen, immerhin waren die Gehälter keine Hungerlöhne, und dieses auch nutzte, würden diese wissen, dass es über Nacht schneien würde. Demnach konnte man doch seinen Wecker stellen und sich ein wenig eher zur Arbeit begeben.

Aber scheinbar nicht, denn der plötzliche Wintereinbruch im Dezember erwische seine Angestellten jedes Jahr aufs Neue völlig unvorbereitet.

Denn Schnee im Dezember war etwas ganz Fremdes und damit konnte auch keiner rechnen.

Seto schüttelte den Kopf und besah sich das weiße Zeug bei seiner Auffahrt, was von seinem Gärtner gerade zur Seite geschaufelt wurde, damit der Wagen wieder dort entlang fahren konnte und sich auch sonst niemand den Hals brach.

Zum Glück war er noch in seiner warmen Villa und konnte sich das Schauspiel vom Fenster aus ansehen, ehe es gleich hinaus an die kalte, frische Luft ging.

Im August hätte er diese Ausrede ja noch gelten lassen können. Aber so? Für wie dämlich hielten sie ihn?

Scheinbar für viel zu naiv und leichtgläubig und er stellte sich schon darauf ein, dass er einige Abmahnungen austeilen würden müssen.

Zum Glück hatte er sich dafür inzwischen ein Musterformular angelegt, was das ganze Prozedere verkürzte und nicht den halben Tag in Anspruch nahm, wie der Januar vor zwei Jahren, als die halbe Firma nicht im Haus war.

Nun, wo der erste Schnee von mehreren Zentimetern gefallen war, würde er sich auch darauf einstellen müssen. Denn immerhin waren seien Angestellten nicht die einzigen, die mit dem Verkehr zu kämpfen hatten.

Ob man es glauben wollte oder nicht, aber auch er stand zu dieser Jahreszeit oft genug im Stau, weil jemand meinte mit den Winterreifen zu geizen und stattdessen versuchte auf Sommerreifen durch die Straßen zu fahren.

Die öffentlichen Verkehrsmittel waren dabei ebenfalls nicht besser bestückt und wenn dann ein Bus vor seinem Bentley her fuhr, war auch bei ihm Verspätung vorprogrammiert.

Innerlich speicherte er sich schon mal ab, seiner Sekretärin zu sagen, dass sie mehr Zeit in seinem Kalender für den Weg bei auswertigen Terminen einplanen sollte.

Es sah auch so aus, als ob in den nächsten Tagen weiterer Schnee dazu kommen würde, anstatt zu verschwinden.

Aber es gab nicht nur den Grund, wieso er den Schnee hasste. Immerhin hasste er Verspätungen grundsätzlich und war selbst darauf bedacht immer pünktlich zu sein.

Es war auch nicht der stockende Verkehr.

Der Grund, wieso er Schnee hasste, war sein Hund Shadow.

Ja, sein Hund Shadow gab ihm den Grund, wieso er diese Jahreszeit hasste.

Aber was hatte ein Labrador mit Schnee zu tun?

Eigentlich war Shadow ein gut erzogener Hund, aus einer reinrassigen Linie und gehorchte aufs Wort. Oft genügte auch nur eine Geste und er fügte sich dem Willen seines Herrchens.

Doch wenn es um dieses gefrorene Wasser ging, schien sein Hund alle Manieren verloren zu haben und Seto spielte ernsthaft mit dem Gedanken ihn in die Hundeschule zu schicken. Damit meinte er aber gewiss nicht einen dieser netten Hundeflüsterer mit Leckerlis, sondern das Hardcore-Hundecamp.

Mit einem kühlen Blick und einem missmutigen Brummen beobachtete er den grauen Hund, wie er durch den Schnee sprang, als gäbe es nichts Besseres. Selbst Stöckchen, Leckerlis und sein Lieblingshundeball waren vergessen und total uninteressant geworden.

Laut kläffend sprang er von einem Schneehaufen in den Nächsten. Sein Hund hatte offensichtlich Spaß daran sich einzusauen und nachher würde in seinem Eingangsbereich nicht nur nasse Tapsen zu sehen sein, nein, auch dreckige Wasserpfützen würden die Fliesen zieren. Sein Dienstmädchen würde sich darauf einstellen müssen mehrfach am Tag den Wischmopp schwingen zu dürfen.

Seto beobachtete, wie sein Hund sich die Nässe aus dem Fell schüttelte, nur um wenige Sekunden später einer aufwirbelnden Schneeflocke zu folgen, danach zu schnappen und in den nächsten Berg zu springen, damit das Spiel von neuem beginnen konnte.

Das ging schon den ganzen Morgen so.

Kaum hatte Mokuba die Tür geöffnet und war hinaus in den unberührten Schnee gelaufen, um die ersten Spuren darin zu versenken, war ihm Shadow mit kräftigem Schwanzwedeln gefolgt und seitdem tobten beide durch die Kälte.

Wenigstens würde sein Hund heute richtig ausgelastet sein und auch genug Bewegung haben, ehe er über die Festtage fett und faul wurde.

Auch wenn seine Angestellten es nicht glaubten, bekam er doch mit, dass sie seinem Hund hier und da Leckerlis gaben. Besonders über die Feiertage waren sie besonders Spendabel.

Aber was sie in ihrer Nettigkeit nicht bedachten, war, dass es genauso wie beim Menschen ungesund für das Tier war, wenn es Übergewicht bekam und er wäre derjenige, der seinen Hund dann zu mehr Sport antreiben und auch auf Diät setzten musste.

Seto schüttelte den Gedanken ab und öffnete die Haustür.

Kalter, eisiger Wind schlug ihm entgegen und drang durch den dicken Rollkragenpullover zu ihm auf die Haut durch, während sein Rücken von der warmen Heizungsluft gewärmt wurde und sich mit der kalten Luft mischte.

Leicht fröstelte Kaiba und ein Schauer jagte ihm über die Arme, doch er ließ sich nichts anmerken.

Kurz beobachtete er, wie Mokuba einen Schneeball in die Luft war und Shadow ihn in der Luft schnappte. Der Ball zerfiel in kleine Schneebrocken und sein Hund guckte seinen kleinen Bruder verwirrt an, als würde er sich fragen, was mit dem tollen weißen Spielball passiert war.

Der graue Labrador steckte die Nase in den Schnee und schnüffelte, als er könnte er so das verlorene Spielzeug finden.

So süß dieser Anblick auch war und er Mokuba nur ungerne seinen Spielkameraden nahm, so war es Zeit für die tägliche Gassirunde mit dem Hund.

Außerdem wollte Kaiba nicht, dass Shadow seine Bedürfnisse in seinem Vorgarten hinterließ.

Ausgenommen waren die immer wieder kehrenden Bewässerungen der Büsche, die sein Hund durchführte, aber größere Dinge, sollten gar nicht erst eingeführt werden. Am Ende ging keiner mehr mit dem Hund raus und alles landete in seinem Garten.

Nein, soweit würde es nicht erst kommen.

Kaiba pfiff laut nach dem Hund. „Shadow, bei Fuß!“, rief er streng und wartete.

Sein Hund horchte auch auf und sah ihn an, als würde er eine Belohnung für die Aufmerksamkeit erwarten. Doch das konnte er sich abschminken! Aus der Zeit war er raus.

Streng deutete Seto mit einem Finger an seine Seite, doch der Labrador wandte sich wieder den interessanteren Dingen zu, wie den herunterfallenden Schneeflocken aus den kahlen Ästen zu jagen.

Seto wartete einen Moment und seufzte leise.

Shadow ignorierte ihn gekonnt und schnappte grade verzweifelt nach der nächsten Flocke. Dabei hieß es, Labradore seien intelligente Hunde. Wenn er sich das so ansah, zweifelte er eher an der Intelligenz und fragte sich, ob Shadow nicht beim Schneeflocken jagen gewesen war als das Hirn verteilt wurde.

So versessen konnte doch kein Hund sein. Aber scheinbar doch.

Wieder pfiff Seto. „Shadow!“, rief er nachdrücklich und der Hund lief zu ihm, nicht ohne dabei durch jeden Schneehaufen zu rennen, der ihm dabei unter die Pfoten kam.

Geduldig wartete er bis sein Hund vor ihm war und sich ausgiebig geschüttelt hatte.

Ein weiterer Punkt fügte sich auf seine Liste hinzu, wieso er Schnee hasste.

Shadow hatte das unverwechselbare Talent ihn mit halb geschmolzenen Schneebröckchen zu bespritzen, so dass seine Hose schon leicht nass wurde, ehe er auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte.

Erwartungsvoll sah er ihn aus den braunen Augen an, als würde er sagen wollen: „Du hast mich gerufen. Was ist jetzt? Was ist los? Sag schon? Gehen wir Gassi? Bekomme ich ein Leckerli als Belohnung?“

Seto ignorierte diesen treuen Blick. Stumm wickelte er sich den Schal um und knöpfte seinen Mantel zu, während nun auch Mokuba zurück in die Villa kam.

Seine Wangen waren vor Kälte ganz gerötet und der Schnee begann in seinen Haaren zu schmelzen.

Sein kleiner Bruder gab dem Hund einen kleinen Schubs, so dass dieser nicht mehr nur untätig in der Tür stand, sondern sich an ihm vorbei in den Flur drängte.

„Geh dich umziehen“, sagte Seto mit monotoner Stimme und nahm seinem Bruder den Schal und Handschuhe ab. „Im Esszimmer steht Frühstück und heißer Kakao für dich.“

Mokuba nickte freudestrahlend und so schnell, wie er aus den nassen Winterstiefeln geschlüpft war und den klammen Wintermantel abgelegt hatte, konnte Seto kaum gucken.

Doch anstatt nach oben, lief sein kleiner Bruder direkt in das Esszimmer.

Wenn es um heißen Kakao in der Winterzeit ging, gab es für den kleinen Wirbelwind kein halten mehr.

Seto wandte sich wieder dem Hund zu.

„Shadow, komm her!“, sagte er und nahm den kleinen Beutel mit Leckerlis zusammen mit der Leine aus der Flurkommode.

Normalerweise brauchte er seinen Hund gar nicht rufen, denn sobald er das Geschirr klappern hörte und das Rascheln der Knusperstücke in dem Beutel, kam er sofort schwanzwedelnd zu ihm gelaufen und konnte es kaum abwarten vor die Tür zu kommen.

Doch als Kaiba zu seinem Hund sah, war dieser damit beschäftigt sein Spiegelbild in einer Christbaumkugel, die an einer Girlande hing, anzuknurren und anzugucken.

Sobald er knurrte, hörte er auf und winselte. Sein Spiegelbild tat es ihm gleich und sofort knurrte er von neuem los.

„Shadow, das ist nur dein Spiegelbild. Komm jetzt her, wir wollen los!“, sagte er streng und wartete.

Sein Hund sah ihn fragend an.

Er nickte mit dem Kopf in seine Richtung.

Nur langsam löste sich der Labrador und tapste unsicher auf sein Herrchen zu und Seto konnte ihm endlich das Geschirr mit der Leine anlegen.

Wenn sein Hund weiterhin diesen Reizen ausgesetzt war, würde er bald durchdrehen.

Innerlich seufzte er schon über diesen Spaziergang und hielt die Leine schon vorsorglich fester.

Doch Seto war froh aus seiner Villa heraus zu kommen.

Lieber ging er in die Kälte als weiterhin in diesem bunten Haus zu bleiben.

Wenn es nach ihm ginge, wäre kein bisschen Weihnachtsdekoration in die Villa gekommen und alles was auch nur annähernd mit Weihnachten zu tun hatte.

Nur zu gut erinnerte sich Seto an letztes Jahr, als er von einer Geschäftsreise wieder gekommen war und die ganze Villa war geputzt und gebohnert worden. Zu seinem Leidwesen obendrein dekoriert mit allem erdenklichen Weihnachtsschnickschnack.

Selbst vor seinen heiligen Weiße Drachen Figuren hatte sein kleiner Bruder keinen Halt gemacht und ihnen große rote Bänder mit einem Glöckchen umgebunden mit dazu passender Weihnachtsmannmütze. Woher er diese aufgetrieben hatte, war ihm bisher immer noch ein Rätsel und er hatte das Gefühl, dass die Rechnung für die Sonderanfertigung zufällig im Papiereimer oder im Kamin gelandet war, um alle Beweise über den Preis und Hersteller verschwinden zu lassen.

Erfolgreich hatte er nach dem Fest die Dekoration auf den Speicher gebracht und ein gutes Versteck gefunden. Aber scheinbar nicht gut genug. Denn Ende November, eine Woche vor dem ersten Advent, war Mokuba zu ihm gekommen und hatte darum gebettelt, dass sie endlich die Villa schmücken dürften.

Natürlich hatte er abgelehnt und alle erdenklichen Argumente aufgefahren, um den Wirbelwind davon abzuhalten. Angefangen bei, er müsse auf seinen Ruf achten bis hin zu er würde das Fest doch eh nicht feiern, hatte er alles versucht. Doch der traurige Blick und das Argument, er habe ja die zehn Kisten mit Dekozeug vom Speicher schon geholt, ließen ihn weich werden.

Unter der Vereinbarung, dass dieses Jahr seine Drachen verschont blieben, durfte Mokuba mit dem Hauspersonal die Villa unsicher machen.

Seto wusste, es war ein Fehler gewesen und er hatte ihn bereut. Und wie er ihn bereut hatte!

Die laute Weihnachtsmusik drang bis in sein Arbeitszimmer. Gut und schön. Damit konnte er ja eigentlich noch leben. Wenn da nicht die schiefen Töne von Roland und seinem Bruder waren, die dem Lied jegliche Stimmung raubten.

Besonders angetan schien sein Bruder vom dem Lind „Jingle Bell Rock“ gewesen, denn so oft wie an diesem Tag, hatte Seto es in seinem ganzen Leben noch nicht gehört und er konnte sich nicht entsinnen, dass es früher auch schon so gewesen wäre. Aber lieber dieser Song als das alljährliche „Last Christmas“, was die Radiomoderatoren schon Mitte November ausgruben und die Hörer damit gefühlte hundert Mal am Tag beschallten.

Aber damit ließe sich leben, wäre da nicht der Punkt gewesen, als Mokuba mit einem breiten Grinsen in sein Arbeitszimmer gekommen war. In den Armen hatte er eine viel zu große Kiste gehabt, aus der Lametta, Kunsttannengirlande, Lichterketten, Perlenschmuck und anderes Zeug raus geguckt hatte.

Seto wusste, was kommen würde und er hatte abgelehnt. Doch auch hier hatte Mokuba seinen Willen bekommen und ihn, Seto Kaiba, aus seinem eigenen Arbeitszimmer geworfen. Das schlagende Argument war gewesen, dass er ihm erlaubt hätte die Villa zu schmücken und das Arbeitszimmer gehöre zur Villa dazu und er hätte ja nichts davon gesagt, dass ein Zimmer Tabu wäre, nur seine Drachen.

Widerwillig hatte er also den Platz geräumt. Nicht, dass es noch geheißen hätte, er würde Versprechen nicht halten.

In diesem Moment war Seto gleichzeitig stolz, als auch so ziemlich sauer auf seinen Bruder und er wusste nicht, welches Gefühl überwog, dass er ihn so reingelegt hatte.

Während er aus seinem Zimmer geworfen worden war, hatte er die Zeit genutzt und sich die Villa angeschaut.

Zusammen gefasst konnte man sagen, dass seine Villa bunt war, kitschig und viele Kerzen, Lichterketten, Girlanden und anderer unnützes Zeug die Räume und Zimmer zierte.

Als er fertig war, war Seto mehr als erleichtert gewesen, dass Mokuba wenigstens sein Schlafzimmer soweit dekorationsfrei gelassen hatte, wie es ging.

Lediglich eine kleine Schneekugel hatte sich auf seinen Nachttisch verirrt. Immerhin war es das kleinste Übel und um seinen Bruder nicht zu enttäuschen, ließ er diese auch an Ort und Stelle stehen.

Dagegen sah es in Mokubas Zimmer ganz anders aus.

Bunte Fensterbilder waren an den geputzten Scheiben geklebt worden, am Fensterrahmen hatte er mit Rolands Hilfe eine bunte Lichterkette befestigt und auf den Fenstersims stand ein Lichterbogen, umgeben von Kerzen, Grünzeug, Zimtstangen und Tannenzapfen. Auf dem Schrank hatte er eine Schneekugel und eine Kerze in Form eines Schneemanns hingestellt. Sogar ein künstlicher, kleiner Tannenbaum mit Schleifen und künstlichen Christbaumkugeln hatte sich auf den Tisch verirrt. Dazu stand eine nelkenbestickte Orange, die ihren Duft verströmte hatte. Das bunte Weihnachtstischtuch hatte ihn sofort an die Verspieltheit seines Bruders erinnert und es hatte einfach in dieses Zimmer gehört.

Auf dem Sofa in der Ecke hatte der alte abgenutzt Teddybär im Weihnachtsmannkostüm gelegen, der jedes Jahr zur Weihnachtszeit den Weg aus den Kartons fand und in einer Ecke saß und nach dem Fest auch wieder in die Karton verbannt wurde für den Rest des Jahres.

Ein kleines Überbleibsel ihrer Kindheitstage, als ihre Eltern noch am Leben gewesen waren.

Seto hatte das nur ein kleines Schmunzeln entlockt. Dass Mokuba den Bären noch immer hatte, zeigte nur, wie viel dieses abgenutzte Tier ihm bedeutete und Seto hütete sich auch davor, es zu entsorgen.

Wie jedes Jahr war auch das abgenutzte Geschichtenbuch mit Adventsgeschichten rausgesucht worden und lag auf Mokubas Nachttisch.

An der Innenseite der Tür war eine riesengroße Nikolaussocke gehängt worden, die förmlich danach schrie: Los, befüll mich, aber randvoll, wenn ich bitten darf!

Doch Seto hatte sich auch gewundert und sich noch einmal im Zimmer umgesehen.

Alles war bunt, leuchtend und schrie nach der Weihnachtszeit. Dennoch kam es ihm so vor, als würde etwas fehlen.

Erst als er ins Esszimmer gegangen war, dass nicht minder mit Weihnachtsklimbim befüllt war, war ihm eingefallen, was in Mokubas Zimmer gefehlt hatte.

Der Adventskalender!

Doch sein Bruder wäre nicht sein Bruder, wenn er den Kalender vergessen hätte, der jedes Jahr aufs Neue befüllt werden musste.

Eine weitere Tradition, die Seto schon längst abgeschafft hätte, wäre sein kleiner Bruder nicht so hartnäckig.

Doch war ein zweiter dazu gekommen und trug Setos Namen.

Natürlich hatte sein Bruder schon jedes einzelne Säckchen ordentlich befüllt gehabt, so dass es prall an der Wand hing und nur darauf wartete von seinem Besitzer geöffnet zu werden.

Es war eine süße Geste von seinem Bruder gewesen und Seto hatte leicht schmunzeln müssen.

Dabei war ihm wieder aufgefallen, dass sein Bruder viel zu gut Bescheid wusste, wie er ihn um den Finger wickeln konnte.

Als er zurück in sein Arbeitszimmer gedurft hatte, hatte ihn fast der Schlag getroffen.

Was hatten Mokuba und Roland eine knappe Stunde dort getan?

Seto hatte seinen Augen nicht getraut.

Sofort fiel sein Blick auf den Schreibtisch. Auf diesem war ein kitschiger Minikunsttannenbaum hingestellt worden, der eher danach aussah, als würde er noch wachsen müssen. Die bunten Kugeln hatten ihm entgegen gefunkelt. Daneben war auch eine kleine Schneekugel hingestellt worden mit einer Miniversion einer Stadt darin, die berieselt werden konnte.

Seto hatte sich weiter umgesehen.

Doch das war es gewesen.

Mehr hatte Mokuba mit seinem Arbeitszimmer nicht angestellt. Nichts. Keine blinkenden Fenstergirlanden, keine kitschigen und quietschbunten Fensterbilder, keine Orange mit Nelken, kein Nussknacker, kein Weihrauchmännchen oder anderer unnützer Dekofirlefanz.

Fast schon erleichtert hatte Seto aufgeatmet.

Was hatte Mokuba mit Roland hier dann fast eine Stunde getan? Hatten sie den Song „Rocking around the christmas tree” zu wörtlich genommen und waren um den Baum herum getanzt? Zumindest war das Lied während seiner Abwesenheit mehrfach gespielt worden.

Was hatte in diesem Zimmer eine Stunde gedauert? Baum und Schneekugel aus dem Karton fischen, abstauben, hinstellen, fertig.

Nichts hatte die eine Stunde gerechtfertigt, in der er seine Arbeit vernachlässigt hatte!

Jede Sekunde des Tages hatte er damit noch zugebracht zu bangen, dass Mokuba ihm einen riesen Weihnachtsmann dahin stellen würde oder einen riesigen Engel oder…

Seto hatte selbst nicht gewusst, mit was er gerechnet hatte, aber es war tatsächlich bis zum heutigen Tag nur bei diesen zwei Dingen geblieben.

Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken los zu werden und leinte Shadow an, um endlich aus dem Haus zu kommen, dass immer noch nach Nelken, Orange und Weihrauch roch. Wobei er sogar zugeben musste, dass der Orangeduft gar nicht so übel war.

Wieder einmal fragte er sich, was sein Bruder an diesem Fest so toll fand. Immerhin war es eines der heuchlerischsten Tage des Jahres. Alle taten so, wie ach so lieb sie sich doch hatten und wünschten ihren Mitmenschen alles Gute und sprachen Komplimente aus, obwohl sie denen im Rest des Jahres nicht einmal mehr die Luft zum atmen gönnten. Wenn Weihnachten eines war, dann das Fest der großen heuchlerischen Liebe!

Seto trat hinaus in die Kalte Luft des Tages und zog prompt den Kragen seines Mantels ein Stückchen höher.

Ein kleines Atemwölkchen entwich seinen Lippen und er streifte sich noch schnell die Handschuhe über, ehe er mit Shadow seine Gassirunde durch den Park absolvierte.

Die Tannengirlande an den Türsäulen ignorierte er dabei und schenkte dem nur einen abwertenden Blick.

Dieses Grünzeug hatte es nur seinem Bruder zu verdanken, dass es dort noch hängen durfte.

Doch davon wollte sich Seto nicht den Tag vermiesen lassen. Genauso wenig wollte er weiter über diesen Dekorationsquatsch nachdenken.

Denn heute war einer der wenigen freien Tage, die er sich mal im Jahr gönnte und die er nicht in der Firma verbrachte oder in seinem Arbeitszimmer. Daher war es schon etwas Besonderes und da wollte er nicht über irgendwelche störenden Dinge nachdenken. Obwohl die Zusammensetzung Seto Kaiba und Entspannung so unterschiedlich wie Tomate und trockenes Toast waren.

„Seto!“, rief Mokuba ihm nach.

Seto hielt inne, während Shadow seine Nase in einen Schneehaufen grub.

„Was denn?“, rief er zurück.

„Du hast dein Adventssäckchen noch nicht geöffnet!“

Seto schüttelte den Kopf. „Später!“, war alles, was er seinem Bruder zurief, eher er leicht an der Leine zog und Shadow damit deutete aus dem Haufen zu kommen.

Zielstrebig ging er mit dem Hund die Auffahrt lang und durch das große Tor.

Während sie noch durch die Straßen liefen, hielt er den Hund näher bei sich. Man wusste ja immerhin nie, wer auf die Idee kam ihn einfach so zu streicheln oder ob nicht einer dieser verwöhnten Oma-Hunde auf ihn losgehen würde und dann gäbe es Krieg, dass sein Hund ja ach so gefährlich wäre.

Etwas, worauf Seto absolut keine Lust hatte.

Langsam bahnte er sich einen Weg durch den schmalen Weg, der freigeschaufelt war und ignorierte die anderen geschmückten Häuser, um sich herum. Ebenso das laute Kinderlachen aus einem der Gärten.

Stumm ging er die Straße entlang, beobachtete, wie Shadow ungeduldig an der Leine zog und hier und da stehen blieb, um an ein paar Ecken zu schnuppern. Natürlich musste auch jeder Schneehaufen mitgenommen werden und am besten wurde das Herrchen direkt mit hinein gezogen, aber zum Glück konnte Kaiba seinen Hund grade so davon abhalten ihn in einen matschigen Schneeberg zu werfen.

Sie gingen weiter und bogen an der nächsten Ecke ab. Der junge Firmenchef wusste genau zu welchem Park er wollte.

Die Worte seines Bruders hallten in ihm nach und Seto war sich sicher, dass aus dem später nie werden würde und sein Gewissen versetzte im prompt darauf einen Stich, dass er diese niedliche Geste eines unschuldigen Kindes, seines Bruders, nicht so ignorieren durfte.

Selbstverständlich hatte Seto den Kalender von Mokuba mit allerlei Süßkram befüllt. So untypisch das auch für ihn war und so gern er Roland die Arbeit aufgebrummt hätte, wusste er doch, dass es dem kleinen Wirbelwind, aus ihm unklaren Gründen, wichtig war, dass er es tat.

Doch erstmal war der graue Labrador dran, der ausgeführt werden wollte und es war an der Zeit, dass Seto anfing diesen freien Tag zu genießen, ehe die Pflichten wieder auf ihn einbrachen und seine Gedanken einnahmen. Denn leider gab es in seinem Leben kaum einen Tag, an dem er nicht bis spät in die Nacht arbeitete und ein Termin den nächsten jagte. Nicht, dass es ihn störte so viel zu arbeiten. Immerhin leitete er einen internationalen Spielekonzern und da war es nun mal seine Pflicht als Chef so viel Energie und Zeit wie möglich in sein Lebenswerk zu stecken.

Auch, wenn das hieß, dass er dafür seine private Zeit zurückstecken musste. Aber was war schon ein Jahr voller Termine in seinem Leben, die viele in seinem Alter für hirnlose Partys und Flatratesaufen vergeudeten, wenn er dafür ein gewisses Maß an Lebensstandard erreichte?

Doch wäre da nicht sein kleiner Bruder, der ihn hin und wieder brauchte, würde er wohl gar nicht mehr aus der Firma kommen und direkt in der obersten Etage einziehen.

Würde Mokuba also nicht hin und wieder darauf bestehen, dass er sich Zeit für sich nahm, würde er heute zum Beispiel auch keinen freien Tag haben und stattdessen im Büro sitzen und mit den Fingern auf der Laptoptastatur einhaken.

Es war nicht so, dass der Begriff „Freizeit“ ein Fremdwort in seinem Wortschatz war oder er nichts mit seiner freien Zeit anzufangen wusste, als mit seinem Hund durch den Park zu gehen. Natürlich fielen ihm allerhand andere Dinge ein, die er heute noch machen konnte, wie zum Beispiel….

Ja, was?

Seto musste überlegen und zog Shadow von einem Laternenpfahl fort, den er seit gefühlte fünf Minuten beschnupperte und sich scheinbar nicht entscheiden konnte ihn zu markieren oder nicht.

„Komm schon“, sagte er leise und streng und der Hund löste sich widerwillig von dieser Fährte.

Ja, was konnte er heute noch machen?

Aber war das nicht egal? Er musste schließlich niemandem eine Rechtfertigung darüber abgeben, dass er grade nicht wusste, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Außerdem hieß das nicht, dass er vor lauter Arbeit nicht wusste, was er tun sollte, wenn er mal nichts zu tun hatte.

„Bleib“, befahl er in einem kühlen Ton an der Straße und sein Hund blieb brav neben ihm stehen. Seto zog die Leine noch ein wenig näher zu sich und wartete bis das Auto an ihnen vorbei gefahren war. Erst dann ging er mit Shadow über die Straße.

Er wollte einfach verhindern, dass der Hund ohne weiteres auf die Straße lief und vom nächstbesten Auto angefahren wurde. Außerdem hatte er keine Lust ungelenk nach vorne zu stolpern und durch die Gegend gezerrt zu werden.

So unschuldig Shadow als grauer Labrador auch aussah, war die Kraft hinter seinen Muskeln nicht zu unterschätzen.

Zum Glück war der Park nicht soweit entfernt, als dass er hätte mehrere Stunden durch die Kälte und den matschigen Eiswasser hätte laufen müssen. Im Gegenteil, er war nur ein paar Straßen von seinem zu Hause entfernt, so dass der Fußweg sogar ganz angenehm war.

Shadow zog erneut an der Leine, um sich auf den nächsten Haufen zu stürzen, doch Seto zerrte ihn weiter. Es sah brutaler aus, als es war.

Doch eine herunterrieselnde Schneeflocke von einem Ast brachte den Hund dazu wie wild in der Luft zu springen und danach zu schnappen.

Heute hatte Shadow sich dazu entschlossen ihn zu blamieren. Konnte das sein?

Aber zum Glück waren sie bald im Park angelangt, so dass er seinen Hund frei laufen lassen konnte und dieser herumtollen konnte.

Seto kannte den Park und er wusste, wieso er ihn so schätzte.

Er war abgelegen von der Stadtmitte und war eben im Villenviertel. Ein Grund, wieso nicht viele der normale verdienenden Leute dorthin gingen. Demnach waren dort kaum Besucher unterwegs.

Erst recht keine penetranten Radfahrer, die ihn fast über den Haufen fuhren noch nervige, kleine Kinder, die sofort auf seinen Hund zuliefen und ihn betatschen wollten.

Allein bei dem Gedanken verzog Seto das Gesicht und brummte missmutig.

Wenn er außer dem Schnee und Weihnachtskitsch noch etwas nicht leiden konnte, dann waren es fremde Leute, die seinen Hund streichelten ohne seine Erlaubnis.

Als der Park in Sicht kam, zog Shadow stärker an der Leine und Seto musste mehrfach stehen bleiben und ihn zur Ruhe rufen, ehe sie weiter gehen konnten.

Kaiba konnte die Ungeduld des Tieres spüren und auch die Art, wie freudig Shadow mit dem Schwanz wedelte, zeigte ihm, dass er es kaum abwarten konnte.

Also beschleunigte er seinen Schritt etwas, damit sein Hund endlich in den Park und frei loslaufen konnte.

Shadow begann auch zu winseln und versuchte sich los zu reißen, damit er sich endlich bewegen konnte, sobald er mit ihm die ersten Schritte in den Park gemacht hatte.

Aber so schnell kam sein Hund nicht frei und Seto führte ihn weiter an der Leine.

Auch wenn sein Hund sein Ziel bereits vor Augen hatte, zog er ihn weiter den Weg entlang bis die Straße außer Hör- und Sichtweite war und sein Hund Gefahr lief, unbedacht vor ein Auto zu rennen.

Seto blieb stehen.

„Shadow, sitz!“, befahl er ihm und der Hund sah ihn kurz fragend an.

„Lass mich schon gehen. Muss das jetzt sein?“, sagten seine treuen braunen Augen, doch zum Glück war er als Herrchen immun gegen diesen Blick.

Nur scheinbar widerwillig fügte sich der Hund dem Befehl und Seto streich ihm kurz über das Fell zur Belohnung, ehe er die Leine löste und dem Labrador die gewünschte Freiheit verschaffte.

Sein Hund blieb jedoch sitzen.

Seto entwich ein Seufzen, was sich als Atemwölkchen sichtbar machte.

Manchmal verstand er das Tier wirklich nicht. Wenn er gehorchen sollte, zerrte er und schien gar nicht schnell genug weglaufen zu können und wenn er los laufen konnte, blieb er sitzen.

„Na los, lauf schon“, sagte er und nickte dem Hund zu.

Erst zögerlich erhob sich Shadow und als er merkte, dass sein Herrchen keinen Widerspruch erhob, rannte er wie der Teufel los.

Seto konnte kaum so schnell gucken, wie sein Hund sich im Schnee wälzte und freudig kläffte.

Aber untätig rumstehen wollte er nicht.

Also ging er gemächlichen Schrittes des Weg weiter entlang, während sein Hund in großen Bögen um ihn herum lief und immer wieder bellte.

„Nicht kläffen“, brummte Kaiba und verdrehte über diesen übertriebenen Spieltrieb die Augen.

So wie Shadow sich benahm, glich er mehr dem blonden Straßenköter als einem reinrassigen Zuchthund.

Seto beobachtete ihn aus scharfen Augen.

„Shadow, bleib stehen!“, rief er scharf, als sein Hund drohte aus seinem Blickwinkel zu verschwinden. Doch dieser Befehl stieß auf taube Ohren.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, knurrte er leise, „Shadow! Bei Fuß!“

Auch dieses Kommando ignorierte sein Hund und jagte weiterhin fröhlich die Flocken, die wieder vom Himmel fielen und sich auf die weiße Decke legten.

Seto beschleunigte seinen Schritt, um seinen Hund halbwegs einzuholen und hörte einen jähen Aufschrei einer Frau.

„Shadow“, brummte er und lief zu der Stelle von wo der Schrei zu hören gewesen war.

In seinem Kopf spielten sich mehrere Horrorszenarien ab.

Eine junge Frau, die Shadow angefallen hatte und wie sie verletzt am Boden lag, wobei er das seinem Hund kaum zutraute.

Eine junge Frau, die an einer Hundephobie litt oder sogar eine schlimme Allergie gegen Hunde hatte und drohte an Atemnot zu ersticken.

Eine Frau mit einem Kind, das jetzt schluchzend in ihren Armen hing.

Eine Frau, die in den Ententeich gefallen war vor Schreck und drohte zu ertrinken.

Seto hörte seinen Hund bellen und beeilte sich weiter. Schnell bog er um die Ecke und lief zu dem großen Teich, der durch die Temperaturen gefroren war.

Egal, welches Szenario ihm durch den Kopf ging, am Ende hatte er den schwarzen Peter.

Doch als er am Rande des Teiches angekommen, sah er Shadow, aber keine Frau.

Panik stieg in ihm auf.

„Shadow!“, rief er laut und sein Hund sah auf, doch zu ihm kommen, wollte er nicht. Stattdessen schien etwas Interessantes auf dem Boden zu sein, was er schwanzwedelnd beschnupperte, ankläffte und sogar ableckte.

Doch wo war die Frau?

Suchend sah er sich um und hörte im nächsten Moment ein mechanisches Klicken, gefolgt von einem Kichern.

Der junge Firmenchef trat näher heran und konnte es kaum fassen, was ihm sich bot.

Sein sonst so gehorsamer Hund hatte eine junge Frau umgeworfen. Diese lag nun im Schnee, hielt ihre Kamera fest umklammert und kicherte, wenn Shadow ihr kleine Schneebrocken aus dem Gesicht leckte.

Sie schob seinen Hund immer wieder leicht von sich und versuchte aufzustehen, doch aufgrund der Tatsache, dass er seine Vorderpfoten auf ihre Brust abgestützte hatte, verhinderte er, dass sie flüchten konnte.

So wie sein Hund da stand, schien er auch nicht so schnell zu ihm kommen zu wollen.

„Kommst du her!“, rief er nachdrücklich und sein Tonfall gewann an Schärfe.

Shadow schaute kurz der Frau, klaute sich noch einen weiteren Schneeklumpen aus ihren blonden Haaren und rannte zu ihm.

Als wäre er die Unschuld vom Lande saß er vor ihm, hechelte und schaute ihn aus treuen Augen an.

Aber so nicht!

Streng und mit einem kalten Blick bedachte er den Labrador und dieser schien zu merken, dass er einen Fehler begangen hatte.

Die Rute hörte auf freudig zu wedeln und der Blick wurde demütig.

Seto packte das Halsband und nahm ihn wieder an die Leine.

Erst dann wandte er sich der Fremden zu und reichte ihr die Hand, um ihr auf zu helfen.

Keuchend erhob sie sich.

„Danke“, brachte sie hervor und klopfte sich sofort den Schnee von ihrem roten Mantel und den schwarzen Schal. Ihre blonden Haare waren nass geworden und feine Schneeflocken begannen darin zu schmelzen. Eine landete direkt auf ihrer Nase.

Stumm nickte Seto und beobachtete, wie sich immer mehr Flocken in ihren Haaren sammelten.

„Ist das Ihr Hund?“, fragte sie und deutete auf den Labrador.

Natürlich war es seiner. Warum sonst sollte er mit einer Leine durch die Gegend spazieren?

Aber auch diesmal nickte er nur.

„Ein schönes Tier, aber auch schwer“, fuhr sie fort und lächelte dem Tier zu, als wäre das alles nur halb so schlimm gewesen. Sie klopfte sich den Schnee von ihrem Po und nahm die herunter gefallene Tasche wieder an sich.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er und sah dabei auf die teuer aussehende Kamera. Seto wusste schon, wenn damit etwas passiert war, würde er für den Schaden aufkommen müssen.

Was stand sie auch dumm in der Gegend herum? Wahrscheinlich hatte sie nur irgendwelchen halb aufgetauten Schnee fotografiert oder den Matsch am Ufer des Sees!

Wenn die junge Frau vor ihm aber doch zu einen der Journalisten zählte, die er so hasste, dann konnte er schon die Schlagzeile der „Zeitenschau“ sehen. Eine Zeitung, die aus jedem noch so kleinen Dilemma einen Elefanten baute.

Schlimmer wäre noch, wenn sie sogar für diese Zeitung arbeitete.

Ob er sie fragen sollte?

Oder war sie vielleicht gar nicht zufällig mit ihrer Kamera hier, sondern hatte ihn heimlich beobachtet und war ihm von zu Hause aus hierhin gefolgt und Shadow hatte sie aufgespürt? Musste er dieser gehörlosen Tomate am Ende sogar noch dankbar sein?

„Mir geht es gut“, sagte sie mit einer fröhlichen und gut gelaunten Stimme. Sie bückte sich und sammelte ihr schwarzes Strickcappi auf. Schnell klopfte sie auch dieses von Schnee frei und setzte es sich wieder auf.

„Was ist mit Ihrer Kamera?“, fragte er und nickte zu dem Gerät, das sie um den Hals trug.

„Alles ok“, sagte sie mit einem Lächeln.

Warum lächelte sie so? Sein Hund hatte sie grade umgeworfen und es gab keinen Grund darüber froh gestimmt zu sein.

Doch ihre Laune war ausgelassen und steckte eigentlich nur dazu an mit zulachen und gut gelaunt zu sein. Diese Frau war eine reine Frohnatur.

Oder lag an den bevorstehenden Feiertagen? Denn diese Laune erinnerte ihn ganz verdächtig an Mokubas Vorfeiertagsstimmung.

„Sicher?“, hakte er nach.

„Ja, alles in Ordnung. Es ist nichts kaputt gegangen.“

Seto nickte und griff gekonnt in seine Manteltasche und zog eine Visitenkarte heraus.

„Falls doch etwas sein sollte, schicken Sie die Rechnung und ihre Versicherungsdaten an meine Firma. Oder sollten sie sich doch bei dem Sturz verletzt haben. Alles weitere macht dann die Buchhaltung.“

Etwas verwirrt nahm sie ihm die Visitenkarte ab und steckte sie ein.

Niemand sollte sagen, er würde nicht dazu stehen, wenn sein Hund Schaden anrichtete.

„Warum sind Sie so gut drauf?“, fragte er plötzlich.

Eigentlich war Seto kein Mensch, der Small Talk hielt, dennoch interessierte es ihn, wieso sie nicht sauer wurde, sondern ihre Stimmung scheinbar richtig nach oben ging.

Sie lachte hell auf. Hatte er etwas falsches gesagt?

„Ihr Hund hat mir ein wunderbares Motiv geboten“, erklärte sie, „Es sind wunderbare Motive geworden. Wunderschön!“

Da war also der Grund für ihre gute Laune. Sein Hund hatte ihr also das Motiv gerettet.

Shadow kläffte kurz auf, als wäre er selbst sehr stolz auf sich für diese Leistung. Doch der mahnende Blick seines Herrchens, ließ ihn direkt wieder verstummen.

„Darf ich ihn mal streicheln?“, fragte sie und deutete auf Shadow.

Kaiba nickte und sofort kniete sie sich zu dem Labrador nieder.

Dieser legte ihr treuherzig eine Pfote aufs Knie ab und ließ sich nur bereitwillig von ihr streicheln, als würde Mokuba ihn nicht täglich durchknuddeln.

„Möchten Sie die Fotos von Ihrem Hund haben? Ich kann Sie ihnen fertig machen und gern auch als Weihnachtskarte“, sagte sie und sah von unten zu ihm herauf.

„Oh…ich hab mich gar nicht vorgestellt“, sagte sie erschrocken und stand schnell auf, eher er ihr eine Antwort geben konnte. „Ich bin Naomie Kuzuki.“

Sie reichte ihm die Hand und nur aus Höflichkeit schüttelte er sie kurz.

Seto hielt es nicht nötig sich vorzustellen. Wenn sie einen Blick auf die Visitenkarte warf, würde sie seinen Namen von alleine sehen, außerdem war er durch die Medien eh bekannt wie ein bunter Hund. Doch der eigentliche Grund war, dass er keinen Sinn darin sah, sich einer fremden Person gegenüber vorzustellen, die er nie wieder sehen würde.

Selbst wenn noch etwas kommen würde, wegen seines Hundes, was er bezweifelte, da sie selbst sagte, alles sei ok, würden seine Rechts- und Buchhaltungsabteilung sich damit befassen und nicht er.

Sie würde also nur eine von vielen Menschen in seinem Leben sein und da sie auch nicht vorhatten zukünftig miteinander ein Geschäft abzuwickeln, brauchte er sich auch nicht ihren Namen merken.

Aus ihrer Kameratasche zog sie ein silbernes Etui hervor und öffnete es. Darin lagen ein paar Visitenkarten und ehe Kaiba es sich versah, hatte sie ihm eine in die Hand gedrückt.

Ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, schob er sie in seine Manteltasche.

„Ich brauche keine Fotos von meinem Hund. Danke“, sagte er kurz angebunden, „Ebenso wenig brauche ich Weihnachtskarten davon.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Dann nicht.“

Der kalte und ablehnende Tonfall schien dieser Kuzuki, wenn das überhaupt ihr richtiger Name war, nicht im geringsten etwas aus zu machen.

Andere waren schon längst kleinlaut zusammen gezuckt und suchten das Weite.

Die blonde junge Frau ihm gegenüber allerdings nicht.

Wie selbstverständlich stand sie vor ihm, richtete ihre Kamera wieder her und putzte die Linse. Bereit die nächsten Fotos zu machen.

„Wir müssen gehen“, sagte er und zog Shadow an der Leine.

Der Hund bellte auf, als wollte er sich verabschieden und Kuzuki verstand den Wink, streichelte ihn zum Abschied.

„War mir ein Vergnügen Sie kennen zu lernen. Einen schönen Tag noch“, sagte sie freudestrahlend und sah sich nach dem nächsten Motiv um.

Seto brummte nur und drehte sich ebenfalls um.

Sein Hund folgte ihm.

Scheinbar hatte Shadow seine Manieren im Schnee wieder gefunden, denn weder zog er an der Leine, noch versuchte er sich mit gefrorenem Wasser einzusauen noch danach zu schnappen, trotz der Tatsache, dass der Schneefall immer dichter geworden war und ihre Spuren vom Hinweg schon fast überdeckt hatten.

Kaiba drehte sich noch mal kurz um und sie schaute zu ihnen herüber.

Ihre Mütze und Schultern waren mit Schnee bedeckt und wäre da nicht der rote Mantel gewesen, hätte er sie vielleicht kaum noch erkennen können.

Als sie seinen Blick bemerkte, winkte sie und missmutig wandte er sich ab, schob die freie Hand in die Manteltasche, um sie zu wärmen.

Doch seine Finger umfassten ein Stück Papier.

Seto blieb stehen.

Es war ihre Visitenkarte.

Das Logo vom Studio „Dreamland“ bildete die Überschrift. Darunter war ihr Name zu lesen mit dem sie sich auch vorgestellt hatte, dann folgte Anschrift, Telefon, Mail und Öffnungszeiten des Fotostudios.

Sie war also Portraitfotografin.

Doch das war nicht das Einzige, was sie ihm hatte zukommen lassen. Hinter der Visitenkarte steckte eine zweite Karte.

Diese war von diesjährigen Weihnachtsmarkt, wo das Studio einen Stand bezog für Fotoschlüsselanhänger, Schneekugeln, Fotoketten und was es nicht alles gab. Bei Vorlage dieser Karte gab es 15% Rabatt.

So konnte man auch Werbung machen.

Er schob beides wieder in seinen Mantel und lief weiter, ehe die dicken Flocken noch größer und kräftiger wurden und er gar nicht mehr mit seinem Hund nach Hause fand.

Dieser war schon nicht mehr grau, sondern fast weiß.

War es eigentlich schon die ganze Zeit so kalt oder kam es ihm nur so vor, dass die Temperatur sank?

Seto zog die Schultern etwas höher und richtete den Schal, ehe er nach Hause ging. Das Papier konnte er weiterhin an seinen Fingern spüren und erinnerte ihn an die junge Frau Fotografin und daran, dass er einen Rabattgutschein für einen Weihnachtsmarktstand in der Tasche hatte.

Ein gefundenes Fressen für Mokuba ihn dann auch auf eben diesen zu Schleifen.

„Als ob ich jemals dahin gehe…“, murmelte der junge Firmenchef schlecht gelaunt und stampfte weiter durch den Schnee, der unter seinen Füßen knirschte.

Türchen 2 - Glühwein und Zuckerwatte

Wenn es eine Tatsache gab, die man über Seto Kaibas kleinen Bruder Mokuba sagen konnte, dann die, dass er Weihnachtstraditionen liebte.

Mokuba Kaiba liebte sie und es gab nichts und niemanden, der ihn davon abhalten konnte diese durch zu setzen.

Eine Woche vor dem ersten Advent fing es pünktlich mit dem Schmücken der Villa an. Dann war bis zum ersten Advent ruhe und Mokuba mutierte förmlich zu einem Weihnachtswichtel, der ihm verzweifelt das Fest näher bringen wollte. Aber wohl auch nicht ganz ohne Eigennutz, wie Seto wusste.

Jedes Jahr musste er mit Mokuba auf den Weihnachtsmarkt gehen, dann sollte ein Baum ausgesucht werden, ein Wochenende war fürs Shopping eingeplant, Plätzchen backen, Märchen erzählen, Baum schmücken und vielen anderen Dingen zu die er seinen älteren Bruder zwang.

Letztes Jahr war Seto um den Großteil dieser Traditionen herum gekommen und auch wenn er ein Grinch, wie Mokuba ihn liebevoll zu dieser Jahreszeit nannte, war, war er dennoch kein Unmensch und hatte ihm ein Geschenk besorgt.

Zwar hatte er verschwiegen, dass es ein Last-Minute-Geschenk war, aber besser als, wenn am ersten Weihnachtstag nichts unterm Baum lag.

Aber das sein kleiner Bruder diese alten Traditionen wie das Backen von Zimtplätzchen, Kokosmakronen und die Spaziergänge im verschneiten Park an den Adventstagen so ernst nahm, zeigte, wie sehr er doch noch an damals hing, als sie Kinder gewesen waren. Früher hatten sie all diese Dinge immer mit ihren Eltern gemacht und auch wenn man meinen könnte, es wäre doch langweilig Jahr für Jahr das gleiche zu tun, so war es das nie gewesen.

Seto erinnerte sich besonders gut wie es Heilig Abend ablief.

Seine Familie hatte dort zusammen mit seinen Onkeln und Tanten gesessen. Es wurde ausgiebig gelacht und Wein ausgeschenkt. Es gab kein Jahr, in dem es keine Panne gegeben hatte. Sei es verschütteter Wein, zerfallene Klöße oder dass der Kuchen herunter fiel oder total verbrannt war.

So miserabel diese Pannen gewesen waren, hatten sie immer Spaß gehabt.

Traditionell hatte dabei immer eine alte CD Weihnachtslieder gespielt.

Inzwischen wusste Seto auch, dass jedes Jahr ein anderer männlicher Verwandten dran gewesen war unter einem Vorwand zu verschwinden, wie, er habe was im Auto vergessen oder müsse dringend Telefonieren um dann als Weihnachtsmann verkleidet durch die Tür wieder zu kommen. Als Kind hatte er das kaum realisiert und inzwischen fragte er sich, wie naiv und dumm er doch damals gewesen war. Er hatte sich von einem künstlichen Rauschebart, einem alten Mantel mit weißem Saum, weißen Handschuhen, einem gefüllten alten Kartoffelsack und getrockneten Zweigen täuschen lassen.

Damals war alles noch gut und die Welt war heile gewesen.

Wie auch jedes Jahr hatten sein kleiner Bruder und er angefangen ganz artig zu sein, um auch wirklich Geschenke zu bekommen. Fleißig hatten sie Wunschzettel geschrieben, gebastelt, gemalt und geklebt und Lieder und Gedichte gelernt, um dem Weihnachtsmann eine Freude zu machen.

Inzwischen ließ ihn das alles kalt, doch die kläglichen Versuche von Mokuba ihn wieder für das Fest zu erwärmen, waren rührend. In diesen Momenten wollte Seto seinen Bruder nehmen, in eine Decke packen, Tee geben, drücken und nie wieder los lassen.

Es war einfach herzergreifend, wie er sich so bemühte, doch Seto hatte nun mal eine Firma zu leiten und konnte seine Wochenenden nicht damit zubringen zu backen oder einen Baum auszusuchen.

Letztes Jahr hatte er Glück gehabt, weil er zu dieser Zeit für einige Geschäfte nach Deutschland gemusst hatte. Doch er konnte noch immer die traurigen Augen seines Bruders vor sich sehen, der stille Vorwurf darin, wieso er seine Zeit kurz vor dem Fest woanders verbrachte und ihre Familientradition brach.

Es hatte ihm fast das Herz das gebrochen zu fliegen, doch was sein musste, musste sein.

So hatte Mokuba diese Zeit mit Roland verbracht und Seto hatte alles getan, um wenigsten an den Feiertagen da sein zu können.

Auch dieses Jahr spielte er wieder mit dem Gedanken aus dem Land zu reisen, um dem Wichtelelf Mokuba zu entkommen. Doch das konnte er ihm nicht schon wieder antun. Erst recht nicht, wenn es nicht sein musste.

Seto mochte zwar das Fest und die Traditionen nicht, aber seinen Bruder deswegen anlügen, nur um dem zu entkommen, wäre selbst für seine Verhältnisse schäbig und er war sich auch nicht sicher, ob er sich danach jemals wieder im Spiegel würde ansehen können.

Shadow regte sich zu seinen Fußen und holte ihn aus seinen Gedanken. Der Hund gähnte und rollte sich auf die Seite, während er dabei halb auf Setos Fuß lag.

„Dauert es noch lange, Seto?“, fragte Mokuba neben ihn und sah sehnsüchtig nach draußen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete er kühl und wünschte sich wieder in sein warmes Büro zurück, wo es Kaffee oder Tee gäbe und er in aller Ruhe auf der Tastatur einhämmern durfte. Sein Blick glitt aus dem Fenster und er beobachtete den stockenden Verkehr, der nur langsam und zäh durch die rutschigen Straßen fuhr.

Ein Räumungsfahrzeug fuhr an ihren vorbei und streute hinter sich Splitt aus.

Es war ja nicht so, als wäre sein Bentley nicht beheizt, aber aufgrund der Tatsache, dass Mokuba Traditionen liebte und obendrein wusste, wie er ihn um den Finger wickeln konnte, waren sie nun am ersten Advent auf den Weg zum Wald am Rande der Stadt.

Ebenfalls eine Tradition.

Nach dem Mittagessen ging es in den Wald für einen kleinen Verdauungsspaziergang, anschließend gab es heißen Kakao mit Sahne und Keksen und anderem weihnachtlichen Süßkram.

Am ersten Advent war bereits alles selbst gebacken. Während sie sich also aufwärmten, wurden die Nüsse geknackt, Orangen geschält und danach war Seto gezwungen mit angezündeter Adventskerze Mokuba Adventsgeschichten vorzulesen.

Eigentlich war der Kleine schon viel zu alt dafür, aber scheinbar war er noch nicht bereit dazu das abzulegen.

Das würde nun bis Weihnachten so gehen.

Seto seufzte schon innerlich. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?

Vielleicht würde das in ein paar Jahren schon anders aussehen und er sollte diese Zeit lieber genießen?

Aber wenn er an den Spaziergang dachte, wurde ihm ganz anders und sein inneres Arbeitstier meldete sich zu Wort, dass diese Zeit besser nutzen konnte. Es war auch nicht so, dass Kaiba nicht protestiert hatte, aber kleine Brüder konnten überzeugend sein oder zumindest die Orte, die sie anstrebten.

Denn wie der Name des Spazierganges schon sagte, wollte sein Bruder einen Verdauungsspaziergang haben und er wollte arbeiten. Zwei Dinge, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Doch wie schon erwähnt, wusste Mokuba seinen Dackelblick perfekt einzusetzen.

Also schlug er mit großen, traurigen Augen vor in den Wald zu gehen. Abgelehnt.

Es wurde gebettelt. Auch das half nichts gegen den kühlen Firmenchef.

Dann schlug Mokuba als Kompromiss den großen Park ganz in der Nähe vor, in dem er ja gestern mit Shadow gewesen sei. Denn dann bräuchten sie nicht mit dem Wagen soweit fahren, es wäre ein reiner Spaziergang in der frischen Luft und er wäre schneller wieder bei der Arbeit.

Doch der Gedanke schon wieder in den Park zu gehen, schreckte ihn ab. Er wollte nicht schon wieder mit ansehen, wie Shadow Leute umrannte und Seto wollte auch nicht auf die Fotografin mit dieser überschwänglich guten Laune vom gestrigen Tag treffen, sollte sie sich wieder dort herum treiben.

Nicht, dass er angst vor ihr hatte. Er hatte vor niemanden Angst.

Doch sie machte den Eindruck, dass sie ihn wieder ansprechen würde, sobald sie sich trafen und Seto war kein Mensch, der sich einfach so ohne Grund mit anderen unterhielt.

Wenn dann auch noch Mokuba dabei war, konnte er sich gut vorstellen, dass es für ihn alles andere als vorteilhaft ausgehen würde. Wenn sie dann auch noch fragte, ob er sie auf dem Stand besuchen wollte, war die nächste Demütigung garantiert. Innerlich sah er auch schon den vorwurfsvollen Blick des Kleinen, wieso er ihm nichts gesagt hatte und würde sogar darauf bestehen, sie zu besuchen.

Nein, dann lieber in irgendeinen Hänsel und Gretel Wald mit Knusperhäuschen!

Um nicht weiter an sie denken zu müssen und ob nicht doch noch eine Rechnung für die Kamera ins Haus käme, hatte er ihren Gutschein mitsamt der Visitenkarte direkt am selben Tag in den Papierkorb seines Arbeitszimmers befördert.

Er brauchte keine Fotografen. Sein Team war vollständig und ausgelastet und es waren die Besten, die er kriegen konnte.

Wenn ihre Visitenkarte also nur dazu diente, sich indirekt bei ihm zu bewerben, dann konnte sie sich das abschminken!

Außerdem konnte er dieses Dauergrinsen von ihr bestimmt nicht jeden Tag ertragen. Zudem waren seine Fotografen in Topform und sie hatte nicht unbedingt den Eindruck gemacht, als wäre sie in sportlicher Höchstform. Wahrscheinlich jammerte sie schon rum, wenn ihr einer ihrer manikürten Nägel abbrach.

So jemanden konnte er nicht brauchen.

Aber wieso dachte er darüber nach? Es war nie ein Ton in diese Richtung gesagt worden.

„Du, Seto?“, fragte Mokuba und riss ihn dabei aus seinen Gedanken. Verträumt sah er von dem Schnee draußen zu ihm herüber.

Kaiba gab nur ein Brummen zu hören und wandte den Blick von dem Verkehr ab.

Die Weihnachtsmusik von Vorne drang leise zu seinem Ohr. Es war eine poppige Schlagermusik, die aus dem Autoradio dudelte.

„Eine Muh, eine Mäh, eine Tätärätätä, eine Tute, eine Rute, eine Hopp-hopp-hopp-hopp, eine Diedeldadeldum, eine Wau-wau-wau, Ratatsching-daraterbum. Wenn der Weihnachtsbaum uns lacht…“, hörte er und verabschiedete innerlich schon einmal das Niveau, das winkend mit Koffern an ihm vorbei zog.

So etwas sollte ein stimmungsvolles Lied sein? Das klang mehr nach Vokalübungen der Vorschule.

Himmel, konnte sein Fahrer keine andere Musik spielen? Doch statt jetzt auszuflippen, ignorierte er das Gedudel und sah zu seinem kleinen Bruder.

„Sollen wir nicht lieber auf den Weihnachtsmarkt?“

„Bitte was?“, rutschte es ihm raus und er konnte den ungläubigen Tonfall nicht verbergen.

„Ob wir nicht lieber auf den Weihnachtsmarkt gehen sollen?“ Nachdrücklich deutete er auf die Umleitung der Straße, die extra dafür aufgestellt worden war. Sein Fahrer manövrierte den teuren Wagen im Schneckentempo an die vielen Menschen vorbei und suchte sich die Fahrtstrecke aus.

„Willst du nicht mehr in den Wald?“, fragte Kaiba und zog eine Augenbraue hoch.

Mokuba schüttelte den Kopf. „Es dauert doch solange. Lass uns das lieber nächste Woche machen und dafür schon heute den Markt besuchen.“

Aus großen und bittenden Augen sah er ihn an.

Mokubas Blick sprach förmlich: Bitte, bitte, bitte.

Kaiba seufzte.

Nun gut, wenigstens konnte er so das Zweitschlimmste hinter sich bringen. Denn das allerschlimmste war immer noch die Shoppingtour um Geschenke zu kaufen.

Das war jedes Jahr der ungeschlagene Platz eins.

„Seto?“ Der bettelnde Tonfall entging ihm nicht.

Kaiba sah zu der Fensterseite bei Mokuba hinaus und er konnte nicht verhindern, dass aus irgendeinem Grund sein Adrenalinpegel stieg und sein Herz das Blut schneller durch seine Adern pumpte. Auf seinen Handflächen bildete sich ein dünner Schweißfilm, den er unauffällig an der Hose abwischte.

Sein erster Gedanke war nicht etwa die vielen schrillen bunten Lichter, die für jeden Epileptiker den Tod bedeuten würden oder die dudelnde Musik. Von den Massen wollte er gar nicht erst anfangen und den überteuerten Preisen ebenfalls nicht.

Sein erster Gedanke war: Kuzuki ist da.

Sein zweiter: Konnte dieses Weib nicht aus seinem Kopf gehen?

Es war nur eine Begegnung gewesen. Mehr nicht!

Sein Gewissen antwortete ihm natürlich mit dreister und frecher Stimme: „Nein.“

Fast konnte er das freche Grinsen sogar sehen und schob sein Gewissen wieder in den hintersten Winkel seines Gehirns.

Es erstaunte Kaiba selbst, dass er ihren Namen noch wusste. Aber wieso es ihn so nervös machte, sie möglicherweise dort zu treffen, wusste er nicht. Aber wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? In Domino gab es einen großen Markt und in den unterschiedlichen Stadteilen ein paar Kleinere.

Natürlich würde sie auf dem Größeren den Stand beziehen, wenn das Studio klug wäre. Dort würde auch der meiste Umsatz gemacht.

Außerdem konnte er doch jetzt nicht jeden Ort meiden, wo sie vielleicht auftauchen könnte.

Das war ja lächerlich!

Wenn er dieser Logik folgen würde, dann dürfte er auch nie wieder mit Shadow in den Park und automatisch glitt sein Blick zu dem grauen Labrador. Als hätte dieser den Blick seines Herrchens gespürt, sah er kurz auf, ehe sein Kopf gelangweilt auf den Pfoten ruhte.

Zudem war sie ihm egal. Er kannte vielleicht ihren Namen und wusste, wie sie aussah, wo sie arbeitete und was sie beruflich tat. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ihm wichtig war, etwas bedeutete oder sonstigen mentalen Unsinn!

Er kannte sie nicht und hatte auch nicht vor das zu ändern.

Außerdem wer sagte, dass seine Logik recht hatte? Vielleicht war sie doch auf einem der kleineren Märkte vertreten, weil diese in der Nähe des Studios lagen und daher eine bessere Werbung boten? Dann würde nämlich das Argument mit dem Umsatz auf dem Größeren weniger Sinn machen und es wäre wirklich effektiver in Geschäftsnähe Stellung zu beziehen. Oder noch effektiver wäre, wenn sie auf zwei Märkten stünden.

Aber was kümmerte ihn das? Seto Kaiba sollte sich um so etwas keine Sorgen machen. Wenn er wollte, könnte er sie entlassen lassen und dafür Sorgen, dass sie in der hintersten Hinterlandregion arbeitete.

Er hatte sich nicht mal den Namen des Marktes gemerkt.

Was scherte es ihn? Wieso machte er sich überhaupt so einen Kopf?

Sie war ihm egal!

Selbst wenn sie ihn sehen würde, er könnte so tun, als würde er sie nicht sehen und einfach ignorieren. Warum machte ihn dann also der Gedanke einer zufälligen Begegnung so unruhig?

„Was ist jetzt, Seto?“, fragte Mokuba ungeduldig und holte ihn erneute aus den Gedanken.

Fieberhaft suchte er nach einem guten Grund, fand aber keinen und er nickte widerwillig.

Sofort wies Mokuba den Chauffeur an bei nächster Gelegenheit zu parken und sie hinaus zu lassen.

Innerlich bereitete er sich schon mal auf die Massen vor, während sein Bruder voller Tatendrang Shadow anleinte und nur wenige Minuten später standen sie in der Masse.

Sein Hund hatte Spaß darin jeden Geruch ins ich aufzunehmen und wedelte fröhlich mit der Rute.

Besonders die Buden mit dem warmen Essen lockten ihn und er zog an der Leine, sodass er Mokuba das Tier abnehmen musste, ehe er die Kontrolle in dieser dichten Masse verlor.

Inständig hoffte Kaiba, dass niemand ihn hier erkennen würde. Besonders kein Reporter ansonsten sah er schon die ersten Fotos von sich auf dem neuesten Klatschmagazin. Seine Presseabteilung würde zudem einen Herzinfarkt kriegen.

Lautstark wurde „Alle Jahre wieder“ gespielt, so dass der halbe Platz beschallt wurde. Menschen zwängten sich an ihm vorbei und unterhielten sich. An einer Ecke stand ein Weihnachtsmann mit einer Glocke und einem Spendenbehälter.

Von den verschiedenen hüttenartigen Buden hingen Kunsttannengirlande mit Eiszapfen, die mit LED-Lichtern beleuchtet waren und in einem zarten weiß-blau leuchteten. Aber auch die normale Lichterkette kam an jedem Stand nicht zu kurz.

Über ihnen hingen ebenso zahlreiche Lichterketten. Eines bildete die Worte „Merry Christmas“. Bei dem nächsten ein paar Meter weiter war es ein Weihnachtsmann im Schlitten und Rentieren.

Natürlich gab es passend zu den Ständen auch kleine Fahrbahnattraktionen und Lostöpfe für die Kinder.

Der Geruch von Glühwein stieg ihm in die Nase, dazu Bratwurst und frische Waffeln.

Mokuba schien ganz unbeeindruckt von den Massen und ging zu jedem Stand, um diesen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Jedoch tat er ihm den gefallen und ließ die Stände mit dem Schmuck aus, an denen sich die Frauen drängten und alles genau begutachtete.

Shadow indes schien diese Atmosphäre zu lieben und Seto knurrte ihm leise „Verräter“ zu.

Normalerweise mochte er keine Massen und erst recht keine Fremden, aber seit der erste Schnee gefallen, seine Villa kunterbunt und sein Hund total aufgedreht war, schien er seine Meinung zu Fremden und Menschenmassen geändert zu haben.

Seto hatte sich nämlich darauf verlassen, dass dieser winseln würde oder knurren und bellen, so dass er eine Ausrede hatte, um von diesem Ort zu verschwinden. Aber nicht mal auf den treuen Freund des Menschen war verlass.

So zogen sie weiter und Mokuba holte sich von einem Stand eine graue Strickmütze mit Katzenohren. Freudig darüber setzte er sie sofort auf und lief damit weiter durch die Gegend.

Es war nicht so, dass sein kleiner Bruder keine besaß, aber diese hatte er scheinbar ins Herz geschlossen.

Natürlich versuchte er auch ihm etwas aufzuschwatzen, wie die Mütze mit dem Elchkopf oder die Pandamütze mit den langen Ärmeln für die Hände.

Beides hatte er mit einem kühlen Blick abgetan.

Niemand würde ihn je mit so einem grässlichen Ding auf dem Kopf sehen, egal wie kalt es war.

Seto zog seine Handschuhe aus der Manteltasche und streifte sie sich schnell über. Seine Hände waren schon ganz klamm und steif von den tiefen Temperaturen. Jede Bewegung schmerzte und auch in seinem Gesicht konnte er die beißende Kälte spüren.

„Mokuba, zieh dir bitte deine Handschuhe an“, sagte er zu ihm und nahm Shadow wieder fest an die Leine zu sich, ehe er sich auf den nächsten Stand mit Bratwurst stürzen konnte.

„Mir ist aber nicht kalt“, erwiderte Mokuba und hielt inne sich die Tierfelle anzusehen.

„Tu es bitte“, sagte er streng, „Ich möchte nicht, dass du dich erkältest.“

Mokuba hatte von den Temperaturen ganz rote Wangen. Sein bunter Schal fiel ihm unordentlich vom Hals und schleifte fast auf dem matschigen Boden.

Seto beugte sich zu ihm herunter und band ihm den Schal ordentlich, so dass sein Hals geschützt war.

Außerdem konnte der Kleine ihm nicht weiß machen, dass ihm nicht kalt war. Selbst er fror und Seto konnte von sich behaupten, dass nicht grade empfindlich war.

Es war aber auch fies, dass der eisige Wind einen Weg durch jede Ritzung der Kleidung schaffte und ihn frösteln ließ.

Mokuba erging es also bestimmt nicht besser oder aber die Freude war so groß hier zu sein, dass er tatsächlich die Kälte kaum spürte. Wenn dem so wäre, müsste er besonders gut auf ihn acht geben, damit er sich rechtzeitig aufwärmen konnte.

Aber ehe er den Spielverderben spielen würde, sollte Mokuba sich ruhig austoben und sich alles ansehen. Vielleicht kam er so auch um das Adventsvorlesen herum?

Seto beobachtete, wie Mokuba zum nächsten Stand lief.

Dort gab es mehrere kleine Dekofiguren. Passend um eine kleine Weihnachtsstadt zu bauen.

Als gäbe es nicht schon genug Klimbim in seinem Haus.

Doch er ging weiter und holte sich nur eine rosa Zuckerwatte, während er alles genau unter die Lupe nahm.

Seto entging dabei aber nicht, dass er immer wieder zu ihm schaute und er hatte den Verdacht, dass sein kleiner Bruder nach einem Geschenk für ihn suchte.

Keine leichte Herausforderung, wie Seto wusste. Immerhin hatte er genug Geld und konnte sich damit das leisten, was er haben wollte, was es umso schwieriger machte für ihn etwas zu finden.

Ein Kind lief an ihm vorbei und wollte grade seinen Hund streicheln, als er diesen direkt weiter zog, damit er Mokuba nicht in der Menge verlor.

Er hörte das Kind noch hinter sich schreien, weil es Shadow nicht hatte tätscheln können, doch darauf nahm Seto keine Rücksicht. Sein Hund war doch kein Streichelzoo!

Mokuba blieb an nächsten Stand hängen und seine Augen funkelten förmlich, als er vor diesem Stand.

Er war breiter als die anderen und nahm zwei Plätze ein.

Vorsichtig zog Mokuba einen Handschuh aus und nahm einen Schlüsselanhänger in Schneeflockenform in die Hand. Doch es gab noch mehr dort.

Seto kam langsam näher.

„Hast du was gefunden?“, fragte er und besah sich die leeren Schneekugeln, bunten Weihnachtskarten mit fremden Menschen darauf und die Anhänger.

Der Geruch von einem Früchtepunsch und Zimtplätzchen drang in seine Nase.

Auf einem kleinen Tisch neben der Kasse war eine dampfende Tasse und eine große Box mit Keksen.

„Hei, was kann ich für euch tun?“, fragte eine weibliche Stimme neben Kaiba und er zuckte zusammen.

Schnell fuhr er herum und sah in zwei grüne Augen, die von blonden Haarsträhnen umspielt wurden.

Er schluckte, als Kuzuki vor ihm stand und auch sie sah ihn aus überraschten Augen an.

„Oh hi!“, sagte sie und lächelte freudig, „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen.“

„Hallo“, presste Seto hervor und sah zu seinem Bruder, der scheinbar ganz interessiert die Schneekugel musterte und so tat, als gäbe es diese Frau nicht.

Sein Blick glitt wieder zu der Fotografin und ihm fiel auf, dass sie eine Weihnachtsmannmütze trug.

Um ihre Schultern lag eine weiße Kunstpelzstola, die mit einer Weihnachtssternbrosche zusammengehalten war.

Ihre Oberarme waren frei und er konnte die feine Gänsehaut sehen, die sich gebildet hatte. Sie waren schon leicht bläulich.

Wenigstens trug sie lange Samthandschuhe. Passend zu dem Kostüm in rot und mit weißem Saum.

Das Kleid war bodenlang und hatte ein eng geschnürtes Korsett.

Warum zum Teufel hatte sie das an?

„Frieren Sie nicht?“, fragte er und sah wieder auf ihre Gänsehaut.

„Ja, etwas“, antwortete sie und rieb sich über die Arme. Kuzuki ging zu dem Tisch und trank einen Schluck aus der Tasse.

„Warum tragen Sie dann dieses Teil?“

„Anweisung vom Chef“, antwortete sie und deutete auf einen Mann am anderen Ende des Standes. „Der in grün.“

Seto folgte ihrem Blick und sah einen Mann mittleren Alters in einem Wichtelkostüm und künstlichen, spitzen Elfenohren und Hut, der grade eine Familie mit einem Baby fotografierte.

„Wenigstens ist das Teil wärmer, als das meiner Kollegin“, sagte sie und trank wieder einen Schluck aus der Tasse.

Fragend sah Kaiba sie an.

„Kurzes knappes Kleid, dazu weiße Wollstrümpfe und schulterfrei.“ Allein bei dem Gedanken fror Seto und war doch dankbar sie nicht hier in diesem knappen Outfit sehen zu müssen.

„Sie ist grade drinnen sich aufwärmen“, erklärte Kuzuki weiter und nahm sich einen sternförmigen Keks. „Auch einen?“

Sie hielt ihm die Dose hin und er roch den Zimt.

Stumm schüttelte er den Kopf.

„Am besten wäre das Kostüm mit den langen Ärmeln. Es hat zwar auch einen knielangen Rock, aber wenigstens sind die Arme warm.“ Wieder durchfuhr sie ein Zittern.

„Machen Sie doch Pause?“, schlug er vor und sie schüttelte den Kopf.

„Ich hatte mich grade vor zehn Minuten abgewechselt.“

„Sie sollten ihren Chef verklagen. Das sind keine Arbeitsbedingungen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wir frieren alle und wechseln und alle ab, so dass jeder sich mal aufwärmen kann.“

Er nickte nur. Sie musste selbst wissen, was sie tat. Er war nicht ihr Babysitter.

„Außerdem, wenn ich hier jetzt durcharbeite an den Sonntagen und bis Weihnachten kein Wochenende mache, dann kann ich die Überstunden an meinem Urlaub dran hängen und abbauen.“

Sie grinste ihn stolz über diese Idee an.

Noch während sie den Keks zwischen den Lippen hatte, ging sie um den Tisch herum.

Sofort bellte Shadow freudig auf und stellte sich auf die Hinterbeine.

„Hei, du bist ja auch da“, sagte sie und kraulte ihm die Ohren. „Ja, wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen!“

„Warum?“, fragte er nur knapp.

Fragend sah sie ihn an und er nickte zu ihrem Outfit.

„Sie meinen die Kostüme?“ Kuzuki löste sich von dem Hund und stand wieder auf. Schnell war der letzte Rest vom Keks auch noch aufgegessen. Lediglich ein Krümel hing an ihrem Mundwinkel. „Mein Chef meint, es wäre besser, wenn wir passend zu Weihnachten uns auch am Wochenende so einkleiden für die Kinder, um Stimmung zu verbreiten. Unter der Woche dürfen wir unsere Mäntel tragen, wenn er sich nicht doch noch um entscheidet. Ich meine, mir ist nicht warm, aber kalt auch nicht. Es kommt drauf an.“

„Unmenschlich ist es trotzdem.“ Nicht einmal er würde das seinen Angestellten antun, aber was taten viele nicht für Weihnachten und einen guten Umsatz. Kurz spielte er sogar mit dem Gedanken ihr seinen Mantel zu geben, damit sie sich aufwärmen konnte, aber dann würde er frieren. Für eine Unbekannte würde er bestimmt nicht krank werden.

Kuzuki gab keine Antwort darauf, sondern wandte sich seinem Bruder zu.

„So, was kann ich für dich tun?“, fragte sie mit freundlicher Stimme und beugte sich ein wenig zu ihm herunter.

„Seto, dreh dich mal um und geh ein paar Schritte weg“, forderte sein Bruder ihn auf und etwas perplex sah Seto ihn an.

War das sein ernst?

Natürlich, scheinbar hatte er was gefunden und wollte es ihm zu Weihnachten schenken. An der Unauffälligkeit musste sein Bruder aber noch üben.

Für seinen Bruder spielte er aber mit und ging ein wenig zur Seite, drehte sich sogar um.

Kurz warf er einen Blick über die Schulter und sah, wie er sich zu Kuzuki beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

Sie flüsterte etwas zurück und er nickte zufrieden.

„Hei, nicht schmulen!“, tadelte er ihn und brav drehte sich Seto wieder um. „Du kannst dich wieder umdrehen.“

Seto seufzte und kam zurück.

„Gut“, sagte Kuzuki mit einem breiten Grinsen, „Dann stellt euch zwei mal vor unserer weißen Fotowand.“

Sie deutete auf die weiße Leinwand und griff zur Kamera.

„Oh nein, Mokuba!“, sagte Seto und schüttelte den Kopf.

„Bitte, Seto!“

„Kommen Sie, tun Sie Ihrem Bruder den Gefallen“, sagte Kuzuki und sah auch ihn bittend an.

„Ein Foto“, sagte er mahnend, seufzte leise und ging mit Mokuba zu der Leinwand.

Kuzuki stellte sich vor ihnen hin und warf die Scheinwerfer an, um ihre Gesichter auszuleuchten.

Es wurde wenige Sekunden später total warm und Seto merkte, wie ihm ein Schweißtropfen über den Rücken lief.

Die Fotografin stellte die Kamera ein und schaute durch die Linse. „Einmal bitte den Kragen richten, Herr Kaiba“, sagte sie und einem professionellen Tonfall und deutete an, wo er zupfen musste. „Perfekt. Mokuba, bitte einmal die Haarsträhne zur Seite, damit die Augen gut zu sehen sind.“

Auch Mokuba strich sich kurz die Haare zur Seite, damit es ordentlich aussah.

„Warte, wir müssen Shadow mit drauf kriegen“, sagte er und versuchte den Hund hoch zu kriegen.

Die Fotografin hielt inne. „Ich glaube, wenn ihr ihn hoch hebt, sehe ich euch nicht mehr.“ Kurz dachte sie nach. „Hockt euch zu dem Hund herunter. Die Leinwand ist ja lang genug.“

Seto tat auch das, bedacht aber darauf, dass seine Hose nicht im Schmutz war. Mokuba dagegen war es egal.

„So und jetzt bitte in die Kamera schauen“, sagte sie mit ernster Stimme, „Ja, genau. Augen auf. Ich zähle runter. Drei…zwei…eins.“

Seto hörte ein mechanisches Klicken und Kuzuki sah auf das Display. „Und noch mal.“

Sie verschwand wieder hinter der Kamera. „Lächeln und freundlich gucken. Augen auf. Ich zähle runter. Drei…zwei…eins.“

Wieder das Klicken und sie sah auf das Display. „Perfekt.“

Seto erhob sich, ebenso Mokuba neben ihn. Sein Blick bemerkte eine Bewegung aus dem Augenwinkel.

Ein paar Sternensänger stellte sich unter eine Laterne und begann zu singen.

Kuzuki ging zu dem Laptop im Stand und schob die kleine Karte hinein.

„So, dann schau dir mal das Foto an“, sagte sie zu Mokuba und winkte ihn zu sich.

„Ich hab noch einen Gutschein für die Fotos“, sagte er und zog einen sehr zerknüllten Gutschein aus der Tasche.

Es war der, den er weggeworfen hatte.

Leise knurrte Kaiba.

Es war also kein Zufall gewesen, dass Mokuba grade hierhin wollte.

Scheinbar hatte er seinen Papierkorb durchwühlt und die Visitenkarte und den Gutschein gefunden.

Es war wohl auch kein Zufall gewesen, dass er den Park als Kompromiss vorgeschlagen hatte und dann doch hierhin gewollt hat? Was hatte er vor?

Kritisch musterte er seinen Bruder.

Eines musste er ihm aber lassen. Raffiniert war er und nicht zu unterschätzen.

Seto wandte den Blick ab und kurz erschauderte er, als ein der Wind sein Gesicht streifte.

„So das dauert jetzt einen Moment“, hörte er sie sagen, „Du bist ja ganz kalt. Warte.“

Er hörte etwas Klappern und sah, wie sie seinem Bruder eine Tasse Tee reichte, die er dankend annahm. „Nimm dir ruhig ein paar Plätzchen.“

Sie lächelte ihn an, ja fast schon fürsorglich und kam mit einer Tasse auf ihn zu.

„Hier für Sie. Trinken Sie ruhig einen Schluck.“, sagte sie und stellte ihm die Porzellantasse vor die Nase.

Der Duft von Nelken, Zimt und Orange stieg in seine Nase.

Mit einem Nicken nahm er die Tasse und umfasste sie.

Sie wärmte seine kalten Hände und sofort fing seine Haut zu kribbeln an, als die Adern sich erweiterten und das Blut wieder besser in die Venen floss.

„Sie haben da was“, murmelte er und berührte kurz ihren Mundwinkel, um den noch immer vorhanden Kekskrümel zu entfernen.

Kurz zuckte sie unter seiner Berührung zusammen und er konnte spüren, wie kalt ihr war.

„Oh danke“, sagte sie verlegen und rieb sich mit den Fingern noch mal über die Stelle, als würde sie sicher gehen wollen, dass kein weiterer Krümel an ihrem Gesicht hing und er sie anfasste.

„Hei, die Plätzchen sind toll!“, mischte sich Mokuba ein und nahm sich wieder einen.

„Das freut mich. Habe ich selbst gebacken“, antwortete sie stolz, „Ich kann dir gerne das Rezept geben?“

„Wie wäre es, wenn du zu uns zum Backen kommst?“

„Was?“, stießen Kaiba und sie gleichzeitig hervor.

Kurz tauschte er einen Blick mit der Fotografin. Während er aber noch nach einer Ausrede suchte, war sie die erste, die Mokuba antwortete: „Das ist ein liebes Angebot, aber ich werde kaum Zeit haben, da ich hier helfen muss und dann noch gleichzeitig mit im Studio.“

Eine gute Ausrede. Besser hätte er nicht ablehnen können. So weit käme es noch, dass fremde Leute bei ihm zu Hause backten.

Auf diesen kleinen Schock brauchte er nun doch einen Schluck. Zudem waren seine Hände zwar aufgetaut, aber er fror noch immer.

So nahm er einen kurzen Schluck und sofort spürte er, wie das warme Getränk seine Kehle entlang lief, hinunter in den Magen und eine warme Spur hinterließ.

„Ist das Glühwein?“, fragte er und versuchte heraus zu schmecken, ob mit Schuss oder ohne.

„Vielleicht“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern und folgte seinem Blick zu Mokubas Tasse, der genüsslich davon trank.

„Keine Sorge, das ist Früchtetee“, sagte sie und beobachtete die Sternensänger.

Wieder trank er einen kleinen Schluck und stellte die Tasse zurück.

Sie griff danach und trank ebenfalls.

Was sollte denn das? Wieso nahm sie nicht ihre Tasse, sondern musste aus seiner trinken?

Sie grinste ihn auf den fragenden Blick hin nur an.

Der Chor ging zum nächsten Lied über.

Die Flöte spielte eine fröhliche Melodie und der Chor klatschte im Rythmus in die Hände.

Es klang ein bisschen altertümlich und Seto musste gestehen, sogar besser als der moderne Firlefanz war, den sein Bruder die ganze Zeit gespielt hatte.

Einer der Chorleute kam auf sie zu und zog sie mit in die Mitte der Fläche, um mit ihr zu tanzen.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass diese ganz altertümlich gekleidet war und sogar einen Gaukler dabei hatten, der mit Keulen jonglierte.

Seto beobachtete das Schauspiel und stellte mit Genugtuung fest, dass sie leicht errötet war. Offenbar war es ihr unangenehm so im Mittelpunkt zu stehen.

Der Mann animierte sie dazu mitzumachen und im Rhythmus schafften sie es zu klatschten, während er sie im Kreis wirbelte.

„And all the bells on earth shall ring, on Christmas Day, on Christmas Day and all the bells on earth shall ring, on Christmas Day in the morning.“ Wieder wurde geklatscht, die Melodie setzte kurz alleine ein, dann wurde wieder geklatscht, ehe es weiter ging.

Der Rhythmus wurde auch schneller und Kaiba beobachtete, wie Kuzuki vor lauter Euphorie kicherte. Die Wangen noch immer rot, wenn nicht sogar röter, so dass sie sogar dem Kleid Konkurrenz machten.

Kichernd versuchte sie sich zu befreien, aber der Mann ließ sie nicht gehen und schien fest entschlossen mit ihr den Platz abzutanzen.

Nur kurz kam sie in seine Nähe und er hörte ihren schweren Atem, schnell griff sie jedoch zu Mokubas Hand und zog ihn mit sich auf die Fläche, um nicht mehr alleine dort zu sein.

Zum Glück hatte sein kleiner Bruder die Teetasse vorher abgestellt gehabt, sonst wäre diese jetzt zu Bruch gegangen.

Der Mann grinste und animierte nun auch Mokuba mitzumachen, der sichtlich Freude daran hatte.

Während sie da standen, schaffte es der Mann auch die Menschen um sie herum zu animieren, damit sie im Rhythmus klatschten.

Einige machten sogar mit und sangen dabei in den unterschiedlichsten Tönen.

Wenn sie aber geglaubt hatte, nach dem Lied wieder frei z sein, hatte sie sich geirrt. Denn der nächste Song war angestimmt und wieder wurde sie mit animiert zu tanzen.

Wieder trank Seto einen Schluck von diesem heißen Gebräu in der Tasse und beobachtete die Szene.

Inständig hoffte er, dass sie ihn nicht zum Säufer machte. Zudem wäre es recht unangebracht, während der Arbeitszeit zu trinken. Aber das musste sie mit ihrem Chef ausmachen.

Sein Blick glitt zu dem Gerät im hinteren Teil der Bude und sah, wie der Koboldchef etwas daran werkelte. Er schaute über die Schulter und zückte Kuzukis Kamera und schoss ein paar Aufnahmen davon, wie sie wild herum tanzte.

Doch sie schien aus dem vorherigen Lied gelernt zu haben und zog noch ein paar andere Leute mit sich aus der Masse, wenn sie nahe genug an diesen heran käme.

Mokuba tat es ihr gleich und Seto musste leicht schmunzeln.

Sein kleiner Bruder sah zu ihm herüber und winkte ihn zu sich.

Seto schüttelte den Kopf.

Er würde bestimmt nicht zu „Lord of the dance“ tanzen. Das überließ er lieber den mittelalterlichen Spinnern und denen, die daran Freude hatten.

Keuchend kam Kuzuki aus der Menge zu ihm.

Sie stützte sich am Tisch ab.

„Ich kann nicht mehr“, japste sie und kicherte auf.

„Hat es Spaß gemacht?“, fragte er kühl.

Sie nickte euphorisch und er konnte ihre rosa Wangen sehen. Kuzuki griff zu der Tasse und setzte an, setzte sie aber gleich darauf wieder ab.

„Hat mein Glühwein geschmeckt?“, fragte sie grinsend und noch immer recht außer Atem. Ein einzelner roter Tropfen hing an ihren Lippen. Als sie ihn bemerkte fuhr sie mit der Zunge darüber.

„Ihr Glühwein?“, fragte er scharf und zog eine Augenbraue hoch.

„Ja, meiner. Aber ohne Schuss“, sagte sie und grinste breit und unschuldig, „Ich sagte doch Sie können einen Schluck ruhig trinken.“

Kuzuki kicherte und winkte ab.

„Keine Sorge, ist nicht schlimm.“

Er brummte missmutig und fand die Vorstellung aus ihrer Tasse getrunken zu haben nicht grade prickelnd.

Wieso hatte sie ihm keine zweite Tasse gegeben?

„Hei, Naomie!“, rief eine aufgedrehte Stimme und Seto sah ein junges Mädchen auf sie zulaufen. Sie trug das kurze Weihnachtsmannkostüm von dem sie vorhin erzählt hatte. In der Hand hatte sie eine Süßigkeitentüte.

„Hei“, sagte Kuzuki und griff beherzt in die Tüte. Sie fischte sich ein Quarkbällchen heraus. Es verschwand nur wenige Sekunden später in ihrem Mund.

„Wen hast du denn da hübsches?“, fragte ihre Kollegin und kicherte, „Schau mal, wo ihr zwei steht.“

Sie deutete nach oben und Seto folgte dem Wink, ebenso Kuzuki.

„Oh“, sagte sie und trat direkt drei Schritte von ihm zurück.

Seto verzog nur den Mund und trat ebenfalls zurück.

Auch wenn er nicht viel von Weihnachtstraditionen hielt und erst recht nicht an irgendwelchem abergläubischen Mythos, wollte Seto dennoch nicht unter dem Mistelzweig stehen.

Zudem war es schon ein indirekter Kuss gewesen mit ihr aus einer Tasse zu trinken. Mehr brauchte er nun wirklich nicht mit ihr teilen!

„Och kommt schon. Ihr müsst euch küssen!“, sagte die Schwarzhaarige und zog schmollend die rot bemalten Lippen vor.

„Bestimmt nicht!“, sagte Kuzuki entschieden, als er grade den Mund geöffnet hatte, um ihr einen saftigen Kommentar um die Ohren zu hauen.

„Wieso nicht?“

„Weil ich ihn nicht kenne!“, zischte sie eindringlich, nahm die Tasse und ging zu dem Gerät.

Ihre Kollegin gab einen enttäuschten Laut von sich und Set war froh, dass Kuzuki nicht auf diesen sentimentalen Quatscht bestand.

Es gab ja Frauen, die das unbedingt wollten. Irgendwie war er fast erleichtert, dass sie nicht zu der Sorte zu gehören schien.

„Aber was ist dabei? Du bist Singel. Es würde also niemanden stören.“

„Mich würde es stören. Küss du ihn doch, wenn du unbedingt eine Knutscherei haben willst“, konterte die Fotografin und ihre Kollegin sah zu ihm herüber, als würde sie für einen kurzen Moment wirklich mit dem Gedanken spielen.

Kaiba legte so viel Kälte wie möglich in seinen Blick und es schien zu wirken. Sie wandte sich ab und verschwand aus seinem Blickfeld.

„Entschuldigen Sie…“, sagte Kuzuki und kassierte Mokuba endlich ab. Sie sah ihn entschuldigend an. „Sie ist immer so drauf. Einfach ignorieren.“

Kuzuki zwinkerte ihm wieder vertraut zu und er fragte sich, ob sie zu jedem so war oder nur zu ihm.

Wenn sie seine Visitenkarte gelesen hatte, wüsste sie doch spätestens ab da mit wem sie es zu tun hatte. Hatte sie ihn nicht vorhin auch mit Nachnamen angesprochen?

Wieso hatte sie dann keine Angst vor ihm?

„Schaut mal, wen wir hier haben! Konnte sich der reiche Herr auch mal von seiner Arbeit lösen? Ich dachte, du hast so furchtbar wichtige Geschäfte?", hörte Seto mit einem Mal eine ihm nur leidlich bekannte Stimme.

Er schnaubte nur bei dem Anblick der Gruppe, die auf den Stand zukam.

Das hatte ihm grade noch gefehlt. Es wurde Zeit, dass er hier mit Mokuba verschwand, aber scheinbar war Kuzuki grade mit ihrem Chef im Gespräch, so dass Mokuba noch warten musste.

„Na Köter, erlaubt dir der Kindergarten mal wieder Gassi zu gehen?“, sagte er kühl und Shadow neben ihn bellte kurz erregt auf.

„Ich bin kein Köter, Kaiba!“, fuhr ihn Joey Wheeler an, was ihn jedoch recht kalt ließ.

„Ich sehe, wie sich deine Lippen bewegen, aber ich spreche kein kläfferisch.“

„Wieso verziehst du dich nicht einfach, Kaiba? Es ist schon kalt genug hier!“ Demonstrativ fröstelte Joey.

„Mehr fällt dir nicht ein, Kläffer?“ Abfällig verzog er die Lippen und schnalzte mit der Zunge.

„Deine Hundewitze werden langsam alt“, konterte er kläglich, „Außerdem würden mir noch allerhand Sprüche einfallen, die ich dir drücken könnte, du reicher Pinkel!“

„Pass bloß auf, dass du keinen Maulkorb kriegst.“

„Wird Mr. Eisprinz wieder sauer und aggressiv? Was jetzt? Willst du den Weihnachtsmarkt sprängen so wie damals den Battle City Tower?"

„Pass auf, dass du nicht eingeschläfert wirst, Promenadenmischung!“

„Stimmt du hast Recht. Ich muss mir nur deine schlechten Sprüche anhören, damit ich einschlafe.“

„Du kläffst zu viel, Wheeler. Ich dachte, Hunde müssten an der Leine gehalten werden auf Märkte?"

„Wenn sie so schlecht hören, dann bestimmt. Aber du, ich sehe hier außer deinem Hundi keine weiteren Hunde. Und falls du vielleicht beim Biologieunterricht zu lange gepennt haben solltest, zeichnet sich ein Hund nicht durch einen aufrechten Gang aus und kann sprechen.“

„Wenigstens ist Shadow reinrassig und hat keine Tollwut.“

„Reinrassige Hunde werden schneller krank. Und was nicht ist, kann ja bekanntlich noch werden. Also halt mal bitte den Ball flach.“

„Träum weiter, Wheeler. Shadow würde sich nie dazu herab lassen und mit jemanden wie dir spielen. Du bist nicht mal als Pinkelbaum gut genug für ihn.“

„Den Job übernimmst du ja schon“, konterte der blonde Duellant und das gar nicht mal schlecht, „Ich meine, reicher Pinkel…Pinkelbaum. Passt doch.“

„Hattest du Nachhilfe oder woher hast du diese intelligenten Sprüche? In deinem Kopf ist doch sonst nur Watte.“

„Mensch Kaiba, hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man so nicht mit Freunde umgeht?“

„Mach dich nicht lächerlich, Wheeler. Wir sind keine Freunde und im Gegensatz zu deiner Mutter, hat mir meine beigebracht, mich nicht mit Leute zu umgeben, die ich nicht mag.“

Ihr Wortgefecht hatte ein jähes Ende als ein lautes und demonstratives Schlürfen zu hören war.

Seto fuhr herum und sah Kuzuki, wie sie die Tasse an den Lippen hielt und daraus trank.

Warmer Dampf stieg aus der Tasse empor.

Er versuchte in ihrem Blick zu lesen, doch er war ausdruckslos.

Sie hielt mit Trinken inne und ließ langsam die Tasse sinken.

„Was denn?“, fragte sie unschuldig und schaute zwischen ihm und Wheeler hin und her. Erneut setzte sie zum Trinken an.

Als sie scheinbar sicher war, dass sie sich nicht weiter die Köpfe einschlagen würden, wandte sie sich ab.

„Ich dachte, meine Großeltern klingen nur…“, hörte er sie murmeln und Seto konnte nicht verhindern, dass sein Mundwinkel gefährlich zuckte.

„Wir sind kein altes Ehepaar!“, fuhr Wheeler die Fotografin aufgebracht an.

„Habe ich das gesagt?“, fragte sie unschuldig und grinste siegreich. Abwehrend hob sie die Hände.

Wheeler starrte sie an.

Sie musste ihm unbedingt verraten wie das ging, denn nach all der Zeit hatte er es noch nie geschafft diesen dämlichen Kläffer zum Schweigen zu bringen.

Seto beobachtete, wie sie sich Yugi und den anderen zuwandte.

„Wie kann ich euch helfen?“, fragte sie geschäftsmäßig und es erinnerte ihn an sich selbst. Er konnte genauso gut Gute Miene zum bösen Spiel machen.

„Ähm ja...“, fing Mutou an, „Wir wollten ein Gruppenfoto von uns und dann für jeden einen Schlüsselanhänger daraus machen lassen.“

„Alles klar!“, sagte Kuzuki und nahm die Kamera, „Stellt euch dahin.“

Sie deutete auf die Fotowand vor der Mokuba und er bis vor wenigen Minuten noch gestanden hatten.

Die Gruppe stellte sich hin und ging in Pose.

„Drei…zwei…eins“, zählte sie wieder runter und schoss die Fotos. „Sehr gut und noch mal.“

Wo war eigentlich Mokuba? Seine Sachen müssten doch inzwischen auch fertig sein.

Suchend sah sich Kaiba nach seinem kleinen Bruder um und sah grade noch rechtzeitig, wie er hinter einem Stand hervor kam. Auf den Lippen ein breites und zufriedenes Grinsen.

Was hatte er denn jetzt schon wieder ausgeheckt?

Nur wenige Sekunden später kam Kuzukis Wichtelchef ebenfalls hinter der gleichen Ecke hervor, fast wie zufällig. Doch daran glaubte Kaiba nicht und zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Hei, ihr sucht eine Aushilfe?“, hörte er wieder die Stimme von Wheeler und unweigerlich sah er zu der Gruppe herüber.

Geschäftig machte Kuzuki die Fotos fertig. Auf die Frage von dem Blonden nickte sie nur. „Ja, zum Gutscheine verteilen.“

„Ich hätte Interesse. Was muss ich tun, um anfangen zu können?“, fragte er und klang, als wäre er ganz heiß auf den Job.

„Chef?“, rief sie und sah zu dem Mann herüber, der die nächsten Leute fotografierte. „Hier ist jemand wegen dem Aushilfsjob.“

„Mach du das eben“, sagte er und kümmerte sich weiter um die kleine Frauengruppe, die ziemlich angeheitert wirkte und lautstark kicherte.

Kaiba hörte sie seufzen und innerlich tat sie ihm sogar leid, dass sie sich jetzt mit der Flohschleuder abgeben musste.

„Na gut...“, kam es von ihr und sie kramte unter dem Tisch einen Bogen heraus. Mit einem Stift reichte sie ihn Joey. „Füll diesen Bogen aus und dann melden wir uns in den nächsten Tagen bei dir. Der Job wird zwei bis dreimal in der Woche für etwa drei Stunden sein. Du wirst in unserem Kostümfundus eingekleidet und dann hier auf dem Markt herum gehen und die Leute ansprechen. Du gibst ihnen die Gutscheine oder du wirst in andere Stadtteile geschickt zum verteilen in die Briefkästen. Das ist unterschiedlich. Manchmal kann es auch sein, dass du im Laden sein wirst, da wir dort noch jemanden brauchen fürs einpacken von Geschenken. Willst du das immer noch machen?“

Sie klang wirklich professionell. Sehr sogar und Kaiba war ein wenig beeindruckt. Nicht viele hatten in solchen Momenten so viel Autorität.

Manche konnten andere gar nicht sagen, dass sie nur niedrige Laufburschenarbeit machen mussten, aber sie schien damit keine Probleme zu haben.

Etwas, was er manchmal bei seinen Leuten vermisste oder sich sogar wünschte, sie würden nicht so dick auftragen, als seien sie selbst der Chef.

Bei diesem Gedanken fiel ihm auch sofort jemand ein.

Juan.

Er war einer seiner Fotografen, die er öfters ins Ausland schickte, um dort nach neuen Duellanten Ausschau zu halten.

So gut dieser auch fotografierte, nahm er sich manches Mal sogar zu viel heraus.

„Wo warst du Mokuba?“, fragte er als sein Bruder sich wieder zu ihm gesellte und von Yugis Gruppe frei gelassen wurde.

„Nur was erledigen“, sagte er geheimnisvoll und sah zu Kuzuki herüber. Ein Grinsen schlich auf sein Gesicht.

Joey füllte derweil den Bogen mit ihr zusammen aus. Sie standen dort, wo er bis vor wenigen Augenblicken noch mit ihr gestanden hatte.

„Lass uns gehen, Mokuba. Ich muss noch arbeiten.“

Sein kleiner Bruder nickte und gab keine Widerworte.

Seto sah noch mal zu der Fotografin.

„Wenn ihr ihn einstellt, impft ihn vorher und verpasst ihm ein Flohbad“, sagte er zu ihr und grinste höhnisch.

„Ich habe keine Flöhe!“, fuhr Joey ihn aufgebracht an.

Kuzuki sah ihn für einen Moment verwirrt an, grinste ihn dann aber schelmisch an und nickte. „Alles klar. Machen wir.“

Damit wandte er sich ab und ging.

Hinter sich hörte er Joey noch fluchen, ignoriere es aber.

„Hei, Naomie, schau mal, wo du stehst!“, hörte er wieder ihre Kollegin und Seto musste sich umdrehen.

Bis zu ihm hin, konnte Kaiba sehen, wie sie rot anlief und ihr Blick traf seinen. Wenn es ging, wurde sie sogar noch röter und senkte das Haupt.

„Könnten wir das Teil vielleicht abnehmen?“, fragte sie lautstark und sah kurz noch einmal zu ihm herüber, ehe sie sich gänzlich abwandte.

Seto grinste amüsiert und drehte sich ebenfalls um.

Diesmal war der Besuch auf dem Markt tatsächlich nur halb so Wild und er schmeckte noch immer den Glühwein, den sie ihm angeboten hatte.

Türchen 3 – Alle Jahre wieder

Alle Jahre wieder begann der Weihnachtstrubel schon im August.

Die Läden hatten schon die ersten Spekulatius, Dominosteine und Lebkuchen in den Regalen. Auch die Modegeschäfte zogen nach und lagerten schon frühzeitig die dicken Schals, Winterpullis und Mützen. Ende Oktober wurde die Stadt dekoriert.

Auch die Märkte begannen schon Mitte November, so dass ein großer Umsatz erzielt wurde und jeder im Rausch des Kaufens und des Weihnachtsstresses die Brieftaschen weit öffnete, um auch wirklich alles Mögliche zu kaufen. Ob man es brauchte oder nicht, war in dem Moment egal. Die Händler wussten schon, wie sie die Kunden locken konnten. Besonders die älteren Damen, die noch schnell was für ihr Enkelkind kaufen wollten, waren an spendabelsten. Erst recht, was den Kauf von Süßigkeiten und anderen Zeug auf Märkten anging.

Alle Jahre wieder stand auch Naomie auf einem Weihnachtsmarkt und bot zusammen mit den anderen Fotografen ihre Dienste an, um kleine Fotosouvenirs zu machen, die man sich als normales Bild, Anhänger, Schneekugel oder Kette mitnehmen konnte.

Es war überraschend, wie viele Jugendliche, Familien oder Freundinnen dieses Angebot nutzten. Erst recht in Kombination mit dem Rabattgutschein, den ihr Chef dieses Jahr in Umlauf brachte. Das brachte die Kunden noch mehr zu ihnen als in den Jahren davor.

Aber aufgrund dieser Anfrage hatten sie sogar angefangen kleine Geschenkverpackungen in dem Stand zu lagern, um die Kunden auch rundum zufrieden zu stellen.

Seit ihrem zweiten Ausbildungsjahr in dem Studio half sie dort mit, zwängte sich jedes Wochenende in ein Kostüm und stand dann in der Kälte bei Wind und Schnee dort.

So viel auch oft zu tun war, es brachte manchmal die Zeit nicht um und wärmte sie auch nicht auf, so dass sie aufpassen musste sich nicht zu erkälten. Alle Jahre wieder kochte sie sich zu dieser Zeit genug eine Gemüse- und Hühnerbrühe und nahm sie auch in einer Thermoskanne mit auf den Markt.

Aber es hatte einen Vorteil, dass sie dort stand. Sie konnte damit Stunden ansammeln, die ihr Chef ihr bezahlte und die sie obendrein als extra Urlaub abbauen konnte.

Also kniff sie beide Augen zu und dachte immer wieder daran, was es ihr für Vorteile brachte, wenn sie es durch stand.

Natürlich gab es Momente in denen sie schwach wurde und daran dachte nach Hause zu gehen, aber dann ermahnte sie sich selbst weiter durch zu halten. Im letzten Jahr hatte es sie sogar zum Großteil gestört gehabt, aber nun, wo sie alleine war und auf niemanden mehr Rücksicht nehmen musst, war es ihr egal, wie sie ihre Wochenenden verbrachte. Es war besser als in der leeren Wohnung.

Naomie war auch alle Jahre wieder recht früh in vorweihnachtlicher Stimmung. Schon Ende Oktober machte sie sich Gedanken darüber, wie viele Mengen Plätzchen sie dieses Jahr backen würde, welche Mengen sie verschenken wollte und wer alles eine Weihnachtskarte bekommen würde.

Es war schon früher so gewesen, dass sie ungeduldig gewesen war, sobald diese Zeit näher rückte und auch in ihrer Schulzeit hatte es sich nicht geändert.

Nicht zuletzt deshalb, weil sie dort noch viel weniger Geld für Geschenke gehabt und deshalb alles weit im voraus geplant hatte, um niemanden leer ausgehen lassen zu müssen.

Inzwischen war sie aber so sehr daran gewöhnt, dass Naomie es auch nicht mehr ablegen konnte.

Aber dieses Jahr war nicht wie alle anderen Jahre auch. Dieses Jahr schien etwas Besonderes zu werden.

Niemals hätte sie gestern damit gerechnet an ihrem freien Samstag im Park auf Seto Kaiba zu treffen und erst recht nicht auf ihn zusammen mit seinem Hund.

Naomie hatte ihn sofort erkannt und hatte nicht erst auf die Visitenkarte gucken müssen, ob er es tatsächlich war. Dafür war er zu oft in den Medien vertreten, als dass es möglich wäre, ihn nicht zu kennen. Da musste man schon im Hinterland wohnen und weder Zeitung noch TV besitzen.

Der Hund war ihr schon vorher aufgefallen, aber sie hätte im Leben nicht gedacht, dass es seiner wäre. Sie hatte auch nie gedacht, dass er ein Tierfreund war. So konnte man sich doch irren.

Es hatte sie doch sehr überrascht. Innerlich hoffte sie, dass er ihr ihre Überraschung nicht gemerkt hatte, denn sie hatte in diesem Moment nur das Adrenalin gefühlt und war total hibbelig und aufgedreht gewesen.

Es hatte ihr Herz direkt einige Takte schneller schlagen lassen, als sie die wenigen Worte mit ihm gewechselt hatte. Selbst ihre Hand hatte leicht gezittert gehabt, als sie ihre Visitenkarte überreicht hatte.

Nachdem er gegangen war, hatte sie auch nicht mehr damit gerechnet, dass sie ihn so schnell noch einmal live und in Farbe sehen würde. Außer im TV vielleicht.

Aber auch das war ein Irrtum!

Denn prompt stand er heute auf dem Markt und sein kleiner Bruder bat sie ein Foto von ihnen anzufertigen.

Sie seufzte bei der Erinnerung auf, als Kaiba vor ihr gestanden und sein kühler Blick sie gemustert hatte.

Es war das erste Mal in all den Jahren, in denen sie diese Kostüme verfluchte und sich absolut unwohl fühlte. Viel zu aufgetakelt und freizügig hatte sie sich vorgekommen und die kleine Mütze auf ihrem Kopf machte es nicht besser. Am liebsten hätte sie sich in dem Moment ihren Mantel genommen und sich darin eingewickelt, damit er nicht noch mehr freie Haut von ihr sehen konnte. Sie hatte sich so unsicher wie noch nie gefühlt.

Irgendwie war es ihr wichtig, dass er nicht dachte, sie sei eines dieser Mädchen, die in solchen billigen Weihnachtsmannkostümen herum lief, um Männer anzugraben.

Wieder hatte das Adrenalin in ihren Adern gerauscht und sie zu einer noch munteren Frohnatur gemacht.

Wieso passierte das nur?

Naomie biss in den Vanillekipferl und seufzte, während der beißende Wind über ihre Haut fuhr. Nachher würde ein heißes Bad fällig sein und dazu eine feuchte Hautcreme, damit ihre Haut nicht trocken wurde bei den Temperaturen.

Sie strich sich über die kalten Arme und füllte sich die bunte Porzellantasse auf, die bis eben Kaiba in der Hand gehalten hatte.

Zum Glück war es inzwischen ruhig geworden und sie konnte sich für einen Moment entspannen.

Die neue Aushilfskraft war mit seiner Gruppe nachdem ihre Anhänger fertig war auch gegangen.

Naomie hatte kurz einiges erfahren und er schien ein Junge mit viel Tatendrang zu sein. Sicherlich würde er sich gut machen.

Unruhig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, lauschte dem Chor und wünschte sich endlich auch diese Schuhe ausziehen zu können.

Naomie hatte mehr Glück mit ihrem Kostüm und hatte unter dem Rock ihre Jeans anbehalten, sowie Winterstiefel. Dennoch wurde es auf Dauer unbequem nur dumm in der Gegend herum zu stehen.

Anders als ihre Kollegin in dem knappen Röckchen und High Heels taten ihr die Füße weh.

So sehr sie das Fest liebte, sie hasste die Märkte und sah sie lieber von weitem als von nahem. Denn es gab keinen Tag an dem nicht irgendein Betrunkener sie anrempelte, versuchte sie zu betatschen oder sie dazu zu überreden ein Bier oder Glühwein mit zu trinken. Das allerschlimmste erlebte jede Frau in dem Minikostüm. Da waren die Sprüche erst recht vorprogrammiert oder der Versuch unter den Rock zu linsen.

Naomie graute es schon, wenn sie es wieder tragen müsste. Vielleicht sollte sie sich dann krank melden? Es klang unter den momentanen Umständen nach keiner schlechten Idee.

Für den Gedanken einen Stand auf dem Markt zu beziehen, wollte sie ihren Chef nach all den Jahren immer noch erschlagen. Wie er darauf gekommen war, würde sie brennend interessieren.

Er hatte es doch eigentlich nicht nötig hier zu stehen. Der Laden lief gut, aber ein bisschen mehr Umsatz konnte ja nicht schaden, hatte er ihr mal gesagt.

Naomie stellte die Tasse zur Seite und musterte das Grünzeug über dem Stand, als wäre es ein lästiges Insekt.

Entschlossen raffte sie den Rock und stieg auf einen kleinen Hocker.

Ihre Knie aufgrund ihrer Höhenangst zitterten dabei. Sie versuchte ihre Hand ruhig zu halten und entfernte den lästigen Mistelzweig, der sie an diesem Tag schon zum zweiten Mal in eine peinliche Situation gebracht hatte. Zu einer dritten würde sie es nicht erst kommen lassen!

Zuerst mit Seto Kaiba und dann mit Joey Wheeler, wie sie durch das ausgefüllte Formular erfahren und durch seine krakelige Handschrit entziffert hatte.

Eigentlich mochte sie Mistelzweige. Sie hatte ihren Ex-Freund sogar gerne unter ihnen geküsst. Aber in diesem Fall wäre es ihr lieber gewesen, er wäre in Flammen aufgegangen.

Es war nicht so, als hätte sie in Problem mit Menschen oder diesen zwei Personen gehabt. Aber der Blick, den Seto Kaiba ihr zugeworfen hatte, als sie mit ihm darunter gestanden hatte, war mehr als deutlich gewesen.

„Denk nicht mal darüber nach!“, hatte dieser gesprochen.

Seine blauen Augen waren so klar gewesen und hatten sich für einen minimalen Augenblick kurz geweitet. Überraschung hatte darin gelegen und eine Spur Verlegenheit, während sein Gesicht regungslos geblieben war. Ein reiner Widerspruch war seine Körperhaltung gewesen.

Doch auch als er ihr den einen Krümel aus dem Gesicht entfernt hatte, war alles an ihm distanziert gewesen. Aber seine Berührung hatte eine andere Sprache gesprochen.

Sie war trotz kalter Hände warm und fürsorglich gewesen.

Allein bei der Erinnerung klopfte ihr Herz und entlockte ihr ein Seufzen.

Doch damit nicht genug. Nein.

Ihre liebenswürdige Kollegin meinte sie ja erneut darauf hin zu weisen, dass sie mit einem Mann darunter stand.

In diesem Moment wäre sie am liebsten in Erdboden versunken und schnell hatte sie zu Kaiba hingesehen, ob er es gehört hatte.

Und wie er sie gehört hatte!

Er dachte nun bestimmt, dass sie zu denen gehörte, die verzweifelt unterm dem Zweig standen und hofften geküsst zu werden. Egal von wem.

Aber es war wirklich ein Versehen gewesen und Naomie spürte noch immer die Hitze auf ihren Wangen brennen, als er sich umgedreht hatte.

Ihre Blicke hatten sich getroffen und sie konnte in seinem Gesicht nichts erkennen, was darauf schließen ließ, was er dachte. Lediglich seine Lippen hatten sich zu einem amüsierten und leicht spöttischen Grinsen verzogen.

Sie hatte nichts anderes als schnell wegsehen und lautstark protestieren können, dass doch mal jemand diesen Zweig abnehmen sollte.

Als sie wieder zu ihm gesehen hatte, hatte sie nur noch seine braunen Haare sehen können.

Seufzend stieg sie von dem Hocker herunter und legte den Zweig in den hinteren Teil ihres Standes ab.

Naomie rieb sich über die Arme und trank den Rest ihres alkoholfreien Glühweins leer. Ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, wie Seto Kaiba sie angesehen hatte, als sie sich einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt hatte.

Sein Blick war unbeschreiblich gewesen.

Als ob sie wirklich auf Arbeit Alkohol konsumierte. Allein der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln.

Leise kicherte sie.

„Du bist ja gut drauf“, sagte ihre Kollegin und nahm sich ein Plätzchen aus der Box.

„Ich hatte einfach einen guten Tag“, sagte sie und stellte die Tasse ab.

„Ist das nicht die, die dieser große Mann mit den blauen Augen eben noch in der Hand hatte?“

Naomie nickte.

„Wieso trinkst du aus der Tasse, die er vorher hatte?“, fragte sie irritiert, „Hast du jetzt Ambitionen zum Stalker entwickelt? Wenn dem so ist, lass dir bitte gesagt sein, du hast das nicht nötig! Du bist hübsch genug! Du musst Niemanden nach laufen. Sprich mir nach: Ich muss…“

„Es war vorher meine Tasse“, beschwichtigte sie ihre jüngere Kollegin und ihre Stimme nahm einen bestimmenden Tonfall an, „Und hätten wir hier ein paar mehr gehabt, dann hätte ich ihm nicht meine anbieten müssen.“

„Findest du das nicht etwas ekelhaft?“, fragte sie und sah sie mit irritiertem Blick an.

„In dem Fall bin ich mir absolut sicher, dass er keine Pest am Arsch hat.“

„Stimmt, sein Arsch war wirklich perfekt“, schwärmte sie und Naomie schüttelte den Kopf. „Woher kennst du ihn?“

„Tu ich das? Ich kenne ihn nicht.“

„Aber es schien als würde er dich kenne!“

„Du irrst dich.“

Ihre Kollegin brummte unzufrieden, ließ das Thema aber ruhen.

Naomie musste ihr nicht unbedingt erzählen, wer ihren Stand hier besucht hatte und woher sie ihn kannte.

Sie hatte absolut keine Lust diesbezüglich gelöchert zu werden und erst recht nicht von ihr, die eh nichts für sich behalten konnte. So lieb sie auch war, aber Naomie war sich auch sicher, wer dann vor ihrer Tür stehen würde, würde sich das rumsprechen und in der neuesten Klatschpresse öffentlich sein, dass sein Hund sie angesprungen hatte.

Wenn sie genauer drüber nachdachte, vielleicht war das keine schlechte Idee? Vielleicht bestand so die Chance ihn erneut zu sehen?

Nein, so fies und gemein war sie nun auch nicht und schob den Gedanken schnell zur Seite. Natürlich könnte sie sich auch in seiner Firma bewerben, um ihn wiedersehen zu können, aber sie rechnete damit, dass er schon genug Fotografen für die Pressearbeit hatte. Außerdem liebte sie die Portraitfotografie und nicht diese Bilder von Paparazzis und dergleichen.

Wenn sie obendrein seine kühle Haltung und Stimme bedachte, wollte sie nicht wissen, wie er mit Angestellten umsprang, wenn er schon zu ihr als Fremde so drauf war.

Kein Gehalt der Welt würde das dann wieder wettmachen.

Lieber blieb sie in dem niedlichen Studio „Dreamland“, verdiente weniger und hatte liebenswürdige Kollegen und einen Chef, der morgens schon mal zwei verschiedene Paar Socken trug.

Hatte die Idee nicht auch wirklich was von Stalking? Nein, so tief war sie nicht gesunken.

Auch wenn sie Singel war, würde sie keinem Mann der Welt nach laufen. Egal, wie gut dieser auch aussah und egal, wie oft er ihr ein Seufzen entlockte. Obendrein verliebte man sich nicht einfach so in wildfremde Menschen!

Wieder seufzte sie und zog die Schultern hoch.

Noaomie hatte die Erfahrung gemacht, dass, wenn sie Interesse an einem Mann hatte, es meistens in die Hose ging. Am besten lief es, wenn der Mann auf sie zukam und nicht umgekehrt.

Aber wie sollte das gehen, wenn der Gegenüber distanziert war und ziemlich kühl und sachlich?

„Wem gehört denn das?“, fragte ihr Chef und hob eine kleine Schachtel hoch, damit alle sie sehen konnte.

Naomie schreckte aus ihren Gedanken und besah sich die Päckchen. Ihre Augen weiteten sich.

„Oh Mist!“, entfuhr es ihr.

Ihr Chef sah sie fragend an.

„Ich weiß, wem es gehört. Ich laufe schnell nach! Das schaffe ich!“, sagte sie und raffte das Kleid hoch, schnappte sich die verpackte Schachtel und lief schnell in die Masse hinein, wobei laufen weit her geholt war. Es war mehr ein kurzer Anlauf, stoppen, ausweichen.

Inständig betete sie, dass die zwei noch nicht so weit gekommen waren und sie noch Chancen hatte sie einzuholen. Bei dieser dichten Menschenmasse hatte sie vielleicht Glück.

Die Richtung stimmte. Immerhin waren sie hierhin entlang gegangen.

„Vorsicht“, sagte sie und wich einem Kinderwagen aus, schnell raffte sie den Rock erneut hoch und rannte so gut es ging weiter.

„Verzeihung…Vorsicht…Entschuldigung!“, sagte sie immer wieder und rannte an einer Gruppe von betrunkenen Männern vorbei. Einer rief ihr noch etwas nach, doch sie achtete nicht darauf.

Sie hatte eine wunderbare Lücke entdeckt und sprang über einen kleinen Hund hinweg, der ihr grade vor die Füße lief.

Gott, war dieses Kleid unpraktisch. Schnell wich sie noch einem Kleinkind aus und war gezwungen an einem Spielzeugstand inne zu halten.

„Welche Puppen sollen wir Emilys Freundin schenken?“, fragte die Mutter und hielt zwei Verpackungen hoch, „Die, die aussieht wie ein Transvestit oder die mit dem Prostituiertenpelz?“

„Die Transe!“, rief Naomie atemlos und lief um die Eltern herum und schüttelte nur den Kopf über die Beschreibung der Puppen. Der Rock entglitt ihr immer wieder aus den Fingern und sie musste ihn ständig neu raffen.

An einer Kreuzung des Marktes hielt sie inne und sah sich um. Wohin könnten sie gegangen sein?

Richtung Straße oder zur Kindertheateraufführung mit Animationsmoderator?

Kaiba wollte gehen und musste noch arbeiten. Aber er sagte nicht unbedingt nach Hause. Wenn er allerdings weiter durch den Markt ziehen wollte, war es doch logischer, dass er gesagt hätte, sie würden weiter gehen. Auch wenn sie ihn nicht kannte, schätzte ihn sie ihn doch sehr klar in seinen Worten ein.

Naomie besah sich noch mal die Möglichkeiten, schüttelte den Kopf und bog in Richtung Straße ein.

Schnell drückte sie sich an einem alten Ehepaar vorbei und hielt an der Ampel an.

Keuchend sah sie sich um, ob sie die zwei mit dem Hund irgendwo sehen konnte, aber Fehlanzeige.

Naomie hatte sie verpasst. Schmerzhaft hielt sie sich die Rippen, die vom Korsett eingeschnürt waren und jetzt gegen die Stäbe drückten, um ihre Lungen mit Luft zu füllen.

Sie schlug halb auf die Ampelschaltung ein, damit diese endlich Grün wurde und sah einen edlen schwarzen Bentley vorbei fahren.

An der Scheibe konnte Naomie die Umrisse von Seto Kaiba sehen, der gelangweilt im Sitz saß und telefonierte. Sie hob die Hand, um zu winken, doch er ignorierte sie.

Kurz überlegte sie sich auf die Motorhaube zu werfen, um dem kleinen Kaiba noch das Geschenk zu geben, überlegte es sich aber anders.

Zum einen wäre das absolut Lebensmüde, zum anderen würde sie damit seinem Chauffeur den Schock seines Lebens verpassen und auch andere damit gefährden.

Obendrein hing sie an ihrem Leben und wollte keine Kühlerfigur werden.

Der Wagen fuhr um die Kurve und war verschwunden.

„VERDAMMT!“, fluchte sie und eine Frau, die mit Einkaufstüten beladen war, wich ihr erschrocken aus.

Naomie drehte sich im Kreis, überlegte, was sie tun sollte. Wie sollte der kleinere Kaiba jetzt an das Geschenk für seinen Bruder kommen?

Kurz spielte sie mit dem Gedanken in der Firma anzurufen, doch sicherlich würde sie eher bei Seto Kaiba landen. Nein. Am Ende dachte er noch, sie verfolgt ihn.

Dann überlegte sie es per Post zu schicken. Doch auch da gab es sogar zwei Probleme. Zum einen verlor die Post zu dieser Jahreszeit viele Pakete oder stellte sie nicht rechtzeitig zu und zum anderen würde auch da Seto Kaiba die Ohren spitzen.

Seufzend drehte sie sich um und wollte sich wieder auf den Rückweg machen, als sie jemand ansprach.

„Wieso fluchst du so?“, fragte der Junge und Naomie drehte sich um.

„Oh da bist du da!“, stieß sie japsend aus und beugte sich zu ihm herunter.

„Hast du mich etwa gesucht?“, fragte Mokuba verwirrt.

Naomie nickte und reichte ihm die Schachtel.

„Die hast du bei uns vergessen“, erklärte sie.

„Oh, aber du hättest sie auch in die Firma oder zu mir nach Hause schicken können.“

„Ich weiß, aber das war mir zu unsicher und außerdem wolltest du ja nicht, dass dein Bruder was mitkriegt.“ Sie lächelte ihn fröhlich an.

„Auch wieder wahr“, seufzte er und schob die Schachtel in seine Jackentasche, „Wobei Seto es bestimmt eh schon weiß und neugierig ist er nie.“

Sein Gesicht wurde wehmütig und Naomie hätte ihn am liebsten an sich gedrückt.

„Er freut sich bestimmt trotzdem“, versuchte sie es.

„Aber wo du grade da bist…“, fing er an und seine Augen bekamen einen schelmischen Ausdruck.

„Ja?“ Aus irgendeinem Grund behagte dieser Blick ihr nicht.

„Komm mit mir mit!“

„Wie?“ Naomie glaubte sich verhört zu haben.

„Komm mit mir mit!“, wiederholte der kleine Kaiba energisch.

„Aber meine Eltern haben mir beigebracht, dass ich nicht mit Fremden mitgehen soll.“

„Ich bin doch nicht fremd.“

„Fremd genug, dass ich nicht einfach so mitgehe.“

„Naomie….ich bin dreizehn Jahre alt. In vielen Kulturen gelte ich noch als Kind. Was soll ich dir bitte antun? Gegen dich hätte ich keine Chance.“

Auch wieder wahr. Sie seufzte ergeben.

„Gut, warum soll ich denn mitgehen?“

„Weil du dann etwas ganz tolles siehst!“

„Und was?“

„Lass dich überraschen!“

„In dem Fall würde ich gern die Überraschung kennen. Denn ich glaube, dein Bruder mag mich nicht besonders.“ Sie lächelte verschmilzt.

„Seto ist gar nicht so, wie alle immer denken.“

„Wie dann?“, fragte sie neugierig und verzog ein wenig bei der Erklärung das Gesicht. Sahen die kleinen Geschwister ihre Älteren nicht immer anders als andere.

„Ein toller großer Bruder, der kälter zu anderen ist als er in Wahrheit ist, weil er vor Zwischenmenschlichen Beziehungen Angst hat?“

„Verstehe“, sagte sie und ließ ihn mal in dem Glauben. Aber vielleicht hatte er auch gar nicht so Unrecht? „Und was willst du mir zeigen?“

„Das siehst du noch.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Also. Jetzt komm. So wie du hier rumstehst, hast du sowieso nichts Besseres zu tun. Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen!“

„Ich muss aber zurück arbeiten.“

„Ja. das kannst du ja danach. Und es dauert auch nicht allzu lange!“

„Sollte ich nicht dennoch vorher meinem Chef bescheid geben und meine Sachen holen?“

„Ja, ok, das kannst du machen“, sagte er widerwillig.

„Sag mal, wer garantiert dir, dass ich wieder komme?“, fragte sie und richtete sich auf. Diese gebeugte Haltung wurde langsam unbequem.

„Ich?“, fragte er neckisch und griff nach ihrer Hand. Auf sein Gesicht erschien ein freches Grinsen.

„Indem du meine Hand hältst und mich zum Stand zurück begleitest oder wie?“, fragte sie verwirrt und sah auf seine Hand, die ihre hielt. Ihr Blick glitt zu dem Leibwächter, der einige Meter hinter dem kleinen Kaiba stand.

„Ich habe deine Weihnachtsmütze!“, sagte er und zog das rote Stück Stoff aus seiner Tasche.

Naomie fuhr sich über den Kopf und tatsächlich fehlte da was. Scheinbar hatte sie ihre Mütze beim Laufen verloren.

„Und die willst du als Geisel nehmen?“ Sie lachte auf. „Na wenn das so ist, habe ich ja gar keine Chance, das arme unschuldige Ding wieder zu bekommen, als mit dir zu gehen.“

Türchen 4 - Zimtplätzchen

Der Schnee war ein kalter und sehr schlechter Gefährte, wenn man zu Fuß zu einem Termin unterwegs war.

Sein Hosensaum war nass vom Schnee und fühlte sich klamm an seinem Bein an, wenn es ihn berührte. Der Saum seines Mantels war nicht besser und der Wind schlug ihn mit jedem Schritt unangenehm um die Füße, weshalb sich die Nässe schon bis zu seinen Schienbeinen vorgearbeitet hatte.

Es war ein ziemlich unangenehmes Gefühl und Seto wusste, dass er mehr als ein miserables Bild vor seinem Kunden im Hotel abgeben würde, wenn er dort zum Termin eintraf.

Der kalte Wind drang unter die dicke Kleiderschicht und so warm der Schal und Mantel auch war, konnte er nicht verhindern, dass er fror und sich auf die Rückbank seines Bentleys wünschte oder noch besser in sein Arbeitszimmer zu Hause, nachdem er heiß gebadet hatte, danach anschließend in sein beheiztes Büro saß und eine schöne Tasse Tee trank und eine Kanne Kaffee dazu bereit stand.

Kurz erschauderte Seto und wechselte die Hand mit der er seinen silbernen Aktenkoffer trug. Denn trotz Handschuhe froren seine Finger und er schob die kalte Hand tief in seine Manteltasche. Seine Finger umschlossen ein Stück Papier. Neugierig, was sich in seinen Mantel verirrt hatte, zog er es heraus und sah die zerknüllte Visitenkarte.

Wie war die wieder in seinen Mantel gekommen? Immerhin hatte er sie zusammenmit dem Gutschein in den Papiereimer geworfen. Aber Mokuba hatte diesen auch daraus her vor geholt. Gut möglich, dass er auch die Karte wieder herausgeholt hatte und in seinen Mantel gesteckt hatte.

Er schüttelte den Kopf, zerknüllte wieder das Stückchen Papier und zögerte es in den Papierkorb zu werfen. Seto schob es missmutig wieder in seine Manteltasche.

Er wusste nicht wieso, aber irgendetwas sagte ihm, dass er es nicht tun sollte und als er das Papier wieder umfasste, kam ihm direkt die rote Zipfelmütze in den Sinn, die sie auf dem Markt getragen hatte. Ebenso die leicht bläuliche Haut von der Kälte. Direkt danach das professionell geschminkte Gesicht und die Fröhlichkeit in ihren Augen.

Kaiba schüttelte den Kopf und schob die Gedanken zur Seite.

Sein Blick fiel in ein dekoriertes und leuchtendes Schaufenster, doch so wirklich etwas wahr nahm er nicht. Denn seine Gedanken schweiften erneut ab und seine Finger umschlossen das Papier. Mit schnellen Schritten und den Leuten ausweichend ging er weiter.

Sein Bruder wusste doch, dass sein Team voll war und er bestimmt keinen außenstehenden Fotografen engagieren würde für die Arbeit mit seinen neuesten Produkten.

Er fragte sich, wann sein Bruder ihm die Karte wieder zugesteckt hatte und schüttelte erneut leicht den Kopf. Er löste seinen Anblick von den süßen Kuchen und Plätzchen und ging weiter.

Es war einfach brutal und Seto versuchte den dicken Müttern mit den schreienden Kindern an der Hand auszuweichen, während eine Oma mit ihrem kleinen Hund ihn in den Schnee drängte. Mehrere Einkaufstüten trafen verschiedene Körperstellen und die Besitzer machten sich nicht einmal die Mühe sich zu entschuldigen. Sicherlich würden ein paar blaue Flecke zurück bleiben.

Kalte Flocken fielen in seinen Nacken und er seufzte. Jetzt würde er sogar aussehen wie ein nasser Pudel, wenn er dort ankäme. Immer weniger Lust überkam ihn zum Hotel zu laufen und dort die Verträge abzuschließen.

Kaiba zog die Schultern hoch, konnte aber ein erneutes Frösteln bei dem Wind und dem Schneefall nicht unterdrücken.

Auf der anderen Straßenseite hörte er Schulkinder lachen und wie sie sich mit jemanden auf seiner Seite gegenseitig etwas zuriefen. Sie waren in ihren Wintersachen dick eingepackt und ihre Taschen sahen schwer aus.

Ob Mokuba auch schon zu Hause war?

Mit Sicherheit und mit absoluter Sicherheit schlürfte er schon heißen Kakao mit Sahne.

Manchmal beneidete er Mokuba und seine Stimmung sank weiter zu diesem Termin zu gehen.

Würde sein Wagen funktionieren und nicht wegen eines Unfalls in der Werkstatt hängen, wäre er auch nicht gezwungen zu Fuß zu laufen.

Die Ersatzwagen in der Tiefgarage saßen ebenfalls fest, da die intelligenten Schneeräumer der Stadt die Einfahrt dahin zugeschüttet hatten, so dass nun die armen Praktikanten dazu verdonnert worden waren, den Schnee zu räumen.

Eine nicht gerade sehr schöne Aufgabe, aber irgendwer musste es tun.

Dennoch hing sein Herz an dem Bentley, der nun mit einem Blechschaden repariert wurde.

Gestern kurz nach dem Weihnachtsmarktbesuch war es passiert und ein Wagen aus einer Seitenstraße war ihm direkt in die Beifahrerseite gefahren. Hätte der Trottel am Steuer nicht an der falschen Stelle gespart und seinem Wagen wenigstens Winterreifen aufgezogen, wäre das nicht passiert.

Als er den Markt verlassen hatte, weil sein Büro angerufen hatte und er dringend in die Firma kommen musste, hatte er Mokuba alleine zurück gelassen mit Roland. Sein Bruder hatte ihn zwar traurig angesehen, aber seine Rechtsabteilung stand wohl unter Wasser aufgrund eines Rohrbruchs. Also ein Notfall, den er sich ansehen musste, um die aufgescheuchten Mitarbeiter zu koordinieren.

Als er mit dem zuständigen Mitarbeiter der Abteilung telefoniert hatte, hatte er am Straßenrand die Fotografin gesehen, wie sie auf die Ampel eingeschlagen hatte. Kurz hatte er schmunzeln müssen bei ihrem Anblick, wie sie verzweifelt versuchte die Ampel auf Grün zu kriegen, doch sein Kopf war bei dem Notfall gewesen. So hatte er nur aus dem Augenwinkel mitbekommen, wie sie noch gewunken hatte und auch ein bisschen verzweifelt ausgesehen hatte, doch er hatte sich abgewandt gehabt.

Nun fragte er sich, wieso sie dort gestanden hatte und nicht beim Stand.

Immerhin war doch so viel los gewesen, als er gegangen war. Vergessen hatte er dort mit Sicherheit nichts, weshalb sie ihm nach gelaufen wäre. Aber vielleicht war sie auch nur ein verrückter Fan, den er jetzt leider an den Versen hatte. Aber mit solchen wurde er mit Leichtigkeit fertig.

Viel wichtiger war, dass seine Rechtsabteilung wieder trocken wurde und nicht mehr mit anderen Leuten das Büro teilten.

Aber Handwerker in so einer Zeit zu bekommen, war wie einen Schokoosterhasen an Weihnachten zu kriegen. Verdammt schwer und gering.

Immerhin hatten andere ebenfalls solche Probleme und der Schnee erschwerte es. Dann mussten Ersatzteile besorgt werden, deren Lieferung sich auch verzögert und Seto rechnete schon mit Frühjahr bis das Problem behoben sein würde.

Er seufzte und ging weiter, wich den Schulkindern aus, die angefangen hatten sich mit Schneebällen zu bewerfen.

Eine Frau versuchte ihn zur Seite zu drängen, als sie mit ihrem Hund an ihm vorbei zog und er konnte dem gelben Schnee grade so ausweichen.

Wie er es doch hasste zu Fuß zu gehen.

Kurz warf er einen Blick auf die Uhr. Er würde zu spät kommen.

Schnell zückte er sein Handy und rief seine Sekretärin an, die mit fröhlicher Stimme abnahm. Kurz erklärte er ihr, was sie zu tun hatte und legte wieder auf.

Wenigstens hatte er sich noch eine knappe dreiviertel Stunde Zeit raus geschlagen und musste sich nicht abhetzen, um pünktlich zu sein.

So sehr er auch Unpünktlichkeit hasste und selbst penibel darauf achtete immer pünktlich zu sein, war es ihm heute einfach nicht möglich.

Schnell überquerte er die Ampel, ehe sie wieder auf Rot umstellte.

Eine kichernde Mädchengruppe kam ihm entgegen und drängte sich an ihm vorbei. Der Geruch von zu viel Parfüm und Deo schlug ihm entgegen und er hustete kurz.

Es war ein unangenehmer künstlicher Vanilleduft, den die Gruppe nach sich zog und von dem er immer leichte Kopfschmerzen bekam. Unweigerlich dachte er an seine Sekretärin, die ebenfalls so ein künstliches Vanillezeug trug und heute sogar mit einem weißen Strickpullover mit Schneeflockenmuster mit einer blinkenden Tannenbaumbrosche in der Firma herum lief.

Ein Anblick, den er mehr als froh war, los zu sein. Seto hatte zwar keinen Kommentar darüber verloren, aber nur stumm den Kopf geschüttelt.

Hoffentlich lief sie demnächst nicht mit einem Rudolf Kleid durch die Gegend. Ansonsten wäre die Seriösität seiner Firma ganz schnell im Keller, wenn sie so die Kunden in Empfang nahm. Denn wie sollte man ihn noch ernst nehmen, wenn seine Vorzimmerdame aussah wie aus einem kitschigen Kinderbuchfilm entsprungen.

Es war ja schlimm genug, dass sie Radio hörte und dort „Last Christmas“ rauf und runter gespielt wurde. Als gäbe es keine anderen Songs, die man spielen könnte.

Ein Schneeball flog haarscharf an seinem Hinterkopf vorbei. Seto spürte noch den kalten Windzug und wie er seine Haare gestreift hatte, eher er an der Hauswand klatschend auf schlug.

Mit kaltem Blick sah er zur anderen Straßenseite hinüber, wo die Schüler ihn schockiert ansahen und sich schnell entschuldigten, ehe sie weiter rannten.

Hinter ihm kicherte eine Junge und rannte ebenfalls weiter.

Seto knurrte. Wenn sie ihn erwischt hätten, hätte es ein riesen Donnerwetter gegeben.

Weiter vor ihm fingen die Schulkinder wieder an sich mit Schnee zu bewerfen. Das sie dabei ein Risiko für den Straßenverkehr bildeten, war ihnen gar nicht bewusst.

Auch eine Frau wurde fast getroffen und schimpfte die Kinder dafür aus, dass sie quer über der Straße spielten.

Hinter sich hörte er Reifen stark quietschen und drehte sich herum.

Ein Laster bog gerade ab und konnte auf der glatten Fahrbahn nicht mehr gegen lenken.

Der hintere Teil brach aus und stieß hart gegen einen Kleinwagen, zog ihn mit und quetschte ihn zwischen einen Laternenmast ein.

Der Anhänger des Lasters verbog sich unter der Kraft des Aufpralls. Splitter fielen auf die Straße und ein weiterer Autofahrer konnte grade so ausweichen und abbremsen, ehe er gegen das Führerhaus schlug.

Weitere Autos hielten an, hupten und versuchten unbeschadet davon zu kommen.

Die Fußgänger waren zur Seite gesprungen und hatten sich in Sicherheit gebracht.

Die Ladungstür des LKWs sprang auf unter dem Druck und Kisten fielen heraus.

Er hörte nur einen Schrei von einem Mann und ein Platschen.

Wieso musste das gerade jetzt passieren?

Kaiba seufzte und wusste, er würde den Termin vergessen können. Immerhin würde er als Zeuge am Ort bleiben müssen und keiner sollte später sagen, Seto Kaiba leistete keine Hilfe an einem Tatort.

Schnell zückte er sein Handy und rief die Polizei an.

Schaulustige sammelten sich und begafften den Transporter. Ein Autofahrer stieg aus und stellte ein Warndreieck auf, lief zum PKW und sicherte dort ab, dass niemand verletzt war, ehe er sich den Fahrer des LKWs widmete.

Dieser schien außer einem Schock nichts abbekommen zu haben.

Jemand war hinter den Anhänger gelaufen und half dort jemanden, der unter der Ladung begraben war.

Der Winde wehte einen starken Fischgeruch herüber, so dass klar war, was der LKW transportiert hatte.

Seto rümpfte angewidert die Nase und wollte gerade seine Sekretärin anrufen, als er den Mann erkannte, der sich einen Hering von der Schulter pflückte und peinlich, verlegen bei seinem Retter bedankte.

Kaiba fixierte ihn mit kaltem Blick und Juan schien seinen Blick zu spüren, zuckte zusammen und ging fast schon reumütig zu ihm herüber.

„Herr Kaiba…“, begann der Brasilianer leise und Seto roch den Gestank von Fischöl. Ihm wurde augenblicklich schlecht.

„Sie stinken…“, entfuhr es ihm unweigerlich. Er musste sich die Nase zu halten, damit ihm nicht noch schlechter wurde.

„Mir sind auch grade Fische auf den Kopf gefallen, die in Öl eingelegt waren“, sagte Juan und schnippte eine Fischschuppe von seiner Schulter, die im Schnee landete. Öl tropfte von seinen Haaren, währen die Flosse eines der armen Tiere an seiner Brust hing. Ein Auge hing sogar in seinem Haar.

Kaiba musste ein Würgen unterdrücken.

„Sollten Sie nicht in England sein?“, fragte er kalt und durchbohrte seinen Fotografen mit einem eisigen Blick. „Dort findet grade das Turnier statt, was sie fotografieren sollten!“

„Der Flieger ging nicht, wegen dem Wetter…“

„Dann hätten Sie sich melden können und einen unserer Privatflieger nehmen können, anstatt sich nicht zu melden und auf Firmenkosten blau zu machen!“, fuhr er ihn an.

Seto klärte sowas normalerweise nicht in der Öffentlichkeit, aber einen Mitarbeiter hier zu sehen, wo er doch im Glauben war, dass dieser im Ausland wäre, ließ ihn alles vergessen.

Juan schwieg und wischte sich etwas Öl aus dem Gesicht.

„Herr Kaiba, es ist Winter…“, fing er nach einem Augenblick an.

„…und kein Grund, Sie von Ihren Pflichten zu entbinden. Es hätte andere Wege gegeben. Außerdem lag mir heute Ihr Urlaubsantrag auf dem Tisch. Wie lange wollten Sie blau machen und sich bezahlen lassen? Die komplette Woche und dann direkt weiter in den Urlaub starten?“, unterbrach er ihn ungehalten und seine Stimme war fast so kalt, wie der Schnee, der in seinen Haaren hing.

Kaiba zog eine Augenbraue hoch.

„Es kommt nicht mehr vor. Ehrlich. Es tut mir leid“, sagte er verzweifelt und Seto hörte deutlich seinen starken südländischen Akzent heraus.

„Das wird es auch nicht. Denn Sie können sich schon mal nach einem neuen Job umsehen.“ Seine Stimme klang kalt und tonlos. Es ließ keine Widerworte zu und ihm kam wieder ein Schwall von Fischgestank entgegen. „Und nehmen Sie ein Bad. Sie stinken scheußlich.“

Damit wandte er sich von seinem nun ehemaligen Fotografen ab und ging ein wenig weiter die Straße entlang.

Sirenen waren zu hören und er wartete bis die ersten Polizisten angehalten hatten.

Einige besahen sich den Ort des Geschehens und die ersten machten sich dabei die Unfallstelle abzusichern, ehe sie Zeugen befragten.

Seto drückte einem Mann seine Visitenkarte in die Hand. Er hatte keine Lust mehr zu Warten. Sein Termin wartete schon viel zu lange.

„Wenn Sie fragen an mich haben zum Unfallgeschehen, rufen Sie in meinem Büro an“, sagte er nur und ging weiter, ohne dass der Mann zu Wort gekommen wäre.

Seto stampfte weiter durch den Schnee.

Seine Laune war am niedrigsten Punkt angekommen. Jetzt hatte er nicht nur keine Fotos vom aktuellen England Turnier, sondern durfte sich auch einen neuen Fotografen suchen! Das auch noch vor den Feiertagen, als wäre da nicht eh schon die Hölle los. Nein, jetzt musste er auch noch Termine finden, um Bewerbungsgespräche zu führen und eine angemessene Bewerbungszeit dazwischen lassen.

Vor Neujahr würde bestimmt kein neuer Fotograf gefunden sein und was das anging, war Seto sehr penibel. Immerhin flogen diese nicht nur zu Turnieren, sondern arbeiteten auch mit den neuesten Produkten, die seine Firma herstellte und brachten diese gut in Szene für Werbeplakate und Werbeblätter und Zeitungen und Zeitschriften.

Daher war es umso wichtiger, dass der Fotograf seine Arbeit verstand, Spaß daran hatte und auch unter Zeitdruck gute Arbeit ablieferte.

Wütend ballte er in der Manteltasche die Hand zur Faust, dabei umschloss er die Visitenkarte.

Seto blieb stehen und zog die Karte heraus. Fotografin stand dort klar und deutlich geschrieben.

Ob er sie fragen sollte, ob sie für ihn abreiten würde?

Es wäre die Chance sich viel Arbeit zu ersparen, aber irgendwas hielt ihn davon ab und er stopfte die Karte zurück in die Tasche.

So verzweifelt war er nicht, dass er einfach so einen fremden Fotografen fragte, ob dieser für ihn arbeiten würde. Er kannte ihre Arbeit auch nicht und die Wahrscheinlichkeit bestand, dass es ihm gar nicht gefiel. Was dann?

Dann hatte er sie gefragt, sie hatte ja gesagt und dann stand er da, wenn ihre Arbeit ihm nicht gefiel. Es wäre unglaublich peinlich, dann zu sagen, sie könne wieder gehen.

Aber sie wäre seine einzige Hoffnung dieses Verfahren zu umgehen.

Seto seufzte auf und bog um die nächste Ecke und lief durch die vollgestopfte Fußgängerpassage.

Er zückte während des Gehens sein Handy heraus und rief Roland an.

„Ja, Herr Kaiba?“, fragte die vertraute Stimme seiner rechten Hand.

„Roland, wie sieht es mit dem Wagen aus?“

„Er ist immer noch in der Werkstatt.“

„Und die anderen Firmenautos?“

„Stehen bereit“, sagte Roland. „Soll ein Wagen Sie abholen?“

„Nein, aber setzen Sie ein fristloses Kündigungsschreiben für Juan auf. Er ist entlassen und soll sofort seine Sachen packen. Dann kümmern Sie sich um eine Anzeige, um so schnell wie möglich Ersatz zu finden.“

„Wird gemacht, Sir.“

Seto seufzte und blieb stehen.

„Roland, sagen Sie auch meinen Termin ab. Ich werde es nicht mehr schaffen heute und die Straße ist noch gesperrt vom Unfall eben.“

„Ist Ihnen etwas passiert, Herr Kaiba?“, fragte er sofort besorgt.

„Nein, aber ich werde noch eine Weile warten müssen, ehe die Straße frei ist und die Polizei ihre Arbeit getan hat.“

Seto war es egal, dass er grade log und sich damit eine Ausrede verschaffte nicht zu dem Termin zu müssen.

„Machen Sie einen neuen Termin aus.“

„Wird erledigt, Sir.“

Seto legte wortlos auf und strich sich ein paar nasse Haarsträhnen zur Seite. So unwohl hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt und es war auch nicht seine Art einfach so einen Termin abzusagen, bei dem ein Vertragsabschluss auf dem Spiel stand. Aber heute fühlte er sich alles andere als dazu in der Lage charismatisch und überzeugend zu sein. Im Gegenteil.

Etwas genervt fuhr er sich über die Nasenwurzel und sah sich die Innenstadtpassage genauer an.

Aus jedem Schaufenster blinkten ihm bunte Lichter entgegen. In einigen hinge verschiedenen Kränze und Grünzeug mit bunten Kugeln. In einem Fenster stand ein halber Meter hoher Weihnachtsmann und winkte mit dem Arm auf und ab.

Die Klassen der verschiedenen Grundschulen hatten vor verschiedenen Läden Tannenbäume geschmückt mit selbstgebasteltem Baumschmuck.

Danach wurde der Beste Baum ausgelost und die Schule bekam von der Stadt eine kleine Spende.

Der Geruch von frischem Gebäck stieß in seine Nase und sein Blick fiel zu einem Café, das voll besetzt war. Seto lief weiter durch die volle Passage in denen sich kleine Minibuden aneinander reihten.

Die Geschäfte winkten mit Weihnachtsrabatten und Angeboten. Ein Blick in das Geschäft genügte schon, um zu wissen, wie voll es doch wahr.

So sehr Seto diese Zeit auch hasste, musste er zugeben, dass auch seine Firma sich zu dieser Jahreszeit dumm und dämlich verdiente an den Produkten, die die Eltern und Großeltern den Kindern kaufte.

Diese Jahreszeit machte fast den Großteil des Jahresumsatzes aus, weshalb es umso wichtiger war, grade jetzt noch mal mit einer guten Werbekampagne um die Ecke zu kommen und das neue Produkt anzupreisen.

Dazu brauchte er aber einen Fotografen.

Die anderen beiden, die sein Team ausmachten, waren zum einen im Krankenhaus durch einen Skiunfall im Urlaub und der andere Fotograf in Italien, um die Neueröffnung eines neuen Kaiba Lands zu dokumentieren.

Umso wichtiger war es doch jetzt schnellen Ersatz zu bekommen.

Wieder fiel ihm das kleine Stück Papier in seiner Tasche ein, diesmal nahm er es und warf es in den Papiereimer.

Er würde es auch so schaffen und brauchte nicht betteln, dass jemand für ihn arbeitete.

Grummelnd stiefelte er weiter und sah sich aber gleichzeitig schon mal nach einem passenden Geschenk für Mokuba um, wenn er schon mal Zeit hatte und in der Innenstadt war.

Aber bevor er sich in das wilde Getümmeln stürzen würde, bräuchte er erstmal einen Kaffee.

Doch leider war sein Lieblingskaffeeshop nicht in Sichtweite und einen dieser billigen Coffee to go würde er nicht anrühren. Also musste es ohne gehen.

Er ging weiter und besah sich ein Spielwarengeschäft.

Mokuba hatte unzählige Spiele. Alles das Neueste vom Neuesten, was es auf dem Markt gab.

Nein, das würde ihn nicht beeindrucken. Es sollte auch etwas persönliches sein.

Seto wusste, wie viel es ihm bedeutete. Besonders auch deswegen, weil sein Stiefvater nie mit ihnen gefeiert hatte. Es hatte keine Deko gegeben, keine Geschenke und auch keine heiße Schokolade oder Plätzchen. All das hatte Mokuba erst wieder eingeführt.

Seto ging weiter und sein Blick blieb an einem Juwelier hängen, der einige schöne Schmuckstücke in der Auslage hatte.

Ein kleines Schild machte Werbung für den Schmuck. „Schmuck, in den auch sie sich verlieben wird.“

Seto schnaubte nur abfällig. Welche Frau ließ sich noch mit Silberschmuck beeindrucken?

Sein Blick fiel auf eine feine Kette mit einem blauen Stein als Anhänger. Nachdenklich runzelte er die Stirn und hinter seiner Stirn begann es zu arbeiten.

So eine ähnliche Kette hatte seine Mutter damals getragen, ehe sie ums Leben gekommen war. Mokuba hatte früher oft gesagt, dass er sie vermisste.

Entschlossen betrat er das Geschäft und sofort kam ihm ein Mann in Nadelstreifenanzug auf ihn zu.

„Ich hätte gern die Silberkette mit dem blauen Stein“, sagte er und sein Blick fiel auf einen silbernen Fotorahmen. In seinem Kopf entstand eine Idee. Dazu müsste er sich nur in das Studio quälen, in dem diese Kuzuki arbeitete und sie nach dem Foto vom Weihnachtsmarkt fragen. Auch wenn es ihm total zuwider war, sie wieder zu treffen. Vielleicht konnte er die Arbeit auch seiner Sekretärin aufdrücken.

„Dazu diesen Fotorahmen“, fuhr er fort und ließ sich nichts von seinen Gedanken anmerken.

Der Mann tat wie ihm geheißen und holte beides hinter den verschlossenen Glastresen heraus.

„Soll ich sie als Geschenk verpacken?“, fragte der Mann und hielt die Kette zwischen den Fingern.

„Ja, in Ordnung“, sagte Seto ungehalten und merkte, wie warm ihm langsam im Mantel wurde. Ein Schweißtropfen lief seinen Rücken hinunter und es fühlte sich unerträglich warm in diesem Geschäft an. Aber er wusste, gleich draußen würde er sich kurz angenehm anfühlen und dann würde er wieder frieren.

„Wunderbar“, sagte er und holte eine kleine Schachtel heraus, in die er vorsichtig die Kette legte. Dann band er eine goldene Schleife darum.

Doch anstatt, dass der Mann fertig war und er den Rahmen noch einpackte, zog er eine Tüte heraus.

„Lassen Sie das. Ich stecke es so in meinen Koffer.“

„Aber ich bin noch nicht fertig“, sagte er und öffnete eine Schublade.

Seto zog eine Augenbraue hoch und beobachtete, wie er eine silberne Kelle heraus holte und ein paar getrocknete Rosenknospen und Rosenblätter den Weg in die Tüte fanden.

Etwas verwirrt sah er den Mann an und öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er gebot ihm zu schweigen.

„Nur einen Moment, Sir“, sagte er und warf ein paar Tannenzweige mit Kunstschnee hinein. Dann hielt er eine braune Stange in der Hand.

„Was ist das?“, fragte Seto schockiert.

„Das ist eine Zimtstange, Sir.“

Setos Augenbraue wanderte weiter nach oben. Was hatte der Mann vor? Dachte er wirklich, sie war für seine Freundin oder Geliebte, Frau oder Schwarm?

Konnte er ihn nicht vorher fragen?

„Sie brauchen nicht…“, fing er erneut an, doch der Verkäufer unterbrach ihn erneut.

So viel Übereifer für ein Geschenk konnte doch nicht wahr sein.

„Oh es dauert nur einen Moment, Sir.“ Der Mann nahm erneut etwas von der goldenen Schleife und verschloss die Tüte mit der Zimtstange damit. „Sie werden es nicht bereuen.“

Seto hob die Augenbraue und verschränkte die Arme.

„Das alles ist nicht nötig“, sagte er erneut, doch der Mann war viel zu sehr damit beschäftigt es für eine indirekte Liebesbotschaft zu verpacken. Leise summte er vor sich hin.

„So gut wie fertig“, sagte der Verkäufer.

„So gut wie?“, fragte er leicht säuerlich, „Was soll denn noch kommen? Joghurtglasur? Schokosträusel? Zuckerperlen?“

„Oh nein, nur ein Karton und etwas Stechpalme.“

„Lassen Sie den Karton weg und wehe Sie nehmen die Stechpalme!“ Er winkte mit der Hand den roten Karton fort. Das war ja gut und schön der Service, aber doch etwas übertrieben. Erst recht, wenn er sich die Tüte betrachtete. Er hatte nicht vor seinem Bruder einen Antrag zu machen. „Nehmen Sie auch die Schachtel aus der Tüte! Das ist ja viel zu viel!“

Der Mann wirkte etwas enttäuscht, tat aber wie ihm geheißen wurde.

„Packen Sie nur noch den Rahmen gut ein. Dann möchte ich bezahlen.“ Nun führte er wieder das Gespräch und bekam auch somit das, was er wollte. Nicht irgendwelchen schnulzigen Schnickschnack. So viel Übereifer hatte er schon Ewig nicht mehr gesehen.

Als der Verkäufer fertig war, ging er hinaus in die kühle Luft und sofort fror er wieder. Die Schweißtropfen verstärkten das Gefühl der Kälte noch mehr.

Jetzt musste er nur noch das Studio finden und die Fotografin nach dem Foto fragen. Wenn sie es nicht mehr hatte, müsste er sich etwas überlegen, wie er an das Foto kam.

Er ging die Passage weiter entlang und wusste, dass das Studio hier in der Nähe war. Kurz entschlossen sah er sich danach um.

Wenn er schon mal da war, konnte er es direkt selbst erledigen, anstatt Roland oder jemand anderen damit zu beauftragen.

Sein Blick fiel auf einen Blondschopf mit Rentiergeweih und roter Nase. Fröhlich gelaunt, verteilte er an die umstehenden Passanten Flyer.

„Bist du jetzt Rudolf mit der roten Nase?“, fragte Kaiba spöttisch. „Nur damit du es weißt, Hunde können nicht fliegen. Da hilft auch keine Verkleidung.“

Der Blondschopf sah auf und sein Blick verfinsterte sich bei Kaibas Anblick.

„Ich weiß, was gleich auf dich fliegen wird, du reicher Pinkel!“

„Hoffentlich keiner dieser Flyer. Die hat mir Kuzuki schon in die Hand gedrückt“, sagte er abfällig und rümpfte die Nase, „Aber wenn ich du wäre, wäre ich vorsichtig. Ich kann dich schneller aus diesem mickrigen Job fliegen lassen, als dir lieb wäre.“

„Das lässt sie sowieso nicht zu!“

Skeptisch hob Seto eine Augenbraue.

„Kennst du Kuzuki schon so gut, dass sie ein Wörtchen beim Chef für dich einlegen würde?"

„Ich kann schon vom ersten Blick behaupten, dass sie kein Arschloch wie du ist. Außerdem scheint sie keine Angst vor dir zu haben.“ Er streckte ihm demonstrativ die Zunge raus, dem Seto nur einen gelangweilten Blick schenkte.

„Was hat Angst damit zu tun, dass ich dich jederzeit kündigen lassen kann, Wheeler?“

„Als ob. So viel Macht hast du nicht Kaiba, auch wenn du das gerne hättest“, fuhr Wheeler fort und schien tatsächlich keine Angst zu haben, dass er ihn feuern lassen konnte. „Und das mit der Angst...sie wird sich von dir nicht beeinflussen lassen!“

Wenn Wheeler wüsste. Jeder Mensch hatte seinen Preis. Auch der Chef von Kuzuki, was man daran sah, das seine Mitarbeiterinnen halbnackt im Schnee herum liefen, um Kunden anzulocken.

„Wer sagt, dass ich sie beeinflussen will?“

„Da-das...also…Also, wenn du schon versuchst mich bei ihr schlecht zu reden, dann beeinflusst du sie und bringst sie dadurch mich zu feuern. Aber soweit kommt‘s nicht!“

„Wer sagt, dass ich Kuzuki dazu brauche? Ich rede einfach direkt mit ihrem Chef.“

„Sag mal, Kaiba, ist dein Leben so langweilig, dass du deine Zeit damit verschwendest mich bei anderen Leuten anzuschwärzen? Anscheinend hat Yugis Sieg dich noch verbitterter gemacht als du warst.“

Seto schnaubte nur und ging nicht darauf ein.

„Nur wenn du mich mit den Flyern bewirfst, Wheeler.“ Sein Blick blieb auf dem Papier hängen, eher er wieder den Blondschopf ansah. „Aber wo wir grade beim Thema deines Jobs sind. Ist Kuzuki im Laden?“

„Wieso fragst du mich das?“ Er zuckte mit den Schultern und gab einem Familienvater einen Flyer in die Hand. „Aber bevor du mir jetzt wieder deinen eiskalten Blick zu wirfst...Ja sie ist da.“

Seto verdrehte die Augen. „Weil du zufällig für den selben Laden arbeitest, wie sie, Wheeler.“

Damit ging er und ließ Wheeler alias das Rentier Rudolf wieder alleine und begab sich in Richtung des Ladens, der gar nicht weit weg war von der Stelle, wo Joey die Flyer verteilte.

Als er dort ankam, war das Studio gut besucht und die Theke war einladend und freundlich. Ein kleiner Tannenbaum stand neben dem Computer und ein Adventskranz stand auf dem Tisch, in dem die Kunden warteten.

Die Frau am Empfangstresen lächelte ihn an.

„Ist Kuzuki da?“, fragte er kühl und sachlich ohne auf ihr „Guten Tag“ zu erwidern.

„Nein, tut mir leid. Sie hat vor zwei oder drei Stunden einen Auftrag bekommen“, sagte sie und ihre Augen bekamen ein träumerisches Funkeln. Ihre Stimme schien sich grade zu vor Ekstase zu überschlagen, als sie ihm die brandheißen News erzählte. „Es war ein sehr privater Auftrag von einem reichen Kunden und sie wurde für den Rest des Tages gebucht.“

Daher kam also ihr träumerisches Funkeln. Es war das Geld, was der oder die Kunden hinterlassen hatten.

„Wann ist sie wieder im Laden?“

„Laut ihrem Terminkalender erst übermorgen wieder. Morgen finden Sie sie auf dem Weihnachtsmarkt“, sagte die Frau mit einem Lächeln und zupfte sich eine Strähne zurück in die Stechpalmenspange.

Was hatte Wheeler ihm denn da nur erzählt?

„Möchten Sie einen Gutschein für unseren Stand dort?“, fragte sie und zog aus einem Ständer einen Flyer heraus.

Kaiba winkte ab. „Danke, aber Kuzuki hat ihn mir schon gegeben.“

„Oder kann einer unserer anderen Fotografen Ihnen weiter helfen?“, fragte sie und lächelte, als hätte sie ein großes Stück Schokokuchen vor sich.

„Nein, ich brauche Kuzuki“, sagte er mürrisch, „Was für ein Kunde war das und wo finde ich sie?“

„Tut mir leid, das darf ich nicht sagen. Unser Kunde hat großen Wert auf Diskretion gelegt. Außerdem darf ich keine Daten einfach so heraus geben.“

„Natürlich nicht“, brummte er und überlegte, wie viel es ihn wohl kosten würde bis die Frau mit der Sprache raus rückte. Aber so verzweifelt war er noch nicht.

Etwas unzufrieden mit dem Ergebnis verließ er wieder den Laden. Grummelnd macht er sich auf den Rückweg durch die Passage. Hoffentlich war es noch nicht zu spät und sie hatte die Fotos gelöscht. Er musste wissen, wo sie war und sie danach fragen.

Nun bereute er es, dass er ihre Karte so leichtfertig weg geworfen hatte. Dort hatte ihre Dienstnummer mit drauf gestanden.

„Wheeler, was hast du mir mit deinem Spatzenhirn da erzählt? Sie ist nicht im Laden. Seit drei Stunden nicht mehr!“, fauchte Kaiba ihn an, als er wieder an dem Rentier vorbei lief.

„Tja. Dann hast du eben Pech gehabt. Als ich nämlich hineingeschaut hab, war sie noch da.“

„Weißt du, wo sie hin ist?"

„Selbst wenn, warum sollte ich dir das sagen?“

„Weil es wichtig wäre, Rudolf.“

„Na gut. Da dir nur sehr wenige Menschen wichtig sind...“, seufzte Joey resigniert, „Ich weiß es wirklich nicht. Vorhin war sie noch im Laden.“

„Danke, Wheeler, für nichts. Du bist mal wieder so unproduktiv!“, fuhr Seto ihn an. Das hätte er sich auch sparen können und stattdessen im Mülleimer nach der Karte gucken können. Das wäre vermutlich sogar erfolgreicher gewesen, als Wheelers Antwort. „Im Übrigen, Sie ist mir nicht wichtig. Nur das, was zu erledigen wäre für mich.“

Irgendwie wollte er klar stellen, dass da nichts war, weshalb sie ihm als Mensch wichtig wäre.

„Wenn du meinst…“, sagte Wheeler gelangweilt und schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Er drückte einer Mädchengruppe mehrere Flyer in die Hand, ehe sie weiter gingen, schenkte ihnen sogar ein fröhliches Lächeln.

„Was soll der Schwachsinn denn bedeuten, Wheeler? Hat der Schnee dir dein Hirn schock gefrostet?“, entfuhr es ihm spöttisch.

Joey lachte trocken. „Da schein ich ja jemanden auf dem falschen Fuß erwischt zu haben oder?“

Fragend hob Seto die Augenbraue.

„Ich finde es nur ganz amüsant wie du gleich so aggressiv reagiert hast.“

„Das nennst du aggressiv? Ich wüsste nicht, wieso ich aggressiv sein sollte. Dein Anblick erweckt eher Mitleid.“

„So wie du mich die ganze Zeit beleidigst?“

„Du bist eben eine reine Beleidigung!“

„Sag mal. Küsst du eigentlich deinen Bruder mit diesem Mund?

„WAS?!“, entfuhr es ihm entsetzt.

Wheeler lachte. „Der Dumme sagt was?“

Völlig unbeeindruckt sag Seto ihn an. Versuchte er ihn zu verarschen? Wenn ja, hatte er sich den Falschen ausgesucht.

„Naja. Spaß beiseite. Jetzt sieh mich nicht wie ein Auto an.“

Seto versuchte seine ausdruckslose Miene wieder zu bekommen, die ihm kurzzeitig entglitten war.

„Ich sehe dich bestimmt nicht wie ein Auto an, Wheeler. Und wenn ich eins wäre, wärst du der erste, den ich überfahre“, gab er kühl zurück.

„Oh doch. Du hast mich angesehen wie'n alter VW Bus“, sagte er triumphierend, „Wenn du mich überfährst, dann komme ich als verfluchter Geist wieder und mach dir das Leben im Knast zur Hölle. Dann wärst du mich nie wieder los!“

„Das werde ich jetzt schon nicht.“

„Tja. Da siehst du mal was für ein Glück du mit mir hast!“

Seto zog eine Augenbraue hoch. „Wenn ich Kuzuki jetzt noch erwische, nenn ich das Glück. Aber dich zu sehen, ist wie eine Woche Höllenaufenthalt.“

„Wenigstens wird den Leuten bei meinem Anblick warm ums Herz. Sich bei dir aufzuhalten ist wie eine Woche Aufenthalt in einer Gummizelle.“

„Mehr hast du nicht auf Lager?“ Ihm entfuhr ein kaltes, abfälliges Lachen, während das Möchte-gern-Rentier vor ihm nur leise grummelte. „Wusste ich es doch. Große klappe aber nichts dahinter!“

Damit verließ Kaiba die Passage und kehrte zur Hauptstraße zurück.

Es schneite immer noch und sogar kräftiger als vorhin. Auf der Straße lag eine dünne Schneedecke. Hin und wieder drohte Seto sogar auszurutschen, doch er schaffte es seine perfekte Haltung zu bewahren und sich nicht auf den Hintern zu legen, wie das Kind vor ihm.

Während er zur nächsten Kreuzung lief und sich unter ein Vordach stellte, zückte er sein Handy und rief Roland an, dass er ihn mit dem Wagen abholen sollte.

Während er wartete, überlegte er, ob er nicht schnell zurück gehen sollte, um sich eine Visitenkarte aus dem Studio zu holen, doch dann müsste er wieder an Wheeler vorbei.

Seto schüttelte den Kopf. Auf ein weiteres Streitgespräch mit diesem Idioten würde dankend verzichten können.

Er musste nicht lange warten bis sein Ersatzwagen am Straßenrand hielt.

Schnell stieg Kaiba ein und der Wagen fuhr direkt los. Dem Fahrer gab er die Anweisung zur Villa zu fahren.

Ein leises Seufzen entfuhr ihm, als seine Finger langsam auftauten. Die Handschuhe verstaute er in seiner Manteltasche. Langsam wickelte er sich den Schal ab und öffnete ein wenig den Mantel, der durch den Schnee total nass war.

Er lehnte sich in das Lederpolster zurück und beobachtete, wie die Menschen geschäftig die Straße entlang liefen, während sein Fahrer vorsichtig und in einem gefühlten Schneckentempo die Kreuzung passierte.

Vielleicht wäre er mit Laufen doch schneller gewesen, aber wenn er sich die dichten Schneeflocken ansah, war er froh hier im wagen zu sitzen.

Hoffentlich war Kuzuki im warmen. Immerhin brauchte er sie noch und sie durfte nicht krank werden! Immerhin hing Mokubas Geschenk davon ab.

Unruhig stützte er sich am Fenster ab und sah hinaus.

Welcher reiche Kunde konnte sie gebucht haben? Spontan fielen ihm mehrere Geschäftskunden von ihm ein, die hier in Domino waren und die auf die Beschreibung passen würden. Aber von denen wusste er auch, dass sie kein Projekt hatten, was mit einem Fotografen zu tun hatte oder sie waren grade im Ausland.

Nein, keiner, den er kannte, würde obendrein ein normales Studio für die normalen Leute nutzen. Oder?

Unruhig trommelte er mit den Fingern auf der Tür herum.

Alles was er wollte, war nur zurück in seine Villa zu kommen und sich in sein Arbeitszimmer zu verkriechen. Vorher würde er aber Mokubas Geschenk verstecken.

Sein kleiner Bruder hatte einen sechsten Sinn, wenn es um Geschenke ging. Egal, ob Geburtstag oder Weihnachten. Sobald ein Päckchen im Hause war, setzte automatisch eine Art Geruchssinn oder Antenne ein, die ihn dazu veranlasste zu schnüffeln und zu suchen. Man könnte meinen, sein Bruder sei ein Drogenspürhund.

Am besten wäre die verschlossene Schublade in seinem Arbeitszimmer oder vielleicht doch der unterirdische Safe in seiner Firma?

Seto überlegte.

Es wäre wohl egal, wo er es verstecken würde. Mokubas Spürsinn würde selbst die dicken Wände des Safes überwinden.

Bei dem Gedanken verzog er ein wenig das Gesicht und ließ sich tiefer ins Polster sinken. Er hätte den Verkäufer fragen sollen, ob er es für ihn aufbewahrte. Dann wäre es einfacher, es geheim zu halten.

Innerlich brummte Seto über sich selbst, dass er daran nicht eher gedacht hatte.

Doch nun war es zu spät und er war fast zu Hause.

Also musste er die Sachen in seinem Koffer irgendwie an ihn vorbei schmuggeln und in Sicherheit bringen.

Als der Wagen die Einfahrt zur Villa hochgefahren war, stieg Seto schnell aus und lief mit zügigen Schritten zur Eingangstür, die ihm von einem Haushälter geöffnet wurde.

Dieser kurze Weg hatte ausgereicht, damit er wieder wie ein halber Schneemann aussah. Kurz schüttelte er sich vor Kälte und trat in den warmen Flur ein.

Der Geruch von warmer, stickiger Heizungsluft schlug ihm entgegen, während sein Rücken noch einen kurzen Luftzug abbekam, ehe die Tür geschlossen wurde.

Da der Wind nun nicht mehr durch den Flur fegte, roch er noch einen anderen Geruch außer der von warmer Luft. Es war ein Gemisch mit Vanille und Zimt.

Es war ein köstlicher und süßer Geruch. Darunter mischte sich auch ein Hauch Schokolade.

Seto schluckte und wusste, sein Bruder hatte das Hausmädchen dazu genötigt Plätzchen zu backen. Die Musik aus der Küche und das Kichern sprach eindeutig dafür.

Sofort zog er seinen Mantel aus und reichte ihn dem Angestellten. Es war Zeit seine Hausangestellten aus dieser Lage zu retten.

Doch ehe es dazu kam, hörte er tapsende Schritte und sein Hund Shadow kam gemütlich auf ihn zu getrottet.

Sein Schwanz wedelte freudig, doch normalerweise war er viel aufgedrehter, wenn er wieder da war, selbst wenn sein Bruder vorher mit ihm ausgiebig im Garten tobte. Seto zog die Augenbraue hoch und folgte Shadow in die Küche, in die er wieder verschwand.

Der Duft von Vanille und Zimt wurde stärker.

Auf der Anrichte stand eine volle Dose Vanillekipferl, die mit feinem Puderzucker überzogen waren. Es wirkte, als wären sie kurz draußen gewesen und hätten die Plätzchen einschneien lassen. Sein Blick fiel auf eine weitere Dose voll mit frischen Kokosmakronen. Eine dritte stand schon bereit in denen sich Sternenplätzchen befanden.

Shadow trottete zu seinem Nampf, schaute das Trockenfutter gelangweilt an und dann mit einem vorwurfsvollen Blick zu ihm, als würde er ihm etwas Leckeres vorenthalten.

Das Kichern seines Bruders erregte seine Aufmerksamkeit.

Auf der Anrichte standen mehrere benutzte Schüsseln mit Teigresten, angefangene Tüten mit Zucker und Mehl, Dekostreusel, Aromen und Stechformen. Die Ablage war voll mit Mehl. Daneben stand ein Blech mit fertig ausgestochenen Sternen drauf.

Ein zweites Stand zum Auskühlen etwas Abseits und ein drittes befand sich im Ofen.

Mokuba sah aus wie ein kleiner Bäcker. Seine Haare hatten einen kleinen Grauton durch das Mehl bekommen. In seinem Gesicht hing etwas Teig und Schokolade an seinem Mundwinkel, während seine Hände tief im Teig steckten und diesen durchkneteten.

„Und was machst du alles in deiner Freizeit?“, fragte er und sah mit leuchtenden Augen zu der Frau.

Setos Augen weiteten sich, als er Kuzuki in seiner Küche sah. Sie strich sich eine blonde Strähne zur Seite. An ihren Händen klebten Mehlreste, die sich auch auf ihrer Kleidung deutlich sichtbare Spuren hinterlassen hatten.

„Oh ganz unterschiedlich“, sagte sie auf die Frage seines Bruders hin du rührte etwas in einem Topf um. „Musik hören, Horrorfilme gucken, fotografieren…“

„Du fotografierst auf Arbeit und in deiner Freizeit?“

Sie nickte und leckte etwas Schokolade von ihrem Finger. „Was macht der Boden?“

Kuzuki ging zum Waschbecken und wusch sich die Finger sauber, während Mokuba zum Kühlschrank lief und eine Springform heraus zog.

„Ist fertig!“, sagte er freudig.

Zufrieden nickte die Fotografin.

„Gut, dann kannst du das Blech mit fertigen Plätzchen mit Schokolade überziehen. Ich mache die Creme fertig. Aber nicht naschen!“

Es klang süß, klebrig und doch irgendwie lecker, was die zwei hier fabrizierten und Seto lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete das Treiben interessiert.

Mokuba schien unglaublich viel Spaß zu haben und so ausgelassen hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen.

Kuzuki nahm etwas Sahne und schlug sie auf, während sie eine dicke Creme anrührte und die Sahne unterhob.

Wieso war er nicht auf Mokuba gekommen und dass er der geheimnisvolle reiche Kunde war, der sie gebucht hatte? Immerhin hatte er sie ja auch gebeten Kekse zu backen.

„Seto, da bist du ja schon!“, entfuhr er es dem Kleinen, als er ihn entdeckte und das nächste Blech aus dem Ofen nahm. „Wieso bist du schon zu Hause?“

„Ich kann auch wieder ins Büro gehen“, antwortete er und strich Mokuba über den Kopf. Eine feine Schicht Mehl fiel heraus.

„Nein, es ist toll!“ Mokuba zog ihn in die Küche und bugsierte ihn auf einen Stuhl.

„Hi“, sagte Kuzuki etwas leise und füllte die Masse in die Form ab.

Seto begrüßte sie nur mit einem Nicken und ihre lockere Haltung schien verschwunden. Sie wirkte mit einem Mal etwas angespannt und versteift.

Sobald Seto saß, hielt Mokuba ihm eine Box entgegen.

„Probier mal!“, rief er freudig, „Die haben Naomie und ich gemacht!“

„Mokuba, ich hätte erstmal gerne einen Tee oder Kaffee“, sagte er und schob die Dose mit den frischen Plätzchen von sich. Ein feiner Geruch von Zimt war ihm in die Nase gestiegen.

„Probier doch mal, bitte!“, flehte Mokuba und nahm für ihn einen Keks heraus. Er ließ ihn vor ihm liegen, während er zurück zur Anrichte ging und weiter Glasur verteilte.

Seto beobachtete, wie die Fotografin mit der Masse vorsichtig zum Kühlschrank ging und die Form hinein schob. Mit der Hüfte warf sie die Tür zu.

„Ich hoffe, ihr räumt das wieder auf?“, sagte er und musterte dabei seinen Bruder. Er wollte sich ungern die Klagen des Küchenpersonals anhören.

„Ja“, antwortete er nur gedehnt, während Kuzuki leise kicherte.

„Klar, machen wir“, sagte sie bestätigend und klang dabei vertrauenswürdiger als sein Bruder.

Sie ging zu einem Schrank, fast wie selbstverständlich, und nahm eine Tasse heraus, fühlte sie mit heißem Wasser und stellte sie vor ihm hin. Dann hielt sie ihm die Teebox unter die Nase. Seto zog sich einen weißen Tee heraus.

„Danke“, sagte er kühl und sie nickte.

„Was machen Sie hier?“, fragte er und gab zwei Löffel Zucker dazu.

„Ihr Bruder ist heute im Laden aufgetaucht und hat mich den ganzen Tag gebucht. Ich dachte auch zuerst an einen Fotojob, aber er bat mich mit ihm Plätzchen zu backen“, sagte sie und sah kurz zu Mokuba, ehe sie fortfuhr. „Er ist ganz schön gewieft.“

Sie grinste und nahm sich einen Vanillekipferl. Schnell war er in ihrem Mund verschwunden.

Seto brummte nur und rührte den Tee ins einer Tasse um. Ihre Kleidung sah aus, als hätte sie sich in Mehl gewälzt. Etwas Sahne klebte an ihrem braunen Pullover.

Als sie sich umdrehte sah er, dass sogar auf ihrem Hintern Mehl klebte. Sie knetete den Teig in der Schüssel weiter durch. So wie sie den Teig bearbeitete, könnte man meinen, es wäre ein Boxsack und Seto wollte nicht mit diesem tauschen.

„Was wollt ihr denn noch alles machen?“, fragte er und stützte sich auf den Ellenbogen. Interessiert sah er Kuzuki an.

Sie wandte sich von dem Teig ab, den Mokuba bei seiner Ankunft geknetet hatte.

Reste klebten an ihren Händen und mit einem sauberen Finger, strich sie sich wieder eine Strähne zur Seite.

„Puh….das müssen Sie Mokuba fragen. Er hat hier die Plätzchenpläne. Ich setze es nur mit ihm um“, sagte sie und warf den Klumpen Teig auf die Ablage.

Seto sah zu Mokuba, der sich grade ein frisch glasiertes Plätzchen in den Mund schob.

Unschuldig, als wäre da keine große Beule in seiner Backe zu sehen, sah er ihn an.

„Mokuba?“

„Ja?“, kam es aus dem vollen Mund.

„Was willst du denn noch alles backen? Wir könnten die halbe Stadt versorgen mit den vielen Plätzchen.“

„Ich wollte einige Yugi und den anderen schenken und Roland soll auch was kriegen. Dann natürlich für dich und mich.“

Kaiba zog eine Augenbraue hoch. Er wusste nicht, was ihm besser gefiel. Dass Mokuba einiges verschenken wollte oder ob er es ihm verbieten sollte und die Ration dann eher für den Kleinen war.

Nein, ein bisschen Sorge musste er ja schon tragen, dass er nicht zu viele Süßigkeiten in sich hinein stopfte. Weshalb er nur nickte.

„Also Ihr Bruder bat mich noch Quarkbällchen zu machen“, sagte Kuzuki und bereitete das nächste Blech vor. „Ansonsten sind wir soweit durch. Die Makronen sind fertig, die Torte auch, die Plätzchen werden auch langsam…“

„Hätten Sie nicht vielleicht eher Konditor werden sollen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich könnte es nicht den ganzen Tag. Das bisschen reicht schon.“

„Aber du kannst es echt gut“, warf Mokuba dazwischen.

„Übung“, war ihre Antwort darauf und sie sah zu Seto. Ihre Haare lösten sich langsam aus dem Zopf. „Wieso backen Sie nicht mit ihm?“

Seto schwieg und trank einen Schluck vom heißen Tee.

„Weil Seto nicht backen kann“, kicherte sein kleiner Bruder und Seto warf ihm einen warnenden Blick zu, den er aber gekonnt ignorierte. Fröhlich plapperte er weiter. „Seto kann überhaupt nicht backen. Das brennt ihm immer an oder schmeckt miserabel.“

„Mokuba…“, sagte Kaiba warnend und mied es Kuzuki anzusehen. Aus irgendeinem Grund war es ihm unangenehm.

Als er aufsah, kicherte sie. Doch es war kein herablassendes oder auslachendes Kichern, sondern es klang amüsiert.

„Und was können Sie so gar nicht?“, fragte er stattdessen abweisend.

„Mathe, Politik….Sport…“, zählte sie auf, „Nähen, Häkeln, Stricken…“

Sie war also auch nicht perfekt!

„Ich glaube, ich habe damals auf dem Schwebebarren total witzig und ungelenk ausgesehen.“ Sie schüttelte den Kopf und wechselte das nächste Blech aus, wandte sich der Glasur zu und bestrich die Sterne mit Schokolade. „Und wenn ich an mein altes Nähprojekt denke….Wir mussten einen Stoffvogel nähen aus Filz. Meiner sah aus, als müsste er gleich von seinem Leid erlöst werden und wäre bei lebendigem Leibe gerupft worden.“

Seto konnte es nicht nur lebhaft vorstellen.

„Aber man muss nicht alles können“, beendete sie ihre Erzählung und fuhr mit der Zunge über ihren kleine Finger, um die Schokolade abzukriegen.

Er brummte. Eine Einstellung, die er weniger teilte. Immerhin wurde er dazu erzogen, dass man alles perfekt können musste und dass er so etwas wie backen nicht konnte, sah er schon als riesen Fehler für sich an.

„Du, Naomie, willst du noch zum Abendessen bleiben?“, fragte Mokuba freudig und sah nach draußen. „Ich glaube, den Bus kannst du knicken und Roland kann dich ja später Heim fahren.“

Seto sah seinen Bruder schockiert an und es lag ihm schon ein „Nein“ auf den Lippen, doch Kuzuki war schneller.

„Ich kann auch laufen. Außerdem will ich nicht länger als nötig hier sein.“

„Gefällt es dir hier nicht?“, fragte Mokuba mit Rehaugenblick.

„Doch, aber ich mag es nicht mich irgendwo halb einzuquartieren und außerdem hast du mich nur gebucht.“

„Dann bleib eben als mein Gast!“

Kuzuki seufzte und auch Seto entfuhr ein Seufzen.

„Außerdem schau mal wie sehr es schneit. So kannst du nicht laufen! Du kommst als Schneemann wieder bei dir an! Roland kann dich fahren.“

„Na schön. Wenn dein Bruder nichts dagegen hat?“ Fragend sah sie ihn an.

„Macht was ihr wollt. Ich geh nach oben in mein Arbeitszimmer“, sagte er und erhob sich langsam.

Solange Mokuba beschäftigt war, hatte er eine gute Chance das Geschenk zu verstecken.

„Dann nehmen Sie das hier mit“, sagte die Fotografin und drückte ihm einen kleinen Teller mit den gebackenen Leckereien in die Hand.

„Als kleine Nervennahrung“, sagte sie grinsend.

Eigentlich war er kein Freund davon und würde bestimmt nichts davon essen, aber er nahm ihn trotzdem wortlos mit.

„Shadow“, sagte er und wollte seinen Hund aus der Verführungszone heraus bekommen. Doch dieser sah aus seiner Ecke auf und rollte sich wieder zusammen.

Gut dann nicht.

Also ließ er die drei wieder alleine und ging nach oben.

Ihm fielen die Worte vom Köter ein, dass sie keine Angst vor ihm zu haben schien und Seto sah auf die Plätzchen, die eine feine Zimtnote verströmten.

Sie hatte ihm diesen Teller in die Hand gegeben ohne zu zögern und sich auch nicht stören lassen, als in die Küche gekommen war, während selbst sein Koch nach jahrelanger Arbeit bei ihm immer noch zusammen zuckte, wenn er in der Nähe war. Als würde er ihn jeden Moment zusammen stauchen und in hohem Bogen aus seiner Küche werfen.

Offensichtlich hatte Wheeler Recht. Sie hatte alles andere als Angst vor ihm und das war faszinierend.

Türchen 5 - Weihnachtsbriefe

Durch die Lücke des Rollos fiel warmes Sonnenlicht durch das Fenster und genau auf die Ecke seines Schreibtisches. Die warmen Strahlen erhitzten den Raum ein wenig, so dass die Heizung schon fast wieder überflüssig war und das Fenster erneut offen war. Ein frischer, kühler Wind wehte herein und die stickige abgestandene Luft konnte entweichen.

Für einen Dezembertag war es recht mild und der frische Schnee von der Nacht und den letzten Tagen schmolzen langsam vor sich hin. Die Wintersonne war nicht zu unterschätzen in ihrer Wärme. Aus diesem Grund war auch das Rollo herunter gezogen, aber auch aus dem Grund, dass die Strahlen seinen Rücken erwärmten und genau auf den Bildschirm seines Laptops fiel, was das Arbeiten hinderlich machte.

Dieses bisschen Licht, was sich in sein Büro geschmuggelt hatte, wirkte im Büro von Seto Kaiba so Fehl am Platz, wie die kleine Schneekugel, die Mokuba auf seinen Tisch gestellt hatte oder ebenso fehl am Platz wie die Tannengirlande mit den gelben Lichtern und bunten Kugeln, die sich wie ein Rahmen um die äußere Kante seines Tisches windete.

Auch hier in seiner Firma hatte der kleine Wichtelelf in Form seines Bruders keinen Halt gefunden. Zusammen mit Roland, der Praktikantin und seiner Sekretärin, mit denen er sich verbündet hatte, hatten die vier die Firma unsicher gemacht.

In jeder Etage gab es mindestens einen Mistelzweig und in der Eingangshalle stand ein bunt geschmückter Tannenbaum mit weißen und bunten Lichtern. Am Empfangsschalter hing eine lange Tannengirlande und auf der Theke stand ein Adventskranz mit vier Kerzen, die die Empfangsdame auch pünktlich nach den Sonntagen anzündete und den morgen über brennen ließ, solange es noch ein wenig Dunkel war.

Über der Tür zu seinem Büro hing ein großer Kranz mit roter Schleife und auf jedem Tisch im Büro stand ein Weihnachtsstern.

Selbst der Konferenzraum war nicht verschont geblieben und Mokuba hatte ihm einen weihnachtlichen Anstrich verpasst. Neben dem obligatorischen Weihnachtsstern lagen dort auch ein paar Christbaumkugeln in Grün, Rot und Silber. Alles ordentlich verteilt mit dem künstlichen Tannengrün. Dazu lagen hier und da ein paar getrocknete Orangenschalen, Zimtstangen und Anissterne, sowie Tannenzapfen.

Allein aus diesem Grund scheute Seto im Moment Termine bei sich in der Firma. Er wollte nicht, dass seine Geschäftspartner dachten, er wäre ein Weihnachtsfreak.

Auch, wenn es niedlich war, wie Mokuba sich Mühe gegeben hatte, so war es in seinen Augen zu viel des Guten.

Die großen Panoramafenster ab der vierten Etage hatte sein Bruder zum Glück verschont.

Lediglich die ersten hatten die volle Breitseite an Weihnachtsfeeling abbekommen.

Seto wusste noch nicht wie er es angestellt hatte und wann, aber sein Bruder hatte es geschafft, dass der Eingangsbereich draußen und die ersten beiden Etagen mit Lichterketten geschmückt waren, so dass es wirkte, als wären dort große Eiszapfen zu sehen. Man hätte meinen können Mokuba dachte dabei direkt an ihn und wollte gleich zeigen, wem das Gebäude gehörte. Doch soweit dachte sein kleiner Bruder sicherlich nicht.

Aber Seto beschwerte sich nicht über die Lichtereiszapfen. Denn das war nichts im Vergleich zu dem Modegeschäft gegenüber seiner Firma.

Diese hatte es tatsächlich geschafft eine Monsterschleife in Blau an die Außenfassade zu befestigen, so dass die Bürofenster des Geschäftes kaum zu sehen waren, während die knalligen Lichter der Girlande, fast das Grün der Tannenzweige verdeckte.

An Kitsch war das kaum zu übertreffen und sein Gebäude war daher noch relativ glimpflich davon gekommen. Aber vielleicht sollte er Mokuba mal in die Dekorationsabteilung des Geschäfts schicken, damit diese Riesenschleife von seinem Blickfeld verschwand und das Gebäude wenigstens eine halbwegs annehmbare Dekoration bekam.

Der Duft von der frischen Orange mit Nelke stieg ihm in die Nase und ein Seufzer entfuhr dem jungen Firmenchef. Die blauen Augen lösten sich von dem Monitor und er griff zu seiner Kaffeetasse. Nachdenklich schwenkte er die kalt gewordene Flüssigkeit darin. Am Rand hatte sich ein eklig aussehender Rand gebildet.

Müde rieb er sich über die Augen und stürzte den kalten Kaffee in einem Zug hinunter. Bitter lag der Geschmack des Kaffeesatzes auf seiner Zunge und ein Schwall purer Zucker lief mit in seinen Mund. Angewidert verzog Seto das Gesicht und stellte die Tasse zur Seite.

Gedankenverloren griff er zu dem kleinen Teller, den ihm sein Bruder vor wenigen Stunden dort hingestellt hatte. Von jeder Nascherei, die er gestern mit Kuzuki gebacken hatte, lag etwas auf dem Teller.

Er nahm sich ein Zimtplätzchen und biss davon ab. Der feine Hauch der Zimtnote stieg ihm in die Nase, aber es war nicht allzu süß und Seto hatte nicht das Gefühl das Gewürzglas wäre in den Teig gefallen, wie bei anderem Gebäcken zu dieser Jahreszeit.

Der Teig war auch sehr locker und nicht zu trocken.

Eines musste er zugeben, auch wenn es ihm missfallen hatte, dass sein Bruder mit ihr gebacken hatte, sie verstand etwas davon.

Nachdenklich kaute er auf der Süßigkeit herum und tippte etwas in ein Diagramm ein, während seine Hand wieder zu dem Teller wanderte und ein Vanillekipferl griff, der ebenfalls schnell in seinem Mund verschwand.

Eigentlich war er kein Freund von Keksen und dergleichen, doch der Teller stand verführerisch auf seinem Schreibtisch und es war schon wieder einige Stunden her, seitdem er was gegessen hatte. Sein Körper verlangte einfach nach ein wenig Nahrung und das war das Beste, was er grade hatte. Seto war Mokuba sogar ein wenig dankbar für den sonst verschmähten Teller. Er konnte sich nun mit Keksen stärken, während Seto sonst seine Arbeit hätte unterbrechen müssen, um irgendwohin zu gehen, um etwas zu essen. Immerhin war der Tag schon anstrengend genug gewesen und grade lief es sehr gut mit den Tabellen und Diagrammen, die sich auf seinem Laptop drängten.

Der Bildschirm flimmerte als er erneut ein paar Daten und Zahlen eingab, während er wieder zu dem Nachteller griff und diesmal eine Kokosmakrone erwischte.

Langsam biss er hinein, behielt das Gebäck kurz zwischen den Lippen und tippte den Satz ein, der ihm grade im Kopf herum schwirrte, ehe er endgültig davon ab biss.

Es war scheinbar doch keine schlechte Idee seines Bruders gewesen ihm hier eine Nascherei hin zu stellen.

Er löste seinen Blick wieder von dem Gerät und warf einen Blick auf die Verträge und die Notizen, die um ihn herum lagen.

Nachdenklich schloss er die Augen und biss wieder von der Makrone ab, während sich der süße Geschmack von Kokos und ein Hauch Zitrone auf seinen Geschmacksnerven ausbreitete.

Es schmeckte einfach anders. Wenn er das Gebäck seiner Haushälterin mit diesem verglich, war es viel leckerer und er griff zu einem weiteren süßen Stück, während sein Blick auf den Stapel Akten fiel, weiter ging zu der Postmappe und der Mappe mit den Dokumenten, die er unterschreiben musste.

Seine Lust dazu hielt sich in Grenzen.

Brummend wandte er sich von dem Stapel ab und mit einem Gähnen auf den Lippen, drehte er sich mit dem Stuhl zum Fenster.

Seto sah durch die Lücke des Rollos und schloss für einen kurzen Augenblick entspannt die Augen.

Eigentlich würde er sich bei Kuzuki und seinem Bruder bedanken müssen, aber in seinem inneren widerstrebte es ihm ihr ein „Danke“ entgegen zu bringen. Bei Mokuba wäre es noch machbar, aber bei einer Fremden? Niemals.

Kaiba gähnte und lehnte sich etwas tiefer in den Bürostuhl zurück.

Er würde sich am liebsten in sein Bett begeben und schlafen gehen, würde nicht so viel Arbeit auf ihn warten. Die ganze Nacht hatte er durch gearbeitet, aber der Berg wollte nicht weniger werden.

Seto drehte sich wieder herum und seufzte erneut auf.

Hoffentlich war die Fotografin aus seiner Villa endlich verschwunden, wenn er später nach Hause kam. Denn sie musste sich nicht länger als nötig bei ihm aufhalten und sein Gästezimmer blockieren.

Mokuba hatte es gestern Abend geschafft sie bis halb elf aufzuhalten, so dass es dunkel war, kräftig schneite und auch sein Wagen sie nicht mehr sicher nach Hause bringen konnte. Kuzuki hatte zwar gesagt, sie könne auch nach Hause gehen, aber dieses Risiko ging er nicht ein. Nachher passierte ihr was und er durfte ihren Eltern erklären, wieso ihre geliebte Tochter mit gefesselten Füßen im See schwamm.

Daher hatte er sein Einverständnis gegeben, dass sie die Nacht über bleiben durfte.

Während er selbst in seinem Zimmer gearbeitet hatte und Mokuba sie ganz für sich beanspruchte mit dem Backen der vielen Plätzchen und anderen Naschereien. Sie hatte sogar mitgeholfen das Abendessen zu zubereiten und Mokuba hatte sie statt des Dienstmädchens nach oben geschickt, um ihn zu holen.

Nur widerwillig hatte er sich von der Arbeit gelöst und war ins Esszimmer gegangen. Normalerweise schwiegen sie eher beim Essen, aber gestern war Mokuba mehr mit Reden beschäftigt gewesen als mit Essen. Seto hatte sich schon gefragt, ob das ein Kreuzverhör werden sollte, als Mokuba sie ganz dreist gefragt hatte, ob sie einen Freund hatte.

Ihm war fast die Kartoffel im Hals stecken geblieben und der mahnende Blick an seinen Bruder wurde komplett ignoriert.

Kuzuki schien es auch gar nicht gestört zu haben, dass sein Bruder sie so gelöchert hatte.

So hatte Seto mehr als unfreiwillig mitbekommen, dass sie Singel war seit einigen Monaten. Aber damit war es gestern Abend nicht genug gewesen. Sein Bruder hatte ihr offen und breit erzählt, dass er auch nicht vergeben war und das schon seit Jahren.

Seto hatte seitdem ihren Blick peinlich verlegen gemieden und schnell das Essen beendet gehabt, nur um wieder nach oben in sein Arbeitszimmer flüchten zu können.

So viel zum großen und gefürchteten Geschäftsmann.

Aber dafür hatte er sie noch alleine erwischen können, als Mokuba in die Wanne gemusst hatte.

Kuzuki hatte ihm einen Tee und ein paar Plätzchen gebracht als süße Stärkung. Während sie also in seinem Arbeitszimmer gestanden hatte, hatte er sie endlich fragen können, ob sie das Foto vom Weihnachtsmarkt noch hatte. Fast hätte er es nach dem Gespräch beim Abendessen vergessen gehabt, aber als sie sein Zimmer wieder verlassen wollte, fiel es ihm wieder schlagartig ein.

Frech hatte sie ihn angegrinst und ihm die schwammige Antwort gegeben, sie müsse erst nachsehen, ob es sich noch auf ihrer Speicherkarte oder Firmencomputer befand und sie würde sich bei ihm melden, wenn sie es wüsste.

Wieder seufzte er und nahm die Postmappe zur Hand, um sich abzulenken.

Kaiba hasste solche Antworten und mochte es gar nicht, wenn man ihn hinhielt. Immerhin hatte sie ihre Kamera dabei gehabt und hätte dort nachsehen können. Doch ihre Reaktion war, dass sie angeblich eine andere Karte an dem Tag benutzt hätte.

So blieb ihm nichts anders übrig, als darauf zu hoffen, dass sie den heutigen Tag nutzte und direkt seinen Auftrag erfüllte.

Sie hatte wirklich keine Angst vor ihm, genauso wie dieser blonde Straßenköter, doch bei ihr schätzte er das irgendwie, während ihm Wheeler einfach nur auf die Nerven ging.

Seto schlug die Mappe auf und besah sich das erste Dokument, zog es heraus und las es sich durch. Er kritzelte eine Notiz für seine Sekretärin neben dem Poststempel. Dann blätterte er weiter. Die erste Weihnachtskarte eines Geschäftspartners.

Kaiba atmete kurz durch und heftete einen kleinen Zettel an die Karte, dass seine Sekretärin alle weiteren, die noch kommen würden, auf den kleinen Schrank räumen sollte, nachdem er sie gelesen hatte. Falls einer der Geschäftsleute doch mal in sein Büro käme, sollte er sehen, dass er sie nicht einfach in die Ablage P schickte, was er vorzugsweise getan hätte.

Zwischen den Seiten der Mappe war ein wenig Werbung, die er sofort in den Schredder schickte. Nur zwei Briefe behielt er, da er auch grade dabei war die Akte zu bearbeiten.

Dann wandte sich Seto der Dokumentenmappe zu.

Ein paar Verträge lagen darin. Doch als allererstes stach ihm die Kündigung von Juan entgegen.

Nur ungern dachte er daran, dass er ja noch Ersatz für ihn finden müsste und wieder gingen seine Gedanken zu Kuzuki.

Nein, sie würde er nicht fragen! Sie hatte immerhin einen Job und engagieren würde er sie auch nicht für den Übergang bis ins neue Jahr.

Aber wo sonst sollte er auf die schnelle noch einen guten Fotografen bekommen? Er seufzte und fuhr sich durch die Haare.

Was würde er jetzt nicht alles dafür geben, einfach Feierabend zu machen und schlafen zu können.

Die angefangene Präsentation an der er in der vergangenen Nacht gearbeitet hatte, musste auch noch fertig werden.

Ein weiterer Seufzer verließ ihn.

Manchmal wünschte er sich, er wäre ein ganz normaler Schüler und hätte nur die Hausaufgaben zu erledigen. Anschließend könnte er sich entspannen. Aber leider wusste der Jungunternehmer nur zu gut, dass diese Zeit mit der Adoption von Gozaburo Kaiba geendet hatte.

Aber das Seufzen und Träumen half ihm nicht weiter seine Arbeit zu erledigen. Seto zwang seine Gedanken wieder zu der Mappe und setzte schwungvoll eine Unterschrift auf die Kündigung von Juan. Dann blätterte er weiter und bearbeitete die Verträge, die ihm darin vorlagen, sowie weitere Urlaubsanträge der verschiedenen Mitarbeiter in den Abteilungen.

Urlaub war etwas, was Seto schon länger nicht mehr gehabt hatte und wofür er auch keine Zeit hatte. Es gab viel zu viel zu tun. Dieses Jahr würde er Mokuba wieder vertrösten müssen mit einer Winterreise in den Ferien.

Als er mit dieser Mappe ebenfalls fertig war, wandte er sich wieder dem Laptop zu und hämmerte auf die Tasten ein, gab weiteren Zahlen und Kalkulationen ein.

Monoton erklang das Geräusch der Tasten in dem Zimmer, was ihm wieder ein Gähnen entlockte. Selbst der Präsentationstermin für ein anderes Projekt an diesem frühen Morgen, war einschläfernd gewesen und er schallte sich selbst dafür, dass er so ermüdend gewesen war.

Seto war zwar müde, aber nicht dumm und natürlich war ihm aufgefallen, wie wenig ihm die Leute um halb acht in der früh zugehört hatten, was ihn natürlich die Haut gerettet hatte. Ihnen war nicht aufgefallen, wie unmotiviert er von statten gegangen war.

Zum Glück war der Unfall der kleinen Tochter seiner Geschäftspartner seine Rettung gewesen, sonst wäre er bei seiner eigenen Präsentation eingeschlafen.

So ungern man jemanden einen Unfall wünschte, in dem Fall, kam ihm das gerade recht.

Aber auch die anderen Geschäftspartner waren froh gewesen aus dem Raum zu kommen und den Termin auf einen anderen Tag zu verschieben.

Seto wurde nur jäh unterbrochen, als sein Telefon klingelte. Das Geräusch klang unglaublich laut in der Stille des Büros, so dass er sogar kurz zusammen zuckte.

Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, griff er zum Hörer.

„Ja?“, fragte er ungehalten seine Sekretärin. Hatte er ihr nicht angewiesen, dass er nicht gestört werden wollte? Wieso ignorierte sie seine Anweisung. Seto öffnete grade den Mund, um sie zurecht zu weisen, als sie zu sprechen anfing.

„Herr Kaiba, ich habe Frau Kuzuki in der Leitung. Sie möchte mit Ihnen sprechen. Sie sagt, Sie erwarten Ihren Anruf.“ Sie wartete auf seine Reaktion.

„Stellen Sie durch“, sagte er nach kurzem zögern.

Kurz war ein Knacken in der Leitung zu hören, als sie auflegte und Kuzuki aus der Warteschleife geholt wurde.

„Kaiba Corporation, Kaiba“, sagte er monoton und unterschrieb schnell einen Vertrag.

„Hallo, Kuzuki hier vom Studio Dreamland“, sagte sie und klang dabei geschäftlich. Nichts war mehr von der Fröhlichkeit von gestern Nachmittag zu hören. Nichts ließ davon hören, dass sie neben seinem Zimmer geschlafen hatte oder dass sein Bruder sie mit privaten Fragen gelöchert hatte. Auch war nichts mehr davon zu hören, dass sie gestern in seiner Küche gebacken hatte.

„Was gibt es?“

„Sie baten mich doch gestern die Fotos zu suchen. Ich habe sie vom Markt gefunden. Welche Größe brauchen Sie denn und wie viele Ausfertigungen?“

Kurz überlegte er. „Standartgröße und einmal.“

„Ok also fünfzehn mal zehn“, antworte sie und er hörte im Hintergrund die Tasten und die Maus, „Kann ich nachher vorbei kommen und Ihnen die Fotos bringen? Rechnung liegt dann anbei.“

„Wann nachher? Ich habe noch einiges zu erledigen und wenig Zeit.“

„Etwa in einer Stunde?“

Seto sah auf die Uhr. „Das geht in Ordnung. Aber später in keinem Fall!“

„Gut. Das schaffe ich. Bis später.“

Ohne ihr eine Antwort zu geben, legte er auf und wandte sich wieder dem Laptop zu. Erleichterung überkam ihn. Sie hatte die Fotos noch nicht gelöscht gehabt und das Geschenk für Mokuba konnte rechtzeitig fertig werden.

Kurzerhand griff er zum Telefon und gab seiner Sekretärin Bescheid, dass er Kuzuki erwarten würde und sie die Fotografin zu ihm durchschicken konnte.

Nachdem das geklärt war, druckte er sich schnell ein Dokument aus und mit einer lockeren Bewegung seiner Hand führte er den Kugelschreiber über das Papier. Schwungvoll setzte er seine Unterschrift darunter und legte es in eine der Mappen, damit seine Angestellte den Brief mit der Post hinaus schicken konnte.

Aber seine Ruhe und Konzentration war ein wenig gestört. Denn nun war die Anspannung wieder da und sein inneres bereitete sich darauf vor, dass er geschäftlichen Besuch erhalten würde.

Sein Gewissen in Form einer Fistelstimme erinnerte ihn jedoch daran, was er gestern in seiner Küche gesehen hatte. Mokuba hatte sich wohl mit ihr gefühlt und auch sie schien sich wohl gefühlt zu haben mit dem kleinen Wirbelwind. Es war ein kleines idyllisches Bild gewesen, was er nun nicht mehr aus dem Kopf bekam und ihm deutlich zeigte, was ihm entgangen war und was er hätte haben können, würde er seine Zeit nicht mit so viel Arbeit zustopfen.

Seto ignorierte die Fistelstimme und konzentrierte sich wieder auf die Unterlagen vor ihm, auch wenn es schwer war.

Mit einem flüchtigen Blick sah er zur Uhr auf dem Monitor und legte den Stift zur Seite.

Kam es ihm nur so vor oder verging die Zeit an diesem Tag gar nicht? Zumindest hatte sich der Zeiger keinen Millimeter bewegt.

Seto griff zur Tasse und wollte gerade einen Schluck trinken, als er merkte, dass er den Kaffee bereits ausgetrunken hatte.

Brummend stellte er die Tasse zurück. Es wäre ein leichtes gewesen seine Sekretärin zu bitten ihm einen Neuen zu bringen, aber er hasste es, wenn ständig an der Tür geklopft wurde. Außerdem hatte er schon genug von dem koffeinhaltigen Getränk für den Tag getrunken, was den Bedarf eines ganzen Tages abdeckte.

Prustend schob er sich eine lästige Strähne aus den Augen.

War es wärmer geworden oder kam es ihm nur so vor? Dabei war das Fenster offen und das Rollo unten. Die Sonne war auch weiter gewandert und schien nun direkt auf die kleine Schneekugel.

Im Zimmer war kurz das Rascheln von Stoff zu hören, als der Firmenchef der Kaiba Corporation sein Jackett auszog und über die Rückenlehne hing. Er knöpfte sein Hemd ein Stück auf und lockerte sogar seine Krawatte ein Stück. Dann widmete er sich wieder dem Textdokument.

Ein lautes Klopfen unterbrach ihn wieder und mit einem Schlag schien jegliche Müdigkeit von ihm abzufallen und verschwunden zu sein. Kerzengrade saß er in seinem Bürostuhl.

Sein Blick wurde mit einem schlag wieder kühler und kälter.

„Herein!“, sagte er streng, um sich den nötigen Respekt zu verschaffen.

Die Tür ging auf und seine Sekretärin kam herein.

Heute hatte er sie noch gar nicht gesehen und Seto musste sich zurück halten, um sie nicht anzustarren.

Sie trug einen roten Pullover und dazu hing ein Schneemann als Brosche daran. Doch das war nichts gegen den Schmuck, den sie trug.

Sein erster Gedanke war, dass sie dem armen Weihnachtsbaum im Eingangsbereich seine Dekoration gestohlen hatte. Der zweite Gedanke war die Anbetung einer Gottheit an die er eh nicht glaubte.

In ihren Ohren hing jeweils eine Baumkugel, klein und in einem Goldton gehalten. Es wirkte so unpassend, dass er sich nur mit Mühe einen zynischen Kommentar verkniff.

„Herr Kaiba, hier sind die ersten Weihnachtsbriefe. Die Restlichen folgen noch.“, sagte sie und die Kugeln in ihren schwangen hin und her. Seto hatte Mühe sie nicht anzustarren, stattdessen sah er auf die volle Unterschriftenmappe, die sie ihm reichte.

Schon vor Wochen hatten sie eine Liste mit allen Kundendaten zusammengestellt, die einen kleinen Weihnachtsbrief erhalten würden. In diesem Brief befand sich ein kleines Gedicht und wie jedes Jahr hatte sich Seto ein Waisenhaus ausgesucht, dass dringend Spenden benötigte und bat daher seine Geschäftspartner, wenn sie wollten, eine kleines bisschen Geld in ein Waisenhaus zu investieren.

Mit gutem Beispiel ging er voran und hatte bereits eine großzügige Summe gespendet. Immerhin wusste er zu gut, dass es vielen dieser Häuser am nötigsten mangelte.

Die Betten waren durchgelegen, neue Bezüge fehlten oder neues Geschirr. Dann wollten die Kinder auch Geschenke erhalten und dafür brauchte das Haus auch Geld. Von Spielzeugen ganz zu schweigen, ebenso die Materialen für Bastelarbeiten, Kopien, Veranstaltungen wie Kuchenbasare und Kleider. Die Kinder wuchsen oft wie Unkraut und brauchten schnell neue Kleidungsstücke.

Nur ungern erinnerte er sich daran, dass er die abgetragenen Sachen eines der älteren Kinder hatte anziehen müssen, als dieses heraus gewachsen war. Für ihn waren die Sachen zu groß gewesen, aber seine alten Kleider waren schon zu klein geworden.

Daher hatte er es sich angewöhnt jedes Jahr eine kleine Summe zu spenden.

Kurz überflog er das Gedicht, was Mokuba ausgesucht hatte.

„Dann habe ich hier die Rückrufliste vom Telefon für Sie“, fuhr seine Sekretärin fort.

Ein Blatt legte sich vor ihm auf den Tisch.

Flüchtig überflog er die Namen und das Anliegen der Anrufer.

„Kann ich die beiden mitnehmen?“, fragte sie und deutete auf die beiden Mappen, die er bearbeitet hatte. Wortlos nickte er.

„Bringen Sie mir noch einen Kaffee“, sagte er und reichte ihr die leere Tasse.

„Natürlich.“

„Noch etwas?“, fragte er und musterte sie. Die Ohrringe schrien ihn förmlich an.

„Ja und zwar wollten Sie mit mir die Details für die Weihnachtsfeier dieses Jahr besprechen.“

Seto schluckte. Es war keine Angelegenheit, die er mochte und die er liebend gerne ausfallen lassen wollte. Aber leider wusste er, dass seine Angestellten sich auf eine kleine Feierlichkeit freuen würden. Obendrein würde Mokuba darauf bestehen, dass er es durch zog. Also wollte er dem kleinen Nervenzwerg zuvor kommen und damit glänzen, dass er sich bereits darum gekümmert hatte.

Er seufzte kurz und lehnte sich in den Stuhl zurück. Aber zum Glück hatte er seine Sekretärin, die diese undankbare Aufgabe übernahm.

Die Frau zückte schon einen kleinen Block und Stift.

„Was habe ich zu tun?“, fragte sie und ließ sich nicht anmerken, ob sie sich auf die Aufgabe freute oder nicht.

„Buchen Sie ein Lokal“, sagte er nachdenklich und ließ kurz die Finger knacken, „Am besten ein großes Restaurant. Sagen Sie, dass wir viele Getränke brauchen, wie Wein, Bier, Wasser und Schorle.“

„Ehepartner? Freundinnen und Lebenspartner?“, fragte sie und sah kurz vom Block auf.

„Ja, aber keine Kinder!“, sagte er nachdrücklich.

„Alles klar. Ich kümmere mich darum und sage Ihnen Bescheid.“

Seto nickte, wortkarg wie immer und sie ging hinaus. Von ihrem Schreibtisch aus hörte er das Radio und wie es „All I want for christmas“ spielte.

Kurz verdrehte er die Augen und sah wieder auf den Monitor.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie gerade wieder die Tür zugemacht wurde, jedoch einen Spalt offen blieb, als das Telefon seiner Sekretärin klingelte. Schnell lief sie zum Tisch und nahm den Hörer ab.

Er hörte ihre Stimme, doch kurz danach legte sie wieder auf, weil sie viel zu langsam gewesen war. Leise seufzte er, als sie zurück kam und seine Tür endgültig schloss. Seto warf einen letzten Blick zur Tür und las sich den letzten Abschnitt noch einmal durch an dem er gearbeitet hatte, ehe er unterbrochen worden war.

Seine Hände hielten über der Tastatur inne, grade wollte er weiter tippen, als sein Telefon laut klingelte.

Knurrend warf er dem Elektrogerät einen finsteren Blick zu, als könnte es etwas für seine Funktionen, die jemand nutzte.

Ungehalten nahm er den Hörer ab.

„Was gibt es, Roland?“, fragte er mit kalter Stimme und tippte ein paar Zahlen in die Tabelle ein.

„Herr Kaiba, ich weiß, Sie möchten nicht gestört werden, aber hier ist eine junge Dame, die behauptet einen Termin zu haben.“

„Und?“

„Nun, ich habe im Computer keine Bestätigung dazu gefunden, dass ihre Aussage stimmt und sie lässt sich auch nicht abwimmeln.“

„Ich erwarte erst…“, kurz sah er zur Uhr, „…in einer halben Stunde Besuch.“ Seto klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und tippte den Bericht weiter.

„Sie sagt, sie ist aber früher gekommen. Ihr Name ist Kuzuki und…“

„Herr Kaiba, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, fragte sie plötzlich in den Hörer und Setos Augen weiteten sich überrascht, als ihre Stimme erklang. Sie schien Roland den Hörer entrissen zu haben.

Süffisant grinste er und tippte ungeniert weiter.

„Wieso sollte ich Sie auf den Arm nehmen?“, fragte er trocken, „Sie sind viel zu schwer dafür.“

Er hörte sie leise knurren und wie sie tief durchatmete.

„Hören Sie, ich stehe hier schon seit fünfzehn Minuten und versuche nach oben zu kommen, aber Ihre Mitarbeiter lassen mich einfach nicht durch.“

„Scheinbar machen Sie einen nicht grade sicheren Eindruck“, sagte er mit einem amüsierten Grinsen.

„Wollen Sie damit sagen, dass ich aussehe, als würde ich Ihnen an den Hals springe wie ein verrückter Teenie oder ein Serienkiller?“ Ihre Stimme nahm einen scharfen Tonfall an und es klang, als würde sie sogar wirklich darüber nachdenken, ihm gleich durch den Hörer an den Hals zu gehen und ihn zu erwürgen.

„Wollen Sie darauf eine ernsthafte Antwort?“, fragte er trocken zurück.

„Nein, lieber nicht“, sagte sie und seufzte, „Würden Sie dennoch bitte Ihrem Mitarbeiter sagen, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn ich zu Ihnen gehe?“

„Ja, wenn ich dazu meinen Mitarbeiter sprechen dürfte?“

Wieder hörte er sie seufzen.

„Herr Kaiba?“

„Roland, schicken Sie die junge Frau zu mir rauf“, sagte er sachlich und sein Grinsen war von den Lippen verschwunden.

„Aber im Computer…“

„Schon gut“, würgte er ihn ab und öffnete den elektronischen Terminkalender. Da hatte er doch glatt vergessen einzutragen, dass sie vorbei kommen würde. Kein Wunder, wenn die Empfangsdame unten sie nicht durch gelassen hatte und Roland gerufen hatte, als sie sich nicht abwimmeln ließ.

Schnell tippte er den Termin ein und gab den Bestätigungscode ein, dass es von seiner Seite abgesegnet war. Grob gab er auch eine Uhrzeit ein, wann sie wieder weg sein würde. Länger als zehn Minuten sollte es eigentlich nicht dauern. Immerhin wollte sie ja nur ein paar Bilder abliefern.

Hoffentlich war auf der Rechnung kein Wucherpreis. Nicht, dass er es sich nicht leisten könnte ein wenig mehr für ein Foto auszugeben, aber über den Tisch ziehen lassen, würde er sich nicht.

Angespannt lauschte er und rief wieder die Präsentation auf. Doch um seine Konzentration war es geschehen. Er wusste, dass es jeden Moment klopfen würde. Seine Sekretärin würde sie ankündigen und dann würde sie in seinem Büro sein.

Bewusst ruhig atmete er ein und hielt für einen Moment den Atem an, um sich auf das Kommende vorzubereiten. Denn aus irgendeinem Grund flatterten seine Nerven ein wenig. Sein Herz schlug kräftiger und pumpte das Blut schnell durch seine Venen.

Warum war er nur so nervös? Das war er sonst auch nicht.

Es war ein ganz normaler Geschäftstermin.

Langsam stieß er die angehaltene Luft aus und sah zur Tür, als es klopfte. Kurz schloss er die Augen und herein kam die Praktikantin, gefolgt von seiner Sekretärin und einem Angestellten.

Was war denn nun los?

Stand an seiner Tür „Tag der offenen Tür“?

War die Anweisung an die Vorzimmerdame nicht klar und deutlich gewesen?

Wütend und vorwurfsvoll sah er zu der Frau mit dem Christbaumschmuck im Ohr an, die den Blick jedoch fröhlich strahlend, wie ein die Sonne am Himmel persönlich, ignorierte.

Seine blauen Augen fielen vorwurfsvoll auf die Praktikantin, die gerade ihren zweiten Tag bei ihm in der Firma absolvierte. Unter dem strengen Blickes des obersten Chefs zuckte die junge Schülerin zusammen.

Ihre Hand zitterte, als sie die Tasse mit Kaffee auf seinen Tisch stellte und Seto schob die Papiere außer Reichweite, ehe sie die heiße Flüssigkeit über die Papiere schüttete.

„Ihr Kaffee…“, sagte sie mit piepsiger Stimme und sah ihn scheu an. Als sie dem kalten Blick begegnete, sah sie wieder zu Boden und machte sich schnell auf den Weg nach draußen.

Dann warf er dem Angestellten seinen genervten Blick zu. Wieso hatte seine Sekretärin ihn nicht aufgehalten? Sie wusste doch, dass er Besuch erwartete!

Brummend wandte er sich dem Angestellten zu und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück.

„Was gibt es?“, fragte er kalt, als der Mann vor seinem Tisch stehen blieb.

„Herr Kaiba, mein Diensthandy funktioniert nicht!“

„Wieso kommen Sie dann zu mir und gehen nicht zu Verwaltung?“, fragte er sachlich und durchbohrte den Mann mit seinem kalten Blick.

„Da war ich, aber dort konnte man mir nur sagen, dass der Vertrag gekündigt wurde und ich weiß von nichts! Aber keiner konnte mir sagen, ob ich ein Neues bekomme oder der Vertrag neu gemacht wird…“

„Und Sie wollen jetzt was von mir…?“, fragte Seto und hob skeptisch eine Augenbraue. Erwartete dieser Mann grade wirklich von ihm, dass er die Angelegenheit regelte? Kaiba wusste grade nicht mal genau seinen Namen oder in welcher Abteilung er genau arbeitete. Immerhin gab es in diesem Haus mehr als dreihundert Leute.

Es wäre absoluter Irrsinn, wenn er alle mit Namen kannte.

„Ich…“ Der Mann hielt inne, schien genau zu überlegen, was er sagen sollte und wie weit er seinem Chef gegenüber gehen konnte. „Was soll ich jetzt machen?“

„Abwarten bis die Verwaltung das geklärt hat. Es wird ein Missverständnis vorliegen und das ist kein Grund mich zu belästigen!“, fuhr er ihn an.

„Ja, aber…“

„Ich habe wichtigeres zu tun als mich mit Verwaltungsangelegenheiten herum zu schlagen. Andernfalls wenden Sie sich an meine Sekretärin…“, sagte er und nickte zu der Frau, die hinter ihm stand und der er nur einen kurzen Schulterblick zuwarf, „…oder Sie wenden sich an Roland, wenn das Problem sich nicht behoben haben sollte. Jetzt gehen Sie. Ich erwarte jemanden.“

Der Mann hielt einen Moment inne, knirschte mit den Zähnen und verließ ebenfalls das Büro.

Hatte er gedacht, er würde jetzt ein neues Handy zücken?

Innerlich schüttelte er den Kopf und sah zu der Sekretärin. Fragend hob er eine Augenbraue. Sie stand noch immer an der Tür und er griff schnell zur Kaffeetasse, ehe das Getränk darin kalt wurde.

„Frau Kuzuki ist hier und wartet“, sagte sie, nachdem sie merkte, dass er nichts sagte mit einem strahlenden Lächeln. Hatte sie den Weihnachtsmann gesehen oder wieso grinste sie so?

„Schicken Sie sie rein“, antwortete er und versuchte ruhig zu bleiben. Denn augenblicklich bekam er wieder ein leichtes Flattern seiner Nerven.

Seine Vorzimmerdame nickte und wandte sich jemanden außerhalb seines Büros zu.

„Sie können rein“, sagte sie fröhlich und deutete in sein Büro.

„Danke“, hörte er Kuzuki sagen und nur wenige Sekunden später trat sie ein. Sie sah seine Sekretärin an, wartete bis die Tür zu war und grinste ihn bis über beide Ohren an.

„Hat sie dem armen Baum die Kugeln geklaut oder was baumelt da an ihren Ohren?“, fragte sie amüsiert und deutete auf die Tür hinter der die Frau wieder an ihrem Schreibtisch saß.

„Ich weiß es nicht, aber vielleicht sollte ich mal darauf achten, wenn ich nach unten gehe“, erwiderte er und musste ebenfalls amüsiert grinsen.

„Hi erstmal!“, sagte sie und knöpfte sich den Wintermantel weiter auf. Ihr violetter Schal hing bereits locker um ihren Hals. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Make up sah aus, als wäre sie aus einer Kosmetikbehandlung gekommen. Auch die Frisur unter dem Strickcapie wirkte mit den kleinen eingedrehten Locken perfekt.

Es wirkte nicht aufdringlich, aber war dennoch ein Unterschied zu ihren letzten Treffen.

„Habe ich was im Gesicht?“, fragte sie unsicher und zog das Capie aus. Ihre Haare wirkten zerzaust und standen ihr quer über den Kopf. Sie stopfte das Kleidungsstück in ihre Tasche, die von ihrer Schulter hing. Vorsichtig tastete sie mit den Fingern ihr Gesicht ab und rieb sich über den Mundwinkel, als fürchtete sie dort einen dicken Krümel zu haben oder Schokoreste.

Er schüttelte den Kopf.

„Das Make up steht Ihnen“, sagte er leise zur Erklärung und schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu bekommen. Seto Kaiba verteilte keine Komplimente! Doch dafür war es nun zu spät. Seine Zunge war schneller als sein Verstand gewesen.

„Oh“, entfuhr es ihr verlegen, „Danke. Unsere Visagistin hat mich erwischt. Wir haben ein Gruppenweihnachtsfoto gemacht als Karte für unsere Kunden und Partner mit denen wir arbeiten.“

Die Fotografin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und versuchte die Unordnung von der Mütze wieder zu richten.

Sie pustete sich noch eine letzte Strähne aus dem Gesicht und schenkte ihm dann endlich ihre volle Aufmerksamkeit.

„So, ich hab die Fotos gefunden“, sagte sie und griff in ihre Tasche und schob ihm die kleine Verpackung zu. „So das wäre einmal das.“

Seto nahm den Umschlag entgegen und blickte hinein. Langsam zog er die Rechnung heraus.

„Einmal das?“, fragte er über den Rand des Blattes hinweg und musterte sie kurz mit einem kühlen Blick. Gab es hierbei einen Haken? Wenn ja, dann hatte sie sich den falschen Firmenchef ausgesucht.

Seine blauen Augen sahen wieder auf das Stück Papier in seinen Händen und überprüften, ob alles seine Richtigkeit hatte. Das Firmenlogo war zu sehen, die Auflistung der Dienstleitung, Datum war auch aktuell, ihre verschnörkelte Unterschrift und der Firmenstempel waren auch da, sowie die Kontodaten.

Der Betrag der Rechnung war wirklich in Ordnung und innerlich atmete er auf, dass sie ihn nicht abzocken wollte. Kaiba nahm einen Stift und unterschrieb die Rechnung, damit seine Buchhaltung den Betrag bald überweisen konnte.

Dem Foto warf er nur einen knappen Blick zu. Kein Druckfehler, keine Knicke. Perfekt. Eine kleine Visitenkarte lag natürlich auch dabei.

Seto sah sie wieder an und Kuzuki hatte einen zweiten Umschlag aus der Tasche gezogen. Er war genauso dünn wie der Erste.

„Was ist das?“, fragte er skeptisch. Seine Stimme war sofort distanziert und jedem anderen wäre ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Doch sie zeigte keine Regung, dass es der Fall wäre.

„Würden Sie mir einen Gefallen tun?“, fragte sie, statt ihm eine Antwort zu geben. Es war faszinierend, wie wenig Angst sie vor ihm hatte.

Skeptisch sah er sie an. Was wollte sie von ihm?

„Was denn?“

„Ich habe hier ein Foto von Ihrem Hund von unserer ersten Begegnung…“

„Ich sagte doch, dass ich sie nicht will!“, fuhr er sie an und rechnete schon damit, dass sie auch dafür Geld haben wollte.

„Ich weiß…“, sagte sie und hob beruhigend die Hände, damit er ihr weiter zuhörte.

„Was dann? Ich werde dafür nicht bezahlen!“

„Das habe ich auch nicht gesagt, oder?“, konterte sie und gab ihm den Umschlag, „Ich wollte Sie bitten das Mokuba zu schenken. Immerhin ist morgen Nikolaus und ich dachte, er würde sich wenigstens über ein Foto vom Familienhund freuen. Darin ist auch eine kleine Schokolade für ihn.“

Seto sah auf den Umschlag und bei ihren Worten weiteten sich kurz seine Augen.

Nikolaus war morgen?

Innerlich stieß er eine Reihe von wüsten Flüchen aus, gefolgt von blasphemischen Beschimpfungen, die ihm mit Sicherheit Kohle und Rute im Stiefel beschert hätten. Er hatte tatsächlich vergessen ein Nikolausgeschenk zu besorgen! Dabei bestand Mokuba noch immer darauf!

„Falls Sie die anderen Fotos auch haben wollen, ich habe sie noch nicht gelöscht.“ Sie kratzte sich an der Nasenspitze.

Seto nickte.

„Wegen dem Geld…“, sagte sie langsam.

Da war also der Punkt. Sie wollte bezahlt werden für Mokubas Geschenk. Er hatte es gewusst. So großzügig war niemand und sie schien genauso wie alle anderen mehr an das Geschäft zu denken.

„Sie brauchen es nicht bezahlen.“

Eine Augenbraue zog sich bei ihm nach oben. Hatte er grade richtig gehört? Waren seine Ohren mit Kekskrümel vollgestopft?

„Darin ist Mokubas Geschenk und es ist von mir“, erklärte sie langsam, "Daher bezahle ich es. Nicht Sie."

Nahm sie Drogen oder wieso wollte sie seinem Bruder etwas schenken? Seto verstand nicht. Sie kannte seinen kleinen Bruder nicht einmal und machte ihm aber ein Geschenk?

Das war etwas, was nicht wirklich in seinen Kopf wollte.

„Das war es aber von mir", seufzte sie kurz, „Mehr wollte ich nicht und es wäre echt super lieb, wenn Sie Ihrem Bruder mein Geschenk geben. Es hat mir nämlich gestern totalen Spaß gemacht mit ihm zu backen.“

„Wirklich?“, fragte Seto überrascht und fand seine Stimme wieder.

„Ja, wirklich. Mein Chef ist immer noch sehr begeistert über den Betrag, den Ihr Bruder gezahlt hat, damit ich den Nachmittag mit ihm verbringen kann und kein Verlust oder Arbeitsausfall entsteht…“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Aber darum geht’s mir nicht. Es hat wirklich Spaß gemacht. Zu Hause alleine zu backen ist doch was anderes als mit so einem kleinen Wirbelwind.“

„Ich dachte, mein Bruder hätte Sie vielleicht mit seinen vielen Fragen genervt.“

„Sie meinen das Kreuzverhör beim Abendessen?“, lachte sie und grinste.

„Zum Beispiel.“

„Ach…das macht mir nichts. Ich hatte nur das Gefühl, Ihr Bruder legte es drauf an zu erzählen, dass Sie auch Singel sind und als würde er hoffen, dass sich da was ergibt…“ Sie winkte den Gedanken ab.

„Nicht nur Sie. Tut mir leid, wenn er aufdringlich war“, sagte Seto und schob die Umschläge in seinen Aktenkoffer.

„Ach schon ok. Er ist ein Kind“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich durfte ja bei Ihnen bei dem Wetter gestern Abend übernachten. Das macht das schon wieder wett.“

Er nickte.

„Danke noch mal dafür.“

Wieder ein nicken.

„Ich werde dann jetzt gehen. Ich bin noch verabredet und morgen wird recht viel auf dem Markt los sein…“ Sie seufzte theatralisch. „Naja, schönen Tag noch und schönen Feierabend.“

Seto schnalzte nur mit der Zunge. Feierabend? Mit Sicherheit nicht. Wahrscheinlich würde Roland Nikolaus spielen müssen für Mokuba.

„Und schön die Stiefel putzen“, zwinkerte sie ihm zu und ging langsam zur Tür. Ihre Hand hielt am Türgriff inne. Kuzuki schaute ihn über die Schulter hinweg an. „Achja, die Warteschleifenmusik ist super!“

Sie kicherte.

Fragend sah er sie an. Was war an der Warteschleifenmusik so toll? Es war doch nur Beethoven. Klassisch und nichts besonderes.

„Rockin' around the Christmas tree, at the Christmas party house, mistletoe hung where you can see, every couple tries to stop, rockin' around the Christmas tree, let the Christmas spirit ring”, sang sie grinsend und leise vor sich hin und ging hinaus, während er ihr nachsah und verwirrt die Stirn runzelte.

„Mokuba…“, entfuhr es ihm nach einer Weile.

Türchen 6 - Schokolade

Grummelnd sah Seto zu der verschlossenen Tür seines Büros. Wäre es möglich gewesen, hätte diese Tür ein Loch gehabt und sein Blick hätte die Person dahinter erdolcht, während die laute Weihnachtsmusik des Radios zu ihm ins Zimmer durch drang.

Wieso musste sein Sekretär das Gerät so laut stellen, dass die halbe Firma mitsingen konnte? So konnte doch kein Mensch arbeiten!

Wütend hämmerte er auf die Tasten seines Laptops ein, als könnten dieser etwas für die miserable Laune des Firmenchefs. Dabei war das gar nicht mal so weit her geholt, denn der Laptop trug sogar zur Verschlechterung seines Gemüts bei.

Wütend schlug er mit der Hand auf den Schreibtisch und stieß einen Fluch aus, als wieder die Meldung angezeigt wurde, dass sein Passwort, mit dem er seinen Laptop gesichert hatte, falsch wäre.

Wie konnte das nur passiert sein?

Niemand hatte sich an seinem Laptop zu schaffen gemacht. Die ganze Zeit über hatte er gestern daran gearbeitet. Ein Virus konnte es auch nicht sein, da sein System gut geschützt war und ein Hacker war auch nicht registriert worden.

Nur er kannte sein Passwort und er hatte das Gerät auch mit nach Hause genommen, damit er dort weiter arbeiten konnte, nachdem Kuzuki gegangen war. Denn nachdem sie da gewesen war, war es irgendwie unmöglich gewesen sich wieder zu konzentrieren. Die ganze Zeit hatte er ihr Parfüm in der Nase gehabt, vermischt mit einem Orangenduft und frischer Nelken.

Kuzuki war auch nicht so nahe an seinem Schreibtisch gewesen, dass sie irgendetwas hätte tun können. Zudem machte sie auch nicht den Eindruck einer Hackerin oder dergleichen.

Es war also unmöglich, dass jemand einfach so daran gekommen war und den Laptop manipuliert hatte.

Erneut tippte er ein anderes Passwort ein und wieder erschien die Meldung.

Wenn nicht bald ein Wunder geschah, dann würde er an seinem Projekt nicht mehr arbeiten können.

Fast schon verzweifelt startete er einen letzten Versuch und wieder wurde ihm angezeigt, dass das Passwort nicht korrekt war.

Wenn er die Person erwischte, die dafür verantwortlich war, konnte sie sich sicher sein nicht lebend ins neue Jahr zu starten.

Die Stimme der englischen Sängerin, die über Schnee sang, drang wieder an sein Ohr und eine Augenbraue zuckte gefährlich, während sein Laptop erneut die Eingabe des Passwortes verweigerte.

Knurrend drückte er auf den Knopf seines Telefons.

„Schalten Sie das Radio gefälligst leise!“, fauchte er in den Hörer, ehe der Sekretär etwas sagen konnte. Laut schlug er den Hörer wieder auf die Gabel und lehnte sich knurrend im Stuhl zurück.

Seine Finger klopften unruhig und in einem langsamen Rhythmus auf der Lehne herum und fieberhaft überlegte Seto, wer dafür verantwortlich war. Alzheimer besaß er auch noch nicht, so dass er sich auch nicht mehr daran erinnern konnte, es verändert zu haben.

Mit einer schnellen Eingabe verschiedener Tastenkombinationen versuchte er ins Datenfeld zu kommen und einen Resetstart zu ermöglichen, so dass das neue Passwort zurückgesetzt wurde. Aber auch das wollte nicht funktionieren.

Wer auch immer das getan hatte, wusste, was er tat.

Doch so leicht, ließ sich Seto Kaiba nicht entmutigen. Immerhin ging es hier um wichtige Dateien, die sich auf seiner Festplatte befanden. Obendrein war er ein Genie im Umgang mit der Technik.

Knurrend schaltete er das Gerät aus und erneut wieder ein, um ins Bedienfeld zu kommen und weitere Eingaben zu tätigen.

Die Musik wurde wieder etwas lauter und am liebsten hätte Kaiba den jungen Mann, der heute vorne bei ihm saß, erschlagen. So gut dieser auch in seiner Arbeit war, er brauchte Musik. An sich auch kein Problem, aber er war nicht minder so ein Weihnachtself wie Mokuba und hatte natürlich gerne die Kekse angenommen, die sein Bruder ihm gegeben hatte und hörte nun lautstark Weihnachtshits. Auch die Krawatte mit den Schneemännern drauf, zeigte, welche Jahreszeit seine Liebste war. Wieso musste seine Sekretärin heute auch ihren freien Tag haben? Da waren ihm Ohrringe in Form von Weihnachtsbaumkugeln noch am liebsten.

Aber es gab wichtigeres.

Seinen Angestellten die Hölle heiß machen, konnte er auch noch später.

Viel wichtiger war es das aktuelle Projekt zu retten und bis zum Termin der Präsentation fertig zu haben.

Dabei hatte der gestrige Tag so gut geendet und er war sogar mit einer sehr guten Laune aus der Firma gegangen. Seto hatte früher Feierabend gemacht, sehr zum Erstaunen seiner Sekretärin und zur Freude seines kleinen Bruders. Seit längerer Zeit hatten sie nämlich auch wieder miteinander zu Abend essen können und Mokuba hatte ihn daran erinnert, dass er noch immer kein Türchen seines Kalenders geöffnet hatte, während bei ihm jedoch jeden Tag die kleinen Säckchen geleert wurden.

Mokuba hatte ihm auch stolz erzählt, dass in seiner Schule die Vorbereitungen für das Weihnachtsschulfest liefen und seine Klasse ein Theaterstück aufführen würde und er hoffe ebenfalls eine kleine Rolle zu bekommen. Sein kleiner Bruder hatte ihm sogar das Versprechen abgeschwatzt in dem Fall sogar diese Aufführung mit anzusehen und einen Fotografen zu beauftragen, der das auch dokumentierte.

Das Thema erinnerte ihn daran, dass er noch immer keinen Ersatz hatte und hatte Mokuba auch von der Kündigung Juans erzählt, weshalb es doch schwer werden würde jemanden zu finden.

Sofort war sein kleiner Bruder natürlich für Kuzuki gewesen, doch Seto hatte den Vorschlag sofort abgeschmettert.

Damit war das Thema Fotograf beendet.

Mokuba hatte sich nach dem Abendessen noch ein Stück Torte gegönnt, die er mit der Fotografin gebacken hatte und auch versucht ihm ein Stück anzudrehen.

Doch Seto hatte sich in sein Arbeitszimmer verzogen und die zwei Sachen für den kleinen Wirbelwind versteckt. Fieberhaft hatte er überlegt, was er noch besorgen konnte, damit nicht nur das Foto in Mokubas Schuhen steckte, sondern auch etwas von ihm natürlich.

Die Schokolade, die die Haushälterin besorgt hatte, war eine Option gewesen. Aber wo war das persönliche?

Sein Blick war auf eine Schublade gewandert und Seto hatte den Umschlag von Kuzuki heraus gezogen. Kurz warf er einen Blick hinein.

Tatsächlich hatte dort ein Foto von Shadow drin gelegen, wie er mit der Nasenspitze fast die Kamera berührte und neugierig schnupperte. In seinem Fell glänzten Schneeflocken und seine ganze Schnauz von der gefrorenen Wassermasse überzogen war. Die Augen waren neugierig auf das Gerät unter ihm gerichtet und in diesem Moment hatte Kuzuki abgedrückt.

Sein Hund kam gut zur Geltung. Das hatte er ihr in dem Moment lassen müssen. Sie war gut und schien ein gutes Timing zu haben.

Die Tafel hatte auch im Umschlag gelegen und sie war alles andere als klein, wie sie gesagt hatte. So viel er wusste, stammte sie aus einem nicht grade günstigen Geschäft. Im Gegenteil, sie hatte scheinbar einiges an Geld ausgegeben für das große Stück Schichtnougat.

Mit sich ringend hatte er auf den Umschlag geschaut und war erstmal mit Shadow eine Runde im verschneiten Park spazieren gewesen, während sein Hund wieder am durchdrehen war, dass neue weiße Flöckchen vom Himmel fielen.

Seto hatte wirklich mit sich gerungen, hatte alle Seiten abgewogen, aber es war die einzige Lösung gewesen.

Er musste Kuzukis Geschenk als seines ausgeben.

Natürlich hatte sich dort sofort sein schlechtes Gewissen in Form einer Fistelstimme gemeldet, die ihm gepredigt hatte, dass er doch nicht das Geschenk eines anderen klauen sollte, noch sie anlügen sollte, dass er es Mokuba in ihrem Namen gegeben hatte.

Aber was sollte er tun? Die Geschäfte hatten bereits geschlossen gehabt und Mokuba hatte von ihm erwartet, dass er etwas für ihn hatte.

So schlecht sein Gewissen gewesen und es auch noch immer war, er hatte keine Wahl.

Spätestens als er wieder nach Hause gekommen war, völlig eingeschneit und Mokuba auf den Flurboden sitzend sah, waren alle Zweifel von ihm gegangen. Er hatte nicht mit ansehen können, wie er dort saß, fleißig seine Stiefel putzte und dabei fröhlich „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ sang. Kaum hatte Seto seine Stiefel abgestreift, hatte Mokuba sich auch diese gekrallt und angefangen zu putzen.

Die Erklärung war gewesen, dass er es ja nicht machen würde und sonst nichts geschenkt bekam, was Seto ein leichtes Schmunzeln entlockt hatte und umso größer war sein schlechtes Gewissen geworden.

Doch so wie Mokuba da auf dem Boden gesessen hatte, hatte er sich selbst gesehen, wie er als Kind die Stiefel der Familie geputzt hatte, damit der Nikolaus etwas hinein tat. Genau wie Mokuba war er neugierig gewesen und hatte die halbe Nacht kaum schlafen können, hatte gelauscht und war dann doch mit einem seligen Grinsen eingeschlafen.

Später hatte er mit Mokuba zusammen die Stiefel geputzt und im Waisenhaus hatte er später jedes Jahr gehofft, dass es mehr als nur eine Orange und einen Schokoladennikolaus geben würde. Doch irgendwann hatte er verstanden, dass es die Erzieher und seine Eltern gewesen waren, die die Stiefel befüllt hatten.

Mokuba war inzwischen genauso alt, dass er begriff, dass er oder Roland diese Aufgabe übernahm und dennoch bestand er auf die Tradition. Er sagte, ohne diese Tradition wäre es keine richtige Adventszeit.

Sobald er sich von dem Anblick und der Erinnerung gelöst hatte, hatte Seto sich wieder in sein Arbeitszimmer verkrochen. wo eine frische Orange mit Nelken bespickt stand und ihren Duft verteilte. Ein kleiner Teller mit Süßigkeiten war von Mokuba auf den Tisch gestellt worden.

Seto hatte aufgeseufzt und einen Entschluss gefasst.

Während er sich dann in die Arbeit vertieft hatte, war die Zeit schnell rum gegangen und Mokuba hatte ihm irgendwann noch gute Nacht gewünscht. Sein Laptop hatte zu dieser Zeit noch einwandfrei funktioniert.

Noch ein paar Stunden hatte Seto gewartet und war dann nach unten geschlichen, um die Stiefel zu befüllen.

Seine Schuhe hatten schon eine Füllung bekommen von seinem Bruder und darin lag eine Tüte mit Kekse, Schokolade, Orangen und eine Eintrittskarte für das Schultheater einen Tag vor Heilig Abend.

Doch er hatte nichts angerührt und schnell die Sachen in die Schuhe von seinem Bruder getan und war wieder zurück nach oben geschlichen, während alles in dem großen Haus ruhig war.

Draußen hob sich der weiße Schnee deutlich von der dunklen Nacht ab und Seto wusste, dass morgen wieder alles Weiß sein würde und aussehen würde, als wäre eine Puderzuckerschicht über die Stadt gezogen worden.

Nachdem er noch schnell einen Bericht fertig getippt hatte, war auch er Schlafen gegangen. Bis dahin hatte alles funktioniert. Irgendwas musste zwischen dem zu Bett gehen und heute Morgen passiert sein, dass sein Laptop nicht mehr funktionierte.

Soweit hatte der Tag auch gut gestartet.

Mokuba war total freudig über das Foto gewesen und hatte es sich direkt eingerahmt. Dafür war das Klassenfoto direkt aus dem Rahmen genommen worden und war unachtsam auf dem Schreibtisch gelandet. Nun stand der Hund Shadow auf dem Schrank.

Seto hatte versucht sein schlechtes Gewissen zu verbergen, das ihm überkommen war. Doch auch da war seine Laune sogar noch gut gewesen.

Sie hatte erst begonnen sich zu senken, als er in die Firma gefahren und durch den Empfang gegangen war.

Innerlich hatte er sich selbst die Hand vor den Kopf geschlagen. Es war Nikolaus.

Das war ihm auch bewusst, aber er hatte etwas Entscheidendes vergessen gehabt.

Nicht nur die Tatsache, dass heute überall in seiner Firma kleine Schokoweihnachtsmänner verteilt worden waren und jeder seiner Mitarbeiter, auch er, einen davon auf den Schreibtisch gefunden hatte. Nein, es war auch neben dem Valentinstag, Ostern, sein Geburtstag und Heilig Abend der Tag, den er lieber zu Hause hätte verbringen sollen.

Denn an diesen Tagen begannen der Postbote, verschiedene Paketboten und Kuriere sich gegenseitig die Klinken in die Hand zu drücken.

Unten am Empfang stapelten sich die Körbe mit Karten und Schokolade in den Körben, die in regelmäßigen Abständen hoch gebracht wurden, wo sie sich dann weiter in einer Ecke stapelten.

Zu seinem Geburtstag und Heilig Abend war es immer am schlimmsten, da die Fangirls immer der Meinung waren ihm etwas schenken zu müssen, was ihn überhaupt nicht interessierte oder total scheußlich war.

Am meisten packte er dann Lotions, Cremes oder Parfüms aus oder ein ganzes Pflegeset. Seto wusste nicht, ob er sich gruseln oder beleidigt sein sollte. Denn einerseits erinnerte es ihn ein bisschen an „Das Schweigen der Lämmer“ und er fragte sich, ob seine weiblichen Fans glaubten, er würde nicht duschen oder sich keine Pflegeprodukte leisten können.

Doch heute wurde er von Schokolade überhäuft in den unterschiedlichsten Variationen. Die ersten zwei großen Körbe mit gesammelten Nikoläusen, Dominosteinen, Lebkuchen, Plätzchen und anderen Süßigkeiten waren bereits voll und standen in seinem Büro. Doch am meisten waren es Nikoläuse, die in den Körben ihren Platz fanden.

Es war nicht so, dass er Schokolade hasste. Er mochte es nur nicht, wenn ihm fremde Personen welche schenkte. Jedoch schien Mokuba damit kein Problem zu haben und verteilte vieles davon später an Klassenkameraden oder in der Firma oder er aß es selbst, so dass Seto aufpassen musste, dass sein kleiner Bruder keinen Zuckerschock bekam.

Allein diese zwei Körbe würden den Bedarf an Schokolade bis Mai nächsten Jahres decken. Aber Seto wusste, dass auch das nur der Anfang der Hölle war.

Bis zum Abend würden noch mindestens drei weitere Körbe dazu kommen.

Ein leises Seufzen verließ seine Lippen und er sah kurz zu dem Stapel.

Seine Finger huschten wieder über die Tasten, nur ein leises Klopfen unterbrach ihn.

„Herein!“, sagte er streng und ohne aufzusehen.

„Herr Kaiba, es ist ein weiterer Korb voll mit lauter kleinen Naschereien!“, sagte sein Sekretär und stieß die Tür mit dem Fuß etwas auf. In seinem Arm war ein voll gepackter Korb. „Es sind unter anderem kandierte Früchte mit bei und verschiedene Nougatsorten. Teilweise aus den teuersten Schokoladengeschäften. Ich habe sogar ein Paket aus der Schweiz gesehen!“

Voller Enthusiasmus berichtete der junge Mann vom Inhalt des Korbes, was ihn gar nicht interessierte und bei dem er auch nur mit halben Ohr zuhörte. Seto winkte ihn ab.

„Stellen Sie es in die Ecke und lassen Sie mich wieder in Ruhe arbeiten“, sagte er und sah auf das Datenfeld, was sich ihm öffnete. „Ich möchte nicht weiter gestört werden.“

Nur aus dem Augenwinkel sah Kaiba, wie der Mann den Korb zu den anderen stellte und dabei sehnsüchtig auf die edlen Kakaoprodukte sah, als würde er sich verkneifen müssen, etwas davon zu stibitzen.

„Ja, Herr Kaiba“, sagte der Mann und ging zur Tür.

„Eine Frage habe ich allerdings“, hielt Seto ihn auf und sah kurz zu den Körben.

„Ja?“

„Wissen Sie die Absender der Schokolade?“

„Ähm nicht aus dem Kopf“, antwortete der junge Mann unsicher und sah seinen Chef fragend an, was er damit bezwecken wollte.

„Dann nehmen Sie sich die Körbe vor und listen Sie mir alle Absender auf“, sagte er kühl und gab etwas in den Laptop ein. Wieder schlug die Eingabe fehl.

„Wozu, Herr Kaiba?“, fragte er und nahm sich den eben gebrachten Korb wieder.

Seto wusste, dass das all die Jahre noch nicht vorgekommen war. Doch ihm war ein Gedanke gekommen und er wollte dem nachgehen, hatte aber selbst keine Zeit dafür.

„Ich möchte es wissen“, sagte er ablehnend. Seto konnte seinem Angestellten ja schlecht sagen, dass er auf einen bestimmten Absender hoffte. „Aber sortieren Sie die Liste nach Inhalt der Körbe.“

„Wird gemacht“, sagte der junge Mann und sah aus, als würde er gleich schreiend aus dem Fenster springen, wäre hier oben kein Panzerglas. Seto wusste natürlich auch, dass der Mann genug zu tun hatte und unter anderem noch immer Weihnachtsbriefe auf der Liste standen. Aber wozu gab es die Praktikantin und zur Not müsste er Überstunden machen.

Er saß schließlich auch oft bis tief in die Nacht hier.

Seto beobachtete wie der Mann noch zwei mal herein kam und die anderen Körbe mit sich nahm.

Dann seufzte er auf.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wieder einmal war seine Zunge schneller als sein Verstand gewesen. Was der Mann vorne jetzt wohl dachte?

Dabei konnte es ihm doch egal sein. Aber in diesem Fall nicht. Immerhin war die Schokolade von vielen weiblichen Fans. Natürlich gab es auch hier und da männliche Fans, die genauso ein Interesse an ihm hegten, aber Seto wusste, dass er definitiv auf das andere Geschlecht stand.

Immerhin hatte er schon mit der ein oder anderen Frau das Bett geteilt. Aber in letzter Zeit war das auch nicht mehr vorgekommen und Seto vermisste es auch nicht.

Dennoch hoffte ein Teil von ihm, der Teil, den er meistens verdrängte, dass unter den Süßigkeiten etwas Bestimmtes dabei war und auf der Liste ein spezieller Name stand.

Immerhin hatte sie Mokuba etwas geschenkt und es bestand die Möglichkeit, dass sie auch ihm etwas schenkte und wenn das der Fall war, dann wollte er wissen, was er ihr schuldig war oder es ihr zumindest zurückgeben.

Es wäre ihm auch unangenehm gewesen, wenn sie sich so viel Mühe machte und er es ihr nicht mal danken konnte, weil es in den Massen unter ging.

Seto schüttelte den Kopf.

Was dachte er da?

Wieso war es ihm nicht egal, wenn sie für ihn Geld ausgab und ihm etwas schenkte? Sie war genauso eine Fremde, wie die anderen Fangirls auch.

Doch genau da meldete sich wieder sein Gewissen.

„Ist sie das wirklich?“, fragte sie wieder mit dieser Fistelstimme und Seto konnte förmlich den herausfordernden Unterton hören.

Natürlich war sie das!

„Sicher? Was weißt du denn nicht alles schon?“, fragte die Stimme weiter.

Ja, was wusste er schon über sie? Sie lebte allein, war seit einigen Monaten Singel, Fotografin, konnte gut backen, sie hatte keine Ahnung von Mathe oder Politik. Ihre Augen waren Blau-grün und ihr Haar blond. Heute stand sie wieder auf dem Weihnachtsmarkt.

„Du weißt doch eine Menge“, sagte sie Stimme wieder und unterbrach seine Gedanken.

Tat er das? Kannte er wegen ein paar mickriger Informationen jemanden?

Die Antwort war klar. Nein, natürlich kannte er sie deshalb nicht. Er wusste weder, wie zum Beispiel ihre Beziehung verlaufen war, noch ob sie oder er sich getrennt hatte oder ob, es überhaupt ein Mann war oder wie viele Beziehungen sie schon vorher hatte. Er wusste auch nicht, wie alt sie war oder wie sie aufgewachsen war.

„Nebensächlichkeiten“, sagte seine Gewissensstimme wieder.

Seto schnaubte und gab wieder etwas ins Tastenfeld ein. Dieser Laptop flog doch bald aus dem Fenster, wenn er nicht bald an seine Daten heran kam.

„Ganz ruhig, Brauner“, sagte wieder die Stimme, „Wie wäre es mit etwas Schokolade zur Beruhigung?“

Wieder schnaubte er. Konnte die Stimme nicht endlich still sein? Er musste sich konzentrieren und sein Projekt retten und hatte keine Zeit sich um sein Gewissen zu kümmern. Es sollte wieder in die hinterste Ecke seines Bewusstseins gehen, wo es hin gehörte!

„Verstehe“, sagte sein Gewissen wieder, „Du willst keine Schokolade. Zumindest die der Fans nicht. Aber gib es zu, ihre würdest du essen.“

Seto schwieg. Dem würdigte er keine Antwort.

„Genauso wie du ihre Kekse isst, die sie mit Mokuba gebacken hat.“

Eisen schwieg er weiter. Er schuldete dieser imaginären Stimme keine Rechenschaft und wenn sie nicht bald schwieg würde ernsthaft in Erwägung ziehen sie sich wegtherapieren zu lassen.

„Versuch es doch!“, konterte die Stimme, „Aber ich weiß, dass du weißt, dass ich recht habe!“

Damit schwieg sie und Seto seufzte auf, wollte grade zum Teller mit Keksen greifen, hielt jedoch inne. Nein, diesen Triumpf würde er seinem Gewissen nicht geben und zog seine Hand sofort wieder zurück. Dennoch hätte er schwören können in seinem Kopf ein leises Stimmchen lachen zu hören.

Knurrend wollte er sich wieder den wichtigeren Dingen in seinem Leben zuwenden, als es klopfte.

Genervt stöhnte er auf. Kam er heute überhaupt noch zum Arbeiten? Wahrscheinlich nicht.

Vorsichtig sah der junge Mann herein und brachte den ersten Korb zurück.

„Herr Kaiba, hier ist die Liste mit den Adressen. Es stehen alle drauf“, sagte er leise und Seto entriss ihm ungeduldig das Blatt.

Nur am Rande bekam er mit, dass sein Sekretär wieder gegangen war. Seine blauen Augen huschten über das Papier in seiner Hand, unzählige Namen wurden überflogen.

Als er fertig war, sah er sich die Liste erneut an und seufzte auf. Ob aus Enttäuschung oder Erleichterung wusste nicht einmal Seto Kaiba selbst.

„Aus Enttäuschung natürlich!“, meldete sich sofort seine Fistelstimme wieder zu Wort und er griff gedankenverloren zu einem Vanillekipferl und biss hinein.

Er schwieg die Stimme an und aß den letzten Rest des Gebäcks auf, ehe er die Liste zur Seite legte. Gut, dort stand der Name von Kuzuki nicht. Aber es blieben ja noch zwei weitere Körbe und bis zum Abend kämen auch noch welche an. Es wäre also gut möglich, dass sie es erst später ab gab oder direkt bei ihm zu Hause?

Aber wollte er unbedingt etwas von ihr? Nein, dann wäre er ihr ja auch ein Geschenk schuldigt und er verschenkte nichts, außer an seinen Bruder!

Seto legte die Liste zur Seite und trank einen Schluck vom Kaffee, um seine Nerven zu beruhigen. Entspannt schloss er kurz die Augen und atmete tief durch.

„SETO!“, rief sein Bruder laut und die Tür schwang auf.

Kurz zuckte er zusammen.

„Mokuba, du solltest doch in der Schule sein!“, sagte er streng.

„In der Schule?“, fragte der kleine Wirbelwind skeptisch und warf seine Tasche auf den Boden, „Schau mal auf die Uhr, großer Bruder. Wir haben schon drei Uhr durch!“

Aus reiner Gewohnheit sah er zum Laptop, der grade ein Menüfeld anzeigte, weshalb er kurz zum Handy griff und dort die Uhrzeit prüfte.

Tatsächlich. Er hatte den halben Tag damit zugebracht sein Passwort zu hacken und hatte noch kein Stück für die eigentliche Arbeit getan.

Ein erstaunter Laut entfuhr Mokuba und Seto sah zu ihm.

„So viel Schokolade! Das ist ja jetzt schon mehr als letztes Jahr, Seto!“

Er nickte und hämmerte wieder auf die Tasten ein.

„Kann ich etwas davon haben?“, fragte er in einem bettelnden Tonfall und sah die Süßigkeiten mit sehnsüchtigem Blick an.

Er nickte stumm und hörte nur Papier rascheln. Schon hörte er ein knacken und wusste, egal, was sein Bruder sich genommen hatte, es war geköpft worden.

Mit dem Schokonikolaus in der Hand kam er wieder zu seinem Schreibtisch. Sein Mundwinkel war verschmiert und ein Krümel hing über seiner Lippe.

„Weißt du was, Seto?“, fragte er strahlend und brach ein weiteres Stück ab. Er hielt es ihm hin und Seto schüttelte nur mit dem Kopf. Viel zu gebannt sah er auf seinen Laptop, der endlich mal ein paar Befehlseingaben annahm.

Hoffnung keimt in Seto auf, dass er endlich das Problem gefunden und gelöst hatte.

„Was denn, Mokuba?“, fragte er und tippte schnell weiter die Befehle in das Gerät ein, ehe es sich wieder anders überlegen konnte und alles verweigerte.

„Heute wurden die Rollen für unser Theaterstück verteilt!“ Sein Grinsen wurde noch breiter.

„Hast du eine abbekommen oder hilfst du wieder hinter der Bühne mit, wie letztes Jahr?“, fragte Seto und konnte sich noch gut an das enttäuschte Gesicht des kleinen Weihnachtselfen vorstellen, als seine Klasse „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Dickens aufgeführt hatte und Mokuba nur mithelfen sollte, dass die Requisiten an Ort und Stelle waren.

„Rate!“, sagte er stolz und mit breitem Grinsen.

„Du bist wieder hinter der Bühne?“, fragte er und sah kurz auf.

„Nein. Ich habe eine Rolle!“, sagte er stolz.

„Gratuliere und welches Stück führt ihr auf?“, fragte er und hielt inne den Laptop zu bearbeiten.

„Der Nussknacker!“, verkündete er voller Stolz.

„Ist das nicht ein Ballettstück?“, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.

Mokuba nickte.

„Ihr werdet also Ballett tanzen?“

„Nein, aber ein wenig tanzen schon“, gestand er kurz und sah seinen Bruder doch freudig und stolz an.

„Welche Rolle hast du bekommen?“, fragte Seto und betete heimlich unterm Tisch mit gekreuzten Fingern, dass es keine wichtige Hauptrolle war. Die Musik würde er noch Wochen später im Ohr haben. Denn schon jetzt konnte er die kleinen Klänge des Stückes hören und verdrängte sie sofort wieder.

„Ich bin eine Zuckerstange!“

„Eine was…?“

„Zuckerstange!“, wiederholte er voller Stolz und seine Brust schwellte sogar ein wenig an.

Seto zog eine Augenbraue fragend nach oben.

„Ich bin die zweite Zuckerstange, die dort mit auftaucht.“

„Zweite Zuckerstange?“

„Ja!“, sagte er nachdrücklich und sah ihn an, als wäre er der verrückte.

„Musst du da tanzen?“

„Natürlich!“, sagte er, „Seto, du musst unbedingt kommen und es dir ansehen!“

„Ich versuche es, Mokuba.“

„Und du musst Naomie mitbringen!“

„Wer?“

„Naomie?“

„Wer ist Naomie?“

Mokuba seufzte. „Stell dich nicht dümmer als du bist! Naomie Kuzuki, die Fotografin?“

Stimmt. So hieß sie. Er hatte ihren Vornamen tatsächlich vergessen gehabt.

„Wieso sollte ich sie mitbringen?“, fragte er.

„Damit sie Fotos machen kann?“, sagte er und redete mit ihm, als wäre er geistig zurück geblieben. „Immerhin haben wir bis dahin noch keinen neuen Fotografen, oder? Außerdem möchte ich schöne Fotos davon haben und sie ist gut und sie hat ebenfalls von mir eine Karte bekommen!“

„Was?“, fragte er und hätte sich fast am Kaffee verschluckt. „Du hast was?“

„Ich habe ihr eine Karte gegeben. Immerhin stammt ja von ihr das schöne Foto von Shadow und irgendwas musste ich ihr doch zum Nikolaus schenken.“ Mokuba zuckte mit den Schultern. Offenbar wusste sein Bruder auch, dass es von ihr war und nicht von ihm. Umso besser für sein Gewissen. Sein kleiner Bruder sagte auch nichts dazu, es von seiner Seite zur Schokolade gegeben hatte anstatt noch etwas Materielles. Ob er es aus Rücksicht und seiner Arbeit tat?

„Wann hast du das getan?“

„Vorhin auf dem Weihnachtsmarkt. Sie ist da ja heute wieder und macht Werbung. Das hatte sie mir beim backen erzählt.“ Er fröstelte kurz. „Am liebsten hätte ich sie wieder mitgenommen. Sie sah total verfroren aus mit dem Kostüm. Hoffentlich wird sie nicht krank.“

Sein kleiner Bruder warf ihm einen Blick zu, den Seto nicht deuten konnte. Ein schelmisches Blitzen war darin zu sehen, aber auch eine stumme Aufforderung. Sollte das ein indirekter Wink sein sich zu ihr zu bewegen und sie von der Straße ins warme zu holen?

Wenn ja, konnte sein Bruder das direkt vergessen. Diese Frau war alt genug und musste selbst wissen, ob sie in einem knappen Kostümchen von Betrunkenen belästigt werden wollte und sich die Nieren abfror, nur weil der Chef es verlangte.

Er war nicht ihr Babysitter.

Dennoch konnte Seto nicht verhindern, dass er selbst leicht fröstelte bei der Vorstellung, wie sie dort im Kostüm herum lief. Immerhin war es heute sogar noch kälter als vor ein paar Tagen und es schien nicht besser geworden zu sein, wenn er so nach draußen sah.

„Musst du eigentlich noch viel arbeiten?“, fragte Mokuba und spähte zu seinem Laptop. Irgendwie lag auf seinem Gesicht ein schelmischer Ausdruck. Er biss ein großes Stück von der Schokolade ab. Ein kleiner Teil hing aus seinem Mund heraus.

„Wenn ich dazu käme den Laptop zu benutzen, dann ja“, antwortete er und musterte Mokuba mit kritischem Blick. Eigentlich wusste er, dass er besonders jetzt immer viel zu tun hatte. Wieso also fragte er nach, ob er noch viel arbeiten müsste?

„Funktioniert er nicht?“ Ein amüsierter Unterton war in Mokubas Stimme.

„Nein“, sagte er und Seto bekam den Verdacht nicht los, dass sein kleiner Bruder etwas damit zu tun hatte. „Jemand hat mein Passwort verändert und bis gestern Abend ging er auch noch.“

„Oh wie konnte das nur passieren?“, fragte er mit gespielt ernster Miene.

„Mokuba, hast du…?“, fragte er drohend und in seinem Magen bereitete sich ein ungutes Gefühl aus, was definitiv nicht durch das Gebäck verursacht wurde. Allein, wenn er an seine Daten dachte, raste sein Herz. Was hatte Mokuba getan?

Sein kleiner Bruder grinste ihn mit dem abgebrochenen Stück Schokolade im Mund an.

„Mokuba, du weißt, dass ich zu tun habe! Wieso hast du das getan?“, fauchte er ungehalten, doch sein kleiner Bruder blieb ruhig. „Vor allen Dingen, wann?“

„Als du geschlafen hast“, sagte er schulterzuckend und kaute genüsslich auf dem Kakaoprodukt herum.

„Wieso? Du weißt, ich muss die Präsentation fertig kriegen für das neue Kaiba Land Projekt!“

„Ich weiß.“

„Weshalb tust du es dann? Mein Laptop ist tabu!“ Seine Stimme klang fast verzweifelt.

Mokuba nahm sich eine Marzipankartoffel aus einer Geschenktüte eines Fangirls und schob sie sich in den Mund.

„Damit du dir mein Angebot anhörst.“

„Was für ein Angebot?“, fragte Seto mit drohender Stimme und sah Mokuba aus schmalen blauen Augen an. Doch er blieb weiterhin unbeeindruckt.

„Das Thema Fotograf.“

„Das haben wir besprochen. Bis Neujahr muss es ohne gehen. Oder es klappt auch so.“

„Wem willst du das erzählen, Seto?“

„Dir grade?“

„Funktioniert nicht!“, sagte Mokuba triumphierend und wedelte tadelnd mit dem Finger vor seiner Nase herum. „So und nun zu meinem Angebot. Wir brauchen einen neuen Fotografen oder Fotografin. Wir kennen jemand sehr gutes und haben auch die Stelle dafür frei. Dann will ich außerdem gute Fotos von der Theateraufführung, aber alle anderen haben zu tun. Ergo, müssen wir jemanden suchen. Und da kommst du ins Spiel, großer Bruder. Du fragst Naomie, ob sie für uns arbeiten will…“

„Bestimmt nicht.“

„Lehn es doch nicht ab“, sagte der kleine Kaiba streng. „Denk doch erstmal drüber nach.“

„Wozu? Die Antwort ist und bleibt nein. Ende und nun sag mir, was du mit dem Laptop gemacht hast.“

„Nein.“

„Mokuba!“

„Gut, dann eben so: Du kriegst dein Passwort, wenn du in einem Kuschelcafé warst.“

„Was?“, entfuhr es ihm entsetzt. Das Wort klang viel zu zuckrig und nach einem Zahnarztbesuch.

„Du igelst dich nur ein und ich glaube, es tut dir ganz gut, wenn du mal in den Arm genommen wirst! Dieses Café ist genau auf sowas spezialisiert. Die Mitarbeiterinnen nehmen dich in den Arm und streicheln dich.“

„Bin ich eine Katze?“ Allein die Vorstellung von fremden Leuten betatscht zu werden, bekam ihm gar nicht und er verzog innerlich das Gesicht.

„Mokuba, ich brauche so etwas nicht!“, sagte er.

„Gut, dann wünsche ich dir viel Spaß mit dem Knacken des neues Passwortes. Da kommst du nicht hinter!“

Seto seufzte.

„Was willst du Mokuba?“

„Dass du deinen Arsch aus dem Stuhl erhebst, dich zu ihr hin bewegst und sie fragst! Du weißt, wir brauchen ihre Hilfe!“

„Mokuba, wir kommen auch ohne Juan aus!“

„Das sieht man…“, brummte der Kleine und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich kann sie nicht brauchen!“

„Wieso nicht? Nenn mir einen guten Grund, der kein Vorurteil ist!“

Sofort wollte er zu einer Antwort ansetzen, hielt jedoch inne. Das, was ihm auf der Zunge lag, waren alles Vorurteile, wie er merkte.

Sein Bruder ließ ihn einige Sekunden Zeit und ging zu seiner Schultasche und zog eine Mappe daraus hervor. Theatralisch räusperte er sich, ehe er anfing vorzulesen

„Naomie Kuzuki hat vor drei Jahren ihre Ausbildung bei uns begonnen und vor einem halben Jahr erfolgreich abgeschlossen. Seitdem ist sie ein erfolgreiches und festes Mitglied unseres Teams geworden. Ihre offenherzige und liebenswürdige Art machte es unseren Kunden einfach, entspannt in ein Shooting zu gehen und Spaß dabei zu empfinden. Körperliche Belastbarkeit bewies sie mehr als einmal im Laufe ihrer Arbeit. Aufgetragene Arbeiten erledigte sie in vollem Umfang und zu unserer vollsten Zufriedenheit. Obendrein bewies sie sich bei Absprachen und Terminen mit Kunden als äußerst zuverlässig und bewahrte selbst in stressigen Momenten Ruhe. Ein Wechsel in ein anderes Studio würde uns sehr bedauern“, las er vor und schlug die Mappe zu. Er legte sie auf den Tisch ab. „Ich habe ein paar Details ausgelassen, aber das sollte genügen um sie einzustellen, oder?“

„Woher ist das?“, fragte Seto missmutig und ahnte schon, wo sein Bruder auf dem Weihnachtsmarkt kurzzeitig hin verschwunden gewesen war.

„Von ihrem Arbeitgeber.“

„Wozu?“

„Damit du ihre Qualifikationen kennst. Sie wäre besser als Juan und eine riesen Bereicherung für dich!“

„Wir brauchen keinen neuen Fotografen.“

„Warum willst du sie nicht fragen? Du bist so stur! Du weißt genau, dass wir jemand neuen bauchen!“

„Weil ich sie nicht hier haben will und wir brauchen keinen Anderen oder Neuen!“

„Oder suchst du nur Gründe, wieso du sie nicht einstellen willst?“

„Worauf willst du hinaus?“ Eine Augenbraue zog sich bei Seto nach oben.

„Mir scheint du suchst Gründe, warum du sie nicht einstellen willst, kannst oder sonstiges.“

„Tu ich das?“

„Ja.“

Seto schwieg dazu und würdigte dem keine Antwort. Alles, was er wollte, war sein neues Passwort, damit er endlich arbeiten konnte.

„Kann es vielleicht sein, dass du sie magst und deshalb nicht einstellen willst?“

„Mach dich nicht lächerlich, Mokuba.“

„Dann kannst du sie ja einstellen.“

„Nein“, sagte er entschieden.

Mokuba seufzte genervt und resigniert auf.

„Gut, wie du willst, großer Bruder. Entweder du bewegst deinen Arsch jetzt auf den Weihnachtsmarkt und fragst sie oder nennst mir den wahren Grund, warum es nicht geht. Oder du kriegst nicht das neue Passwort für deinen Laptop, was ich reingesetzt habe!“

„Das nennt man Erpressung“, sagte er trocken. So langsam ließ ihn sein kleiner Bruder verzweifeln. Wieso wollte er ihn dazu zwingen, diese Kuzuki einzustellen?

Wütend ging der sonst so fröhliche Wirbelwind wieder zu seiner Schultasche und zog eine kleine eisblaue Schachtel mit weißer Schleife daraus hervor.

Was sollte das denn jetzt werden? Wollte er ihn mit seinem Weihnachtsgeschenk erpressen? Das würde erst recht nicht funktionieren.

„Du kannst unseren Praktikanten aufhören lassen die Adressen der Nikolausgeschenke zu notieren. Ihres ist nicht dabei.“ Mokuba stellte die Schachtel auf seinen Tisch, direkt in sein Blickfeld, so dass es nicht zu übersehen war.

„Das soll ich dir von Naomie geben“, sagte Mokuba auf seinen fragenden Blick hin, „Denkst du, sie schenkt nur mir was und lässt dich aus?“

Damit verließ sein Bruder sein Büro mit schnellen Schritten und ließ ihn wieder alleine. So hatte er den Kleinen noch nie gesehen. Erst recht nicht mit so einem genervten Blick.

Seto konnte jedoch nur auf das die blaue Schachtel starren, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein Bruder war vergessen.

Er schluckte und versuchte das Geschenk zu ignorieren, während er noch immer kein Passwort für das Gerät auf seinem Tisch hatte. Mokuba schien auch viel zu genervt von der Diskussion zu sein, als dass er ihm jetzt helfen würde. Nein, ihn konnte er nicht fragen. Wahrscheinlich würde er sogar wirklich solange dicht machen bis er mit Kuzuki gesprochen hatte. Es musste also ohne ihn gehen.

Doch das sagte sich so einfach, wenn da dieses Etwas auf seinem Tisch lag, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Neugierig, was in der kleinen Hülle drin war, war Seto ja schon, aber er mochte keine Geschenke von Fremden. Wenn er hinein sah, würde er sich auch etwas für sie einfallen lassen müssen.

Kaiba schüttelte leicht den Kopf. Er würde standhaft bleiben!

Seto zwang sich, sich auf das laute Radio mit dem Weihnachtsmusiksender zu konzentrieren oder auch auf die kleine Schneekugel. Auch versuchte er sich auf die Spiegelung in einer Tannenbaumkugeln zu konzentrieren, die an der Tannengirlande an seinem Schreibtisch hing. Seto versuchte sich auf alles Mögliche zu fokussieren, nur nicht auf das Geschenk.

Seine Finger schwebten regungslos über der Tastatur, während sein Blick immer wieder zur Schachtel ging.

Wenn er es ansah, flatterten seine Nerven wieder ein wenig und er konnte spüren, wie er nervös wurde. Alles in ihm krampfte sich zusammen.

Kurz atmete er ein und aus und wandte sich wieder den wichtigeren Dingen zu, doch von Konzentration war keine Rede.

Immer wieder musste er inne halten und sich wieder zur Ordnung rufen. Doch die Schachtel war wie ein Neonschild, das nach Aufmerksamkeit rief.

Mokuba wusste genau, dass er jetzt nicht mehr arbeiten konnte. Es war eine absolute Gemeinheit von dem Kleinen. Er setzte ihm doch auch nicht sein Geschenk direkt vor die Nase!

Seto lehnte sich zurück und griff zu der Schachtel. Leise seufzte über sich selbst und seine Disziplinlosigkeit. Aber es juckte ihn einfach in den Fingern zu erfahren, was die Fotografin für ihn vorbereitet hatte.

Die Schachtel war ganz leicht in seinen Händen, als wäre darin nichts enthalten. Doch das glaubte er nicht. Bestimmt war darin etwas. Oder wollte ihn sein Bruder nur verschaukeln?

Nur zögerlich und mit immer mehr flatternden Nerven zogen seine Finger an der weißen Stoffschleife. Ganz langsam und bedächtig, als könnte das allein die Schachtel zerstören, löste er das Band und ließ es auf den Tisch fallen.

Vorsichtig hob er den Deckel an und spähte hinein.

Ein großes Stück Schichtnougat aus dem teuren Schokoladengeschäft der Innenstadt fiel ihm ins Auge und langsam nahm er es heraus. Darunter lag ein Umschlag und in der Ecke war eine weitere kleine Schachtel.

Zuerst nahm der den Umschlag heraus und öffnete ihn.

Darin waren mehrere Fotografien.

Alle von einer kleinen gefrorenen Blase, die das Licht reflektierte und in der sich die Sonne in einem goldenen, warmen Licht spiegelte. Man konnte auf den Fotos förmlich die Kälte spüren unter denen sie aufgenommen waren.

„Wow…“, flüsterte er und besah sich die Fotos. Eine der Blasen war aufgebrochen und wirkte wie ein Ei aus dem gerade ein zierliches Geschöpf geschlüpft war. Auf dem nächsten Foto war die Blase nur halb gefroren und er konnte wunderbar den Frost sehen, der sich darauf bildete, während die oberste hälfte noch flüssig war.

Es gab noch mehr Fotos und jedes einzelne wirkte einem Märchenland entsprungen. Jede Frostschicht war unterschiedlich und einmalig und ließ den Betrachter sich fühlen, als wäre er in einem Winterwunderland.

Sie hatte es tatsächlich geschafft Seifenblasen einzufrieren und abzufotografieren.

Er hielt nicht viel von Winter, auch nicht vom Schnee und hatte auch nicht viel für solche Dinge übrig. Aber diese Fotos machten selbst ihn sprachlos und ließen darin die Arbeit und Leidenschaft dahinter erkennen.

Eigenschaften mit denen er etwas anfangen konnte.

Wie gebannt sah er sich die Bilder an und konnte nur staunen über so viel Schönheit, die sie eingefangen hatte.

Es fiel ihm schwer den Blick davon zu lösen und sich der kleinen Schachtel, die noch in der Größeren lag, zuzuwenden.

Was sollte diese Fotografien noch toppen? Seto konnte sich kaum etwas vorstellen, was das übertreffen würde.

Doch er hatte sich geirrt.

Als Seto die zweite Schachtel öffnete, lag darin in Watte gepolstert ein kleiner Objektträger.

Fragend zog er ihn heraus und hielt ihn gegen das Licht bis er erkennen konnte, was zwischen den Plättchen lag.

Seine Pupillen verkleinerten sich ein Stück, als sich seine blauen Augen weiteten. Kaiba schluckte und spürte seinen Herzschlag in diesem Moment so stark, wie schon lange nicht mehr.

Das letzte Mal war es im Duell gegen Yugi gewesen, aber auch da hatte es sich anders angefühlt. Gegen Yugi hatte er im ersten Duell Angst empfunden, als er Exodia gespielt hatte. Das hier war eine andere Art Herzklopfen. Es war aufregender, wärmer und machte ihn auf eine fremde Weise nervös. Adrenalin rauschte durch seine Adern, während sein Herz noch immer unruhig pochte.

„Das sind Schneeflocken…“, murmelte Seto.

Türchen 7 - Wunschzettel

Das Christkind kam immer nach dem Nikolaus um den Wunschzettel abzuholen.

Der Brief musste säuberlich sein, selbst gemacht und mit einem kleinen Teller Kekse an Fensterbrett gestellt werden. Dann kam es über Nacht, um die Wünsche der Kinder abzuholen, damit sie auch bis zum heiligen Abend erfüllt werden konnten.

Jedes Jahr hatte Seto brav seinen Brief geschrieben mit den verrücktesten Wünschen, die es gab. Später hatte er diese Tradition seinem kleinen Bruder beigebracht gehabt und gemeinsam hatten sie dann im Zimmer gesessen und an ihren Wunschzetteln gearbeitet.

Einmal hatte es sogar ein Glitzerchaos gegeben, als Mokuba die Flasche mit dem Glitzer umgestoßen hatte und alles durch das Zimmer geflogen war.

Die Partikel hatten sie sogar noch Ostern gefunden gehabt und jeder, der den Brief angefasst hatte, bekam funkelnde Finger.

Dazu hatte die Heizung immer die Luft erwärmt und sie hatten bis Abends im Schein der Lampe und blinkender Fensterbeleuchtung daran gearbeitet, während draußen der Winter tobte und sich Frost an den Scheiben bildete.

Meist gab es dann noch einen Spaziergang im kalten Schnee mit einer kleinen Schneeballschlacht, so dass sie durchgefroren nach Hause kamen und direkt in die heiße Wanne gebracht wurden.

Seto hatte es immer geliebt mit Mokuba zu baden, mit den Lieblingsfiguren zu planschen und seinem kleinen Bruder die Haare zu waschen und den Rücken zu schrubben.

Nach dem heißen Bad gab es immer das Abendessen mit Brot, Wurst und Gemüse. Dazu etwas lauwarme Milch. Während sich seine Eltern immer über Erwachsenenzeug unterhalten hatten, hatten er und Mokuba Pläne geschmiedet, was sie noch alles tun wollten nach dem Essen. Die Zeit bis zum Schlafen gehen schien endlos gewesen.

Sobald sie aufstehen durften, bereiteten sie den Fenstersims für das Christkind vor. Der Teller mit Keksen und etwas Gemüse, immerhin sollte das Christkind nicht dick werden, wurde auf den Fenstersims gestellt, daneben lagen die Briefe.

Mokuba hatte seinen immer versucht zu imitieren und immer die gleichen Wünsche aufgemalt und geklebt gehabt, was ziemlich niedlich gewesen war.

Schon früher hatte seine Lieblingskarte, der weiße Drache, auf seiner Wunschliste ganz oben gestanden.

Doch leider blieb dieser Wunsch jahrelang unerfüllt.

Seto erinnerte sich auch gut daran, wie sie versucht hatten wach zu bleiben. Zusammen hatten sie unter der Decke gelegen, eng aneinander gekuschelt und das Fenster nicht aus den Augen gelassen. Mokuba hatte er abends immer ein Weihnachtsmärchen vorgelesen gehabt. Doch irgendwann waren die Augenlider auch schwer geworden und sie waren eingeschlafen.

Die Milch war dann halb ausgetrunken gewesen, von den Süßigkeiten und dem Gemüse war nichts mehr da. Auch die Briefe waren fort.

Mit leuchtenden Augen hatten sie die Krümel bewundert und sich ausgemalt, welcher Wunsch wohl erfüllt werden würde.

Nachdem sie ins Waisenhaus gekommen waren, hatte diese Tradition ein schnelles Ende gefunden.

Sie wollten wie jedes Jahr dem Christkind ihren Brief hinlegen, doch die Erzieher hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sogar angefaucht, was der Unsinn sollte und das grade er, Seto, alt genug sei, um damit aufzuhören. Es gäbe doch gar kein Weihnachtsmann oder Christkind. Das wäre nur was für die Jüngsten. Wütend hatte man ihm die Zettel von Mokuba und ihm aus der Hand gerissen.

So hatte er damals erfahren, dass alles eine Lüge war.

Die Milch hatten seine Eltern getrunken, die Gemüsestücke hatten sie wieder in den Kühlschrank gepackt gehabt, um sie mit in die Schule und Vorschule einzupacken und die Kekse hatten ihren Weg zurück in die entsprechenden Dosen gefunden.

Auch der Brief war nicht durch Zauberei durch das Glas gegangen und in die Hände eines Weihnachtsengels gekommen.

Eine kleine Welt war zusammen gebrochen und er hatte angefangen erwachsen zu werden.

Mokuba hatte ihn gefragt, was mit ihren Traditionen seien und er hatte ihm erklären müssen, dass diese sich geändert hatten. Fortan würden die Wunschzettel die Erzieher einsammeln und dem Christkind geben.

Der enttäuschte Blick, dass sie nicht wie jedes Jahr ihre Tradition bestehen lassen konnte, hatte Seto fast das Herz gebrochen und es war keine leichte Aufgabe gewesen.

Im nächsten Jahr hatte er aufgehört Briefe zu schreiben und sich stattdessen mit den Hausaufgaben beschäftigt oder anderen Dingen, während Mokuba fröhlich summend auf dem Boden gebastelt und geschrieben hatte. Mit breitem und stolzen Grinsen über seinen ersten eigenen Brief, den er nicht von Seto abgeschaut hatte, hatte er ihm ihn gezeigt.

Es hatte ihn alle Mühe gekostet ihn nicht anzuschreien, dass es sinnlos wäre und dass diese Dinge doch nicht existierten.

Aber sein kleiner Bruder glaubte noch daran und wenigstens er sollte das noch können, wenn er es schon nicht mehr gedurft hatte.

Irgendwie hatte er es sogar geschafft gehabt, Mokuba zu sagen, dass er solche Dinge nicht mehr brauchte und zu alt dafür war, während sich wieder dieser enttäuschte Blick auf dem Gesicht seines Bruders gezeigt hatte.

Dabei hätte er sich nur zu gerne zu dem Kleinen auf den Boden gesetzt, die Kataloge gewälzt und kleine Collagen als Wunschzettel gebastelt, wie früher.

In der Zeit bei Gozaburo hatte diese Tradition gänzlich ihr Ende gefunden und war erst in den letzten drei Jahren wieder von Mokuba ins Leben gerufen worden.

Seitdem lag immer am Tag von Nikolaus der Wunschzettel auf dem Fensterbrett, wenn Seto abends nach Hause kam. Zusammen mit ein paar Keksen und einem Glas Milch.

Das Gemüse hatte Mokuba inzwischen komplett weg gelassen. Scheinbar sollte das Christkind, in dem Fall Roland oder er selbst, dick und rund werden.

Dabei dachte Seto, dass sein Bruder längst aufgeklärt war über die Tatsache, dass es so etwas nicht gab. Aber scheinbar brauchte der kleine Wichtelelf das immer noch. Also sollte er es auch bekommen, auch wenn er dafür über seinen Schatten springen musste.

All diese Erinnerungen strömten auf ihn ein, als er dieses kleine Plättchen mit den konservierten Schneeflocken zwischen den Fingern hielt und wie gebannt anstarrte.

Keine Schokolade oder Parfümset von allen Fans der Welt konnte das aufwiegen, was dieses Geschenk aussagte.

Es sagte doch klar und deutlich, dass der Beschenkte etwas Besonderes war. Oder nicht?

Kuzuki hatte sich wirklich Gedanken gemacht und nicht irgendwas gekauft, wie der weibliche Teil seiner Fangemeinde. Was auch die vollen Körbe nur zu gut bewiesen.

So winzig das Geschenk auch war, es brachte sein Herz zum klopfen.

Mit Geld war das nicht aufzuwiegen und nun kam er zu dem Problem, dass er nichts für sie hatte, was das gleich stellen würde.

Seto musste sich eingestehen, dass er damit gerechnet hatte, sie hätte ihm nur Schokolade besorgt oder etwas anderes simples. Eben wie die Fans auch, weil ihn keiner kannte und wusste, was er brauchte oder sich wünschte. Immerhin besaß er alles.

Aber wäre es nur so ein klassisches Kakaoprodukt gewesen, hätte er ihr ebenfalls eines geben können. Genug hatte er ja in den Körben.

Nun musste er sich genau überlegen, wie er diese Geste erwiderte. Immerhin sollte sie nicht denken, dass er undankbar war oder das nicht zu schätzen wusste. Aber Kuzuki sollte auch nicht glauben, er würde sie allzu sehr mögen.

Daher fiel Schmuck schon mal weg, ebenso Parfüm. Bei letzterem stellte sich obendrein die Frage, welche Sorte sie bevorzugte, was er gar nicht wusste.

Ein Abendessen auf seine Kosten in einem der noblen Restaurants der Stadt, nur sie und ihre Freunde oder Familie schien ihm zu einfallslos. Ebenso eine Einkaufstour durch die Mall auf seine Kosten.

Die Preise würden dann von den Artikeln entfernt und die Dame wurde durch das Kaufhaus geführt und durfte sich das mitnehmen, was ihr zusagte. Der Preis spielte dann keine Rolle.

Wobei hier die Gefahr bestand, dass sie vielleicht sogar viel zu unverschämt wurde. Auch wenn viele seiner Geschäftspartner das ihren Frauen schenkten zu Weihnachten und darauf schwörten, aber er war ja nicht mit ihr liiert und es schien auch ein wenig übertrieben.

Aber was konnte dann dieses Geschenk aufwiegen?

Seto wusste es nicht.
 

Genauso wenig wusste Kaiba, wie er nun auf den Weihnachtsmarkt gekommen war mit den unzähligen bunten Lichtern und der lauten Musik, die ihm „Merry Christmas“ wünschte.

Er stieß den Atem aus, der sich in Formen von kleinen Wölkchen sichtbar machte und zog den Schal etwas höher, so dass er die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Die kalte Luft drang unter seine Kleiderschicht und er konnte spüren, wie die Wärme von seinem Körper gestohlen wurde. Auch die warme Luft der Autoheizung war schon verflogen. Stattdessen biss die Kälte in seine Haut und Seto merkte, wie sie sich anspannte.

Er schob die Hände tief in die Taschen und fragte sich, wie er so tief sinken konnte, dass er wieder hier am Rande des Marktes stand. Diesmal sogar mit dem Ziel Kuzuki zu suchen.

Nicht nur wegen des Geschenkes, sondern auch wegen Mokuba.

Ein kalter Luftzug streifte sein Gesicht und er fröstelte. Seine Nase fühlte sich schon halb taub an und mit dem Rest seines Körpers war es nicht besser.

Der Schnee war sogar etwas härter durch die Minusgrade geworden, die über das Land fegten. Sicherlich würde es diese Nacht sehr stark frieren.

Eine überdimensionale Weihnachtspyramide drehte sich im Kreis mit den Figuren und ein Stand mit Räuchermädchen hüllte ihn ein. Kurz musste er Husten, als der Rauch in seine Lungen drang.

Ein Weihnachtsmann zog an ihm vorbei und ging auf die kleinen Kinder zu, um sie zu beschenken, wenn sie ein Gedicht oder Lied aufsagen konnte.

Es war das reinste Paradies für Weihnachtsfans.

Wieder richtete Seto den Schal, atmete die kalte Luft ein und ging in die Massen hinein.

Er zog das Stück Stoff um seinen Hals höher, ehe ihm noch der Rest vom Gesicht abfror und ging zielsicher durch die Stände.

Für diese Aktion würde Mokuba ein Geschenk weniger unter dem Baum finden!

Wie konnte er ihm das nur antun, sich so zu erniedrigen und grade heute waren einige Reporter mit Kameras unterwegs. Sowohl vom lokalen Fernsehsender, als auch von der Presse.

Großartig. Kaiba konnte die Schlagzeile schon jetzt sehen. Keiner von diesen Paparazzis durfte ihn entdecken und geschickt bog er in eine Lücke zwischen einem Stand für Crêpes und Duftkerzen ab.

Schnell ging er hinter den Ständen entlang und war dann gezwungen durch die Enge wieder in die volle Passage zu gehen.

Schnell wich er einem Kinderwagen aus, der ihm vor die Füße rollte und umging noch einen Zusammenprall mit dem Ständer voller Ketten und Bänder. Der Duft von gebrannten Nüssen und Kastanien schlug ihm entgegen.

Doch er blieb nicht stehen, um sich die Sachen anzusehen.

Die Musik veränderte sich und wurde rockiger, während der Sänger und die Sängerin „Rockin‘ around the christmas tree“ sangen.

Die Lampen flackerten und die Lämpchen an den Häusern gingen einen kurzen Moment später an. Auch die Beleuchtung über der Stadt sorgte für ein angenehmes warmes Licht, was die Besucher dazu anregen sollte viel zu kaufen und auch zu Essen und zu Trinken.

Es erinnerte in an zu Hause und daran, was Mokuba aus der Villa gemacht hatte. Bald würde der Kleine auch einen Baum aussuchen wollen und ihn schmücken. Sein ganzes Wohnzimmer würde dann in so einem Licht getaucht sein, was förmlich dazu einlud sich dann unter eine Decke zu kuscheln, etwas zu trinken und beisammen zu sein.

Kurz zog ein kleines Bild vor seinem inneren Auge vorbei, wie der Baum geschmückt am Fenster stand. Nur seine Lichter brannten und hüllten die zwei Personen auf dem Sofa in dem schwachen, gelben Licht ein. Er drückte jemanden an sich und bereitwillig schmiegte sich die blonde Person an seine Schulter, während er dieser einen Kuss auf die Stirn hauchte.

Seto schüttelte über dieses abstruse Bild nur den Kopf und so schnell es vor seinem inneren Auge aufgetaucht war, war es auch wieder verschwunden.

Wie kam sein Gehirn nur auf so eine schwachsinniges Bild? Dennoch erfüllte ihn die Vorstellung mit einer angenehmen Wärme. Doch auch diese war schnell verflogen, als der Wind an seiner Kleidung zerrte und in jede Ritze kroch, um ihn zum frieren zu bringen.

Kaiba lief weiter und sah sich aufmerksam um. Irgendwo war doch der Stand mit den Fotografien.

Der Glühweinstand hatte regen Andrang und Seto roch die Gewürze in der Nase, sowie den Alkohol, der reichhaltig ausgeschenkt wurde.

Schnell lief er weiter, wich einem Mann mit Kamera von der nächsten Zeitung aus. Ein Chor von Kindern sang krumm und schief auf einer Bühne „Oh Tannenbaum“. Der Stand mit den verschiedenen Weihnachtssternen mit Lichtern drin und die Salzsteingrotte mit ihren überteuerten Lichtern spendete zusätzliches Licht.

Die Verkäufer hinter den Ständen wirkten wenig glücklich in dieser Kälte zu stehen. Eine Frau klammerte sich mit roter Nase an ihre Tasse fest aus der heißer Dampf wich.

Auch Kaiba musste gestehen, dass ein Tee gar nicht schlecht klang.

Er fror tierisch und hatte das Gefühl seine Hose sei ganz steif von den Temperaturen.

Immer wieder bewegte er die Hände in den Taschen, damit sein Blut nicht ins stocken kam.

Mehrere Tüten schlugen ihm gegen das Schienbein auf seinem Weg und mit jedem Schritt verfluchte er seinen kleinen Bruder mehr und mehr. Jemand mit Angst vor Massen sollte sich nicht in dieses Gedränge begeben, doch zum Glück gehörte Seto nicht zu jenen.

Dennoch würde er Mokuba nicht so schnell verzeihen!

Nicht nur, dass er keine Ahnung hatte, was er Kuzuki sagen sollte, wenn er vor ihr stand, geschweige denn eine Idee oder überhaupt ein Geschenk hatte. Nein, Mokuba hatte dem ganzen ja die Krönung aufsetzen müssen indem er ihn, Seto Kaiba, dazu zwang, sie zu bitten für ihn zu arbeiten. Dabei sollte es genau umgekehrt sein. Sie müsste ihn anflehen, dass er sie einstellte.

Während er wie gebannt auf die Schneeflocken gestarrt hatte, hatte er sich wieder in sein Büro geschlichen und sich mehrfach geräuspert, ehe Seto ihn wahr genommen hatte.

Es war einfach nur peinlich. Jetzt dachte sein kleiner Bruder sicherlich, dass er gerührt war oder sonst irgendwie sentimentales.

Dabei stimmte das gar nicht! Er hatte nichts dergleichen denken können. Lediglich sein Herz hatte unnatürlich schnell geschlagen gehabt. Aber das war kein Grund deshalb auszuflippen.

Schnell ging er bei dem Gedanken weiter und wich gerade so einer Oma mit ihrem Wägelchen aus.

Mokuba hatte ihm dann zum Glück doch noch unter dem Versprechen, dass er wirklich noch mit ihr redete und sich auch für das Geschenk bedanken würde, das Passwort gegeben.

Seto hatte in dem Moment ein Dankgebet zum Himmel geschickt, dass er endlich arbeiten konnte, aber kaum hatte er das Passwort eingegeben und wollte auf den Dateiordner mit den wichtigsten Sachen zugreifen, als ihn der nächste Schlag getroffen hatte.

Sein Bruder hatte wirklich an alles gedacht. Selbst an die Tatsache, dass er Seto kein genaues Datum abgeluchst hatte und er somit alle Zeit der Welt hätte bis Mokuba es vielleicht sogar vergaß. Doch nicht mit seinem kleinen Bruder!

Anstatt seine Dateien mit Verträgen und Präsentationen zu finden, hatte Seto mehrere Ordner vorgefunden. Alle Fein mit einem Wort beschriftet, so dass sie am Ende sogar eine kleine Nachricht für ihn ergeben hatten.

„Lieber Bruder, damit du auch wirklich dein Versprechen hältst, habe ich deine Daten versteckt. Wenn du es wissen willst, rede zuerst mit ihr, dann verrate ich dir, wo du dein Projekt findest. Wenn nicht…viel Spaß beim Suchen! Du hast die Wahl. Arsch hoch oder Suchen?“

In diesen Ordnern befanden sich weitere Unterordner und in diese ebenfalls. Ein kleines endloses Suchspiel und nachdem Seto etwa 100 Ordner durchgewühlt hatte, hatte er es aufgegeben. Mokuba hatte sogar die Suchfunktion deaktiviert gehabt, was ihm das ganze erschwert hatte.

Nach weiteren zwei Stunden suchen, hatte er es aufgegeben und war zum Markt gefahren. Mokuba hatte er sogar in Kenntnis gesetzt gehabt und ihn gefragt, was wäre, wenn sie das Angebot ablehnen würde.

Daraufhin hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, sie müsse es ihm dann aufschreiben oder persönlich sagen.

Was nichts anderes hieß, sein Bruder glaubte ihm nicht, wenn er zurück kam mit einer Abfuhr.

Ein Seufzen entfuhr Seto bei dem Gedanken.

Grade als er abbiegen wollte, hörte er ein lautes und zu seinem Leidwesen gut bekanntes Lachen.

Wheeler!

Kaiba drehte sich herum und musste zwei Mal hinsehen, eher hinter dem künstlichen Rauschebart, Mütze und Mantel den Straßenköter erkannte.

Neben ihm lief Kuzuki. Doch im Gegensatz zu Wheeler steckte sie in einem weißen Samtkleid mit Engelsflügeln und einem Heiligenschein über den Kopf, der mit einem dünnen Draht in ihren Haaren befestigt war. Die Haare waren zu feinen Korkenzieherlocken gedreht und hochgesteckt.

Ihre Wangen waren rot von der Kälte und Glitzer schimmerte drauf. In den Händen, die schon leicht bläulich waren, hielt sie einen Korb mit kleinen Nikoläusen.

Alles in allem wirkte das Kostüm viel zu künstlich und als würde sie gleich in einem Theaterstück auftreten.

Warm schien ihr ja auch nicht grade zu sein und am liebsten hätte er sie sofort gepackt, genauso wie Mokuba und in seine warme Firma gefahren. Der Anblick war kaum auszuhalten, ohne dass er selbst fror.

Sie kicherte grade und ihr Atem erschien in der Luft.

„Ich habe gestern ein Paket von meiner Familie erhalten“, sagte sie begeistert und ihre Augen leuchteten dabei, „Meine Oma hat wieder Marmelade gekocht und mir wie jedes Jahr selbstgemachten Tee aus ihrem Garten dazu geschickt. Das schmeckt immer großartig. Besonders zum Frühstück. Von meinen Eltern gab es mehrere Süßigkeiten. Ich weiß gar nicht wohin damit.“

„Du kannst es mir geben, wenn du es nicht willst“, unterbrach Wheeler sie und klaute sich einen Nikolaus aus ihrem Korb. Über ihren empörten Ausruf sah er geschickt hinweg. Schnell war das kleine Schokoladenprodukt ausgewickelt und in seinem Mund verschwunden.

„Träum mal weiter!“, konterte sie kichernd und brachte ihren Korb voller Schokolade aus seiner Reichweite, ehe er alles verputzen würde. Denn der zweite Miniweihnachtsmann wurde ausgepackt und verputzt „Meine Eltern haben mir auch dazu passend Orangen und mein Weihnachtsgeschenk mitgeschickt.“

„Wieso dein Geschenk?“, fragte Joey mit seinen vollen Hamsterbacken, „Feiert ihr nicht zusammen.“

Sie schüttelte den Kopf und die Löckchen flogen nur so hin und her. Das Drahtgestell von dem Heiligenschein wackelte bedrohlich, hielt aber stand. „Nein, mein ältester Bruder muss im Restaurant arbeiten. Hochsaison versteht sich grade. Meine ältere Schwester ist grade für ein Studienjahr im Ausland und meine Eltern wollen lieber mit meinem jüngsten Bruder und Schwester nach New York fliegen und dort die Festtage verbringen.“

„Und deine Großeltern?“

Sie verzog etwas das Gesicht. „Sie sind inzwischen etwas zu alt dafür und kamen daher jedes Jahr zu uns angereist.“

„Oh verstehe und wenn du zu ihnen reist?“

„Das hatte ich auch überlegt, aber als einziges Mitglied der Familie dann dort aufzukreuzen finde ich ziemlich….naja….Mist. Daher hat der Familienrat bei uns beschlossen, dass wir für uns alleine feiern und das Familientreffen dann zu Silvester gemacht wird.“

„Okay, aber wenn du nichts vorhast, dann könnten wir ja zusammen feiern? Ich bin sicher Yugi und die anderen haben nichts gegen, wenn du dich zu unserer Runde im Restaurant dazu gesellst und mit deinen Plätzchen kannst du sie sicherlich überzeugen! Oder hast du einen Freund und feierst mit ihm?“

Seto beobachtete die beiden stumm und wie sie an ihm vorbei gingen, ohne ihn zu bemerken. Hatte er richtig gehört und der Köter lud sie dazu ein mit ihm zu feiern, als hätten sie ein Date?

Irgendwie behagte ihm der Gedanke so gar nicht. Im Gengenteil, der Gedanke stieß ihm ziemlich sauer auf.

Ein Knoten bildete sich in seinem Magen und leise knurrte er.

„Na Wheeler. Suchst du neue Mitglieder für den Kindergarten?“, entfuhr es ihm und die beiden fuhren zu ihm herum.

„Kaiba“, zischte Wheeler.

„So heiße ich.“

„Ich weiß auch, wie du heißt.“

„Wieso musst du das dann unnötigerweise sagen?“

„Auf deinen blöden Kommentar muss ich doch sowas antworten!“

„Und das musst du mit meinem Namen tun?“

„Wenn ich könnte, würde ich mit deinem Namen auch dreckige Klos schrubben!“, fuhr ihn der Köter an und der Bart um sein Kinn bebte.

„Wir sind heute ja wieder so kreativ, Wheeler“, sagte er trocknen und zupfte gelangweilt seinen Schal zurecht.

„Bei dir reicht das!“

„Wenn du meinst, Wheeler. Aber dein hirnloses Niveau interessiert mich nicht. Such dir lieber einen Hydranten an den du pinkeln kannst.“ Damit wandte er sich Kuzuki zu, die sich im Hintergrund gehalten hatte. „Was habe ich Ihnen gesagt? Sie sollten nicht zu viel Zeit mit dem Streuner verbringen, wenn Sie keine Flöhe wollen!“

„KAIBA!“, fuhr Wheeler in lautstark an, so dass sich sogar einige Leute zu ihnen umdrehten. „Ich habe keine Flöhe und du kannst nicht jeden herumkommandieren! Naomie ist nicht deine Angestellte!“

„Das würde ich auch behaupten an deiner Stelle und jetzt lass die Erwachsenen alleine.“, sagte er und sah wieder zu Kuzuki. „Wir müssen reden. Allein.“

„Pass auf Naomie. Mit dem hält man keine drei Sekunden alleine aus. Da würd ich's mir nochmal schwer überlegen!“ Warnend sah er sie an und nahm ihre Hand, um sie zum weitergehen zu bewegen, doch sie blieb stehen.

„Ich glaube, ich bin groß genug. Ich schaffe das“, sie grinste aufmunternd und stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Ich bin ein großes Mädchen. Stell dir vor, ich gehe sogar alleine nach Hause.“

Sie kicherte bei Wheelers verdutztem Anblick und entzog ihm ihre Hand, was Seto ein beruhigendes Gefühl gab. „Geh ruhig vor. Ich komme gleich. Da vorne ist eine Schülergruppe. Die kannst du schon mal beschenken. Wir treffen uns beim Crêpe stand.“

Wheeler nickte. „Gut, aber bleib nicht zulange. Sonst frierst du direkt ein.“

Damit verzog sich der Köter und er blieb alleine mit ihr.

Seto musterte sie und er wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte.

„Ist Ihnen nicht kalt?“, fragte er vorsichtig und sah sich ihre Hände an. Sie waren bläulich und rot.

„Sehr dumme Frage!“, fuhr seine Fistelstimme dazwischen. „Sieht man doch!“

„Etwas“, antwortete sie und fuhr sich mit der freien Hand über den Handrücken, um sich zu wärmen.

Das konnte man ja nicht mitansehen.

Seto nahm ihre eiskalten Hände, die einer Leiche sogar Konkurrenz gemacht hätten, und zog sie mit zum Glühweinstand. Er konnte die Kälte sogar durch seine Handschuhe spüren. Wäre es nicht so kalt, würde er ihr seine geben.

Ohne Proteste ließ sie es sogar zu. Schnell besorgte er zwei dampfende Tassen mit Schuss und reichte ihr eine.

„Danke“, nuschelte sie und umfasste die Tasse. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr. „Das tut gut.“

„Das glaube ich“, sagte er und beobachtete, wie sie sich erstmal an der Tasse wärmte. Noch immer kämpfte er gegen das Bedürfnis an sie mitzunehmen, damit sie nicht länger in dieser Kälte ausharren musste.

Dabei war er nicht die Wohlfahrt und würde es auch bei sonst Niemanden tun. Nicht einmal bei Wheeler oder Muto.

„Wieso lassen Sie sich das gefallen?“, fragte er und trank einen vorsichtigen Schluck. Die heiße Flüssigkeit brannte auf seinen Lippen und der Alkohol kroch seine Kehle entlang, wärmte seinen Magen und hinterließ ein angenehmes Gefühl im Körper. Kurzzeitig fühlte er, wie der Alkohol durch seinen ganzen Körper ging.

„Es ist ja nur heute und zum Glück hab ich in einer Stunde Feierabend. Dann kann ich mich umziehen und mein Chef lässt für alle was springen und wir gehen noch was Essen.“

„Weihnachtsfeier?“, fragte er und nippte wieder an der Tasse mit den weißen Punkten drauf.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nur Nikolausfeier. Wir gehen nur eine Kleinigkeit trinken. Mehr nicht.“

„Was stellen Sie überhaupt dar?“, fragte er und beobachtete, wie sie ihren ersten kräftigeren Schluck nahm.

„Der brennt durch“, sagte sie und schüttelte sich durch die innere Wärme, die sich ausbreitete. „Sieht man das nicht? Ich bin das Christkind!“

Ein leichtes Lachen entfuhr ihm. Amüsiert blitzen seine Augen auf und er sah sie mit einem Lächeln auf den Lippen an. „Dann sollten Sie mal heute bei Mokuba vorbei schauen. Der wartet darauf, dass das Christkind seinen Wunschzettel abholt.“

„Davon hat er mir erzählt“, sagte sie ebenfalls mit einem Lächeln und nahm einen weiteren Schluck. Ihre Hände sahen inzwischen wieder lebendiger aus.

Auch er nahm einen Schluck, um sich Mut anzutrinken. „Aber apropos Wunschzettel…“

„Ja?“ Fragend sah sie ihn an und legte leicht den Kopf schief.

Seto zögerte und wiegte seine Worte sorgfältig ab. „Mokuba hat mir das Geschenk von Ihnen gegeben.“

„Hat es Ihnen gefallen?“ In ihrer Stimme klang etwas Hoffnung mit.

Wieder zögerte er und überlegte, was er antworten konnte. Er würde den Teufel tun und ihr auf die Nase binden, was der kleine Gegenstand bei ihm ausgelöst hatte und wie hypnotisiert er es in den Händen gehalten hatte. Aber er wusste auch, was ihm die Fistelstimme in seinem Kopf nur zu deutlich bestätigte, dass es richtig wäre, ihr zu sage, dass ihn erfreut hatte. Zudem war da ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend, die nicht vom Alkohol stammte, was es ihm schwer machte, ihr diese Hoffnung zu zerstören. Es macht es ihm nicht leichter die passenden Worte zu finden.

„Es ist interessant“, sagte er lediglich.

„Du bist ein Idiot!“, zischte die Stimme in seinem Kopf. Ob er sich vielleicht doch mal in die Hände eines Therapeuten begeben sollte? So aktiv war sein Gewissen schon lange nicht mehr gewesen.

Kuzuki gab keine Antwort und starrte in die Tasse, als hätte seine Antwort sie gekränkt.

Seto trank einen weiteren Schluck und der Alkohol wärmte ihn von innen auf. Seine Glieder fühlten sich etwas weich an. Was Mokuba wohl denken würde, wenn er mit einer leichten Fahne wieder zurück kam?

„Es war besser, als das, was mir die Fans geschickt haben“, fügte er hinzu und hofft inständig, dass er es damit nicht verschlimmert hatte.

Fragend schaute sie ihn über den Rand der Tasse hinweg. Sie runzelte die Stirn und trank etwas von der warmen Flüssigkeit.

„Haufenweise Schokolade und Pflegeprodukte“, erklärte er.

Sie nickte wissend und stellte die rote Tasse ab. Das Licht ließ den Glitzer auf ihren Wangen funkeln.

„Ihr Bruder hatte sowas angedeutet, dass bei Ihnen heute wohl wieder massenhaft Körbe eintrudeln mit Schokolade und dergleichen. Er meinte, er freut sich schon sehr darauf die Sachen essen zu dürfen.“

Zustimmend nickt er, aber Mokuba würde lange warten können bis er wieder etwas Süßes zwischen die Zähne bekam. Seto schaute kurz zu ihr und beide schwiegen.

Ein Augenblick verstrich.

„Ich hatte auch überlegt bei diesem klassischen Dingen zu bleiben, aber dann fiel mir ein, dass Sie das möglicherweise von den Fans auch kriegen. Außerdem weiß ich ja nicht, ob Sie einen speziellen Duft mögen oder eine Marke.“

„Eine gute Überlegung, die bei den anderen noch nicht ankam“, sagte er sachlich und umklammerte den Henkel seiner Tasse. Aus einem unerfindlichen Grund klopfte sein Herz ziemlich stark und pumpte den Alkohol schneller in sein Blut.

Wieder verstrich ein Augenblick in dem sie schwiegen.

„Ich hoffe, es war ok, dass ich das gemacht habe und nicht allzu aufdringlich?“ Ihre Stimme klang unsicher und Kuzuki wagte auch nicht, ihm in die Augen zu sehen.

„Nicht mehr als von den Fangirls auch.“

„Wieso sagst du nicht, dass du dich gefreut hast und sogar gehofft hast, sie würde an dich mit denken, du Vollpfosten?“, fuhr ihn wieder sein Gewissen dazwischen, dem er keine Beachtung schenkte.

Seto musterte sie und fragte sich, was sie grade dachte. Denn ihr Blick war auf die Tasse gerichtet. Mit dem Fingernagel kratzte sie an der Farbe herum.

„Aber es ist dennoch Einzigartig und wirklich hübsch“, brachte er heraus und musste danach erstmal wieder einen Schluck nehmen. Der Inhalt wurde langsam knapp und er überlegte, ob er nachbestellen sollte.

Sie nickte nur dazu und Seto gab es auf, ihr irgendwie sagen zu wollen, dass er es mochte. Scheinbar wollte es nicht klappen.

„War es das? Wollten Sie mir nur sagen, dass das Geschenk einzigartig ist oder...?“, fragte sie und ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. Kuzuki leerte die Tasse in einem Zug. „Ich müsste wieder arbeiten gehen.“, sagte sie und deutete hinter sich auf die Menschenmenge.

„Nein, das war noch nicht alles“, sagte er und wiegte wieder seine Worte ab. „Mokuba hat mich eigentlich gezwungen hierher zu kommen.“

„Oh, das ist nicht grade das, was man einer Frau sagen sollte“, sagte sie unsicher, „Von meiner Seite aus müssen Sie nicht hier sein oder sich bedanken. Ich hab es gerne getan und ich erwarte auch keine Gegenleistung.“

„Ich weiß, aber wenn ich nicht mit Ihnen rede, dann kann ich nicht arbeiten.“

„Wie darf ich das verstehen?“

Erst jetzt fiel ihm auf wie zweideutig das das klang.

„Mokuba hat mein Laptop gehackt, das Passwort verändert und mehrere Ordner angelegt, so dass ich nicht an meine Dateien heran komme, um zu arbeiten“, erklärte er.

„Also im Grunde sind Sie nicht freiwillig hier, sondern sind dazu genötigt worden? Richtig?“

„Richtig.“

Sie seufzte schwer und schüttelte ganz leicht den Kopf.

Seto wusste, wie das für sie klang, aber es war die Wahrheit. Würde Mokuba ihn nicht zwingen, wäre er gar nicht hier und würde auch nicht die Anstalten dazu machen.

Irgendwie tat es ihm sogar leid, dass er sie so kränkte. Aber war die Wahrheit nicht besser, als zu lügen und ihr etwas vor zu machen? Immerhin sollte sie doch wissen, wie er war. Es gab genug Berichte über ihn, dass er ein direkter Mensch war und niemanden etwas vor machte.

„Außer dir selbst, Torfkopf!“, fuhr ihm die Stimme wieder zwischen seinen Gedanken.

Die nervige Stimme ignorierend, suchte er nach Worten. Dabei bemerkte er, wie sie sich auf die Lippen biss und darauf herum kaute. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen, nahm dabei einen kleinen Tropfen Glühwein mit, der am Mundwinkel hing.

Kaiba räusperte sich. Was wollte er noch sagen?

Er wusste es nicht mehr. Der Wein brannte viel zu sehr in seinem Magen und in seinem Kopf festigte sich die Tatsache, dass er sie vor den Kopf gestoßen hatte und ob und wie er es ihr anders zeigen oder sagen sollte, dass er ihr Geschenk alles andere als aufdringlich empfand und irgendwie wollte er ihr ja doch sagen, dass alles in Ordnung war, aber brachte es einfach nicht über die Lippen.

„Du machst dir aber ganz schön viele Gedanken um sie, dafür dass sie „nur“ eine Fotografin und Unbekannt für dich ist. Willst du ihr nicht doch sagen, was dich bewegt?“, fragte die Fistelstimme mit amüsierter Stimme. Aus Reflex hätte Kaiba diese Aussage sofort verneint, doch er konnte nicht Widersprechen. Tief in seinem inneren wusste er, dass die Stimme recht hatte.

Zumindest nervte sie nicht so, wie der Köter oder andere Leute.

Wieder ging sein Blick zu ihr und hing an ihren Lippen fest.

„Wieso sind Sie Single?“, rutschte es ihm plötzlich heraus und er hätte sich am liebsten selbst dafür auf die Zunge gebissen.

Überrascht blickte sie auf.

„Also ich dachte, da käme jetzt was anderes, wenn Sie schon hier sind und mir erzählen, Mokuba erpresst Sie, aber gut…“ Sie lachte unsicher. „Wenn Sie das wirklich interessiert. Wieso nicht?“

Die Fotografin seufzte und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. „Ich wollte nicht mehr mit jemanden zusammen sein, der…nun wie hatte er es gesagt?“ Kurz überlegte sie. „Ah! …meint, ich sei klein wie ein Zwerg und der eine Fortbildung als Ausrede benutzt, um sich das Bett mit einer anderen zu teilen, weil er es ja keine drei Tage ohne ein süßes Häschen auf den Eiern zu balancieren aushält.“

„Er hat Sie also betrogen, weil er es keine drei Tage ohne Sex aushielt und weil Sie kein Riese sind?“, fragte er perplex. An ihrer zynischen Stimme konnte er hören, wie verletzt sie noch war.

Kuzuki nickte. „Ja, er sagte es zwar nicht so. Aber sinngemäß war es das.“

Kaiba musterte sie.

„Er ist ein Idiot“, sagte er.

„Wie?“

„Er ist ein Idiot, wenn er Sie betrügt“, sagte er noch einmal nachdrücklich und wusste, dass es indirekt ein Kompliment an sie war. Kaiba verstand auch nicht, wieso man den Partner betrügen musste. Wenn man nicht zufrieden war, sollte man doch drüber reden oder die Sache beenden, anstatt dem anderen so weh zu tun. Wenn er sie so ansah, fragte er sich auch, wieso jemand so dumm war.

„Vermutlich“, erwiderte sie schulterzuckend und holte ihn aus den Gedanken zurück. „Aber das war es bestimmt nicht, mit was Sie noch wollten, oder?“

Seto schüttelte den Kopf.

Das war es wirklich nicht gewesen, was er ihr hatte sagen wollen. Aber was war es dann gewesen? Er hatte den Faden verloren.

Kaiba trank den letzten Rest aus der Tasse aus.

„Na los, frag sie endlich!“, fuhr sein Gewissen wieder dazwischen.

Kurz holte Seto Luft, um auch zu fragen, hielt dann aber inne. Sein Blick hing wieder auf ihren Lippen.

„Also…“, fing er an, „Der eigentliche Grund ist ja der, dass Mokuba mich erpresst hat.“

Die Fotografin nickte. Weiterhin blickte er auf ihren Mund. Ihr Atem wurde sichtbar. Sicherlich waren ihre Lippen ganz warm. Ihr süßes Parfüm stieg in seine Nase und ihm fiel auf, dass er an sie heran getreten war.

Wann war denn das passiert? Er hatte es gar nicht bemerkt.

Kaiba konnte jeden einzelnen Glitzerpartikel auf ihren Wangenknochen sehen und zählen. So dicht stand er bei ihr.

„Ich weiß es nicht mehr…“, sagte er leise.

„Hat es vielleicht mit Mokuba zu tun?“, fragte sie unsicher über die plötzliche Nähe. Kuzuki wich aber auch nicht zurück, worüber Seto auch irgendwie froh war.

„Ich habe den Faden verloren“, gestand er leise und konnte ihren heißen Atem spüren. In seinem Magen krampfte sich alles zusammen und sein Herz pochte wieder, als würde er im Büro stehen und diese konservierten Schneeflocken betrachten. Genauso schnell und unruhig pochte sein Herz, pumpte den Alkohol in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch seine Blutbahnen. Er konnte es spüren, wie er sich ausbreitete und seine Sinne benebelte.

Sein Gewissen blieb merkwürdigerweise auch still und half ihm auch nicht auf die Sprünge. Lediglich sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es richtig war, was hier passierte und dass er jetzt keinen Rückzieher machen sollte. Sagte ihr Geschenk denn nicht genau das aus? Dass er für sie etwas Besonderes war?

„Passiert Ihnen das öfters?“, fragte sie und er konnte nun ihren Atem auf seiner Haut spüren und den leichten Geruch von Nelken und Zimt vom Wein riechen.

„Was?“, murmelte er und sein Herz schlug kräftiger. Seine Hand berührte ihre Schulter.

„Dass Sie den Faden verlieren?“, fuhr sie fort und er hatte das Gefühl ihre Lippenbewegung auf seinen spüren. Doch da war noch ein paar Millimeter und kalte Luft zwischen ihnen.

Der Wein brannte in seiner Kehle und sein Herz geriet ins stocken.

Wieso zögerte er noch?

Sein inneres sagte ihm doch genau, was zu tun war. Es forderte ihn praktisch dazu auf sie zu küssen, aber da war seine Gewohnheit. Seto Kaiba küsste nicht einfach so irgendjemanden wegen eines hübschen Geschenkes!

Doch wenn er daran dachte, wie viel Liebe zum Detail und Arbeit dahinter steckte, ließ es ihn wieder alles vergessen.

Kurz sah er zu ihr. In ihrem Blick lag Erwartung.

Seto spürte das Beben ihrer Lippen, als ein lauter Schrei seines Namens den Moment zwischen ihnen zerriss.

Sofort trat er zurück und richtete sich zu voller Größe auf.

Kuzuki tat es genauso und sah verlegen zu Boden.

Nichts an seiner Haltung verriet, was gerade beinahe zwischen ihnen passiert war und auch in seinem Gesicht war nichts davon abzulesen, so unnahbar wirkte der junge Firmenchef wieder.

Seine blauen Augen gingen über die Menschenmasse, doch konnte er den Übeltäter nicht entdecken. Wenn es sein Gewissen war, konnte es was erleben. Dann würde er es sich sogar raus operieren lassen!

Doch das schwieg bedächtig und nur wenige Sekunden später ertönte die Stimme erneut.

„Setolein!“, schrie die weibliche Stimme und verunstaltete damit auch noch seinen Namen.

Kurz sah er zu Kuzuki, die zurück gewichen war um noch mehr Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Auch sie sah sich verwirrt um.

Im nächsten Moment schlangen sich zwei Arme um seine Hüfte und ihm blieb die Luft weg.

Jemand kam hinter ihm hervor.

Eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Ihre Beine wirkten ellenlang. Ihr Outfit ließ ihn frösteln. Sie trug einen kurzen Wollrock und dicke Strumpfhosen. Dazu einen dicken Mantel mit Schal und Handschuhe. Ihre Stiefel reichten bis zu den Knien.

Als ihr Blick Kuzuki streifte, verengten sich ihre Augen minimal und sofort schlangen sich beide Arme um seinen Hals.

„Hallo, Setolein!“, trällerte sie fröhlich mit ihren rot bemalten Lippen, „Hast du mein Geschenk bekommen? Ich habe es extra aus der Schweiz importieren lassen! Was für ein wunderbarer Zufall dich hier zu sehen!“

Zu gern hätte Seto ihre Arme von sich genommen und sie zehn Schritte nach hinten gestoßen, doch ihre Arme waren wie die eines Klammeraffen und so schnell schien sie sich auch nicht abschütteln lassen zu wollen.

Kurz sah er zu der Fotografin. Sie war weitere Schritte zurück getreten und sah sich unsicher um. Sie biss sich auf die Lippen, als überlegte sie, dazwischen zu gehen oder sich aus dem Staub zu machen.

Sie durfte nicht gehen. Er hatte sie weder fragen können, was sie als Gegenleistung haben wollte oder ihr danken können, noch hatte er sie wegen des Jobs fragen können!

Er sah zu der Klette an seinem Hals. Kaiba öffnete den Mund, um der wildfremden Frau zu sagen, sie solle ihre Griffel von ihm nehmen und ihn weder duzen noch beim Vornamen nennen, als er ihre Lippen auf seinen spürte.

Ihr Lippenstift klebte unangenehm und die künstliche Vanille von ihrer Creme stieg in seine Nase, versursacht sogar leichte Kopfschmerzen bei ihm. Ihre Haare rochen nach verschiedenen Pflegeprodukten und Haarspray.

Perplex starrte er auf ihr entspanntes Gesicht, sah den dunklen Lidschatten mit Goldton auf ihren Augenlidern und schaute dann über ihre Schulter hinweg.

Kuzuki hatte den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, klappt ihn aber wieder zu. Sie sah zu Boden, fuhr sich über die Lippen und drehte sich um.

Der enttäuschte und traurige Ausdruck entging ihm dabei nicht.

Sein Blick verfinsterte sich, als sie sich noch einmal kurz zu ihm umdrehte und sich dann gänzlich abwandte. Die Fotografin im Christkindkostüm verschwand zwischen den Leuten und Kaiba wusste, sie würde nun wieder arbeiten. Vielleicht sogar mit Wheeler darüber reden und dann erneut auf sie zu zugehen, wäre nicht möglich für ihn. Dafür war sie zu gekränkt und enttäuscht. Das hatte er in ihren Augen sehen können.

Alles wegen diesem Fangirl in seinen Armen, das die Finger nicht von ihm lassen konnte!

Dabei war er doch auf einem guten Weg gewesen.

Er zog die kalte Luft mit den verschiedenen, künstlichen Gerüchen ein und schloss die Augen. Seine Hände umfassten ihre Schulter.

Türchen 8 - Der Kuss der Schneekönigin

Die Kälte brannte in Naomies Lunge und ihre Haut fühlte sich eiskalt an. Mit jedem Schritt konnte sie das Taubheitsgefühl in den Beinen spüren. Sie hatte das Gefühl, dass Kaguya, die Schneeprinzessin, es in diesem Jahr viel zu gut meinte, wenn sie ihre Schneetänzerinnen über das Land schickte.

Naomie fröstelte und zitterte, zog den Ärmel ihrer Jacke tiefer über die Hände und schob es wie einen Muff in die Jackentasche. Kalter Wind fuhr ihr über das Gesicht und brannte ihr in den Augen.

Obwohl sie warm angezogen war, fror sie. Unter der Jeans hatte sie eine dicke Strumpfhose gezogen, dazu noch warme Strickstulpen für die Beine. Unter der dicken Jacke hatte sie einen Rollkragenpullover an, ein Shirt und Unterhemd. Dazu einen dicken Wollschal und Handschuhe. Normalerweise trug sie letzteres nur in Form von Pennerlingen, doch diesmal hatte sie dünnere darunter gezogen. Doch auch das hielt ihre Hände nicht warm.

Immer wieder formte sie in der Jackentasche ihre Hände zur Faust, um diese zu durchbluten oder hauchte diese an. Doch nichts half. Sie zog den Schal ein Stück höher, damit ihr Hals geschützt war und stampfte weiter durch den weißen Pulverschnee. Zitternd hauchte sich Naomie in die Handfläche und rieb sie kräftig aneinander, um sich aufzuwärmen, während kleine Atemwölkchen in der Luft sichtbar wurden.

Sie hoffte, dass der Weg nach Hause nicht allzu lange dauern würde. Immerhin war es sehr kalt, die Straße war spiegelglatt und eine neue Schicht Schnee kam gerade in Form dicker Flocken vom Himmel herunter. Sofort legte er sich auf die Stadt nieder und zog sie fester in die Hände des strengen Winters.

Es war auch zu spät, um umzukehren.

Viel zu dicht drängte sich die Masse aus Menschen durch die kleine Passage des Weihnachtsmarktes. Die Kälte und den Schnee völlig ignorierend, sangen sie muntere Weihnachtslieder, ließen sich großzügig den Glühwein und Bier nachschenken. Es war völlig egal, dass die anderen Stände bereits geschlossen hatten.

Aber Naomie wusste, dass der Markt bald komplett schließen würde für den heutigen Tag und daher würde sich auch bald die trinkende Gruppe auflösen und nach Hause torkeln, fahren oder gefahren werden, soweit es noch möglich war.

Naomie zwängte sich durch eine Gruppe betrunkener Männer, die einen Junggesellenenabschied feierten. Sie hielt den Kragen ihres Mantels fest, als einer ihr die Hand mit einem Schnapsglas hinhielt. Sie schob mit ihrer freien Hand den Arm zur Seite und zwängte sich weiter durch die Menge. Dabei ignorierte sie das Angebot, dass sie doch mittrinken sollte.

Es war nicht so, als ob sie Angst hatte, aber es war schon spät und sie hatte getrunken. Nicht viel, aber genug, dass sich ihre Knie wie Pudding anfühlten und ihre Wangen gerötet und heiß waren, trotz der beißenden Kälte, die unter ihre Kleidung schlüpfte und zum frieren brachte. Mehr würde sie auch nicht mehr vertragen können.

Eine durchnässte Strähne vom Schnee hing in ihren Augen und sie schob sie schnell nach hinten. Dabei spürte sie, wie weitere Flocken zerbrachen und ihre Haare durchnässten.

Die Müdigkeit machte sich auch bemerkbar und am liebsten hätte sie sich bei den Temperaturen sofort ins Bett gekuschelt. Vorher noch eine heiße Dusche und dann sofort unter die warme Bettdecken schlüpfen.

Allein bei dem Gedanken konnte sie schon die mollige Wärme spüren.

Auch ein heißes Bad klang verführerisch. Aber dafür war es zu spät. Dennoch vermerkte sie diesen Gedanken im Hinterkopf für den morgigen Abend.

An einer Anzeigetafel von einer Apotheke leuchtete die aktuelle Uhrzeit auf und die Temperatur.

Es lag bei fast Minus sechs Grad.

Der Wind ließ es wesentlich kälter erscheinen, aber selbst das reicht schon aus, dass die Arbeit auf dem Markt unerträglich wurde.

Auch wenn sie heute als Christkind unterwegs gewesen war und unter dem Kleid ihre Hose angehabt hatte, war es kalt gewesen.

Innerlich dankte sie noch immer Seto Kaiba für den heißen Glühwein. Auch wenn sie keinen Tropfen in der Arbeitszeit trank, hatte sie es in diesem Moment gerne getan. Anders waren die Temperaturen auch kaum zu ertragen, außer mit heißen Getränken.

Den Rest ihres Gespräches verdrängte Naomie und wollte gar nicht erst dran denken. Allein bei dem Gedanken, dass er sie fast geküsst hätte und sie geglaubt hatte, es hätte eine Bedeutung, ließ sie wieder vor Scham im Erdboden versinken. Immerhin hatte er nach der Unterbrechung sofort mit dem Fangirl herum geknutscht und ihren Kuss erwidert. Scheinbar war dieser Fast-Kuss doch nichts Besonderes gewesen.

Sie schüttelte den Kopf und ein paar Flocken flogen heraus.

Sollte er doch rummachen mit wem er wollte.

Etwas angesäuert stampfte sie weiter. Sie sollte ihn lieber vergessen. Noch einmal würde Naomie ihn mit Sicherheit nicht wieder sehen und er war ja auch nicht wegen ihr da oder des Geschenkes, sondern, weil er erpresst worden war. Sie glaubte auch nicht, dass er noch einmal auftauchen würde.

Der Moment war vorbei und auch die Gelegenheit sich zu küssen.

Aber vielleicht hatte sie das auch falsch verstanden, dass dieser mögliche, beinahe Kuss etwas zu bedeuten hatte und er die Botschaft verstanden hatte.

Naomie seufzte und lief weiter.

Zum Glück war der Rest des Weihnachtsmarktes ruhiger und leerer. Nur wenige Passanten kamen ihr entgegen.

Es graute ihr jetzt zu Fuß Heim zu laufen. Der Weg schien endlos lang.

Aber der letzte Bus war weg oder fuhr erst gar nicht mehr bei dem dichten Schneetreiben und genug Geld für ein Taxi hatte sie nicht dabei.

Also blieb nur zu Fuß gehen oder irgendwo am Bahnhof nächtigen wie ein Obdachloser.

Naomie durchfuhr ein Zittern und erreichte die große Kreuzung, die aus der Stadt und dem dichten Weihnachtsmarkt heraus führte.

Ihr fiel ihr Bruder ein und überlegte, wie weit es zu ihm war.

Aus ihrer Tasche zog sie ihr Handy, während sie darauf wartete, dass die Ampel grün wurde.

Sie blickte sich über die Schulter um. Es war nichts und niemand zu sehen.

Erleichtert stieß sie die Luft aus und lief mit dem Handy am Ohr über die Straße. Das Freizeichen ertönte. Mehrfach klingelte es.

„Kuzuki“, sagte die bekannte Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.

„Hallo mein geliebtes Brüderchen!“, sagte sie fröhlich.

„Was hast du angestellt, Schwesterherz?“, fragte Takuya mit einem Seufzen in der Stimme. Sie konnte ihn genau vor sich sehen mit seiner zerzausten Frisur und den dunklen Haaren, die bis zu seinen Augen reichten. Die Brille saß bestimmt wie immer unordentlich auf seiner Nase.

„Nichts!“, sagte sie sofort und ging die Hauptstraße entlang. Wieder warf sie einen Blick über die Schulter und zur anderen Straßenseite.

Naomie gehörte nicht zu denen, die sich leicht einschüchtern ließen, aber nun wo sie getrunken hatte und es fast auf Mitternacht zuging, musste sie sich doch eingestehen, dass ihr ein gewissen Unbehagen über die Haut strich.

Etwas unbeholfen stolperte sie über dem glatten Kopfsteinpflaster und versuchte nicht auf dem glatten Schnee auszurutschen, was ein schnelles vorankommen umso beschwerlicher machte.

In dem faden Licht des Marktes, das herüber schien und dem orangenen Licht der Straßenlaterne wirkte die Stadt bedrohlicher und jede kleine Gasse und Nebenstraße umso dunkler.

„Was willst du dann, Naomie?“, fragte ihr Bruder und sie hörte etwas Klappern. Ihr Bruder zählte nicht zu den ordentlichsten Menschen und auf seinem Tisch standen mit Sicherheit wieder Essschüsseln und Teller.

„Ich wollte dich fragen, ob ich bei dir schlafen kann.“

„Wieso das? Du hast doch eine Bude.“ Das Wasser rauschte im Hintergrund laut an ihrem Ohr und sie verzog ein wenig das Gesicht. Dann war es wieder still.

„Ja, schon…“

„Aber?“, fragte er und sie konnte förmlich seinen skeptischen Blick sehen, „Für Monster unterm Bett bist du etwas zu alt, findest du nicht?“

„Blödmann!“, sagte sie und stieg über einen Schneehaufen, „Ich hatte eine kleine Nikolausfeier von der Arbeit und hab getrunken und es schneit so stark…“

„Du kommst also nicht mehr nach Hause?“

„Doch schon, aber nur zu Fuß.“

„Verstehe“, wieder ein Seufzen und sie sah ihn förmlich durch die Wohnung gehen mit dem Telefon, „Aber ich muss dich enttäuschen. Ich bin gleich arbeiten. Bei den Temperaturen gibt es Sondereinsätze. Nachtdienst und Extraschichten.“

Sie konnte ihn förmlich vor sich sehen, wie er sich warm anzog und seinen ausgeleierten, weißen Lieblingspullover mit Strickmuster anzog.

„Versteh schon“, sagte sie und versuchte erst gar nicht ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber einen Vorwurf konnte sie Takuya auch nicht machen. Immerhin suchte er sich seine Schichten nicht aus. Lediglich bei den Schichten in seinem Job als Kellner konnte er es einigermaßen planen.

„Tut mir leid, Liebes. Ich würde dich ja alleine hier lassen. Weißt du doch, aber ich kann dir meinen Schlüssel nicht geben.“

„Schon ok“, sagte Naomie, „Ich beeile mich einfach so gut es geht nach Hause. Vielleicht bin ich dann nur ein halber Schneemann.“

„Ok, pass auf dich auf“, sagte er fürsorglich.

„Mach ich.“

„Ansonsten komm ich mit unserem Mobil vorbei und suche dich“, drohte er scherzhaft, aber sie konnte sich gut vorstellen, dass er es auch ernst meinte. „Oder kannst du nicht zu deinem neuen Freund hingehen?“, schlug Takuya schnell noch vor.

„Hä?“ Naomie versuchte den Blick nach vorne zu richten, was aber gar nicht so einfach war, wenn alles unter einem wegrutschte. Vorsichtig tippelte sie weiter und straffte die Schultern, als der Boden wieder griffiger wurde.

„Na du weißt schon. Der reiche Typ von dem du mir erzählt hast!“

„Ah…Seto Kaiba?“ Naomie schnaubte. Zu ihm würde sie bestimmt nicht gehen! Er würde eher die Sicherheitsleute auf sie hetzen, als sie freiwillig bei sich schlafen zu lassen. Selbst als sie nach dem Backen dort schlafen sollte, schien es ihr, als hätte er sich nur widerwillig dazu nieder gelassen dem zuzustimmen.

„Ja, genau. Du hast ja schon mal bei ihm geschlafen.“

„Er ist nicht mein Freund“, korrigierte sie ihren älteren Bruder, „Er ist, wenn überhaupt, nur ein flüchtiger Bekannter.“

„Und wieso hast du noch mal bei ihm dann geschlafen?“

„Weil es spät war und sein kleiner Bruder mich nicht hatte gehen lassen.“

„Ja, ja….immer die kleinen Geschwister.“ Der Sarkastische Tonfall entging ihr nicht und Naomie sah schon das breite Grinsen auf seinen Lippen.

Ergeben seufzte sie.

„Okay, gut, dann geht das da auch nicht…Dann musst du wohl durch den Schnee.“

„Ja, danke…“ Missmutig brummte sie.

Kurz schwiegen beide.

„Wie geht es unseren Eltern?“

„Denen geht es gut“, sagte er und sie hörte seinen Atem in der Leitung. „Sie bereiten sich völlig auf die Reise vor. Shun findet es doof dieses Jahr hat er mir gesagt. Er sagte auch, er findet es doof, dass du nicht da warst an Nikolaus.“

„Das tut mir leid für ihn, aber es ging ja nicht.“

„Musst du mir nicht sagen.“ Takuya hielt kurz inne. „Dad fragt, ob du wieder zu ihnen ziehen willst.“

„Wieso das?“

„Wegen deinem Ex. Weswegen sonst.“

„Ich bin doch nicht nur wegen ihm hierher gekommen.“

„Sag es Dad.“

Naomie seufzte und fuhr sich wieder durch die nassen Haare. Sie konnte die einzelnen Zotteln spüren.

Ihr Vater war von Anfang an dagegen gewesen, dass sie die Stadt wechselte und ein Grund war ihr Freund gewesen. Nun war sie Single und Naomie konnte gut verstehen, dass ihre Eltern wieder wollten, dass sie zu ihnen in die Nähe zurückzog. Aber sie lebte nun schon seit knapp acht Monaten in der Stadt und fühlte sich trotz der Trennung hier wohl.

„Es tut mir leid, Schwesterlein, aber ich muss los. Sonst komme ich zu spät. Melde dich aber, wenn du zu Hause bist.“

„Ok, mach ich“, seufzte sie, „Kann aber noch ne halbe Stunde dauern oder länger.“

„Kein Problem.“

„Bis dann und viel Spaß mit dem Schnee.“ Sie wartete noch die Antwort ab, ehe Naomie auflegte und das Telefon zurück in ihre Manteltasche schob.

Ihr Bruder fiel also als Übernachtungsmöglichkeit weg.

Ein leiser Fluch entfuhr ihr. Es wäre besser gewesen, wenn er zugestimmt hätte. Dann wäre sie in zehn oder fünfzehn Minuten im warmen gewesen, könnte den Alkohol ausschlafen und morgen frisch ans Werk gehen.

Aber gut, dann würde sie sich eben durch den Schnee quälen.

Ein stechender Schmerz zog durch ihr Steißbein und den Rücken entlang, als sie ausrutschte und zu Boden fiel. Ihr Herz pochte schnell vor Schreck.

Schmerzverzerrt verzog Naomie das Gesicht und bewegte sich langsam. Sie spürte die Kälte unter sich und wie der Schnee langsam schmolz.

Schnell rappelte sie sich auf und lehnte sich vorsichtig an die Hauswand. Mit der freien Hand klopfte sie den Schnee von ihrem Hintern, der sicherlich einen wunderbaren nassen Abdruck hatte. Zum Glück war es dunkel.

Mit schnellen und vorsichtigen Schritten stapfte sie weiter, während ihr Hosensaum nass und klamm gegen ihr Schienbein schlug. Durch ihre warme Jacke drang langsam die Nässe.

Kam es ihr nur so vor oder wurde das Schneetreiben schlimmer?

Einzelne Flocken fielen ihr in den Nacken und sie zuckte jedes Mal zusammen vor Kälte.

Immer wieder blickte sie sich um und lauschte, ob sie jemand verfolgte. Doch nichts dergleichen passierte.

Innerlich bereute sie es, dass sie Joeys Angebot nicht angenommen hatte.

„Hey. Soll ich dich nicht noch bis nach Hause begleiten? So ganz alleine in der Dunkelheit zu laufen, ist nämlich nicht so gut“, hörte sie noch immer seine Stimme sagen. Doch Naomie wollte nicht, dass er bei den Temperaturen einen Umweg für sie machte. Wann sollte der arme Junge denn nach Hause kommen?

Das wollte sie ihm gewiss nicht zumuten und es wäre ihr auch unangenehm gewesen, wenn sie ihm anbieten hätte müssen bei sich zu schlafen. Da war sie nicht anders, als Kaiba auch.

So gut kannten sie sich nicht, als dass es angenehm geworden wäre. Doch nun bereute sie es nicht doch angenommen zu haben und seufzte. Es war zu spät zum umkehren und um ihn einzuholen, damit er sie doch begleitete.

Die Kälte war unerträglich und sie wollte nur noch nach Hause. Am besten ein heißes Bad nehmen und ein paar Kekse essen.

Wieder seufzte sie und bog in eine Nebengasse ein. Sie war dunkler als die Hauptstraße, führte aber schneller nach Hause.

An den Eingangstüren der Häuser hingen verschiedene weihnachtliche Dekorationen. Ein Haus hatte seinen gesamten Vorgarten in ein Winter Wonderland verwandelt, was einen Großteil der Straße erhellte.

Langsam ging sie den kleinen Hügel hinunter und schob den Schnee vom Treppengeländer. Mit kalten Fingern hielt sie sich an dem rutschigen Metall fest. Selbst durch die Handschuhe hatte Naomie das Gefühl am Geländer fest zu kleben.

Mit langsamen und bedächtigen Schritten tapste sie die Treppe hinunter.

Unter ihren Füßen merkte sie wie rutschig der Schnee war. Vielleicht war es doch so keine gute Idee gewesen diesen Weg zu nehmen, aber wenn sie noch nach Hause wollte, war es der schnellste Weg.

Doch im nächsten Moment machte ihr Herz einen Satz und das nächste, was Naomie spürte, war ein harter Aufschlag auf ihren Hinterkopf.

Ein erschrockener Aufschrei entfuhr ihr dabei. Ein weiterer Schmerz zog durch ihren Rücken, als sie auf ihr Steißbein aufschlug. Eine spitze Kante drückte sich in ihre Schulter und ihre Finger griffen ins leere, streiften nur kurz das kalte Metallgeländer.

Naomie spürte im nächsten Augenblick sofort die einzelnen Treppenstufen im Rücken auf die sie aufschlug.

Lange musste sie jedoch nicht warten.

So schnell wie sie die Treppe hinunter fiel, lag sie auch am Fuß.

Ihr Kopf schlug mehrfach auf den harten Stein auf. Alles drehte sich, als sie am Ende angekommen war.

Nur verschwommen sah sie die Laterne und sofort schloss sie die Augen vor dem grellen Licht. Ihr Kopf dröhnte.

Keuchend versuchte sie sich zu Bewegungen, aber ihr Körper schmerzte viel zu sehr. Ihre Knie zitterten.

Schneeflocken fielen ihr ins Gesicht und schmolzen sofort.

Naomie wagte nicht die Augen zu öffnen. Alles um sie herum war still. Nur die Flocken knisterten leise in ihrem Ohr und kitzelten sie.

Viel zu erschöpft blieb sie liegen. Der Schmerz war zu groß und der Schwindel wollte sich auch nicht legen.

Stattdessen machte sich Wärme in ihrem Körper breit und Naomie spürte die die Müdigkeit wieder in sich aufkeimen. Sie wusste, sie sollte nach Hause und weiter gehen, aber die Schwärze lockte sie.

Je näher sie ihr kam, desto weniger Schmerz empfand sie und umso weniger spürte sie die unglaublichen Kopfschmerzen in ihrer Schläfe. Auch der Schwindel war verschwunden, je näher sie der Dunkelheit kam. Selbst der kalte, nasse Teppich unter ihr, fühlte sich mit einem Mal warm und gemütlich an. Ein Seufzer entfuhr ihr, ehe sie endgültig in die Finsternis abglitt und reglos liegen blieb.
 

Aus weiter Ferne drangen Geräusche an ihr Ohr. Die warme Decke hatte sich in eisige Kälte verwandelt. Sofort begannen ihre Glieder zu zittern, während sie jemand rüttelte. Eine warme Hand, die sich auf ihre kalten Haut, viel zu heiß anfühlte, berührte ihre Wange. Sanft klopfte die Person gegen ihre Wange, versuchte sie wach zu bekommen und zu verhindern, dass sie wieder einschlief.

„Naomie“, drang die Stimme eindringlich an ihr Ohr, „Wach auf. Du musst aufwachen!“

Die Dunkelheit verzog sich langsam, dennoch wurde es nicht heller. Wer war das?

Wieder wurde ihr gegen die Wange geklopft. Diesmal eindringlicher und etwas härter.

„Hey, wach auf!“

„Takuya?“, murmelte sie benommen und blinzelte gegen das Licht an, das grell in ihre Augen stach.

„Ich bin hier“, sagte er erleichtert und strich ihr eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

„Du musst doch arbeiten…“, brachte sie mühselig hervor und versuchte sich an das Licht zu gewöhnen. In ihrem Schädel hämmerte es, als würde jemand mit einem Hammer darauf einschlagen. Ein saurer und ätzender Geschmack lag ihr auf der Zunge und kratzte im Rachen.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Takuya und hob sie leicht vom Boden hoch, so dass sie an seiner Schulter lehnte. „Du solltest nur schnell aus dieser Kälte raus.“

„Die Welt fährt aber Karussell“, murmelte sie und schloss die Augen. Das Licht der Straßenlaterne war viel zu hell und alles drehte sich hin und her, so dass ihr schwindlig wurde. „Ich will in mein Bett…“

„Dahin bring ich dich“, sagte Takuya und klopfte ihr wieder gegen die Wange. „Hier trink.“

Naomie spürte etwas Warmes an ihren Lippen und trank vorsichtig den heißen Tee. Der Geruch von Pfefferminz drang in ihre Nase und sie konnte von Takuyas Kleidung seinen typischen Geruch von Moschus riechen.

„Kannst du aufstehen?“, fragte er besorgt und schob ihr weitere nasse Haare aus der Stirn. Der Schnee knirschte, als er sich bewegte.

Naomie schüttelte den Kopf, was sich als großer Fehler heraus stellte. Ihr Kopf fing sofort an stärker zu pochen. Der Schmerz drückte ihr auf die Augen. Die Welt drehte sich weiter vor ihren Augen.

Takuyas Hand legte sich in ihren Nacken und er hielt ihr wieder den Becher an Lippen.

„Trink ruhig“, sagte er leise und sie merkte eine Bewegung. Er nahm ihr den Becher ab. „Versuch mal aufzustehen.“

Schwach nickte sie und Takuya legte ihren Arm in seinen Nacken, um sie zu stützen.

„Kann ich Sie um einen Gefallen bitten?“, fragte Takuya an jemand drittes gewandt und Naomie hörte ein Brummen. Er keuchte kurz unter ihrem Gewicht, obwohl Naomie wusste, dass er immer wieder trainierte.

Wer war denn da noch bei ihm? Vielleicht sein Kollege von der Sozialarbeit?

„Können Sie Naomie für eine Nacht bei sich schlafen lassen? Ich will sie nicht zu den Obdachlosen in unserem Heim stecken und zu mir schaffen wir es nicht mehr. Zu ihr erst recht nicht.“

Langsam öffnete sie die Augen und sah eine dicke Schneedecke und dichte, weiße Flocken, die vor ihren Augen tanzten. Sie konnte kaum einige Meter weit sehen. Naomie warf einen Blick zu Treppe. Ihre Abdrücke waren verschwunden. Lediglich am Boden konnte sie die Umrisse im Schnee erkennen, wo sie bis eben gelegen hatte. Doch auch diese begannen langsam schwächer zu werden.

„Sollten Sie sich nicht um sie kümmern?“, fragte eine kalte und abwertende Stimme, „Es ist immerhin Ihre Freundin, oder? Was habe ich damit zu tun?“

„Takuya ist mein Bruder“, brachte sie hervor und ihre Knie fühlten sich ziemlich wacklig an. Naomie sah, dass ihre Hose ziemlich viel Schnee abbekommen hatte und auch eine leichte Eisschicht darauf war. „Er ist nicht mein Freund!“

Wieder hörte sie ein Brummen und hob langsam den Kopf.

An der Laterne gelehnt stand Seto Kaiba.

Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben, während seine ganze Kleidung weiß war vom Schnee war. Selbst seine Haare waren inzwischen feucht und voller kleiner Flocken.

Seine blauen Augen ruhten mit einem kalten Blick auf ihr, als würde er sie erdolchen wollen und als wäre sie Schuld, dass er hier stehen musste.

Was ging wohl in seinem Kopf vor? Dachte er, dass sie sich dem nächstbesten an den Hals warf, nur weil sie einen verdammten Kuss nicht hatte bekommen können von ihm?

Durch ihre Stirn zog eine weitere Welle des Schmerzes, als wenn eine Herde wilder Pferde auf ihrem Kopf herum galoppierte.

„Kommen Sie“, sagte Takuya eindringlich an Kaiba gewandt, „Soll ich meine Schwester alleine lassen unter betrunkenen Obdachlosen, die wir auf der Straße finden?“

„Es wäre besser, als mich oder meine Firma zu einem Hotel umzufunktionieren“, erwiderte er kalt, „Aber ein Hotel wäre auch eine Lösung.“

„Sehen Sie hier eines in der Nähe?“, fragte ihr Bruder genervt und sie hörte ihn seufzen, „Sie wissen, dass kein Auto mehr fährt und ein Rettungswagen ist zu übertrieben.“

Wieder brummte Kaiba nur und verzog ein wenig das Gesicht.

„Sie wissen, dass es über Nacht einen Blizzard gibt. Die Temperaturen fallen und Naomie liegt schon seit zwei Stunden hier! Ich kann mich nicht um meine Schwester kümmern! Ich muss zurück zu meiner Schicht und den Obdachlosen von der Straße helfen so weit es geht!“

Seit zwei Stunden lag sie schon bewusstlos im Schnee? Kein Wunder, dass sie das Gefühl hatte in der Gefriertruhe gesteckt zu haben. Aber wieso war Kaiba hier? Hatte er keine Arbeit zu erledigen?

„Wenn Ihnen Fremde wichtiger sind, als Ihre Familie…“ Kaiba zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

„Das stimmt nicht!“, fuhr Takuya den jungen Firmenchef an und zog sie wieder ein Stück höher.

„Könnt ihr bitte aufhören euch zu streiten?“, fragte sie und rieb sich über die Schläfe. Ihr Kopf wollte nur noch platzen. Langsam sah Naomie zu Kaiba und konnte ihn nur grade so durch den dichten Schnee erkennen. „Erstmal was machen Sie hier?“

„Sie könnten sich auch erstmal bedanken. Immerhin habe ich Sie gefunden“, sagte er mit kaltem Tonfall, „Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ihr Bruder ist bei mir aufgekreuzt in der Firma und hat meinen Pförtner solange belästigt bis ich endlich Zeit hatte, mir seinen Vorwurf anzuhören, dass Sie ja bei mir wären oder vermutlich irgendwo von mir ertränkt wurden.“ Er verdrehte die Augen und sah aus, als würde er das jetzt liebend gerne nach holen. „Dann hat er solange nicht locker gelassen bis ich mich dazu bereit erklärt habe ihm zu helfen Sie zu suchen.“

Naomie sah zu ihrem Bruder, der nur stumm nickte. Langsam gingen sie zur Hauptstraße zurück. Es fiel ihr schwer ein Bein vor das andere zu setzen.

„Wie habt ihr mich dann gefunden?“

„GPS von Ihrem Handy“, sagte Kaiba nur.

„Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist. Du hast dich nicht gemeldet und ich hab mir Sorgen gemacht“, ihr Bruder ließ sie langsam los, damit sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, „Als wir unterwegs waren in unserem Bus lief das Radio und der Wetterdienst kündigte ein Unwetter an. Alle sollten besser zu Hause bleiben. Selbst unsere Station hat uns schon zurück in die Zentrale gerufen.“

„Oh“, brachte sie heraus.

„Deshalb musst du jetzt schnell ins Warme und es wäre gut, wenn Herr Kaiba dich für eine Nacht aufnimmt bei sich in der Firma.“ Naomie verstand den Seitenhieb und einen größeren Wink mit dem Zaunpfahl konnte Takuya dem Firmenchef nicht geben. „Du bist ziemlich kalt.“

Langsam nickte sie.

Auch wenn Naomie es nur ungern tat, immerhin war er ihr großer Bruder und von daher immer ein Blödmann, aber er hatte in dem Fall recht. Sie musste aus dem Wetter raus und sich aufwärmen. Bis zu ihm war es zu weit und zu ihr ebenso. Hotels gab es in dieser Gegend nicht und die Taxis fuhren auch nicht oder nur schwer.

Ihre einzige Lösung war wirklich die Kaiba Corporation, die keine zehn Minuten entfernt war. Aber innerlich widerstrebte es ihr die Nacht bei ihm im Büro oder sonst wo zu verbringen, wo er war.

Naomie sah zu Kaiba, der einige Schritte vor ihnen her lief und ihren Bruder noch immer ignorierte, ebenso wie sie.

Offensichtlich machte ihm die Kälte nicht ganz so viel aus. Er zitterte nicht, noch sonst waren keine Anzeichen zu sehen, dass der Schnee ihm zu schaffen machte.

Naomie zog ihren Schal höher.

Die Welt hatte aufgehört sich zu drehen, so dass sie nicht Gefahr lief in die nächste Laterne zu laufen und auf eigenen Beinen den Weg hinter sich brachte. Ihr Bruder blieb jedoch an ihrer Seite.

Immer wieder sah er auf sein Handy, als erwartete er, dass jeden Moment ein Anruf von seiner Arbeit einging.

Takuya arbeitete in einem Obdachlosenasylheim und jede Nacht und jeden Tag fuhr ein Bus durch die Straßen und versorgte die Menschen mit verschiedenen Dingen, wie Essen, Trinken und Decken oder Kleidung. Grade im Winter machte er oft Sondereinsätze, damit die Menschen nicht bei den Minusgraden erfroren.

In diesem Augenblick wusste Naomie, wie wichtig seine Arbeit war. Sie fühlte sich selbst, wie eine Obdachlose, die er grade von der Straße fischte und sie waren ihrem Bruder unglaublich dankbar, dass er sich auf die Suche gemacht hatte.

Kaiba beschleunigte seinen Schritt, als wollte er sie beide abhängen und automatisch ging sie ebenfalls schneller, soweit es der noch immer pochende Schmerz in ihrem Kopf zuließ.

Immerhin war er dabei abzuklingen.

Ihr Bruder tippte etwas in sein Handy ein und holte ebenfalls auf.

Naomie hatte Mühe seinen langen Beinen zu folgen und sie keuchte vor Anstrengung. Sie überlegte etwas zu sagen, aber dann fiel ihr wieder der eisige Blick ein und sie schwieg.

Es war ein komisches Gefühl ihm nach dem späten Nachmittag wieder zu sehen und fast schon bedrückend.

Es machte sie nervös.

An seinem Gesicht oder seinen Augen konnte sie auch nicht ablesen, was in ihm vorging, ob es ihm genauso erging oder ob er einfach nur genervt von ihr war.

Unter dieser Anspannung und in Anbetracht der eiskalten Blicke, fühlte sie sich mit einem Mal ziemlich dumm und fast schon minderwertig.

Wie schaffte er es nur dieses Gefühl bei ihr auszulösen?

Sie war die Treppe herunter gestürzt und war ausgeknockt gewesen. Aber das war kein Grund sich schlecht zu fühlen. Das hätte jedem passieren können und nur weil er eine Firma hatte, war er als Mensch nicht mehr wert als sie.

„Also was ist?“, fragte ihr Bruder und durchbrach die Stille, „Würden Sie bitte meine Schwester eine Nacht bei sich im Büro lassen?“

Kaiba schaute kurz über die Schulter und blieb vor dem Eingang seiner Firma stehen. Das Foyer war dunkel und nur der Tannenbaum erhellte den Bereich ein wenig.

Offensichtlich hatte auch der Pförtner Feierabend gemacht.

Naomie spürte die blauen Augen auf sich ruhen und wie er sie musterte, als würde eine Nacht bei ihm den Ruin für ihn bedeuten.

„Na schön. Aber Sie tun, was ich sage!“, sagte er streng und ihr Bruder nickte.

„Meine Schwester ist pflegeleicht.“

„Ich bin kein Haustier“, brummte sie missmutig und Takuya legte ihr eine Hand auf den Rücken.

„Pass auf dich auf, Schwester“, sagte er leise und drückte sie an seine Brust. Seine warmen Lippen berührten ihre Stirn, als er sie dort zum Abschied küsste. Dann wandte er sich Kaiba zu. „Danke, dass Sie das tun.“

Der Firmenchef nickte nur und Naomie sah ihrem älteren Bruder noch kurz nach, wie er in dem dichten Schneetreiben verschwand. Hoffentlich kam er gut auf Arbeit an.

Ein Seufzer entfuhr ihr.

„Wollen Sie da festfrieren und als Eisfigur enden?“, fragte Kaiba kühl und schob seine Erkennungskarte durch den Schlitz am Eingang. „Träumen Sie nicht, sondern kommen Sie her.“

Naomie ging schnell zu ihm und schlüpfte durch die offene Tür, die sich sofort hinter Kaiba schloss, als er eingetreten war.

Die warme Luft umfing sie und eine Gänsehaut lief über ihren Körper. Ihre kalte Haut brannte unter der plötzlichen Wärme.

Ein Bad wäre gut oder ein paar Kekse, aber sie bezweifelte, dass Kaiba so etwas da hatte. Wobei bei ihm alles möglich war. Vielleicht versteckte er ja irgendwo in diesem riesigen Gebäude eine Sauna?

„Kommen Sie“, sagte er und lief zum Fahrstuhl.

Gehorsam folgte sie ihm und blieb an seiner Seite stehen, während sie darauf warteten, dass der Fahrstuhl bei ihnen ankam.

„Wir sind jetzt nur zu zweit hier“, sagte er und starrte auf die Tür.

„Okay.“

„Ich würde Sie ja in die kleine Notaufnahme hier bringen, aber es ist kein Arzt da, der sich um Sie kümmern kann.“

„Ich glaube, ein Arzt ist nicht nötig“, brachte sie heraus. Das Rattern der Aufzugtüren unterbrach sie. Schnell trat Naomie mit Kaiba ein, der das oberste Stockwerk anwählte. Der verchromte Raum hatte einen weichen dunkelblauen Teppich und war mit mehreren Spiegeln versehen worden.

Unauffällig betrachtete sie ihr Spiegelbild.

Sie war furchtbar aus.

Die Haare hingen in wilden Zotteln und Strähnen von ihrem Kopf herab. Der Schnee begann langsam zu schmelzen und in Form von Wassertropfen auf ihrer Kleidung einzuziehen.

„Wenn ich mir die Wunde an ihrer Stirn ansehe, dann bezweifel ich das“, sagte Kaiba mit einem abweisenden Tonfall.

Dieser Tonfall irritierte sie ein wenig. Bei ihren anderen Begegnungen war er doch auch nicht so gewesen.

Ihr Blick ging zur Stirn im Spiegel und sie sah etwas getrocknetes Blut an ihrer Stirn und in den Haaren.

„Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu Spaßen“, fügte er hinzu und verringerte den Abstand zwischen ihnen. Er stand mit wenigen Schritten so dicht bei ihr, dass sie die einzelnen geschmolzenen Flocken in Form von Wassertropfen in seinen Haaren sehen konnte. Ehe sie sich versah, lag seine kühle Hand an ihrem Kinn und drehte ihren Kopf vorsichtig, so dass er die Wunde begutachten konnte.

Erschrocken zog sie die Luft ein, als ein erneuter Schmerz durch ihren Kopf fuhr.

„Scheint nur oberflächlich zu sein“, sagte er und strich ein paar nasse Strähnen zur Seite. „Haben Sie Kopfschmerzen oder ist Ihnen schlecht?“

„Nur Kopfschmerzen“, sagte sie leise.

Er nickte. „Schwindelgefühl?“

Sie schüttelte leicht den Kopf, soweit er es zuließ.

„Sie wissen, was passiert ist?“

Ein nicken folgte.

„Dann scheint es ja soweit gut zu sein.“ Seine Hand lag noch immer an ihrem Kinn und hielten ein paar Haare zurück. Abrupt ließ er von ihr ab und trat wieder einen Schritt zurück.

Naomie nickte und sah auf eine Fluse auf dem Teppich. Ihr Herz klopfte stark.

„Machen Sie sich also keine Sorgen.“

Wieder nickte sie nur.

„Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?“, fragte er und zog eine Augenbraue hoch. Irrte sie sich oder war da ein leichtes Lachen mit in seiner kalten Stimme zu hören.

Was war jetzt kaputt?

Zuerst erdolchende Blicke und jetzt das? Konnte der Mann sich auch mal entscheiden, was er wollte?

Naomie schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist nur kalt. Vermutlich werde ich mir den Tod holen. Aber dann brauchen Sie sich keine Sorge mehr zu machen.“

„So?“ Fragend hob er wieder eine Augenbraue. „Aber dann wird mich Ihr Bruder sicherlich verklagen, weil ich nicht auf Sie aufgepasst habe.“

Naomie gab ein Schnauben von sich. War natürlich klar, dass er sich genau darum Sorgen machte. Nicht um sie.

Sie zupfte an ihrem Schal und suchte das Ende. Mit einem Mal schien sie dieses Stück Stoff zu erdrücken und die Luft abzuschnüren. Wo war nur das Ende hin gerutscht?

„So wie Sie an dem Ding zupfen, kann man sich das ja nicht mit ansehen!“, sagte Kaiba ungeduldig und zog sie an dem Schalende näher zu sich. Langsam wickelte er ihr das Stück Stoff ab und ließ es um ihren Hals liegen. Seine Hand streifte ihre Wange.

Naomie hatte scharf die Luft eingezogen und sah ihm fragend in die Augen.

„Sie scheinen ein kleiner Chaot zu sein, was?“

„Nur manchmal“, gestand sie und spürte noch immer die kleine, flüchtige Berührung. Ein kleiner Schauer durchfuhr sie.

„So kalt?“, fragte er und der Aufzug kam abrupt zum stehen. Die Türen öffneten sich und sie traten hinaus in den dunklen Flur.

Sie nickte und war froh, dass er die Röte in ihrem Gesicht in diesem Augenblick nicht sehen konnte.

„Dann sollte ich Sie wohl schnell in eine Decke packen.“ Sie gingen den Flur entlang und vorbei an einige leere Konferenzzimmer und verschlossenen Türen.

Naomie kannte den Weg. Er führte direkt zu seinem Büro.

Am liebsten wäre ihr ein Schlafzimmer mit Bett und Badezimmer gewesen. Dazu auch ein paar trockenen Sachen. Aber woher sollte sie diese nehmen? Sie hatte nichts dabei und Naomie bezweifelte, dass Kaiba in einem seiner Schränke Frauenkleider waren.

Die Nässe drückte immer mehr auf ihre Haut.

Kaiba blieb vor einer Tür stehen und zog auch dort eine Erkennungskarte hindurch. Er hielt ihr die Tür auf, damit sie in sein Büro eintreten konnte.

Wortlos folgte er ihr und schloss die Tür wieder.

Naomie sah sich in dem hell erleuchteten Raum um. Seit dem letzten Besuch hatte sich nicht viel verändert. Lediglich ihre Fotos hingen an einem Fotoseil an der Wand herunter. Sie konnte sich gut vorstellen, dass der kleine Kaiba dabei seine Finger mit im Spiel hatte. Ansonsten leuchtete nur die Lichtergirlande, die zusammen mit der Tannengirlande an seinem Schreibtisch hing.

Alles andere in diesem Raum war blass und unpersönlich.

Ein Grinsen umspielte ihre Lippen, doch auch nur kurz, denn sofort wurde sie wieder daran erinnert, dass sie in Kaibas Büro stand. Sie waren wieder alleine und sofort kam ihr wieder das Bild in den Sinn von dem beinahe Kuss.

Unweigerlich fuhr sie sich über die Lippen.

Naomie starrte auf das Webmuster des Teppichs, ohne wirklich hinzusehen.

Sie schwiegen wieder und die Stille war bedrückend.

Kaiba war wieder so distanziert wie vorhin auf der Straße. Seine Schultern waren gestrafft, als er an ihr vorbei ging. Seinen Mantel hatte er ausgezogen und er hing an dem kleinen Garderobenständer hinter der Tür.

Kaiba beugte sich über seinen Laptop und tippte etwas ein.

Langsam ging sie zu der Garderobe und zog ebenfalls Schal und Mantel aus.

Sie wagte nicht etwas zu sagen. Wieder war sie zu nervös. Eigentlich wollte sie nur nach Hause und diesen Mann aus ihrem Leben verbannen.

Ob es ihm ähnlich erging oder war das alles nur eine lästige Störung für ihn?

Naomie wünschte sich in ihre Wohnung. Dort würde sie niemanden stören und sich freier bewegen. Aber ihr Blick fiel nach draußen zu den stürmischen Flocken. Dort wollte sie heute nicht mehr hin.

Hoffentlich ging es ihrem Bruder gut und er meldete sich noch?

Sie warf ein Blick auf ihr Handy und bemerkte erstmal, wie oft er versucht hatte sie zu erreichen. Ein schlechtes Gewissen überkam sie. Dafür schuldete sie ihm einiges. Takuya musste sich wirklich große Sorgen gemacht haben und dass er auch noch Kaiba mit hinein zog, machte die Angelegenheit nicht besser.

Sie sah sich weiter in dem Raum um und versuchte ihren Blick auf etwas zu fixieren, nur nicht auf Kaiba.

Ob er merkte, wie nervös und unsicher sie nach dem Nachmittag war?

Ihr Blick fiel auf das kleine Besuchersofa. Die Kissen waren ordentlich aufgereiht und die Vorstellung dort zu nächtigen, verursachte jetzt schon Gliederschmerzen bei ihr. Auf dem Tisch stapelten sich fünf Körbe mit Schokolade, Karten und anderen Sachen, die er von seinen weiblichen Fans bekommen hatte.

Kaiba richtete sich auf und klappte seinen Laptop zu.

Hatte er nicht noch zu arbeiten?

Fragend sah sie zu, wie er zur Wand ging. Erst jetzt fiel ihr die versteckt aussehende Tür auf, die in derselben Farbe gehalten war, wie die Wand.

Kaiba verschwand in dem Zimmer.

„Wo bleiben Sie?“, fragte er ungehalten und etwas unschlüssig folgte sie ihm.

Was hatte er vor? Naomie machte sich auf alles gefasst.

Wenn er glaubte, dass er sie so irgendwie rumkriegen könnte, um das zu beenden, was heute Nachmittag angefangen hatte, konnte er es vergessen. Das sollte er mal lieber mit dem Fangirl ausmachen!

Zögerlich betrat sie den versteckten Raum und trat sofort einen Schritt zurück.

Vor ihr tat sich ein komplett möbliertes Schlafzimmer auf mit einem großen Bett, Schrank und Nachttisch.

Naomie schluckte und sah sich erstaunt um.

Sie hatte sich ja darauf eingestellt bei ihm zu nächtigen, aber doch nicht so! Das konnte er vergessen, dass sie sich in dieses riesige Bett legte. Eher holte sie sich Krämpfe bei dem Versuch sich auf dem Sofa einzuquartieren.

„Was ist das hier?“, fragte sie und sah eine weitere Tür am Ende des Zimmers. Wohin führte sie?

Nur langsam trat Naomie wieder in den Raum ein. Ihr Herz klopfte weiter und sie sah sich neugierig um.

Auch hier war keinerlei Unordnung zu finden. Das Bett schien frisch bezogen und alles war fein säuberlich zusammen gefaltet. Am Fußende lag eine kleine flauschige Wolldecke in eisblau. Es war kein Staubkorn oder Fussel zu sehen.

So viel Sauberkeit erinnerte sie an Krankenhäuser oder ganz teure Hotels. Es erinnerte sie an eine perfekte Welt, wohl wissend, dass alles nur Illusion war.

Ob sie sich einfach so setzen durfte oder würde das Unordnung machen?

Aber wenn sie es sich genau überlegte, hatte das Gästezimmer bei ihm in der Villa genauso auf sie gewirkt und sie hatte sich dort einfach so hingesetzt.

Auf dem Fensterbrett stand ein Weihnachtsstern, der etwas Farbe in das Zimmer brachte.

Kaiba stand am Schrank und wühlte darin herum.

„Stehen Sie nicht rum“, sagte er im Befehlston, „Gehen Sie unter die heiße Dusche!“

Fragend hob sie eine Augenbraue. Wo war hier eine Dusche? Doch nicht etwa hinter der Tür? Hatte Kaiba hier ein Miniapartment oder was war hier noch alles verborgen?

Er schloss den Schrank und hielt ein Bündel Stoffe im Arm. „Worauf warten Sie noch? Ich werde Sie nicht begleiten. Also Abmarsch oder wollen Sie krank werden?“

„Ich kann auch bei mir zu Hause duschen!“, wehrte sie ab und wäre schon dankbar für Tee und eine Decke. Mehr brauchte sie nicht.

„Sie lagen zwei Stunden in der Kälte und sind betrunken“, sagte er belehrend.

„Angeheitert“, korrigierte Naomie ihn schnell. Kaiba verdrehte die Augen.

„Gut, dann angeheitert. Aber Fakt ist, Sie sind unterkühlt und damit Ihr Bruder mich weiterhin in Frieden lässt und ich nicht unbedingt vor Gericht landen will, wenn Sie wegen einer Lungenentzündung drauf gehen, gehen Sie jetzt duschen!“

Kaiba öffnete die Tür und ging in den gefliesten Raum hinein.

„Was ist jetzt?“, fragte er ungeduldig aus dem Badezimmer. „Bewegen Sie Ihren Hintern!“

Wiederwillig gehorchte sie und ging durch das Zimmer. Naomie konnte sich ein Brummen nicht verkneifen.

Sie blieb in der Türschwelle stehen und sah sich um. Auch hier war es genauso sauber, wie im Schlafzimmer. Auf der Ablage lagen frische Handtücher und in der Dusche standen mehrere Shampooflaschen. Am Waschbecken standen zwei Becher mit jeweils einer Zahnbürste drin.

Ein Becher hatte Duell Monsters Figuren darauf und gehörte sicherlich dem kleinen Kaiba.

Alles wirkte blitzblank und wie neu, als ob es nie in Benutzung wäre.

„Was ist das hier?“, fragte Naomie verwirrt.

„Ein Badezimmer“, antwortete Kaiba amüsiert, „Gibt es das bei Ihnen nicht?“

Sie verdrehte über den spöttischen Kommentar die Augen. „Natürlich, aber ich meine auch das Schlafzimmer. Wozu das alles neben dem Büro?“

„Zum einen, weil Mokuba manchmal hier schläft, wenn ich wieder länger arbeite und zum anderen für mich.“

Naomie nickte nur. Was für eine dumme Frage. Für was sonst?

Kaiba klopfte auf die Handtücher. „Die können Sie benutzen und die Kleidung hängen Sie einfach auf den Bügel zum trocknen.“ Er deutete auf das Stoffbündel, das er aus dem Schrank gezogen hatte. „Das können Sie für die Nacht tragen.“

Artig nickte sie, wie ein kleines Kind.

„Gut, dann gehen Sie duschen und ich werden sehen, was in der Küche an Tee da ist.“ Damit verließ Kaiba das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.

Seufzend stand sie im Raum und sah sich noch einmal genau um. So wie sie da stand, wirkte es ziemlich unbeholfen und nur zögerlich nahm sie eines der Handtücher.

Sie fühlten sich wie neu an.

Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass er nur wenige Räume von ihr entfernt war. Ein Déjà-Vu Gefühl überkam sie. Vor ein paar Tagen war es nicht anders gewesen. Aber da war sie auch alleine in dem Gästezimmer gewesen. Sobald sie aus diesem Zimmer käme, würde er weiterhin den Babysitter mimen.

Ein weiterer Seufzer verließ ihre Lippen. Irgendwie würde sie die Nacht schon überleben.

Laut klopfte es an der Tür. Naomie schreckte zusammen, als ihr Herz für einen Moment aussetzte.

„Ich höre die Dusche nicht!“, sagte Kaiba laut, „Jetzt gehen Sie endlich!“

Sein Ton klang ungeduldig und herrisch.

„Ja!“, rief sie genervt zurück und fragte sich, wie oft er sie noch daran erinnern wollte.

„Dann machen Sie endlich hin!“, rief er zurück und klang ungeduldig.

Naomie seufzte und wusste, dass er hinter der Tür stand und lauschte. Er würde keine Ruhe geben bis sie unter dem heißen Wasserstrahl stand. Sie traute ihm sogar zu, dass er neben der Kabine stand und darauf acht gab, dass das Wasser auch nicht zu kalt war. Aber zum Glück hatte sie da noch ein Mitspracherecht und würde Kaiba in hohem Bogen aus dem Raum werfen.

Dennoch konnte Naomie nicht verhindern, dass sie bei dem Gedanken rot anlief und ihn schnell verdrängte, ehe er in nicht jugendfreie Richtungen lief.

Außerdem, was sollte sie mit so einem Eisklotz? Er hatte unzählige Fangirls und braucht sie nicht. Seine weiblichen Fans warfen sich bestimmt gerne an seinen Hals.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Wangen glühten und eine Dusche hatte sich erübrigt. Aber ihm zu erklären, wieso, konnte sie schlecht. Vermutlich würde Kaiba sie noch mal in den Schnee schicken, damit sie sich abkühlen konnte.

Schnell zog sie sich schnell die Winterkleidung aus und hing sie sorgfältig auf den Kleiderbügel, damit sie trocknen konnte. Sie fühlte sich klamm an und als sie auf ihre Haut sah, sah sie leichte Rötungen von der Kälte. Aber abgesehen davon, zierten einige blaue Flecke ihre Schulter, Arme und Beine. Naomie drehte sich mit dem Rücken zum Spiegel und sah, dass dieser grün und blau war, als hätte man sie geschlagen.

Sie zog sie Luft ein. Das würde noch lange Zeit schmerzhaft sein.

Wieder klopfte es.

„Muss ich erst reinkommen, damit Sie endlich in die Dusche steigen?“, fragte Kaiba forsch.

„Wenn Sie Spaß dran haben“, gab sie zurück, ehe sie ihre Worte noch einmal überdenken konnte, „Aber ich bin schon in der Kabine.“

Sie wartete keine Antwort ab, behielt lediglich die Tür im Auge und schloss die Kabinentür. Dann drehte sie den Wasserhahn auf und stellte das Wasser auf eine angenehme Temperatur, ehe sie es auf ihren kalten Körper prasseln ließ.

Sofort schmerzte die Wärme auf ihrer Haut und die Taubheit aus ihren Beinen zog sich nur langsam zurück.

Aber es fühlte sich gut an. Es zeigte ihr, dass sie am leben war.

Naomie stellte das Wasser etwas wärmer ein und griff zu einer Shampooflasche, während das Wasser über ihren Körper lief.

Zögerlich öffnete sie die Flasche und schnupperte daran.

Ein herber Geruch stieg ihr in die Nase. Es erinnerte sie an Patchouli oder Sandelholz und doch war etwas erfrischendes mit drin, wie Zitrone.

Die Flasche sah edel aus und nicht wie eine, die man einfach so in einem Drogeriemarkt bekam.

Naomie sah sich um nach einem anderen Shampoo, aber alle Flaschen sahen so edel aus.

Sie ließ sich ein paar Tropfen auf die Hand fallen und seifte sich damit ein.

Der Geruch des herben Parfümöls stieg in ihre Nase und hatte einen typischen Männergeruch an sich.

Aber es war egal. Immerhin roch sie dann nicht mehr wie eine Wunderweihnachtstüte und nach einem ganzen Tag Arbeit auf dem Markt.

Ob er diese Räume oft nutzte, wenn er länger arbeitete? Ob er alleine war oder leistete ihm ein Fangirl Gesellschaft?

Allein bei der Vorstellung brummte sie und verdrängte die Vorstellung ganz schnell wieder.

Sie wusch sich den Schaum aus den Haaren, als es wieder klopfte.

Was wollte er denn jetzt schon wieder? Genervt seufzte Naomie auf und steckte den Kopf aus der Kabine.

„Was ist? Ich dusche ja schon!“, fuhr sie ihn durch die Tür an.

„Ich wollte nur, wissen, ob Sie noch leben“, antwortete er ruhig, „Denn, wenn Sie vorhatten sich zu ertränken, dann sollten Sie wissen, dass die Kabine nicht tief genug dafür ist. Also kommen Sie nicht auf dumme Gedanken.“

„Idiot“, murmelte sie, „Ich bin gleich fertig. Jetzt hetzen Sie nicht so!“

Sie verschwand wieder in der Kabine und schüttelte den Kopf. Hatte Kaiba aber grade versucht witzig zu sein?

Wenn ja, ein schmunzeln entlockte es ihr. Aber wann erlebte man schon so einen Stimmungswechsel von eiskalt zu charmant und witzig? Scheinbar nur bei diesem Mann.

Schnell spülte sie sich den restlichen Schaum vom Körper und stellte das Wasser ab, ehe sie aus der Dusche trat und sich in ein Handtuch wickelte. Schnell trocknete sie sich ab, bevor es kalt werden würde und Kaiba erneut klopfte, um sie voran zu treiben.

Er war es wohl gewohnt, so mit den Leuten zu reden, aber sie war keine Angestellte.

Naomie zog die Kleidung auseinander, die er ihr bereit gelegt hatte.

Es war eine einfache Pyjamahose mit einem Hemd. Die Kleidung war ihr um einige Nummern zu groß und zu lang. Doch wenn sie nicht nackt oder nur im Handtuch vor ihm aufkreuzen wollte, blieb ihr auch hier keine Wahl.

Sie zog die viel zu große Kleidung an, krempelte die Ärmel und den Hosensaum mehrfach um, damit es nicht aussah, wie ein viel zu großer Kartoffelsack. Zum Glück hing an der Hose noch ein Band zum Festschnüren. Ansonsten wäre ihr das Kleidungsstück von der Hüfte gerutscht.

Von ihren Haaren tropften noch einzelne Wassertropfen, aber das würde auch gleich aufhören. Damit Kaiba kein weiteres Mal klopfte, ging sie hinaus.

Auf dem Nachtisch stand bereits eine Teekanne und zwei Tassen, dazu etwas Schokolade. Vermutlich aus einem der vielen Körbe.

„Setzen Sie sich“, sagte Kaiba und saß auf dem Bett. Auf dem Schoß hatte er seinen Laptop. Er wirkte entspannt, wie er so auf die Tasten hämmerte.

Langsam ging sie um das Bett herum und setzte sich ihm gegenüber. Der umgekrempelte Hosensaum löste sich und fast stolperte sie darüber, konnte aber ihr Gleichgewicht halten.

Der Firmenchef sah vom Laptop auf und klappte ihn wieder zu.

Wieso arbeitete er nicht weiter? War er krank?

Kaiba beugte sich nach vorne und griff zu der Wolldecke. Er breitete den flauschigen Stoff aus und legt ihn ihr um die Schultern, damit sie sich darin einkuscheln konnte.

Perplex sah sie ihn an.

Was kam denn jetzt? Wieso war er so freundlich? Wollte er sie nur milde stimmen, weil er jetzt zu den Verhaltensregeln für die Nacht kam oder mit einer Schweigepflicht um die Ecke schoss, das ihr verbot je ein Wort darüber zu verlieren, was hier passierte?

Naomie stellte sich auf alles ein, während er ihr in die Augen sah.

„Habe ich etwas im Gesicht?“, fragte sie verwirrt und vielleicht etwas zu ungehalten.

Sofort wandte Kaiba sich mit einem Kopfschütteln ab und schenkte ihr etwas Tee ein. Er reichte ihr die dampfende Tasse.

„So wie es aussieht, haben Sie nicht genug Spinat gegessen, um in die Kleidung zu passen“, witzelte er und schob ihr den Teller mit Schokolade herüber.

Naomie seufzte und fragte sich, ob sie ein Stück nehmen sollte. Die Verpackung sah nicht nach einer Billigmarke aus. Außerdem war es sein Geschenk von einem Fan. Es wäre nicht richtig es zu essen.

Zudem zog sich ihr Magen zusammen, wenn sie nur daran dachte. Immerhin kam ihr dann wieder seine wilde Knutscherei in den Sinn.

Leise brummte sie.

„Wo ist Ihr Humor geblieben?“, fragte Kaiba und leicht hob sich seine Augenbraue.

„Der liegt noch betrunken im Schnee“, konterte sie schnell und trank einen Schluck von dem heißen Getränk.

„Und was ist mit Ihnen? Sind Sie noch angetrunken?“

Sie zuckte mit den Schultern und spürte wieder einen leichten Schmerz in den Schläfen. „Sagen wir es so, ich spüre immer noch die Tasse Glühwein, die zu viel war.“

Kaiba nickte nur. „Nehmen Sie ruhig etwas Schokolade. Ich könnte damit meine Firma pflastern, so viel ist das. Leider kann ich Ihnen nichts anderes anbieten.“

„Schon gut“, wehrte sie ab, nahm aber trotzdem nichts. Ihr Magen zog sich bei der Vorstellung etwas zusammen. Aus irgendeinem Grund schmerzte der Gedanke, sowie die Erinnerung an den Nachmittag und bohrte sich wie eine Nadel in ihr Bewusstsein.

Wieso sollte er Interesse an ihr haben, wenn er doch so viele Fans hatte? Es tat aus einem unerfindlichen Grund weh.

„Was macht die Kopfverletzung?“, fragte er und nahm ebenfalls einen Schluck vom Tee. Seine warme Hand strich über ihre Stirn schoben ein paar Haare zur Seite.

„Es tut nicht weh, wenn Sie das meinen.“

„Scheint auch nur eine kleine Wunde zu sein“, sagte er und seine Hände blieben für einen Moment länger als nötig zwischen ihren Haarsträhnen.

Sofort fing ihr Herz wieder wie wild zu pochen an. Naomie schluckte und wandte den Kopf zur Seite. Sie entzog sich seiner Berührung.

Auch wenn er es gut meinte, so schmerzte diese eher in Anbetracht dessen, was zwischen ihnen passiert war.

Kaiba ließ die Hand sinken. Scheinbar verstand er sofort und sah überfordert aus, wie er damit umgehen sollte.

Naomie wusste auch nicht, wie sie damit umgehen sollte und sah in den Tee. Schnell trank sie den Rest aus und stellte die leere Tasse auf den Nachtisch ab.

Als sie wieder zu Kaiba sah, wirkte er ein wenig gequält.

„Was haben Sie?“, fragte er nach einem weiteren kurzen Moment des Schweigens.

Naomie brummte zur Antwort. Sie biss sich kurz auf die Lippen und überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte. Doch die Wahrheit schien zu lachhaft. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass es sie wurmte, dass er eine Wildfremde geküsst hatte, wenn sie doch selbst eine war.

„Ich sollte schlafen gehen“, sagte sie ausweichend und machte Anstalten aufzustehen, doch seine warme Hand hielt sie zurück an Ort und Stelle.

„Wenn Sie schlafen wollen, gut. Aber dann bleiben Sie hier. Das Sofa ist zu unbequem.“

„Und was ist mit Ihnen?“

„Ich habe noch zu arbeiten.“

Wieder brummte Naomie.

„Ist es wegen heute Nachmittag?“, fragte Kaiba, „Sind Sie deshalb so verstimmt?“

Naomie schwieg missmutig und sah auf eine Falte in der Bettdecke.

„Wieso?“

Fragte er das wirklich? Ihre Augenbraue zog sich skeptisch nach oben.

„Sind Sie sauer wegen dem Weib?“, fragte er ungläubig und sah sie aus leicht geweiteten Augen an. „Wenn es danach ginge, sollte ich dann nicht sauer sein, weil Sie sich mit dem Köter rumtreiben und er Sie auf ein Date eingeladen hat an Heilig Abend?“

„Das ist nicht dasselbe!“

„Ach nein?“

Naomie seufzte und rieb sich über die Schläfe.

„Joey ist nur ein Kollege“, sagte sie, „Aber führen wir hier grade wirklich ein Gespräch über Eifersucht, als stünden wir in einer Beziehung?“

„Scheinbar.“

„Oh Gott!“, entfuhr es ihr leise.

„Kaiba reicht völlig.“

Sie warf ihm einen genervten Blick zu.

„Also wieso sind Sie so sauer auf mich?“

„Fragen Sie das wirklich?“, entfuhr es ihr ungehalten.

„Ist es wegen dem Kuss?“

Wieder schwieg sie. Naomie wusste nicht, was sie antworten sollte. Stattdessen nickte sie leicht.

„Was soll das?“, fragte sie und zog die Decke enger um ihren Körper, als könnte es sie schützen. „Zuerst wollen Sie mich küssen und dann knutschen Sie mit dem Fangirl rum. Ist es nicht verständlich, dass ich mich da verarscht fühlte?“

Kaiba nickte. „Hilft es Ihnen, wenn ich sage, dass ich den Kuss nicht erwidert habe?“

Verwirrt sah sie ihn an. Hatte er nicht? Aber als sie sich umgedreht hatte, hatten seine Hände eindeutig auf ihrer Schultern gelegen gehabt und seine Augen waren geschlossen gewesen.

„Ich habe sie nicht geküsst.“

„Das sagen Sie mir, weil…?“, fragte sie und ließ zu, dass er sich zu ihr beugte. Sein warmer Atem streifte ihre Haut und sie roch etwas Alkohol. Offenbar war sie nicht die Einzige, die von ihnen beiden getrunken hatte. „Ich meine, es kann Ihnen doch egal sein, was ich denke, oder?“

„Im Grunde ja“, gestand er ihr zu.

„Warum sind Sie zu mir auf den Markt gekommen? Mokuba hat sie erpresst, aber ich glaube nicht, dass er sagte, dass Sie mich küssen sollen. Wieso?“

Kaiba seufzte nun seinerseits, als hätte er mit dieser Frage gerechnet.

„Es war so auch nicht geplant gewesen“, begann er leise und strich über ihre Wange. Mit seinen blauen Augen suchte er ihren Blick. „In erster Linie wollte ich Mokubas Forderung erfüllen und mich für das Geschenk bedanken.“

Ihr Herz begann wieder zu klopfen unter der Berührung. Diesmal entzog sie sich nicht.

„Wäre diese Frau nicht aufgetaucht…“

„Was dann?“, brachte sie heraus und sah ihn direkt an. Seine Hand wärmte ihre Haut und es fühlte sich merkwürdig gut an.

„…dann hätte ich das auch zu Ende bringen können.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“ Naomie glaubte ihm. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass er nicht log. Stattdessen entspannte es sich und ihr Herz begann zu flattern. Er war ihr wieder ein Stück näher gekommen, so dass seine Stirn fast ihre berührte.

Sein heißer Atem kitzelte sie ein wenig und seine andere Hand legte sich auf ihre Wange. Er hielt sie sanft fest.

„Und wie?“, fragte sie leise und versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was in ihm vorging, aber es war verschlossen wie immer. Lediglich seine blauen Augen hatten an Härte und Kälte verloren, was sie entspannen ließ.

„Das weißt du doch“, sagte er leise und es störte sie nicht, dass er zum Du übergegangen war. Im Gegenteil. Es klang gut, dass er sie nicht mehr siezte. Naomie spürte fast die Bewegung seiner Lippen auf ihrer Haut, obwohl er noch einige Millimeter von ihr entfernt war. Es war fast unerträglich zu warten bis auch der letzte Abstand überbrückt war. Die Anspannung war fast greifbar, so dass der gleichmäßige Rhythmus ihres Herzes völlig aus der Ordnung geriet.

Wieso wollte sie von ihm geküsst werden? Sonst war sie doch auch nicht so.

Lag es an dem Alkohol?

Ganz leicht öffnete sie die Lippen, atmete den herben Geruch von ihm ein und genoss das Gefühl, als seine Lippen endlich ihre berührten.

Türchen 9 – Ein Lichtlein brennt

Der kalte und emotionslose Blick traf ihn wie ein Schlag.

Obwohl die blauen Augen so vertraut waren und er sie jeden Morgen im Spiegel sah, wirkten sie dennoch fremd und wie von einer anderen Person. Das braune Haar fiel ihm in feinen Strähnen in die Augen und betonten den stechenden Blick umso mehr.

Sein Mund war zu einem süffisanten Grinsen verzogen, als könnte er nie verlieren und als wäre er allen gegenüber überlegen.

Schaute er immer so drein?

Seto konnte sich selbst im Spiegel durch einen großen, verzierten Rahmen in Gold sehen. Es war ein sehr schönes viktorianisches Muster.

Doch etwas stimmte mit seinem Spiegelbild nicht.

Seine Züge waren jünger und die Haare ein wenig länger. Der rote Königsmantel mit dem weißen Saum hing locker und schwer auf seinen Schultern. Mit einer langen Schleppe fiel er zu Boden und verdeckte den unteren Teil des Thrones auf dem er saß.

Lässig saß er in dem hohen Stuhl mit dem blauen Sitzpolster.

Sein Spiegelbild überschlug lässig die Beine und Seto tat es ihm gleich, ohne den Befehl dazu an sein Gehirn gegeben zu haben.

Was ging hier vor?

Seto blinzelte überrascht den Spiegel an und fröstelte bei dem Anblick. So erging es also den Leuten, wenn sie ihm gegenüber gestanden hatten damals. Dieser ausdruckslose Blick jagte selbst ihm Angst ein.

Hinter ihm blinkte die Lampe einer Schaltzentrale. Einsam und im gleichen Rhythmus ging es verlockend an und aus, als würde es einem zurufen seinen Finger darauf zu legen und den Knopf zu drücken. Was würde passieren, wenn er es täte?

Von irgendwoher kam ein schwacher Lichtschein.

Sein anderes Ich, sein jüngeres Ich von vor zwei Jahren, lehnte sich entspannt zurück. Die viel zu kalten Augen unverwandt auf den Spiegel gerichtet. Sein Mundwinkel zuckte und auch diesmal spürte Seto die Bewegung, ohne es befohlen zu haben.

Sein Spiegelbild stieß einen amüsierten Laut aus und lehnte sich mit dem Arm auf die Lehne, die die Form eines Kopfes vom weißen Drachen hatte. Auch die andere Lehne hatte dieselbe Form. Die Flügel der Drachen gingen in die Rückenlehne über und sein anderes Ich füllte diesen Thron nicht mal zur Hälfte aus.

Nicht wegen der Körpergröße, sondern auch von der Reife.

Hatte er so vor zwei Jahren ausgesehen?

Es war ein befremdlicher Anblick sich selbst so zu sehen und zu wissen, wie er auf sein Umfeld gewirkt hatte. Ein wenig Scham überkam ihn, dass er damals so hochmütig gewesen war und sich auch unantastbar gefühlt hatte bis Yugi ihn besiegt hatte.

Selbst sein kleiner Bruder war so kaltherzig gewesen. Seto musste auch zugeben, dass Mokuba ihm selbst nichts bedeutet gehabt hatte. Dabei war er seine einzige Familie und alles, was er noch hatte.

Inzwischen fragte sich Seto, wie er damals nur so dumm hatte sein können? Wie grausam war er gewesen?

Er wollte nicht an die unzähligen Lügen, Bestechungen und Erpressungen denken, die er begangen hatte, um an seine Ziele zu kommen. Auch Mokuba hatte er damals nur für seine Zwecke benutzt gehabt.

Es war ein erschreckender Gedanke, wie skrupellos er gewesen war und auch ohne mit der Wimper zu zucken, hätte er jemanden einfach so getötet.

Zwar wäre er heute noch bereit dazu, wenn es darum ging, Mokuba zu beschützen, aber er würde es nicht mehr so leichtfertig tun.

Der Gedanke, wie er damals gewesen war, bereitete ihm Unbehagen und ein Schauer rann ihm über den Rücken.

Seto schluckte und betrachtete weiter sein Spiegelbild.

Eine Strähne kitzelte seine Nase und Seto hob die Hand, um sie aus seinem Gesicht zu streichen, doch der Arm blieb an Ort und Stelle. Er konnte sich nicht bewegen.

Was ging hier vor? Wieso konnte er sich nicht bewegen?

„Du bist schwach geworden!“, schnarrte ihn sein Spiegelbild hochmütig an. Sein anderes Ich blinzelte und reckte das Kinn stolz nach vorne.

Fragend sah Seto sein Ebenbild an, wollte das kalte Glas berühren, doch auch diesmal konnte er sich nicht bewegen.

Langsam stieg sein Puls und mit ihm sein Herzschlag.

„Du hast dich von diesem emotionalen Unsinn einlullen lassen!“, fuhr sein jüngeres Ich fort und sah ihn an, als wäre er ein Verbrecher auf der Anklagebank und als hätte er Hochverrat begangen. „Als wäre das nicht ekelerregend genug, lässt du dich von einer dahergelaufenen Schlampe verführen!“

Von wem sprach sein Ebenbild?

Seit seiner letzten Beziehung vor zwei Jahren hatte er keine feste Freundin mehr gehabt und selbst diese Bindung damals, war mehr zu dem Zweck gewesen an eine der weißen Drachen Karten zu kommen, als dass es etwas mit Liebe zu tun gehabt hätte.

Danach waren es nur ein paar One Night Stands gewesen, aber auch nicht viele.

Von wem also sprach sein Ebenbild?

Wieder schluckte Seto.

„Bist du überrascht, dass ich immer noch da bin?“, fragte sein Ebenbild amüsiert und verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen.

„Ich war immer da“, erklärte er kalt, „Ich werde auch immer da sein. Ich bin du und du wirst mich nicht los.“

Seto schwieg.

Wovon sprach er? Er hatte sich geändert in den letzten Jahren. Er war nicht mehr so skrupellos!

„Denkst du das?“, fragte sein jüngeres Ich, als hätte er seine Gedanken gelesen. Was passierte hier? Sein Puls stieg weiter und ein wenig Angst durchdrang seinen Körper. „Du hast dich kein bisschen verändert, wenn du genau darüber nachdenkst.“

„Das stimmt nicht“, hörte Seto eine Stimme sagen. Fragend huschten seine Augen durch den dunklen Raum, aber er konnte keinen Körper dazu ausmachen.

Er sah wieder zu dem Spiegelbild. Es schien nichts gehört zu haben.

„Du bist noch genauso eiskalt und gefühllos wie früher, als wir noch gemeinsam ein Mensch waren. Damals hast du dich nicht von ein paar grüner Augen weich klopfen lassen. Es hätte dich nicht interessiert, was passiert wäre. Du hättest dieses Flittchen im Schnee liegen gelassen.“

Sprach sein Ebenbild von Naomie?

„Sie ist kein Flittchen!“, fuhr er das Spiegelbild an und seine Stimme hatte einen merkwürdigen Nachhall in der Dunkelheit.

„Ach?“, fragend hob sein anderes Ich die Augenbraue, „Sie kennt dich kaum und steckt dir schon die Zunge in den Hals. Wie würdest du das nennen?“

Seto schwieg. Natürlich sollte niemand einem anderen so einfach küssen, aber in dem Fall war es doch nicht ihre Schuld, sondern seine. Er hatte sich hinreißen lassen. Sie traf keine Schuld.

Eine Berührung am Rücken ließ ihn zusammen zucken. Es fühlte sich an wie Fingernägel, die sich in den Stoff fest krallten und nicht mehr los ließen. Kurz zuckte er zusammen.

Er versuchte sich umzudrehen, war aber dazu verdammt genauso da zu sitzen, wie es sein Spiegelbild vorschrieb. Es zeigte keine Regung, dass es das selbe wie er fühlte oder es ignorierte es nur besser.

„Dachte ich es mir doch“, fuhr der jüngere Seto fort, „Du denkst genauso wie ich. Wir gehören zusammen. Sieh es ein.“

„Ich denke nicht mehr so wie du!“, fuhr Seto den Spiegel an.

„Rede es dir ruhig ein“, sagte es ruhig und strich mit den Fingerspitzen bedächtig über den Kopf des weißen Drachen von der Armlehne, als wäre es eine Katze. „Aber weißt du, ich dachte, ich lebe schon viel zu lange in deinem Unterbewusstsein und es wird Zeit, dass ich wieder das Ruder in die Hand nehme, ehe sie dich komplett weich klopft. Außerdem hatten wir immer so viel Spaß. Erinnerst du dich an unsere letzte Beziehung? Sie war so zierlich und unschuldig.“

Natürlich erinnerte sich Seto an das Mädchen und auch daran, was er getan hatte, um an die Karte des weißen Drachen zu kommen.

Er wollte nicht darüber nachdenken. Immerhin war es nicht wieder gut zu machen, wie viel Schmerz er ihr bereitet hatte. Aber es war geschehen und er bereute es inzwischen.

„Was denkst du? Soll ich mit der Kleinen genauso umgehen?“ Amüsiert kicherte das Ebenbild und wandte den Blick von dem Drachenkopf wieder ab. Mit kalten Augen sah er ihn wieder an.

„Fass sie nicht an!“, fuhr Kaiba ihn an und sein Herz klopfte nervös in seiner Brust. Nur zu gut konnte er noch hören, wie das Mädchen ihn damals um Vorsicht gebeten hatte, als er mit ihr geschlafen hatte. Doch er hatte keine Rücksicht genommen, dass sie unerfahren gewesen war und beim ersten Mal schmerz empfinden würde. Unnachgiebig hatte er seine Gelüste an ihr ausgelebt.

„Angst, dass ich ihr weh tue?“ Wieder kicherte er.

„Ich will nicht“, hörte er wieder eine fremde Stimme in dem Raum und der Druck auf seinem Rücken verstärkte sich. Die Stimme klang etwas leidlich.

Doch auch diesmal hörte sein Spiegelbild es nicht.

„Fass sie nicht an!“, knurrte Seto sein jüngeres Ich an und er spürte, wie das Adrenalin durch seine Blutbahnen raste.

„Oh keine Sorge“, sagte er, „Du fasst sie an. Ich bin nur ein Teil deiner Persönlichkeit. Wenn sie danach vor jemanden Angst hat, dann vor dir. Vor uns.“

„Ich will nicht“, hörte er wieder die selbe Stimme. Sie klang flehender. „Lass mich gehen.“

„Wieso willst du ihr weh tun?“, fragte er und fragte sich, wie er das verhindern konnte.

„Damit du lernst, dass Gefühle Schwachsinn sind!“, fuhr er ihn wieder an und klang dabei wie sein Stiefvater, „Sie ist nicht gut für uns. Du lässt dich viel zu sehr von ihr ablenken! Anstatt zu arbeiten, hast du sie geküsst! Hast du nichts Besseres zu tun?“

Was war schon dabei? Es waren nur ein paar Küsse gewesen und sie hätte ihn auch von sich stoßen können. Aber stattdessen hatte sie es sogar erwidert, ihre Lippen ganz leicht geöffnet, damit seine Zunge in ihren Mund gleiten konnte.

Aber der Kuss war von ihm ausgegangen.

Doch natürlich hatte er besseres zu tun. Er hätte natürlich arbeiten können, aber in dem Moment war sie wichtiger gewesen.

„Genau das ist das Problem! Sie sollte nicht wichtiger als die Firma sein! Selbst diese kleine Ratte Mokuba sollte nicht wichtiger sein!“ Wieder war da der kalte Blick, der ihn zu durchbohren schien. War er wirklich so wie Gozaburo geworden? Bedeutete ihm die Firma mehr als Mokuba? Was war mit Kuzuki? Sie war... Nun was war sie denn? Seto wusste es nicht. Immerhin war sie jemand, der für ihn arbeiten konnte. Aber mehr konnte er nicht sagen. Erst recht nicht, was genau ihn geritten hatte sie zu küssen.

„Deshalb werde ich mich der Sache annehmen und sie aus unserem Leben verbannen!“, unterbrach die schnarrende Stimme seine Gedanken.

Seto spürte einen Druck auf seinen Brustkorb, als würden sich zwei Arme um ihn schlingen. Aber dort war nichts und niemand.

„Ich möchte aber nicht“, war wieder dieses Flehen zu hören, „Bitte nicht.“

Woher kam diese irritierende Stimme nur? Zu wem gehörte sie und was wollte sie nicht?

Seto versuchte den Kopf zu bewegen, doch nicht einmal diese kleine Geste war ihm vergönnt. Es fühlte sich an als sei er ein Gefangener und das beklemmende Gefühl in der Brust stieg an.

Ganz langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, erhob sich sein Ebenbild und Seto spürte, dass auch er sich bewegte. Der rote Königsumhang fiel seinem jüngeren Ich um die Füße. Er stolperte nicht, als er näher an den Rahmen heran trat und den Umhang hinter sich her zog.

Seine Beine setzten sich ebenfalls in Bewegung, obwohl er es gar nicht wollte. Seto versuchte stehen zu bleiben, aber sein Körper gehorchte ihm nicht.

Es fühlte sich an, als würde er an Marionettenstrippen gezogen werden.

„Du kannst dich nicht wehren“, sagte sein anderes Ich, „Ich bin du und diesmal tust du das, was ich will!“

Sein jüngeres Ich stand nun ganz dicht vor der Scheibe und berührte die glatte Oberfläche. Auch Seto hob die Hand und mimte die Geste nach.

Das Glas fühlte sich kalt und gleichmäßig unter seiner Haut an.

Er versuchte die Hand sinken zu lassen. Doch nichts passierte.

„Ich werde schon dafür Sorgen, dass wir wieder so zielstrebig wie früher werden.“ Süffisant zog sich der Mundwinkel wieder nach oben und er ließ, genauso wie sein Spiegelbild, die Hand sinken. Ein kleiner Handabdruck blieb zurück. „Es wird Zeit, dass ich spielen gehe.“

„Nein!“, schrie er seinem Ich zu, doch es wandte sich ab und drehte ihm den Rücken zu. Entweder wollte oder konnte sein Spiegelbild ihn nicht hören. Seto vermutete ersteres.

Mit schnellen Schritten ging er zu der Schaltzentrale bei der noch immer das Lämpchen blinkte. Sei Finger drückte den Knopf und er wartete, dass etwas passierte.

Was hatte sein anderes Ich vor?

„Nein ich will nicht“, mischte sich wieder diese fremde Stimme ein und er konnte spüren, wie das Gefühl von ihm abließ, dass ihn jemand fest hielt.

Was passierte hier nur?

Sein Herzschlag war inzwischen zu einem schnellen Rhythmus übergegangen und fühlte sich an, als wäre er nur gelaufen. Er atmete schnell, wie zu schnell. Sein Brustkorb schmerzte schon.

Seto streckte die Hand aus.

Er konnte sich bewegen. Ein Fortschritt. Seine Finger trafen auf das Glas, doch es war nicht kalt. Es fühlte sich warm an.

Im nächsten Augenblick kam die Dunkelheit auf ihn zu, während sein anderes Ich langsam verblasste und von der Finsternis verschluckt wurde. Auch das Lämpchen hatte aufgehört zu blinken.

Was passierte hier?

Sein Herz schlug noch mal einige Takte schneller.

Die Dunkelheit kam auf ihn zu und drohte ihn zu verschlucken. Doch er musste durch das Glas. Er musste sein früheres Ich aufhalten. Er konnte doch nicht zulassen, dass er wieder so wurde, wie damals!

„Bleib hier!“, schrie er, doch sein Ebenbild war bereits verschwunden. Er war allein und lediglich der Nachhall seiner Stimme war noch zu hören, während das Licht immer karger wurde.

Die Finsternis kam unaufhörlich auf ihn zu und drohte ihn zu verschlucken.

Seto schloss die Augen, bereit darauf zu verschwinden. Sein Ebenbild siegte und als nächstes spürte er einen Fall.

Sein Herz klopfte schmerzhaft gegen seine Brust und kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Unter sich spürte er etwas Weiches und warmes.

Seine Hände hielten ein Stück Stoff fest.

„Nicht…“, hörte er wieder die weibliche Stimme.

Seto wagte nicht die Augen zu öffnen. Sein Herz pochte noch viel zu schnell und die Angst saß noch in seinen Knochen.

Feine Haare kitzelten sein Gesicht und der Geruch von einer süßen Wärme stieg in seine Nase. Tief atmete er diesen Duft ein und sein Arm schlang sich um den warmen Körper neben sich. Ganz vorsichtig zog er ihn zu sich, als wäre er aus Glas und könnte unter der Berührung zerbrechen.

Unter seinen Händen spürte er das Heben und Senken des Bauches.

Ganz langsam wurde sein Kopf wach und sein Puls beruhigte sich. Es war ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Die zwei Jahre waren vorbei und er hatte sich verändert. Sein früheres Ich hatte keine Kontrolle über ihn!

Erleichtert atmete er auf und vergrub sein Gesicht in dem weichen Haar.

Er hatte die Kontrolle über seinen Körper. Niemand sonst.

Seine Arme schlangen sich etwas fester um den Körper.

„Es ist alles gut“, murmelte er leise und seine Lippen berührten die warme Haut im Nacken. Sein Atem beruhigte sich. Vorsichtig schluckte er und öffnete die Augen.

Zuerst sah er nur die blonden Haarsträhnen.

Wer war das?

Die Erinnerung kehrte nur langsam zurück und erleichtert atmete Seto auf, als er merkte, dass Kuzuki friedlich neben ihm schlief.

Es ging ihr gut und ihm fiel ein Stein vom Herzen. Ein weiterer Hinweis, dass alles nur ein Traum war.

Nur der Kuss.

Der war wirklich kein Traum oder Illusion gewesen.

Sie hatten sich geküsst und das nicht nur einmal. Im Eifer war das Hemd auf den Boden gelandet und sein Hemd hing offen auf seiner nackten Brust.

Er konnte den Stoff spüren, der sich unter den Bewegungen vom Schlafen verzogen hatte und nun knittrig war.

Es hatte sich alles andere als falsch angefühlt und sie hatte genauso wenig aufgehört wie er es hatte tun können.

Seto hatte auch kein schlechtes Gewissen, dass er es getan hatte. Wenn es danach gegangen wäre, hätte er auch nicht aufgehört, als er ihren Hals geküsst und ganz leicht an ihrer süßen Haut geknabbert hatte.

Doch er hatte aufgehört, worüber er noch immer ein wenig enttäuscht war.

Es war nicht so, als ob er ihre Notlage hätte ausnutzen wollen, aber er gehörte auch nicht zu der triebgesteuerten Sorte Mann. Wäre das Fangirl auch nicht gewesen, hätte er sie schon auf dem Markt geküsst. Aber leider war da dieses nervige Weib gewesen, was ihre manikürten Finger nicht von ihm hatte lassen können.

Bei genauerer Überlegung war es doch gar nicht so schlimm. Immerhin waren sie so ungeachtet von neugierigen Reportern gewesen. Über die Schlagzeile wollte er nicht nachdenken, wenn man sie gesehen hätte.

Er seufzte leise und ihre Haare bewegten sich ein wenig. Noch immer hielt er sie an sich gedrückt. Das Gefühl sie in den Arm zu haben, hatte etwas Tröstendes und es fühlte sich nach dem Alptraum gut an. Wie ein Licht in der Dunkelheit, warm und geborgen.

Seto schloss wieder die Augen und genoss den Augenblick. Er wollte sie noch nicht los lassen.

Zumal er auch noch keine Ahnung hatte, wie es nach der gestrigen Nacht weiter gehen sollte. Jetzt konnte er sie erst Recht nicht mehr fragen, ob sie für ihn arbeiten wollte. Die Grenze hatte er überschritten und zurückgehen, ging nicht.

Ein Ruck ging durch ihren Körper und er konnte sie gerade noch festhalten, ehe sie aus dem Bett gerollt wäre.

Schnell drehte er sie zurück und hielt sie fest umschlungen.

Leise seufzte er.

Wie sollte er nur Mokuba erklären, wieso er sie nicht fragen konnte? Sein kleiner Bruder würde nur unnötige Dinge hinein interpretieren, die es gar nicht gab und ihm sagen, wo seine Daten versteckt waren, würde der Kleine auch nicht.

Wieder seufzte er leise und sein Atem strich wieder durch ihre Haare.

Hoffentlich dachte sie jetzt nicht, dass er eine Beziehung mit ihr führen wollte? Als er sich gestern mit ihr hier herum gewälzt hatte, schien der Kuss so verlockend und gut zu sein.

Wenn er jetzt darüber nachdachte, kamen ihn unglaublich viele Gedanken, wieso er es hätte lassen sollen. Aber das Gefühl von Reue blieb aus.

„Nicht…“, murmelte sie und versuchte sich aus seinem Arm zu winden. Doch Seto hielt sie fest und zog sie etwas mehr zur Mitte, damit sie nicht heraus fiel.

War es ihre Stimme, die sich in seinen Traum mit vermischt hatte?

„Ich will nicht, Ryu…“, sagte sie leise und klang gequält.

Wer war Ryu? Von wem sprach sie da?

„Hei“, sagte er leise und vorsichtig strich er ihr über die Schulter. „Es ist alles gut. Du bist hier in Sicherheit.“

„Ryu, ich will nicht!“ Naomie wand sich unter seiner Berührung. Hatte dieser Typ ihr wehgetan oder sie bedrängt? Automatisch hielt er sie etwas fester.

„Es ist alles gut“, versuchte Seto es weiter und strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht. Kalter Schweiß klebte auf ihrer Stirn.

„Lass mich los!“, fuhr sie ihn im Schlaf an und sofort ließ Seto sie los. Sie rollte sich von ihm weg und öffnete mit einem Schlag die Augen.

Ihr Atem ging schnell. Ängstlich drückte sie die Decke an sich.

„Was…?“, fragte sie verwirrt und sah ihn aus großen Augen an.

„Es ist alles in Ordnung“, beschwichtigte Seto sie und rutschte etwas zur anderen Seite des Bettes. Er richtete sich auf und das offene Hemd wurde sichtbar.

„Was ist passiert?“ Fragend sah sie sich um.

„Nichts“, antwortete er ehrlich und mit einem Schulterzucken.

„Aber…?“ Fragend sah sie ihn an und nickte zu seinem offenen Hemd und ihrem freien Oberkörper, der nur noch durch den BH bekleidet war.

„Es ist nichts passiert“, beteuerte er erneut, „Du bist eingeschlafen.“

„Eingeschlafen?“, fragte sie peinlich berührt und legte beschämt die Hände über die Augen.

Seto nickte. „An meiner Schulter, als ich grade deinen Hals geküsst hatte.“

Er sprach die Worte nüchtern und trocken aus, als hätten sie keine Bedeutung. Dennoch merkte er, dass es ihm nur schwer über die Lippen kam.

„Das tut mir leid“, sagte sie leise und sah beschämt auf. Ihre Wangen hatten an Röte gewonnen.

„Schon gut. War wohl besser so“, wehrte er ab.

„Wieso lügst du?“, mischte sich sein Gewissen wieder ein. Seto hatte schon leichte Sorgen gemacht, weil es den gestrigen Tag über geschwiegen hatte.

„Es tut mir trotzdem leid“, sagte sie verlegen, „Es war keine Absicht und soll auch nicht bedeuten, dass du langweilig wärst oder sowas…“

„Es ist vorbei“, sagte Seto kalt, „Du warst müde und es gibt da nichts zu entschuldigen.“

Aber er konnte nicht verhindern, dass er erleichtert aufatmete. Sie duzte ihn und das war schon mal positiv.

„Ok, es tut mir aber trotzdem leid“, sagte sie noch einmal.

Er nickte nur und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sie die Decke etwas enger um sich schlang, als wäre es ihr unangenehm.

Am liebsten hätte er sie wieder in seine Arme gezogen und wäre dem Drang nachgekommen, sie zu küssen und dort weiter zu machen, wo sie in der Nacht unterbrochen worden waren. Aber der Moment war vorbei.

„Von was oder wem hast du geträumt?“, fragte er nach einem Augenblick der Stille.

„Wie?“

„Du hast die ganze Zeit vor dich hin geredet, dass du etwas nicht willst und Ryu dich in Ruhe lassen soll. Ich glaube, du hast dich in der Nacht auch an mich geklammert“, sagte er und erinnerte sich an das Gefühl im Traum. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass sie das Gefühl einer Berührung bei ihm ausgelöst hatte. Ebenso war es ihre Stimme in seinem Traum gewesen.

„Oh wirklich?“, fragte sie und sah ihn erschrocken an.

Kaiba nickte wieder.

Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“

„Was hast du geträumt?“

„Von Ryuichi, meinem Exfreund.“

„Der, der dich betrogen hat?“

Schwach nickte Naomie.

„Was ist passiert?“

„Ich…“ Sie schwieg und fuhr sich nervös durch die Haare. „Es ist nicht einfach zu erklären.“

„Du musst dich nicht rechtfertigen.“ Seto merkte, wie schwer es ihr fiel. Dennoch brannte er innerlich darauf zu erfahren, was passiert war.

„Nein, schon gut“, kurz seufzte sie, „Er und ich wir hatten nach der Trennung noch Sex.“

„Wieso das?“, fragte er perplex und fragte sich, was es mit dem Traum zu tun hatte. Eigentlich ging es ihn nichts an, was sie mit wem tat, aber in dem Fall, war seine Zunge schneller als sein Verstand gewesen.

„Ach gib lieber zu, dass du wissen willst, was da los war“, mischte sich wieder die Fistelstimme ein.

„Bitte denk nicht schlecht von mir“, sagte Naomie bittend und sah ihm in die Augen, in denen ein trauriger Blick lag. „Es ist einfach passiert. Also…wir haben uns nach der Trennung noch ein paar Mal gesehen, wegen ein paar Sachen, die noch beim anderen lagen und naja…er wollte dann immer. Aber ich nicht und er hat mich ins Bett gezerrt. Obwohl ich gesagt habe, ich will nicht, hat er nicht aufgehört.“

„Mit anderen Worten, er hat dich vergewaltigt?“ Sein Blick wurde eisig. Wie konnte man nur so triebgesteuert sein? Ein leises Knurren entfuhr ihm.

„Nein, so ist das nicht…“ Sie rang mit Worten. „Also es stimmt schon. Er konnte die Finger nicht von mir lassen und auch wenn ich alles versucht habe, um los zu kommen, hat er mich im Bett festgehalten bis ich an dem Punkt war, dass ich auch wollte.“ Naomie schwieg. „Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass ich ihm vielleicht doch noch etwas bedeute und hatte gehofft, er liebt mich noch.“

„Das ist dumm gewesen“, sagte er.

„Ich weiß.“ Ihre Stimme klang leise und belegt.

„Und er ist ein Arschloch“, fügte Seto hinzu und wandte sich ihr zu.

„Und du bist auch eins!“, mischte sich sein Gewissen wieder ein, „Als ob sie sich nicht schämt dafür und du? Du streust Salz in die Wunde!“

Fast konnte Seto sehen, wie sich die Stimme mit der imaginären Hand vor die Stirn schlug und fassungslos den Kopf schüttelte.

Vorsichtig rutschte er näher an sie heran. „Er hat deine Grenzen überschritten und dich genötigt.“

Naomie sah ihn an und nickte. „Ich weiß.“

Es sah aus, als hätte sie ein paar Tränen im Gesicht. Wenn sie jetzt weinen würde, wüsste er nicht, was er tun sollte.

„Du kannst dich ja anstellen. In den Arm nehmen natürlich!“, fuhr ihn die Fistelstimme genervt an, doch Seto ignorierte sie wieder.

Natürlich war es dumm von ihr gewesen, dass sie gedacht hatte, dass sie ihm noch was bedeutete, nachdem er sie betrogen hatte. Aber Seto konnte es auch ein wenig verstehen.

Liebe war eben nicht so einfach wie Zahlen, Tabellen und Kalkulationen und aus diesem Grund hatte er sich noch nie verliebt gehabt.

Mit dem Wissen war es wohl noch besser, dass nichts zwischen ihnen vorgefallen war. Sonst dachte sie vielleicht, dass er Gefühle für sie hatte.

„Belüg dich nur selbst“, kam es wieder von der Fistelstimme.

„Hör zu, wegen dem Kuss…“, fing sie an und kam damit auf das Thema der gestrigen Nacht zu sprechen.

Sein Herz machte kurz einen Aussetzer. Jetzt würde sich entscheiden, wie es weiter ging und er würde wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Seto wusste es nämlich immer noch nicht. Er war kein Beziehungsmensch, aber es fiel ihm auch irgendwie schwer, ihr klar zu machen, dass es bei dieser einmaligen Sache bliebe.

Es war befremdlich hier mit einer Frau zu sein und noch viel befremdlicher war das Gefühl in seiner Magengegend.

„Ich glaube, es ist…“, fuhr sie fort, wurde aber von dem lauten Klingeln seines Telefons aus dem Büro unterbrochen.

Leise knurrte Seto. Wer hatte die Nerven jetzt anzurufen und zu stören?

„Warte hier. Ich bin gleich zurück“, sagte er und stand auf. Gemächlichen Schrittes ging er in sein Büro und nahm den Hörer ab.

„Kaiba“, sagte er forsch in die Sprechmuschel. Viel forscher als beabsichtigt.

Jemand summte für einen Moment noch ein Weihnachtslied mit. Hatte jemand schon wieder seine Warteschleifenmusik in Weihnachtsmusik verändert? Innerlich brummte er darüber.

„Herr Kaiba, guten Morgen“, sagte eine Männerstimme und der Mann klang abgehetzt, als wäre er gerannt.

Guten Morgen war gut. Wie spät war es eigentlich?

Seto warf einen Blick auf die Uhr und riss erschrocken die Augen auf. Es war bereits nach zehn und ging auf halb elf zu. Wie lange hatte er geschlafen?

Viel zu lange.

Seine Firma hatte bereits offen und die Mitarbeiter waren auch alle am Arbeitsplatz. Nur er lag noch faul im Bett herum.

Zum Glück kam seine Sekretärin nie morgens zu ihm herein, solange sie ihn nicht auch gesehen hatte.

Doch er sagte nichts und hörte dem Mann am Ende der Leitung weiter zu. Es war ein Geschäftspartner mit dem er grade ein paar Geschäfte für Kaiba Land abwickelte.

„Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen, aber…“, sagte der Mann und Seto schweifte ab.

Aus dem Nebenzimmer hörte er ein Handyklingeln und das Rascheln von Stoff. Dann erklang ihre Stimme.

„Ja?“, fragte sie und Seto versuchte sich nicht ablenken zu lassen.

„Herr Kaiba, sind Sie noch da?“, sagte der Mann und Seto brummte.

„Nein, bin noch da“, hörte er sie aus dem Nebenzimmer sagen. Ihre Stimme klang besorgt und es fiel ihm schwer sich auf das Telefonat zu konzentrieren.

„Wir können das Projekt so nicht planen!“, sagte der Mann am Ende der Leitung, „Wir müssen uns etwas einfallen lassen!“

Wieder brummte er abweisend und sah aus dem Augenwinkel zu dem Schlafzimmer.

„Ja…in Ordnung“, hörte er sie sagen und sah eine Bewegung. Dann hörte er die Zimmertür vom Bad zuschlagen.

Seto kramte einen Zettel aus einer Schublade und zückte einen Stift.

Er lauschte, ob etwas aus dem Badezimmer zu hören war. Doch es blieb still.

Angestrengt versuchte er den Geschäftspartner abzuweisen, doch dieser ignorierte seine kalte Art völlig. Dabei bekam er nicht mal mit, worum es ging oder wer er war.

„Ich hoffe, Sie verstehen das Problem?“

„Ja, natürlich“, sagte er geschäftsmäßig und malte kleine Kringel auf den Rand des Notizzettels. Wieso konnte er nicht endlich auflegen? Nebenan hatte er ein wichtigeres Gespräch zu führen!

Seto hörte, wie die Badezimmertür wieder auf ging. Er sah, wie Naomie angezogen heraus trat und schnell in die Schuhe schlüpfte.

Wie schnell konnte sie sich anziehen? Brauchten Frauen nicht sonst Stunden?

Fragend sah er sie an, doch sie ignorierte ihn und suchte ihre Sachen zusammen. Was war denn passiert? Sollten sie nicht noch über den Kuss sprechen? Immerhin stand das doch noch im Raum.

Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Stimmt. Sie arbeitete auch und müsste vermutlich schon längst auf der Arbeit sein.

Nachher würde er sich noch bei ihrem Chef melden müssen und ihm erklären müssen, was passiert war.

„Das ist ja lieb von dir, Seto“, mischte sich die Fistelstimme ein.

„Wir sollten die nächsten Tage ein Treffen machen und die Details besprechen“, sagte der Mann und Seto merkte, dass er ihm gar nicht zugehört hatte.

„Natürlich“, sagte er und überspielte, dass er keine Ahnung hatte, worum es ging.

„Finden Sie das nicht auch schrecklich?“

Naomie kam aus dem Schlafzimmer. Sie wirkte abgehetzt und griff sich den Mantel. Ihre Haare waren mehr schlecht als recht zusammen gebunden. Wollte sie so wirklich zur Arbeit gehen? Wieso hetzte sie sich noch ab? Sie war zu spät und es wäre besser, wenn sie noch über die Sache sprachen, anstatt dass sie verschwand.

Seto öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als er wieder von dem Geschäftsmann unterbrochen wurde, der ihm gerade sein Leid klagte, wie schwer es doch war gutes Personal zu bekommen und er niemanden hätte für die Pressearbeit.

Etwas, was Seto nur zu gut kannte und da lief ihm grade jemand davon, den er eigentlich grade als Mitarbeiter gebrauchen könnte.

Doch er konnte den Mann schlecht unterbrechen.

Naomie sah kurz über die Schulter, sah ihn auch entschuldigend an und sie öffnete die Tür und rannte aus seinem Büro.

Die Tür schlug hinter ihr wieder ins Schloss.

Was sollte der Unsinn? War es so schlimm mit ihm darüber zu sprechen, dass sie lieber die Flucht antrat?

Schön, wenn sie es so wollte, sollte sie weglaufen. Dann war er sie wenigstens los!

„Spiel nicht die beleidigte Leberwurst, Seto“, sagte wieder sein Gewissen, „Außerdem schau mal zur Tür.“

Seto folgte der Aufforderung und sah, dass ihr Schal dort noch hing und er seufzte.

„Stimmt was nicht, Herr Kaiba?“, fragte der Mann.

„Nein, schon gut. Ich war nur gerade abgelenkt“, sagte er schnell und hoffte, nicht allzu verwirrt zu klingen, „Kann ich Sie gleich zurück rufen?“

„Natürlich“, sagte der Mann und gab Seto seine Mobilnummer durch.

Seto verabschiedete sich und legte mit einem lauten Seufzer auf. Er sah auf den Notizzettel und schüttelte den Kopf. So viele Kringel und Kreise hatte er noch nie darauf gemalt.

Er fuhr sich durch die unordentlichen Haare und sah auf den Schal, den Naomie vergessen hatte. Er wurde sie wohl nie los.

„Willst du das wirklich, du Torfkopf?“, mischte sich wieder sein Gewissen ein und es hatte ein leichtes Seufzen in der Stimme. Seto entging dabei auch nicht der belehrende Unterton.

Das Gefühl in seiner Magengegend wurde schwer und irgendwie kroch ein enttäuschtes Gefühl durch seinen Körper. War es wirklich so schlimm gewesen, was passiert war?

Seufzend setzte er sich in seinen Bürostuhl und legte den Kopf in den Nacken.

„Morgen!“, sagte eine fröhliche Stimme und Seto zuckte zusammen. „Wieso rennt denn Naomie an mir vorbei, Seto?“

Mokuba stand in seinem Büro und schloss grade wieder die Tür. Als sein Blick auf die nackte Brust von ihm fiel, schwieg er.

Sein kleiner Bruder machte große Augen.

„Das erklärt natürlich, wieso sie mich fast über den Haufen gerannt hat“, sagte er kichernd und kam auf seinen großen Bruder zu. „War es so schlimm? Warst du so schlimm?“

Seto sah seinen Bruder mit einem kalten Blick an, der sofort schwieg.

„Oh du bist wohl nicht zum scherzen aufgelegt.“ Wissend sah er ihn an.

„Es ist nichts zwischen uns passiert.“

„Ja, klar“, sagte der leine Kaiba und ging in das Schlafzimmer. „Beweis Nummer eins: Das zerwühlte Bett. Beweis Nummer zwei: Die Kleidung auf dem Boden. Beweis Nummer drei: Die Schokoladentäfelchen auf dem Tablett. Vielleicht hättest du Wein statt Tee zum verführen nehmen sollen.“

Seto schwieg zu allem.

Er kam zurück. „Beweis Nummer vier: Dein zerknittertes und offenes Hemd.“

„Mokuba, es ist nichts passiert!“, betonte Seto nachdrücklich.

„Klar. Du kannst ruhig ehrlich zu mir sein. Ich bin alt genug und weiß, was los ist. Wolltest du sie deshalb nicht einstellen, weil du sie ins Bett kriegen wolltest?“

„Mokuba, wir haben nicht miteinander geschlafen“, sagte er noch einmal nachdrücklich.

„Wieso ist sie dann mit einem affenzahn an mir vorbei ohne zu grüßen?“

„Das weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie zu spät zur Arbeit kommt oder weil es ihr unangenehm ist, dass sie hier schlafen musste. Was weiß ich, was in ihrem Kopf vor sich geht!“

„Wieso musste sie hier schlafen?“

„Wegen dem Unwetter gestern“, erklärte Seto genervt und mit kühler Stimme. Mit wenigen und knappen Worte, klärte er Mokuba darüber auf, wieso sie in dem Zimmer geschlafen hatte. Den Kuss ließ er dabei aus.

„Verstehe“, sagte Mokuba wenig überzeugt.

„Musst du nicht in die Schule?“, fragte er und sah seinen Bruder skeptisch an.

„Nein“, sagte er, „Ich hab ein paar Freistunden. Wir sollen uns was einfallen lassen.“

„Wegen was?“

„Du hast heute noch keine Nachrichten gesehen, oder?“

Seto schüttelte schwach den Kopf.

„Gut, bleib du hier. Ich hol dir einen Kaffee und dann bring ich dich auf den Stand der Dinge“, sagte Mokuba und verschwand aus seinem Büro.

Seto seufzte erneut auf.

Wieso war sie weg gerannt?

Er sah zu dem roten Schal und fragte sich, ob sie heute wieder reinschneien würde, um ihn zu holen und ob sie dann über die Sache sprechen konnten.

Ohne weiter nachzudenken, rief er den Mann zurück.

„Herr Kaiba, das ging ja sehr schnell“, sagte er erfreut und klang noch immer, als wäre er im Stress. Es war sein Abteilungsleiter der Presseabteilung.

„Haben Sie denn eine Idee, was wir tun können?“

„Klären Sie mich noch mal auf, worum es genau geht“, bat er.

„Natürlich, Herr Kaiba“, sagte er und Seto hörte, wie er Luft holte, „Ein Waisenhaus ist in dieser Nacht abgebrannt und es ist ein völlig anderes für das Sie dieses Jahr sozial engagiert sind!“

„Was?“, entfuhr es ihm entsetzt und Seto sah Mokuba aus großen Augen an, als er mit einem Becher Kaffee zurückkam.

Türchen 10 – Der rote Schal

Was dachten die Leute sich, wer er war? Sah er so aus wie eine Zauberfee mit Flügeln und glitzerndem Kleidchen, das nur den Zauberstab schwang und schon geschahen Wunder? Sah er aus wie Jesus? Was glaubten die Menschen, wie schnell so eine Angelegenheit bearbeitet werden konnte?

Seto besah sich die offizielle Facebook Seite seiner Firma und seufzte.

In Vergrößerung war das Bild mit der aktuellen Spendensammlung für das Waisenhaus zu sehen und der Aufruf an alle sich zu beteiligen. Dazu ein Fotos von dem Gelände und des Gebäudes für das gesammelt wurde.

Seine Presseabteilung hatte es vor ein paar Jahren für eine gute Idee gehalten es öffentlich zu machen, dass er sich sozial engagierte. Es würde ihn menschlicher machen, hatten sie gesagt. Seto hatte damals schon ein ungutes Gefühl gehabt, aber was tat man nicht alles, wenn man den Ruf der Firma aufbessern wollte.

Doch für dieses Jahr hatte der Abteilungsleiter den Vorschlag gemacht, dass sich auch die normalen Leute mit beteiligen sollten. Immerhin spendeten die Leute weniger und auch, wenn er jedes Jahr denselben Betrag an ein Institut überwies und ebenso in den Weihnachtsbriefen darauf aufmerksam machte, reicht es hinten und vorne nicht.

Ob seine Geschäftspartner etwas überwiesen, wusste er auch nicht mit Sicherheit zu sagen.

Das aktuelle Foto war mehrfach geteilt worden, ebenso hatten die Leute es gelikt und Kommentare hinterlassen, dass es eine gute Idee sei. Natürlich gab es auch die unverbesserlichen Besserwisser, die ihren nutzlosen Senf dazu gaben, um sich wichtig zu machen, dass diese Aktion nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sei und man besser den Obdachlosen helfen sollte oder auch, dass er genug Geld hatte, um Leute einzustellen und lieber das tun sollte, anstatt solche Aktionen zu machen. Das würde doch eh nur für seinen Ruf sein.

Solchen Leuten konnte Seto nur zum Teil zustimmen.

Natürlich tat er das nur auf Rat seiner Presseabteilung hin, um das Image der Firma weiter nach vorne zu bringen. Zum anderen tat er es, und das war der Hauptgrund, weil er eben selbst genau wusste, wie es war in solch einem Heim zu stecken. Aber das wussten solche hirnlosen Idioten nicht. Viel lieber spielten sie sich auf.

Dann gab es wiederum die Leute, die dann die anderen kritisierten, wegen der Rechtschreibung und jeden Satz auf die Goldwaage legten, etwas hineininterpretierten, was nicht da war und sich gegenseitig die Hölle heiß machten bis hin zu Beleidigungen.

Bis sich dann erneut andere Menschen einmischten und behaupteten, die Diskussion sei reiner Kindergarten.

Zum Glück blieb Seto aber weitgehend von der Facebookseite der Kaiba Corporation verschont und die Presseabteilung des Hauses kümmerte sich darum. Nur jetzt, wo er die Seite vor seinen Augen hatte, bekam er mit, was dort abging.

Kaiba schloss kurz die Augen, um seine Nerven zu beruhigen und überlegte, was er tun konnte. Er selbst kannte die Zustände und hatte es sogar am eigenen Leib erfahren.

Der Staat kürzte, wo er konnte und die Jüngeren trugen manchmal die abgetragene Kleidung der Größeren, wenn sie noch gut war. Betten waren durch gelegen, selbst bei den Mahlzeiten wurde gespart. Das Spielzeug war oft alt und bei manchen fehlten schon Teile, so dass es keinen richtigen Spaß mehr machte damit zu spielen.

Er erinnerte sich gut an das Puzzle mit über tausend Teile. Stunden hatte er damit zugebracht es zusammen zu setzen und war daran gescheitert, weil einige Puzzlestücke gefehlt hatten.

Auch für Renovierungen war oft kein Geld da.

An die Duschen von früher wollte er nicht denken. Kam man zu spät, musste man kalt duschen.

Es war ein Alptraum gewesen. Natürlich gab es heute schon bessere Einrichtungen als früher, trotzdem gab es immer noch Dinge zu verbessern.

Ein weiteres Seufzen verließ seine Lippen und mit jeder Minute die verging, kamen weitere Kommentare und Teilungen auf das Foto hinzu.

Doch statt Lob hagelte es einen regelrechte Welle an Kritik und Hasstiraden gegen diese Aktion.

Leider handelten die Leute dann ohne Sinn und Verstand. Es war ein Wunder, dass sie sich noch nicht zu einem Mob zusammengeschlossen hatten und mit den Mistgabeln auf seine Firma losgegangen waren.

So war das eben mit den sozialen Netzwerken und sein Mitarbeiter von der Presseabteilung hatte ihn darauf vorbereitet, als sie die Seite erstellt hatten. Bisher war aber alles friedlich geblieben.

Seit jedoch in den Nachrichten und Foren von dem Brand im Waisenhaus berichtet worden war, war die Hölle los auf der Firmenhomepage und auch auf Facebook. Ein Kind hatte dabei das Leben verloren und mehrere waren mit schweren Vergiftungen oder Verbrennungen im Krankenhaus.

Seine diesjährige Aktion wurde hart kritisiert. Grund dafür waren aber unter anderen mit die Berichte, die groß und breit verbreitet hatten, dass er sich ja für Waisenhäuser einsetzte und dieses Jahr eben nicht dieses begünstigt sei.

Mit harten Worten hatte ein Reporter dargelegt, wie viel Geld jedes Jahr gespendet wurde und dass dieser Betrag bei den obdachlosen Kindern jetzt viel nötiger wäre. Immerhin müssten sie über Weihnachten in Notunterkünfte untergebracht werden. Ein neuer Bau käme dem Staat Milliarden und so schnell würde auch nichts bewilligt werden, so dass die Kinder in den anderen Instituten mit untergebracht werden müssten, die eh schon wenig Geld und Plätze hätten.

War das ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, dass er noch mehr als den fünfstelligen Betrag zahlen sollte? Sollte er den Milliardenbau finanzieren? Was glaubten die Leute, wie viel Umsatz seine Firma im Jahr machte?

Sicherlich glaubten sie, dass es weit mehr als die Kosten eines kompletten Baus war. Vielleicht dachten sie sogar, dass er den Betrag mit einem Schlag aus dem Ärmel schütteln konnte, ohne etwas dafür zu tun.

Wie viele Überstunden er dafür aber investierte, damit ein guter Umsatz ins Haus kam, wussten sie natürlich nicht! Genauso wenig, wie sie Ahnung darüber hatten, welche Leute heran gezogen werden mussten, um so etwas auf die Beine zu stellen.

Hauptsache, sie hatten jemanden auf den sie ihren Unmut ablassen konnten.

Seto hatte bei den Nachrichten am Mittag schon fast damit gerechnet, dass jemand erzählte, dass der Brand nur passiert sei, weil dieses Jahr keine Spenden von ihm dort eingingen.

Was dann los sein würde, wollte er sich nicht ausmalen. Es wäre der absolute Horror gewesen.

Immerhin berichteten die Medien, dass es sich um einen Unfall gehandelt hatte und nicht um Brandstiftung. Dennoch suchte die Polizei und Feuerwehr noch nach der Ursache. Betreten könne man das Gebäude gefahrlos nicht mehr.

Wieder blinkte mehrfach das Kommentarfeld bei Facebook auf und auch drei weitere Privatnachrichten waren auf der Firmenseite der sozialen Plattform eingegangen.

Seto seufzte auf und schloss kurz die Augen, ehe er die neuen Sachen las.

Langsam nahm er einen Schluck Kaffee.

Wann nahm dieser Hagel an Kommentaren endlich ein Ende und wieso tat seine Presseabteilung nichts dagegen? Wozu hatte er die Leute überhaupt eingestellt?

Mit jeder Minute die verging, wurde seine wohltätige Aktion mehr und mehr in den Schmutz gezogen, so als säße er nur herum und es ginge ihm am Arsch vorbei, was passiert war.

Kaiba war natürlich betroffen und überlegte, was er tun konnte.

Sein Abteilungsleiter, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, hatte ihm geraten, die Aktion nicht von den Seiten zu nehmen und es erstmal weiter laufen zu lassen. Dafür war sie nämlich schon viel zu sehr zur publik geworden. Auch die Sperrung von Kommentaren und Nachrichten würde nicht dafür Sorgen, dass es unter den Tisch gekehrt wurde.

Würde Kaiba das tun, würden die Menschen noch schlechter auf die KC zu sprechen sein und das könnte auch dem Umsatz schaden.

Eine Stellungnahme und eine Lösung mussten her, so dass die Menschen wieder milde gestimmt wurden.

Jemand hatte unter anderem ein Video von einer Nachrichtenseite gepostet, wie das Feuer das Haus auffraß und die Flammen hoch in den Himmel schlugen und die Feuerwehr alles tat, um es zu löschen. Dazu stand irgendwo ein Kommentar, dass es widerwertig von ihm sei, dass er sich für andere Institute, denen es ja wohl gut ging, so einsetzte und diese armen Kinder jetzt auf der Straße wären und er sich lieber dafür stark machen sollte. Einfluss hätte er ja.

Natürlich hatte er Einfluss. Was dachten die Leute?

Aber bei solchen Kommentaren fragte er sich, ob die Menschen überhaupt noch Verstand besaßen oder einfach nur wie hirnlose Zombies den Medien glaubten, ohne darüber nach zu denken und alles nachplapperten, was ihnen vorgesetzte wurde.

Auch Mokuba war in der Schule nicht verschont geblieben.

Die Lehrerin hatte der Klasse frei gegeben, damit diese sich auf die Suche nach Sachen machten, die die Klasse dann spenden konnte und vielleicht auch den Kindern als Geschenk geben könnten zu Weihnachten. Gebraucht wurde alles von Kleidung bis hin zu Spielzeug, Lernmaterialien und die einfachsten Dinge zum Leben, wie Bettwäsche.

Doch laut Mokuba hatte die Klasse und auch die Lehrerin grade ihn angeschaut, als es hieß etwas zu spenden. Grade er könne ja als Kaiba seinen Einfluss und den Kontakt zu seinem Bruder nutzen, um Geld aufzutreiben oder an nicht gebrauchte Sachen zu kommen.

Mit anderen Worten erwartete die Klasse, dass Mokuba seine teure Kleidung opferte oder er als sein großer Bruder das Scheckbuch zückte und für die Schule Unmengen an Kleidung kaufte, die sie dann spenden konnte.

Was das anging, hatte sein kleiner Bruder es grade auch nicht leicht.

Ein Fiepen riss ihn aus den Gedanken und Seto sah von dem flackernden Monitor auf.

Shadow wedelte freudig mit der Rute und schnupperte an Naomis Schal, der noch immer über dem Garderobenständer hing.

„Shadow, komm her!“, befahl Seto mit ruhiger Stimme und deutete auf den Platz neben sich.

Sein grauer Labrador wedelte mit dem Schwanz, sah zu ihm aus traurigen Augen und zog mit dem Maul an dem Schal herum.

„Shadow, aus!“, rief Seto, doch sein Hund tat alles andere als ihm zu gehorchen. Er zog weiter an dem Stück Wolle. „Shadow!“

Seine Faust schlug auf den Tisch und der Rüde zückte zusammen. Sofort ließ er von dem Textilstück ab und kam langsam auf ihn zu.

Sein Blick war reumütig und suchte Aufmerksamkeit. Ein weiteres Winseln war zu hören.

„Sie ist nicht da, Shadow!“, sagte Seto mahnend, wohl wissend, dass sein Hund nichts mit den Worten anfangen könnte.

Shadow legte seinen Kopf auf Setos Schoß und sah zu ihm herauf. Nachdenklich kraulte Kaiba ihm die Ohren.

„Ich weiß, du vermisst sie“, sagte er und stellte schon gar nicht mehr Frage, wieso sein Hund so versessen auf sie war.

„Nicht nur dein Hund“, mischte sich sein Gewissen ein. Doch die Worte kamen nur gedämpft bei ihm an. Es lagen wichtigere Dinge vor ihm.

Er schloss das Fenster der Facebookseite. Je länger er darauf starrte, desto missmutiger und schlechter zu Sprechen auf seine Presseabteilung wurde er.

Seto griff zum Telefon und drückte die Kurzwahltaste. Schon nach dem dritten Klingeln nahm jemand den Hörer ab.

„Ja, Herr Kaiba?“, fragte die Sekretärin aus der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

„Geben Sie mir den Abteilungsleiter“, sagte er mit kalter Stimme und sah, wie Mokuba mit einer Kiste in sein Büro kam. Ein Stück Stoff hing daraus und er hatte schon die schlimme Vermutung, dass sein Bruder den Inhalt seines Kleiderschrankes aufgab, nur um nicht weiter in der Schule solche hirnlosen Sprüche zu hören. Als ob es das besser machte.

„Sehr wohl“, sagte sie und er wurde weiter geleitet. Noch immer wurde „Let it snow“ in der Warteschleife gespielt, obwohl er die Anweisung gegeben hatte es wieder umzuändern.

Mokuba stellte die Kiste ab und verschwand wieder aus seinem Büro. Wollte er noch mehr holen?

„Herr Kaiba…“, begann der Mann und klang immer noch sehr gehetzt, „Was kann ich für Sie tun?“

„Kommen Sie mir nicht so!“, fauchte er ungeduldig und Shadow hob seinen Kopf von seinem Schoß, als wäre er gerügt worden. „Sie hätten schon längst was tun können! Wofür bezahl ich Sie überhaupt! Haben Sie sich auch nur ansatzweise angeschaut, was auf den Firmenseiten los ist?“

„Herr Kaiba, ich…“

„Fangen Sie jetzt nicht an sich zu entschuldigen!“, fuhr er den Mann an und verdrehte die Augen bei der Vorstellung über so ein verweichlichtes Exemplar von Mitarbeiter, „Seien Sie eher froh, dass ich Sie noch nicht rausgeschmissen habe, so inkompetent wie Sie offensichtlich sind!“

„Auf den sozialen Netzwerken ist grade die Hölle los“, sagte er Mann und versuchte seine Stimme ruhig zu halten und nicht zu stottern.

Genervt seufzte Seto und sah zu, wie Shadow wieder zu dem Schal trottete und daran zog. Wenn sein Hund so weiter machte, musste er Naomie noch einen Neuen besorgen.

„Das weiß ich selbst, dass dort die Hölle los ist! Ich habe es grade selbst gesehen!“ Er erhob sich leise und zog seinen Hund am Halsband zurück zum Platz. Kaiba setzte sich wieder. Shadow nahm gehorsam Platz und Seto kraulte ihm die Ohren, um ihn ruhig zu halten. Seit wann war sein Hund so unruhig?

„Also der Beitrag wurde schon über tausend Mal geteilt und fast genauso viele Kommentare tummeln sich darauf. Unsere Firmenhomepage wird grade mit Lesermails überschüttet! Wir tun was wir können, um den Anflug Herr zu werden.“

„Scheinbar tun Sie nicht genug! Ich sagte doch, wir sollten alles sperren!“, fauchte er genervt und verdrehte die Augen.

„Nein, das wäre das schlechteste, was wir im Augenblick tun sollten“, warnte der Mann.

„Dann tun Sie endlich was und machen endlich vernünftig Ihre Arbeit!“ Shadows Ohren spitzen sich und seine Körperhaltung spannte sich an. Er entzog sich der Berührung seines Herrchens und lief unruhig im Raum hin und her. Neugierig beschnupperte er die angelehnte Tür zum Nebenzimmer und stieß sie mit der Schnauze auf. Der Geruchspur folgend tapste er hinein und gab ein aufgeregtes Bellen von sich.

„Herr Kaiba, wenn wir jetzt die Foren dicht machen, wird das erheblichen Schaden auf das Ansehen der Firma und Sie als Person nehmen!“, erwiderte der Mann und erneut erhob Seto sich und folgte seinem Hund.

Der hatte Spaß daran gefunden sich auf das Bett zu lümmeln und herum zu rollen. Aufreget peitschte die Rute durch die Laken, als wisse er genau, was in der letzten Nacht hier passiert wäre. Als er Seto bemerkte, richtete er sich auf und sah ihn herausfordernd an, als würde Shadow fragen wollen: „Na, sag schon, wo ist Naomie? Ich will mit ihr spielen!“

„Das habe ich schon verstanden!“, fauchte er ungehalten und rieb sich genervt über die Stirn. Irgendwo gab es eine Lösung. Aber sie wollte sich ihm noch nicht erschließen.

Es war still in der Leitung.

Am Halsband zog er Shadow aus dem Bett und hatte das Gefühl ein warmer, süßer Geruch stieg in seine Nase.

„Vermisst du sie etwa?“, fragte seine innere Stimme gehässig, „Hast du dich in sie verguckt?“

Was für ein Unsinn sprach sein Unterbewusstsein denn da aus? Das war absoluter Schwachsinn und hätte genauso gut vom Kindergarten sein können.

Er sollte sich lieber auf das aktuelle Problem kümmern.

„Nämlich, dass sie aus deinem Büro gerannt ist!“

Konnte diese Stimme nicht endlich die Klappe halten?

„Ist geschenkt, mein Freund. Ich helfe, wo ich nur kann!“

Hilfe war das garantiert nicht.

„Gesteh dir einfach ein, dass du dich fragst, wieso sie die Flucht ergriffen hat und dass du an sie denken musst. Schon bin ich still!“

Setos Blick fiel auf die kleine Glasplatte mit den konservierten Schneeflocken, die an seiner Lampe gelehnt lag und automatisch pochte sein Herz kräftiger in seiner Brust.

„Was wir tun könnten, Herr Kaiba, wäre ein vorläufiges Statement schreiben, wie betroffen wir sind und nach einer Lösung suchen, um niemanden zu begünstigen oder zu benachteiligen“, unterbrach der Mann seine Gedanken und holte ihn zurück in die Realität.

Das klang doch nach etwas.

„Tun Sie das, aber schnell!“, sagte er ungehalten. Seto hatte das Gefühl ein Knoten im Hirn zu haben. Es gab kein vorwärts und kein rückwärts und seine Presseabteilung war auch zu nichts zu gebrauchen. Scheinbar war er zum ausharren dieser Sache verdammt und das war etwas, was er nur schwer konnte.

Shadow war derweil wieder dabei den Schal vom Ständer zu ziehen, der bedrohlich wackelte. Wieso hatte Mokuba ihn nur in sein Büro gebracht?

Genervt stand Seto auf und wickelte das Ende mehrfach um den Haken, damit der graue Labrador nicht mehr heran kam.

Seto klopfte gegen seinen Oberschenkel und Shadow folgte ihm wieder zum Platz. Erwartungsvoll sah sich der Hund um, als ob Naomie wirklich gleich um die Ecke schießen würde mit ihrer guten Laune, den roten Schal fest um den Hals gebunden und mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Sagen Sie mir: Was würde es noch bringen, wenn wir unsere alljährliche Spendenaktion umändern würden für das andere Haus?“, fragte er und lehnte sich in seinem großen Bürostuhl zurück.

„Du bist doch langweilig mit deiner Arbeit!“, fuhr die Stimme dazwischen, „Der Gedanke davor war doch toll!“

Seto hörte nicht hin und wartete. Der Mann schwieg kurz und er befürchtete schon, dass er gestorben war.

„Nun, ich fürchte, das würde nur noch mehr negative Presse auf sich ziehen“, sagte er, „Die Leute und auch die Medien würden denken, Sie tun das jetzt erst recht nur für Ihren Ruf.“

„Gibt es überhaupt eine Chance aus dieser Sache heraus zu kommen?“, fragte er genervt und rieb sich über die Schläfe.

„Nun, wir könnten ja für beide Institute sammeln? So würden Sie Mitgefühl zeigen und keines bevorzugen.“

Seto ließ den Gedanken auf sich wirken. Es klang nicht schlecht. Dennoch hatte er einen bitteren Beigeschmack auf der Zunge.

„Könnten sich dann die Leute nicht fragen, wieso ich das nicht jedes Jahr tue? Oder sogar erwarten, dass es fortan jedes Jahr so ist, dass zwei oder nicht sogar alle Waisenhäuser begünstigt werden?“

„Da haben Sie recht, Herr Kaiba.“ Er hörte den Abteilungsleiter mit der Zunge schnalzen. Seto zog die Unterschriftenmappe zu sich heran und besah sich die Weihnachtsbriefe. Nach dem, was gerade los war, konnten sie in keinem Fall so abgeschickt werden. Nachdenklich wippte er mit dem Stift.

Shadow stupste ihn mit der Nase an, als Zeichen, dass er Gassi gehen wollte. Doch dafür war keine Zeit. Sein Hund musste sich noch gedulden.

„Wir sehen weiter, was wir tun können und verfassen erstmal ein kurzes Statement.“

Hoffentlich würde sich die Masse dadurch beruhigen.

„Melden Sie sich, sobald es Neuigkeiten gibt!“, sagte Seto streng und legte den Hörer wieder zurück. Im selben Moment kam Mokuba mit einer weiteren Kiste in sein Büro zurück.

„Hast du die Abteilung zusammengestaucht?“, fragte er grinsend und stellte die Kiste ebenfalls auf den Tisch ab.

Seto schwieg und massierte sich den Nasenrücken, eher er aufsah und sich die Mengen ansah, die Mokuba anschleppte.

„Was ist mit dir? Willst du dein Kinderzimmer spenden?“, fragte Kaiba seinen kleinen Bruder und erhob sich aus dem Bürostuhl.

Er trat an die Kisten heran und sah einige, fast nagelneue Kleidungsstücke, sowie einige Spielzeuge.

„Das alles willst du verschenken?“, fragte er skeptisch und hob einen Pullover auf, der noch nicht mal einen Monat alt war.

„Seto, ich hab genug zum anziehen und der da kratzt!“, verteidigte sich der Wirbelwind und ging zu den Schokoladenkörben. „Kann ich davon einen mitnehmen?“

„Gegenfrage: Spenden andere auch so viel?“

„Nein.“

„Dann hast du deine Antwort, ob du ihn mitnehmen darfst.“

„Aber, Seto, es ist für einen guten Zweck!“

„Ich weiß.“ Kurz sah er in die Kiste mit den Spielsachen. Ein paar Duell Monsters Karten lagen darin und ein altes Stofftier, sowie ein paar Sammelfiguren. Wenigstens verschenkte Mokuba nicht die neuesten Spiele, die noch nicht mal auf dem Markt waren.

„Aber du isst die Schokolade doch eh nicht!“

„Es geht ums Prinzip“, antwortete Seto und ging zur Garderobe. Er nahm sich seinen Mantel und Shadows Hundeleine. Er hatte das Gefühl in diesem Büro geradezu erdrückt zu werden. Er musste raus und frische Luft schnappen. Vielleicht kam er so auch auf andere Gedanken?

„Ja, indem du über Naomie nach denkst“, kicherte die Stimme.

„Die anderen erwarten das aber von mir“, lenkte Mokuba ihn ab. Mit traurigem Blick besah der kleine Kaiba seinen älteren Bruder. Der bittende Blick durchbohrte ihn förmlich.

„Na gut, aber nimm nicht die beste Schokolade mit“, sagte er und seufzte. Shadow kam zu ihm getrottet und schnell legte er ihm die Leine um.

„Ist gut. Wenn Naomie heute früh nicht mit so einem Affenzahn weg wäre, hätte sie ja auch was mitnehmen können, oder? So als verspätetes Nikolausgeschenk.“

Seto brummte dazu nur. Konnten Mokuba und Shadow nicht mal aufhören ihn daran zu erinnern, dass es sie überhaupt gab? Ihm wäre es lieber gewesen, sie blieb ein namenloser Niemand in seinem Leben.

„Hättest du was dagegen, wenn ich später zu ihr auf den Markt fahre?“

Seto schüttelte den Kopf und ging zu seinem Schreibtisch. „Bleib aber nicht solange weg. Bis es dunkel ist, bist du wieder zu Hause.“

„Ok, danke!“, sagte Mokuba und strahlte bis über beide Ohren.

Schnell nahm sich Seto noch sein Handy und ohne groß zu überlegen, nahm er die Glasplatte und ihre Visitenkarte mit.

„Schließ das Büro ab, wenn du gehen solltest“, sagte er noch und strich im vorbeigehen über Mokubas Haarschopf, ehe er ging.

Shadow folgte ihm gehorsam durch das Büro.

„Ich bin für eine Stunde unterwegs. Notieren Sie alle Anrufe und wegen der Weihnachtsbriefe können Sie aufhören. Sie müssen alle umgeschrieben werden!“, sagte er monoton im vorbei gehen und hörte nur am Rande die Zustimmung seiner Sekretärin.

Mit schnellen Schritten war er beim Aufzug, drückte den Knopf und stieg ein.

Was war nur los mit ihm? Wieso hatte er die Sachen mitgenommen?

In seiner Jackentasche umschloss er mit der Hand das kalte Glas. Sofort pochte der Muskel in seiner Brust schneller.

„Warum schlägt denn dein Herz zu schnell? Bringt dich eine gewisse Person etwa in Wallung?“, fragte wieder sein Gewissen.

Ganz bestimmt war sie nicht der Grund dafür. Das war nur Aufregung der letzten Stunden und wenn sie vor einem Gespräch davon rannte, hatte er sich ziemlich in sie getäuscht. Es war ja nicht so, als ob mehr passiert wäre, als dieser Kuss.

„Jetzt verschließt du aber die Augen vor der Wahrheit!“

Seto schnaubte und ging zielstrebig aus dem Aufzug. Shadow folgte ihm gehorsam, zog an der Leine und schien es gar nicht abwarten zu können aus dem Gebäude zu kommen.

Von welcher Wahrheit sprach sein Gewissen da überhaupt?

„Die Wahrheit darüber, dass dir bei der jungen Frau sowohl Herz als auch Hose eng werden!“

Die kalte Luft schlug Kaiba entgegen und er fröstelte kurz. Zum Glück kam die Sonne ein wenig durch die dicken Wolken hervor und wärmte die Luft nach der gestrigen Nacht etwas auf. Der Schnee hatte sich fest auf den Boden gesetzt, so dass schon Sand und Splitt auf der Schneedecke verstreut war. Die Kälte kroch ihm unter die Kleidung und sein Atem wurde sichtbar als er erneut fröstelte.

Kaiba schlug den Weg nach Links ein, der zur der Gartenanlage der Firma führte. Sein Hund bellte aufgeregt.

Die Fistelstimme in seinem Kopf übertrieb maßlos. Er wollte alles andere als mit Kuzuki ins Bett hüpfen. Die gestrige Nacht war eine Ausnahme gewesen. Sie hatte sich an ihn geklammert. Ansonsten wäre er zurückgegangen und hätte weiter gearbeitet.

Wie weit war es gekommen, dass er schon Selbstgespräche mit seinem Unterbewusstsein führte?

„Das sagst du jetzt!“, fuhr die Stimme fort, „Aber warte nur ab bis sie wieder vor dir steht!“

Seto sah zu seinem Labrador.

„Sei froh, dass du kein Gewissen hast“, murmelte er seufzend und konnte das Stück Papier an seiner Hand fühlen. Er kam von dem Gedanken nicht los, wieso sie einfach abgehauen war. Es gab keine Gründe dafür. Immerhin hatte sie selbst noch reden wollen. Lediglich das Telefonat hatte sie unterbrochen und daran konnte es doch nicht liegen. Oder nahm sie es so sehr mit, dass zwischen ihnen beinahe etwas gelaufen war und war vielleicht noch gar nicht bereit dazu?

„Mein Guter, dafür, dass sie dir egal ist und du sie angeblich los werden willst, hängt dir das aber ziemlich quer!“ Sein Gewissen seufzte. „Na los, gib zu, dass du sie flach legen wolltest. Es wäre zumindest eine andere Nummer gewesen, als die der Hostessen, die dich immer auf Geschäftsessen und Veranstaltungen begleiten.“

Konnte diese Stimme auch mal die Klappe halten oder musste er sich die wirklich noch wegtherapieren lassen?

„Du kannst mich nicht zum Schweigen bringen!“, sagte er.

Überhaupt, was ging sein Gewissen sein Sexleben an? Knurrend stampfte Kaiba an dem Gärtner vorbei, der die Winterpflanzen versorgte. Die Ericas standen in voller Blüte.

Shadow blieb stehen und hob das Bein bei einem Busch an und Seto wartete. Sobald er fertig war, trottete er weiter. Seto schlug den Weg zur Hauptstraße ein, überquerte die große Kreuzung und ging schnell in ein großes Café und besorgte sich einen Coffee to go. Dann zog er mit Shadow weiter Richtung Park.

„Mich geht alles an was du tust, Kaibalein. Irgendeiner muss dich doch vor peinlichen Dingen bewahren oder zumindest dich vor dir selbst!“

Seto hasste es wie die Pest, wie die Stimme seinen Namen verunstaltete.

Was denn bitte für peinliche Dinge?

„Naja. Wie du so schön ausgetickt bist, nachdem Yugi dich fertig gemacht hat und du gleich den Turm sprengen wolltest, ganz egal, ob sich darauf auch Menschen befanden.“

Seto schnaubte und nippte an dem heißen Getränk. Shadow zog kräftiger an der Leine, als würde er den Park schon riechen können.

Sein Gewissen sollte mal den Ball flach halten. Die Menschen hatten genug Zeit zum flüchten gehabt. Überhaupt, was hatte das mit Naomie zu tun?

Wollte ihm die Fistelstimme nicht eher eine predigt zu seinem Sexualleben und Naomie halten?

„Du wolltest eine peinliche Sache von dir hören. Hier hast du sie.“ Fast konnte er das Schulterzucken sehen. „Außerdem ist es immer ganz süß zu beobachten, wie es dir missfällt, wenn Wheeler in ihrer Nähe ist.“ Ein kichern war zu hören.

Ein Schnauben entfuhr ihm.

„Als ob der Köter Chancen hätte…“, murmelte er gegen den Pappbecher.

„Wieso nicht? Er ist blond, hat braune Augen, würde sich trauen ihr zu sagen, dass er sie mag...Weitere Gründe oder reicht das?“

Seto trank einen weiteren Schluck und ging direkt mit Shadow in den Park. Freudig zog dieser an der Leine. Diesmal würde er nicht ohne sein Herrchen durch die Grünanlage laufen.

Wieder nippte er und trank auch den Rest, warf den leeren Becher in den Papierkorb und schob seine warme Hand zurück in die Manteltasche. Sofort fühlte er die kalte Glasplatte und das Stück Papier.

Die Worte seines Gewissens hallten in seinem Kopf nach.

Der Köter hatte doch niemals Chancen! Der zog doch eher den Schwanz ein und sie spielte nicht in seiner Liga!

Ein Kichern war zu hören. „Fühlst du dich in deinem Revier bedroht?“

Seto schüttelte den Kopf. Kuzuki war doch nicht sein Revier.

„Dafür, dass sie nicht dein Revier sein soll, hast du aber ziemlich aggressiv reagiert, als ich Wheeler ins Gespräch gebracht hab.“

Er war alles andere als aggressiv und das sollte sein Gewissen am besten wissen. Seine Hand schloss sich Platte mit den Flocken darin.

Sofort spürte er eine tiefe Ruhe und ein Kribbeln ging durch seinen Körper.

Etwas Schnee fiel vom Baum herunter und freudig bellte Shadow auf, zog ihn zu dem Haufen und wälzte sich darin herum.

Heute war Seto aber nicht danach großartig zu spielen. Er zog den Labrador weiter. Immerhin hatten sie nicht ewig Zeit zu verplempern.

„Du solltest sie anrufen, Kumpel“, sagte die Stimme unvermittelt, „Ich wette mit dir, Wheeler hat nicht so viel Zeit verstreichen lassen und sie direkt angerufen.“

„Als ob. Ich rufe sie bestimmt nicht an und laufe ihr nach wie ein verliebter Trottel“, knurrte er leise und umrundete mit Shadow den kleinen Teich, lief die Erhöhung hoch und ging an dem verschmierten Holzhäuschen, was Schutz vor dem Wetter bot, vorbei.

„Wieso nicht?“, fragte die Fistelstimme entsetzt, „Wie willst du dann rausfinden, was los ist?“

Seto schwieg.

„Na los, gib dir einen Ruck. Stell dir vor, Wheeler nutzt das jetzt aus! Ruf an!“

Kaiba blieb stehen. Kurz zog sein Hund an der Leine und dieser blieb ebenfalls stehen. Sein Gewissen hatte ja keine Ahnung.

Leise seufzte er und fühlte wieder das Papier. Seto löste die Leine von Shadows Halsband, nahm etwas Schnee auf und formte ihn zu einem Ball. Mit aller Kraft warf er den Schneeball von sich fort und sein Hund jagte hinterher.

Eigentlich wollte er nicht spielen, aber irgendwie hatte sein Unterbewusstsein einen Punkt getroffen, der ihn nachdenklich stimmte. Sein Hirn fühlte sich noch immer verknotet an, aber auch als wäre alles in Watte verpackt.

Immer wieder forderte die Stimme ihn auf es zu tun, doch er konnte nicht. Was sollte er sagen? Sollte er fragen, ob es so schlimm für sie gewesen war?

Eigentlich müsste er ins Büro zurück, doch ihm war noch nicht danach. Er warf einen weiteren Ball zu Shadow, der ihm hinterher jagte und verwirrt stehen blieb, um zu schauen, wo er gelandet war.

Traurig kam sein Hund zurück und er warf einen weiteren Ball.

„Sag mal. Willst du ihre Visitenkarte irgendwann mal verwenden oder liegt die einfach nur als Deko in deiner Tasche?“

Seto schwieg dazu und beschäftigte sich weiter mit Shadow.

„Keine Antwort ist auch eine Antwort“, sagte sein Gewissen, „Feigling!“

Seto hielt inne und sein Hund sah ihn wartend an. Der Schneeball landete ungeworfen wieder auf der Erde.

Er war kein Feigling! In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie vor etwas gedrückt! Weder vor einem Duell noch vor irgendwelchen Menschen!

„Dann ruf sie doch an und frag, ob sie Fotos macht für dein nächstes Duell oder auf Mokubas Theateraufführung?“, schlug die Stimme vor und Seto zog sein Handy aus der Tasche. „Du kannst ihr aber auch sagen, dass sie den Schal vergessen hat.“

Langsam griff er zur der Karte und tippte ihre Diensthandynummer ein. Es fiel ihm unglaublich schwer die Taste mit dem Hörer zu drücken.

Seto hielt das Gerät an sein Ohr und atmete kurz ein und aus, so dass sein Atem sichtbar war. Es klingelte nicht einmal. Sofort wurde abgenommen. Ihre fröhliche Stimme drang an sein Ohr.

„Hallo, hier ist Naomie Kuzuki. Ich kann leider zurzeit nicht ran gehen, aber hinterlasst mir eine Nachricht und Telefonnummer und ich ruf zurück!“, sprach die Mailbox und ein piependes Geräusch ertönte.

Was sollte er sagen?

Schnell legte er auf und schob Karte und Handy zurück in die Tasche.

„Du hast es immerhin versucht, Kumpel. Einfach später noch mal versuchen“, sagte die Stimme tröstend.

Seto schnaubte und leinte Shadow wieder an. Sofort ging er mit ihm zurück in die Firma.

Sollte sie doch bleiben, wo der Pfeffer wuchs! Wenn Kuzuki nicht mit ihm reden wollte oder es auch nicht für nötig hielt, dass sie sich meldete, dann konnte sie genauso gut aus seinem Leben fern bleiben!

Sein Unterbewusstsein seufzte daraufhin nur.

„Tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich würde es nicht tun.“

Seto ignorierte die Stimme und würdigte ihr keine Antwort mehr. Sollte Kuzuki sich doch einen neuen Schal kaufen. Wenn Shadow Spaß dran hatte das rote Teil zu zerpflücken konnte er es gerne haben.

Er wollte nichts von diesem Weib und brauchte sie auch nicht in seinem Leben! Sein Gewissen nahm deutlich an Einfluss zu.

„Ach komm, so schlimm bin ich nun auch nicht!“, schmollte die Stimme, „Außerdem ist sie wirklich besser. Vorteil wäre, du hättest endlich eine total süße und heiße Freundin, der Sex wäre sogar freiwillig und die dämlichen Hostessen, die eigentlich nur auf eine Nummer warten am Ende des Abends und deren Parfüm dir eher Kopfschmerzen bereitet, fallen auch weg. Ich sehe nur Vorteile für dich!“

Musste sein Gewissen logisch denken können und auch noch gute Argumente bringen? Aber was brachten die Argumente, wenn er nichts empfand?

„Ja, ja…erzähl das mal einem Baby. Wenn du nichts empfinden würdest, würde es dir nicht so nahe gehen, dass sie nicht ans Handy gegangen ist.“

Ein Brummen verließ seine Kehle und er zog Shadow aus dem Park heraus.

„Machst du dir solche Sorgen, dass du es dir nicht mal eingestehen willst und deshalb jetzt schlechte Laune hast?“ Amüsiert lachte die Fistelstimme auf.

Er war nicht zum lachen und auch die Situation war es nicht! Daran gab es nichts Amüsierendes! Musste sein Gewissen ihn damit auch noch aufziehen, dass er sie nicht erreicht hatte?

Oder hatte er etwas Falsches gesagt? Hatte er sie vielleicht mit dem Kommentar zu ihrem Ex gekränkt? Hing sie sogar noch an ihm?

„Dann bist du ein ziemliches Trampeltier, wenn dem so ist“, fügte die Stimme hinzu, „Aber ich glaube nicht, sonst hätte sie den Kuss nicht mitgemacht.“

Ungehalten ging Seto weiter und strafte jeden, der ihm über den Weg lief mit einem bösen Blick.

„Straf doch die armen Leute nicht so!“, mahnte sein Gewissen, „Aber wenn es so sehr an deinem Ego kratzt, dann versuch sie doch noch mal anzurufen.“

Seto blieb stehen und zog sein Handy aus der Tasche. Ohne groß darüber nach zu denken, wählte er Wahlwiederholung.

Diesmal sprang aber nicht sofort die Mailbox an, sondern ein Freizeichen ertönte.

Sofort war alle Wut wie weggeblasen. Sein Adamsapfel bewegte sich an seinem Hals, als er schluckte.

Eigentlich hatte er wieder mit der Mailbox gerechnet.

Es klingelte weiter. Sie nahm wieder nicht ab und Seto legte auf.

Da war doch der Beweis. Sie ging ihm aus dem Weg.

„Jetzt lass den Kopf nicht hängen! Immerhin ist noch ihr Schal in deinem Büro! Sie wird also wieder auftauchen!“, versuchte ihn sein Gewissen aufzumuntern.

Was nützte ihm schon ein Schal? Den konnte sie sich in jedem Modegeschäft neu kaufen oder Stricken lassen von ihrer Oma, wenn sie es drauf anlegte ihm aus dem Weg zu gehen.

Sein Blick fiel nach oben zu einem Werbebanner mit der diesjährigen AIDS Kampagne darauf. Die rote Schleife war sichtbar und deutlich zu sehen. In der Mitte des Bildes war eine Chilischote mit einem Kondom herum zu sehen. „Für scharfe Typen“ stand in großen Buchstaben darauf geschrieben.

Seto schüttelte den Kopf über diesen lahmen Wortwitz. Dabei war das nicht zum Lachen. Es war eine ernste Krankheit und zum Glück benutzte er eins immer, wenn es mal zum Akt kommen sollte.

„Mit den Hostessen, die du vögelst ist es mit Sicherheit besser!“

Seto verzog kurz das Gesicht. Als ob er nicht immer so etwas benutzen würde. Erst recht bei fremden Frauen.

Shadow bellte an seiner Seite und erinnerte ihn daran, dass er noch immer auf dem Gehweg stand. Seto schüttelte den Kopf und ging weiter.

Das Plakat hatte ihn auf eine Idee gebracht und zügig ging er den Weg zu seiner Firma zurück. Dabei zog er sein Handy wieder aus der Tasche und wählte statt Kuzukis Nummer die seines Büros.

Sofort nahm die Sekretärin den Hörer ab.

„Bereiten Sie das Konferenzzimmer vor!“, sagte er ohne jegliche Begrüßung, „Sorgen Sie dafür, dass die Vertreter der Finanz und Presseabteilung da sind, sowie die Rechtsabteilung!“

„Wird gemacht!“

„In einer halben Stunde fangen wir an!“, sagte er kalt, „Rufen Sie außerdem im Dreamland an und sagen Sie, dass ich Kuzuki brauche!“

„Bitte wo?“

Seto verdrehte die Augen und ging noch eine Spur schneller. „Im Fotostudio Deamland. Sagen Sie, dass ich die Fotografin Kuzuki brauche. Noch heute!“

„Ja, natürlich.“

Ohne eine Verabschiedung legte er auf und rannte fast zu seiner Firma zurück. Endlich hatte er eine Idee, wie er das Problem mit den Medien lösen konnte.

„Mit Naomie obendrein!“, fuhr sein Gewissen dazwischen, „Oder hab ich mich da grade verhört, als du sagstest, dass du sie noch heute brauchst?“

Natürlich brauchte er sie heute noch. Sie sollte an der Konferenz teilnehmen! Aber das war alles rein geschäftlich und hatte nichts mit Sex oder Gefühlen zu tun!

„Ja, klar!“, kam wieder ein sarkastischer Seitenkommentar.

Seto ignorierte ihn und Shadow bellte aufgeregt, als sie die Firma betraten. Schnell lief er zum Aufzug und fuhr nach oben in sein Büro.

Dort nahm er Naomies Schal von der Garderobe und warf seinen Mantel schnell auf das Sofa. Der Geruch ihres Parfüms drang in seine Nase, als er das Kleidungsstück in die Hand nahm.

Shadow bellte aufgeregt.

„Nein, das ist nicht zum spielen für dich!“, mahnte Seto und legte das Stück auf seinen Schreibtisch ab, damit er es nicht vergaß mit in die Konferenz zu nehmen.

Mokuba war inzwischen mit seinen Kisten verschwunden und hatte ihn auch um ein paar Sachen aus Schokolade erleichtert.

Schnell griff er zum Telefon und rief bei seiner Sekretärin an.

„Haben Sie jemanden erreicht?“

„Nein, tut mir leid. Da ist gerade niemand ans Telefon gegangen.“

„Gut, ich kümmere mich darum“, sagte er und legte auf. Sofort nahm er das Telefon wieder in die Hand und wählte die Studionummer.

Wenn sie schon nicht ans Diensthandy ging, um mit ihm privat zu reden, dann musste es eben über den geschäftlichen Weg gehen. Sie würde keine Wahl haben, als jetzt mit ihm zu reden.

„Du bist gemein. Du zwingst sie ja, sich mit dir zu treffen!“, kam es von seinem Gewissen, doch darauf konnte er gerade keine Rücksicht nehmen. Immerhin waren seine Fotografen alle beschäftigt oder schon weiter weg im Urlaub und er konnte nicht warten. Also musste er jemanden mieten bis Ersatz für Juan da war. Kuzuki war dafür ideal. Immerhin war ihre Arbeit gut.

„Für die Arbeit ist klar“, sprach die Stimme triefend vor Sarkasmus, doch im nächsten Moment wurde der Hörer abgenommen.

„Dreamland Fotostudio“, sagte die freundliche Frauenstimme und Seto erkannte, dass es nicht die von Kuzuki war. Mit knappen Worten begrüßte er die Dame am Ende der Leitung und versuchte nicht allzu abgehetzt zu klingen.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie etwas verwirrt. Offenbar war sie ziemlich geplättet, dass er anrief oder sie hielt es für einen Scherz?

„Ich brauche jetzt sofort einen Ihrer Fotografen.“

„Ja, wen möchten Sie denn buchen? Möchten Sie dazu auch einen Visagisten?“ Sie holte Luft, um die Namen verschiedener Angestellter zu nennen, doch er unterbrach sie.

„Naomie Kuzuki und nein, ich brauche keinen Visagisten dazu“, kam es von ihm wie aus der Pistole geschossen. In seinem Team arbeitete ein dreiköpfiges Team das für zuständig war.

„Tut mir leid, aber Naomie ist nicht da“, sagte die freundliche Frauenstimme am Telefon und er konnte hören, dass sie überlegte, was sie sagen sollte.

„Wie bitte?“, fragte Kaiba schockiert und sein Herz hämmerte. Für einen Moment setzte es sogar aus. Hatte sie Termine? War sie etwa ausgebucht oder wollte ihr Chef sie nicht vom Weihnachtsmarkt abkommandieren?

Ein Kloß setzte sich in seinem Hals fest. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Irgendetwas stimmte nicht.

„Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wann sie wieder da ist“, fuhr die Frau gekonnt fort, Das hatte er auch schon bemerkt.

„Wieso ist sie nicht da?“, fragte er mit ruhiger Stimme und musste den Kloß hinunter schlucken, der es ihm fast unmöglich machte zu sprechen. Wieder spürte er Angst durch seine Glieder kriechen. Doch diesmal war nicht die Angst um sich selbst, sondern um Kuzuki.

„Das wissen wir auch nicht. Sie ist den ganzen Tag nicht zur Arbeit gekommen und auch nicht erreichbar. Weder auf ihrem Handy noch zu Hause.“

Türchen 11 - Kaminfeuer

Die letzten Tage waren einfach die Hölle auf Erden gewesen und nicht mal die sündhaft teuerste Schokolade oder Kuzukis Weihnachtsgebäck, konnte das wieder gut machen.

Seto wollte gar nicht daran denken, wie lange er jetzt an dem neuen Projekt für das Waisenhaus gearbeitet hatte und wie stressig die letzten zwei Tage gewesen waren.

Nicht nur, dass kurzfristig eine Spendengala mit einem großen Saal und Bühne gefunden werden musste, die entsprechenden Mitarbeiter, Caterings und Einladungen mussten obendrein auch vorbereitet werden. Ebenso die entsprechenden Werbeplakate mit den Waisenkindern, die einen roten Schal trugen mussten geplant und in den Druck gegeben werden. Mehreren tausend Schals in rotem Strickdesign, wie Kuzuki ihn in seinem Büro vergessen hatte, mussten auch noch geliefert und in die entsprechenden Shops gebracht werden. Die Zeit schien gegen Kaiba zu sein, doch die Glücksfee schien ihn gerade zu lieben.

Alles lief nämlich soweit reibungslos ab. Es gab kaum Probleme und alles lag gut in der Zeit, so dass sich eigentlich bald die erste Strickware in den Shops von Kaibaland um den Platz streiten konnte, damit die Leute, die dort Souvenirs kauften auch diese mitnahmen.

Der Direktor des Waisenhauses war begeistert, als er ihm davon erzählt hatte. Ebenso waren die Kinder begeistert, dass sie solange bis das neue Haus fertig war in eine der Jugendherbergen ziehen durften, die es im Kaiba Land gab.

Nachdem es einige Überredungskunst gebraucht hatte und die Frage der Kosten geklärt worden war, hatten schlussendlich nach fast drei Stunden Diskussion auch die anderen Abteilungen seiner Firma zugestimmt.

Seine Sekretärin hatte auch die Weihnachtsbriefe umgeschrieben und sie zu eleganten und weihnachtlichen Einladungen designt. Dabei hatte sie betont, dass es in den anderen Gebäuden der Kinder ebenso viele Missstände gab und um diese zu beseitigen, benötigte man die spenden.

Seto wusste nicht mehr, wie viele Einladungen er in den letzten Stunden unterschrieben hatte, aber es waren genug gewesen, dass sein Handgelenk schon leicht geschmerzt hatte.

Alles mit Rang, Namen, Einfluss und Geld war eingeladen. Auch die Presse und Kamerateams waren über den Abend informiert worden. Die Spendengala wurde sogar live im Fernsehen übertragen.

Obwohl Seto es eigentlich nicht mochte von der Presse oder Kameras umringt zu werden, würde er als Gastgeber des Abends nicht drum herum kommen und auch ein paar Worte sagen müssen.

Ein Cateringservice würde ein großes Buffet aufbauen und Kellner und Kellnerinnen würden am Abend für Getränke sorgen. Sündhaft teurer Champagner und Wein war bestellt worden, damit die Gäste sich rundum wohl fühlten.

Auch die Location war gefunden worden.

Im Kaiba Land gab es ein großes Schloss mit einem Ballsaal, der sich wunderbar dazu eignete und in dem nun einige Mitarbeiter eine Bühne aufbauten, Tische vorbereiteten und die Beleuchtung befestigte und abstimmte. Ein Team von Dekorateuren arrangierte, sehr zu Setos Leidwesen, verschiedene Weihnachtsdeko mit einem großen Tannenbaum. Daran kam er leider nicht vorbei. Immerhin sollte es auch alles stimmungsvoll und weihnachtlich sein.

Sein Pressesprecher hatte gemeint, dass es obendrein für die Medien gut ankäme, wenn er für die Kinder kleine Weihnachtsgeschenke organisierte.

Also war auch ein Spielzeuggeschäft halb leer gekauft worden, damit es am Tag der Gala sogar kleine Geschenkte gab. Eine Freude und Lichtblick in den deprimierenden Tagen, wie sein Chef der Presseabteilung gesagt hatte.

Allein bei dem Gedanken schüttelte es Kaiba. Er hasste es auf solche niederen Tricks, wie Kinder tätscheln und küssen zurückgreifen zu müssen. Aber diese alte Methode hatte schon immer funktioniert.

Seine Presseabteilung hatte inzwischen sogar die Firmenseiten wieder unter Kontrolle. Auch auf Facebook hatte sich die Lage halbwegs beruhigt. Zwar hagelte es noch immer Kritik und Vorwürfe, er würde dies nur für sein Ansehen tun, um bei den Leuten zu punkten, aber der Großteil fand diese Aktion wunderbar und war bereit sogar selbst zu spenden. Wenigstens darüber brauchte sich Kaiba nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.

Ein kleines Orchester, das den Abend über spielen würde, war ebenfalls gebucht worden. Eine Sängerin und auch die Kinder würden abwechselnd auf der Bühne stehen und etwas vorsingen. Das Waisenhaus hatte auch ein paar kleine Theaterstücke geplant und auch Gedichte. Das Programm des Abends war also auch festgelegt.

Setos Pressesprecher hatte gemeint, es würde den Menschen die Kinder näher bringen, wenn sie auch ein Gesicht hätten. So würden die Leute auch einen Bezug zu ihnen aufbauen. Kaiba wusste, es ging dabei auch um Mitleid. Je größer das Mitleid, umso größer auch die Summe.

Inzwischen war alles soweit, dass nur noch die Plakate dazu fehlten und die Präsentation für den Abend, sowie die gestrickten Schals. Sobald letzteres eintraf, konnte es mit dem Fotoshooting der Kinder losgehen.

In der Präsentation würde auf die genauen Missstände hingewiesen werden, sowie Bilder gezeigt werden, die das abgefackelte Haus zeigen würden.

Doch es gab ein viel größeres Problem, was Seto Schwierigkeiten machte.

Er brauchte einen Fotografen für die Werbeplakate.

Sein Team war ausgelastet und die Fotografen, die ihm vorgestellt worden waren als Notlösung, hatten kein Händchen für Kinder oder verstanden nicht, was die Aktion rüber bringen sollte. Einige Fotos wirkten viel zu kühl und zu distanziert. So etwas brauchte er nicht.

„Gib zu, du willst Kuzuki!“, sagte sein Gewissen erneut, als seine Gedanken wieder überlegten, wie er das Problem angehen konnte. Aber damit erinnerte es ihn direkt an das nächste Problem.

Naomie war weg. Spurlos verschwunden und wie vom Erdboden verschluckt. Sie ging in den letzten Tagen weder an ihr Handy, noch reagierte sie auf seine unzähligen Anrufe. Auch im Fotostudio konnte ihm niemand sagen, wo sie war oder wann sie zurück käme.

Etwas, was ihm langsam doch Kopfzerbrechen bereitete.

Als er zum ersten Mal dort angerufen hatte, wäre ihm beinahe heraus gerutscht, wie viel Lösegeld gefordert worden war, hatte sich das aber noch verkneifen können.

Offenbar war Mokuba einmal zu viel entführt worden, wenn er schon automatisch danach fragte. Sowieso fragte er sich, wie er auf diesen besorgniserregenden Gedanken gekommen war.

Auch heute hatte er mehrfach versucht sie anzurufen. Außer die Mailbox oder ein ewig langes Freizeichen bekam er nie zu hören. Selbst die Dame am Telefon in dem Studio duzte ihn schon fast, so oft rief er an.

Fast glaubte er, dass sie ihm aus dem Weg ging, aber dann würde sie doch nicht so eine Lüge von ihren Kolleginnen verlangen.

Mehrere wütende Flüche waren ihm schon entglitten, neben der Frage, was mit ihr los war. War sie etwa sauer wegen dem Kuss oder hatte es einen anderen Grund?

Natürlich wollte er sie als Fotografin für das Projekt, aber wenn sie nicht rechtzeitig wieder da wäre, würde er jemand anderen nehmen müssen. Auch das wusste Seto.

Inständig hoffte er inzwischen, dass sie sich meldete, wenn sein Telefon klingelte. Doch bisher ohne Erfolg und die Hoffnung, dass sie sich überhaupt noch mal meldete oder gar blicken ließ, schwand.

„Jetzt ist aber nicht die Zeit um darüber nach zu denken!“, mahnte ihn die Fistelstimme, „Auch nicht über Naomie! Obwohl ich dich schon gerne damit ärgere!“

Ein leises Seufzen verließ Seto, als er die Seite des Buches umblätterte.

Nach zwei geschlagenen Tagen und wieder unzähligen Überstunden, hatte er endlich einen ruhigen und freien Abend.

Diesen wusste Mokuba auch nutzen.

„»Wo bleibt nur eurer lieber Vater?« sagte Mrs. Chratchit. »Und dein Bruder Tiny Tim; und auch Martha war vorige Weihnachten eine halbe Stunde früher da.«“, las Seto aus dem Buch mit ruhiger Stimme vor.

Er räusperte sich kurz und verlagerte sein Gewicht auf der Matratze. Kurz blickte er zu Mokuba, der in seiner Decke eingekuschelt war, wie in einem Kokon. Nur der dunkle Haarschopf und ein Teil des Gesichtes schaute noch heraus. Sein kleiner Bruder hatte die Augen geschlossen und Seto strich ihm über den Wuschelkopf.

Das dämmrige Licht der Weihnachtsgirlanden verströmte ein warmes Licht im Zimmer, während es draußen stockfinster war.

„Solch eine Gans hatte es noch nie gegeben. Bob sagte, er könne nicht glauben, dass jemals eine solche Gans gebraten worden wäre. Ihre Zartheit und Geschmack, ihre Größe und ihre Zubereitung waren der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Mit Hilfe des Apfelmuses und der gestampften Kartoffeln bildete sie ein auskömmliches Mahl für die ganze Familie; und als Mrs. Cratchit noch einen einzigen kleinen auf der Schüssel liegen sah, erklärte sie mit großer Freude, sie hätten noch nicht einmal alles aufgegessen.“ Seto räusperte sich erneut und blickte zu Mokuba.

„Lies weiter, Seto, bitte“, murmelte er schlaftrunken.

„Du solltest schlafen“, erwiderte Seto leise und kam der Bitte aber trotzdem nach. Eigentlich war Mokuba fürs Vorlesen zu alt, aber er liebte es jedes Jahr aufs Neue die Weihnachtsgeschichte von Dickens vorgelesen zu bekommen. Seto kannte das Buch fast auswendig und es erinnerte ihn an früher.

Damals hatte er Mokuba auch Gedichte und andere Dinge vor dem Schlafen gehen vorgelesen gehabt. Besonders zur Adventszeit hatte Mokuba immer darauf bestanden eine Weihnachtsgeschichte zu hören.

„Als Scrooge und der Geist durch die Straßen schritten, entzückte sie der Glanz der flammenden Feuer in Küchen, Wohnstuben und aller Art Zimmer. Hier zeigte die flackernde Flamme die Vorbereitungen zu einem trauten Mahl, die heißen Teller, die auf dem Feuer vorgewärmt wurden, und die dunkelroten Gardinen, die bereit waren, zugezogen zu werden, um die Kälte und Finsternis fernzuhalten.“

Wieder sah Seto zu Mokuba, der langsam immer tiefer in den Schlaf hinab glitt. Doch noch konnte er sich nicht davon schleichen. Also las er weiter. „»Umso mehr mag er sich schämen, Fred«, sagte Scooges Nichte entrüstet. Gott segne die Frauen! Sie tun nie etwas halb. Sie sind immer ganz bei der Sache. Sie war sehr hübsch, bemerkenswert hübsch. Sie hatte ein liebliches, erstaunt aufgewecktes, eindrucksvolles Gesicht und einen frischen, kleinen Mund, der zum Küssen wie geschaffen schien – was er auch ohne Zweifel war; alle Arten lieblicher, kleiner Grübchen um das Kinn, die ineinander flossen, wenn sie lachte; und die sonnigsten Augen, die man je in einem Köpfchen eines zierliches Geschöpfes erblickte. Sie war das, was man keck nennen würde. Oh, entzückend keck und liebenswürdig zugleich! »Er ist ein komischer, alter Knabe«, sagte Scrooges Neffe; »das ist wahr, und nicht so sympathisch, wie er sein könnte. Aber seine Fehler rächen sich an ihm selbst, und ich habe ihn nicht zu verurteilen.«“

Leise stieß Seto die Luft aus und schlug das Buch zu. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, stand er auf und legte das Buch auf den Nachtisch.

Mokuba regte sich im Bett gar nicht mehr. Seine Atmung war flach und leise. Ein sicheres Zeichen, dass er schlief.

Stück für Stück schaltete Kaiba die Beleuchtung aus, so dass es auch immer dunkler im Zimmer wurde.

Am Fenster sah er, dass es wieder schneite und zog grimmig über den vielen Schnee dieses Jahr die schweren Vorhänge zu. Nur das Licht vom Flur schien noch in das große Zimmer und machte es Seto möglich den Weg zu finden, ohne sich das Schienbein an einer Ecke oder Tisch anzuschlagen.

Kurz hielt er am Bett noch inne und zog Mokuba die Decke ein Stück von der Nase, damit der Kleine noch Luft bekam. Dann erhob er sich und ging leise zur Tür.

„Seto?“, murmelte die Stimme seines schlaftrunkenen Bruders.

„Du sollst schlafen“, brummte Seto leise und hielt an der Tür inne.

„Weißt du, wer auch hübsch ist?“

Er brummte, konnte sich aber denken, wen sein Bruder meinte.

„Naomie.“

„Du bist übermüdet. Mach die Augen zu und schlaf“, sagte er strenger und überging die Worte geschickt.

„Ich vermisse sie“, sagte er und rollte sich bei den Worten unter der Decke zusammen.

Seto machte kehrt und setzte sich wieder zu Mokuba ans Bett. Er strich dem kleinen, müden Wirbelwind über den Rücken.

„Vermisst du sie auch?“, fragte er hoffungsvoll.

Wieder brummte Seto, was weder eine Zustimmung noch eine Verneinung war.

„Du Idiot. Wenigstens zu deinem Bruder könntest du ehrlich sein!“, fuhr ihn sein Gewissen an.

Als ob er sie vermisste. Sie war einfach nicht erreichbar und er brauchte sie für ein Projekt. Das war alles!

„Na wenn du meinst, Kumpel!“

„Ich hab versucht sie anzurufen, aber sie geht nicht ran“, erzählte Mokuba und sah auf Setos Schoß. „Sie geht weder zu Hause an ihr Telefon, noch an ihrem privaten Handy und die Tür macht sie auch nicht auf!“

Seto nickte.

Seit wann hatte Mokuba ihre Adresse und ihre privaten Nummern?

„Der Kleine hat sie nur gefragt“, antwortete die Stimme schnippisch, „Hättest du sie gefragt, hätte sie sie dir bestimmt gegeben!“

Ob er Mokuba die Nummern abluchsen konnte? Wenn er sogar wusste, wo sie wohnte, konnte er vielleicht selbst vorbei fahren.

„Stalken ist eine gute Lösung!“, sprach die Fistelstimme ironisch, „Damit gewinnst du sicherlich ihr Herz.“

„Weißt du was, Seto?“ Mokubas Stimme klang durch die Decke gedämpft.

„Was denn?“, fragte er ruhig.

„Naomie hat einen guten Einfluss auf dich.“

„Wie meinst du das?“

„Du isst immerhin Weihnachtsplätzchen, oder?“

Seto schmunzelte leicht bei dieser Antwort in der Dunkelheit und erhob sich wieder.

„Du solltest schlafen. Du redest wirres Zeug“, sagte er und klang ein wenig amüsiert. Mokuba brummte nun seinerseits als Antwort.

Leise ging er durch das Zimmer. Diesmal schloss Kaiba die Tür hinter sich und atmete aus.

Er hatte nicht gemerkt, wie er die Luft angehalten hatte.

Sein Bruder hatte wirklich eine blühende Fantasie.

„Ich nenne es eher ein gutes Auge haben“, sagte wieder sein Gewissen, „Du weißt, dass er recht hat. Seit sie dir den Teller mit ihren Keksen gegeben hat, naschst du ständig davon!“

Konnte sein Gewissen nicht einmal die Klappe halten anstatt auf sein recht zu pochen? Das war ja schon fast genauso penetrant wie der Köter und der Kindergarten zusammen!

Natürlich war es ihm aufgefallen, er war ja nicht blind. Aber es war ihm unterbewusst aufgefallen und er hatte gewiss nicht Naomie damit in Verbindung gebracht, soweit er sich entsinnen konnte. Seto hatte es sich so erklärt, dass er die Gelegenheit nutzen sollte an Nahrung zu kommen, wenn der Teller schon bereit stand. Sei es eben nur die paar Kekse. Hauptsache sein Magen bekam etwas zu tun und knurrte nicht mitten in einer Konferenz los.

In seiner Brust fühlte er sein Herz schlagen und gleichzeitig erfüllte ihn eine innere Kälte, die er nicht beschreiben konnte. Seto strich sich ein paar Haare aus den Augen, die sofort zurück an ihren Platz fielen, als würde es sie nicht interessieren, dass sie ihm gerade im Weg waren. Er stieß erneut die Luft aus.

Ein Frösteln durchfuhr ihn, trotz der warmen Luft und des dicken Pullovers, den er trug. Seto hatte das Gefühl von irgendwo einen Luftzug zu spüren.

Alle Räume waren beheizt und dennoch wurde Seto das Gefühl der Kälte nicht los, die seine Härchen am Arm aufstellte und durch Mark und Bein ging. Kein Fester war offen, als dass kalte Luft von draußen herein strömen konnte.

Nach kurzer Zeit löste er sich von Mokubas Zimmertür, ehe er sich aufraffte und die Treppe zum Foyer hinunter ging. Gezielt ging er ins Wohnzimmer.

Im Kamin brannte noch das restliche kleine Feuer und wärmte den Raum auf. Darüber hingen die übergroßen Strümpfe, die Mokuba auf gehangen hatte und jedes Mal wünschte sich Seto, sie würden abfackeln. Doch so viel Glück hatte er nicht. Sicher befestigt hingen sie außer Reichweite der gierigen Flammen, die gerade dabei waren auszugehen.

Ehe die Glut ganz verloschen war, griff Seto schnell zu einem Bündel alter Zeitung, zündete sie an und gab sie in den Kamin. Schnell warf er zwei neue Holzscheite dazu und etwas Tannengrün nach, die vom frischen Feuer angefacht schnell in Flammen aufgingen.

Mit dem Schürhaken schob er die abgebrannten Stücke zur Seite, damit die Flammen nicht von der Asche erstickt wurden. Dann legte er weitere Scheite hinein, damit das Feuer genug Nahrung hatte und noch länger brennen würde.

Das leise Knacken des Holzes hatte etwas Beruhigendes und innerlich Wärmendes an sich.

Die Hitze drang zu ihm herüber und der Geruch von verbranntem Tannengrün und Holz zog in seine Nase. Ein angenehmer Geruch, wie er fand und den er besonders zu dieser Jahreszeit schätzte.

Die tanzenden und züngelnden Flammen warfen sich ständig bewegende Schatten in den Raum, der nur durch die Dekoration zusätzlich erhellt wurde. Das warme Licht verströmte ein Gefühl von Behaglichkeit, was sogar Kaiba fühlen konnte, trotz der inneren Kälte, die sich hartnäckig in seinen Gliedern hielt.

Nachdenklich rieb er sich über die Arme und sah sich in dem Raum um.

Er war alleine und Seto fragte sich, wieso er nicht einfach ins Bett ging. Wann hatte er schon mal die Möglichkeit dazu viel Schlaf zu bekommen? Eigentlich sollte er die Chance nutzen. Sein logischer Verstand flüsterte es ihm immer wieder zu, dass er so morgen ganz entspannt und energiegeladen wieder arbeiten könnte. Doch allein bei dem Gedanken daran jetzt schon ins Bett zu gehen, erfüllte ihn eine erdrückende Last.

Leise seufzte er und ließ sich in dem großen Sessel, so dass er die Wärme des Kamins spüren konnte.

Ein feiner Duft von Marzipan strömte in seine Nase und er sah dabei auf die kleine tanzende Flamme vom Teelicht in der Duftschale, die die Ursache für den Geruch war.

Wie hypnotisiert sah Seto die Kerze an. Das Knacken im Hintergrund war in diesem Moment ein beruhigendes Geräusch und jegliche Anspannung fiel Stück für Stück von seinem Körper. Sein Gewissen schwieg auch endlich und er konnte durch atmen.

Dennoch konnte Kaiba nicht sagen, woher das merkwürdige Gefühl kam, dass er sich mit einem Schlag so empfindlich und fast schon zerbrechlich fühlte, wie eine der gefrorenen Seifenblasen, die Kuzuki fotografiert hatte. Auch sein Herz fühlte sich merkwürdig verkrampft an, als würde ein Stein darauf liegen und es zusammen drücken.

Woher kam nur das Gefühl so zerbrechlich wie eine Seifenblase zu sein? Der Gedanke, würde er nicht von ihm selbst kommen, klang schon absurd lächerlich und jeden anderen, der ihm das sagen würde, würde er eiskalt auslachen.

Seto Kaiba und zerbrechlich wie eine Seifenblase? Niemals! Er war nicht schwach und hatte eine dünne instabile Schicht um sich herum!

Trotzdem fühlte er sich genau so, wie eine kalte Seifenblase, deren gefrorene Schicht langsam und Stück für Stück zerbrach.

Seto konnte sich kaum daran erinnern, wann er sich jemals so gefühlt hatte. Es war eine dunkle Erinnerung, doch sie war da und drängte sich in sein Bewusstsein.

Als Yugi ihn geschlagen hatte. Dieser Moment hatte ihn getroffen wie ein Schlag. Er war der Champion und war besiegt worden. In dem Moment war er sich genauso zerbrechlich vorgekommen. Doch auch das war irgendwie nicht das selbe Gefühl wie das, was er jetzt empfand.

Sein Gewissen schwieg in solchen Augenblicken natürlich.

Kaiba konnte sich nicht erklären, woher diese innere Kälte kam. Es hatte nur vor wenigen Tagen angefangen. Genau genommen seit dem merkwürdigen Traum von seinem jüngeren Ich.

Seitdem hatte er angefangen sich so komisch zu fühlen.

Erschöpft rieb er sich über die Augen. Vielleicht war das nur eine sentimentale Phase, die durch den vielen Weihnachtskitsch ausgelöst wurde und gegen Neujahr wieder verschwand.

Eine andere Erklärung gab es dafür nicht.

„Sir, kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte unvermittelt eine Stimme vom anderen Ende des Raumes.

Seto schreckte auf und mit einem Mal verhärteten sich wieder seine Züge. Sein Blick nahm die gewohnte Kälte an und seine Schultern spannten sich an.

Das Dienstmädchen stand im Schatten an der Tür. Durch die dunkle Uniform konnte er sie fast nicht sehen.

„Rotwein, süß“, sagte er nur knapp und ohne weiter darüber nach zu denken. Kaiba winkte sie fort. Eigentlich trank er nur bei Geschäftsessen aus Höflichkeit ein oder zwei Gläser, aber gerade schien ihm der passende Moment für ein entspanntes Glas Wein. Vielleicht könnte er so dieses Gefühl los werden oder zumindest seine Gedanken, die sich im Kreis und ihm wieder einen Knoten ins Hirn drehten.

Diesmal verschwand die Anspannung nicht so schnell, wie beim ersten Mal und er wartete bis das Dienstmädchen mit einem Glas und der Flasche Rotwein aus dem Keller zurück kam.

Die Flasche war bereits entkorkt und sie schenkte ihm ein.

„Lassen Sie die Flasche stehen“, sagte er und nippte von dem Glas, „Sie können gehen für heute.“

Er winkte sie erneut fort. Kurz knickste sie und verschwand aus dem Zimmer, scheinbar froh Feierabend machen zu können.

Als Seto sicher war, dass er nun wirklich alleine war mit sich und seinen Gedanken, lehnte er sich wieder zurück. Er nahm einen größeren Schluck von dem süßen Wein und spürte das bekannte Brennen in der Kehle. Sofort wärmte ihn der Alkohol und schoss durch seine Blutbahn.

Aus seiner Hosentasche zog er sein Handy heraus und schaute auf das Display. Nichts.

Naomie hatte ihm noch immer nicht geschrieben oder angerufen.

Wieso nicht? War sie doch so unzuverlässig?

Irgendwie enttäuschte ihn der Gedanke und er nahm noch einen Schluck.

Unschlüssig, was er tun sollte, spielte er mit den Tasten und ging in das SMS Menü. Schnell war eine neue Nachricht geöffnet und Naomies Nummer eingetippt. Das Eingabefeld blinkte.

Was sollte er ihr noch schreiben, was er nicht schon längst getan hatte?

„Wie wäre es mit: Ich vermisse dich?“, schlug sein Gewissen mit undeutlicher Stimme vor. Täuschte Seto sich oder lallte die Stimme in seinem Kopf?

Er schüttelte den Kopf und trank den Rest des Weines im Glas aus. Sofort schenkte er sich nach. Das Handy behielt er dabei auf seinem Schoß.

Seit wann sollte er jemanden vermissen? Er hatte niemals einem anderen Menschen, außer Mokuba, gegenüber solche Gefühle gehabt, dass er diese Person vermissen würde.

Damals bei ihren Eltern war es etwas anderes gewesen, aber das war lange her und auch sie vermisste er nicht mehr. Wieso sollte es mit Naomie anders sein?

Was sollte schon dabei rum kommen, wenn er ihr wieder schrieb? Sie meldete sich doch eh nicht!

„Woher willst du wissen, dass es stimmt? Vielleicht hat sie ein Funkloch oder dergleichen?“, fuhr die lallende Gewissensstimme wieder dazwischen. „Jetzt mach schon!“

Seto zögerte und tippte das erste Wort.

Trotz des wärmenden Alkohols überkam ihn wieder das Gefühl von Zerbrechlichkeit und er löschte die Worte wieder.

„Melde dich bitte. Es ist dringend“, schrieb er stattdessen zum gefühlten zehnten Mal und sendete die Nachricht ab.

Sein Gewissen gab ein unzufriedenes Brummen zu hören und auch Seto gab ein Murren von sich.

Seto hörte tapsende Schritte und sah auf.

Shadow kam angetrottet. Im Maul hielt er Naomies roten Schal, den er inzwischen für sich beansprucht hatte. Im ganzen Haus nahm er ihn immer mit, als wäre es sein liebstes Spielzeug. Sollte es jemand wagen dieses Heiligtum anzufassen oder gar wegnehmen zu wollen, wurde dieser jemand sofort angeknurrt.

Wenn sein Hund so weiter machte, schuldete er ihr noch einen neuen Schal. Egal, was sie für ein Parfüm benutzte, irgendetwas darin ließ seinen Hund verrückt spielen.

Seto beobachtete Shadow, wie er unschlüssig in der Tür stand. Er sah zu ihm herüber und zu seiner Matte in der Nähe des Kamins.

Nach mehreren Augenblicken und einem halb geleerten Glas Wein kam der Hund endlich zu seinem Herrchen. Der graue Labrador legte den Kopf auf Setos Schoß, während der Schal halb auf dem Boden schleifte. Der heiße Atem des Tieres wärmte kurz seinen Schoß. Nachdenklich strich er Shadow über den Kopf, behielt aber das Handy im Blick.

„Vermisst du sie?“, fragte er Shadow, der nur ein Fiepen von sich gab.

„Du wirst dich wohl mit dem Schal begnügen müssen“, antwortete Kaiba und sein Hund löste sich von ihm und lief zu seiner Matte. Unschlüssig lief er kurz im Kreis und ließ dann den Schal fallen. Nur eine Sekunde später ließ er sich nieder und legte den Kopf auf das Kleidungsstück, als wäre es en Kopfkissen.

Seto seufzte bei dem Anblick und leerte das zweite Glas mit einem Zug. Er schenkte sich erneut nach.

„Du bist ein Waschlappen, Kaiba!“, zischte sein Gewissen, „Bei einem Duell mit Yugi würdest du auch alles tun! Aber nein, du sitzt hier und betrinkst dich!“

Er ignorierte die Stimme und sah in das Kaminfeuer. Die Flammen hatten noch genug Holz zum nieder brennen.

Was wollte sein Gewissen eigentlich? Er hatte ihr schon mehrere Nachrichten hinterlassen. Nichts hatte sich getan! Absolut nichts und er gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die anderen nach liefen, wie räudige Hunde!

Wenn sie ihn so abweisen wollte, sollte sie es doch tun! Aber dann konnte sie auch den Job bei ihm vergessen.

„Du könntest ihr ja mal sagen, was du wirklich denkst, du feiger Hund!“, lallte die Stimme in seinem Ohr.

Feige? Er war nicht feige, aber wieso sollte er ihr etwas sagen, was nicht da war?

Sein Gewissen gab ein theatralisches Seufzen von sich. „Denk mal drüber nach, wieso du dich so merkwürdig fühlst.“

Seto runzelte die Stirn und nippte nun an seinem dritten Glas Wein. Naomie hatte doch nichts mit diesem Gefühl zu tun, dass er sich zerbrechlich vorkam!

Anstatt einer Antwort schwieg die Fistelstimme nun.

Wie kam sein Gewissen nur auf den abstrusen Gedanken, dass sie damit etwas zu tun haben könnte?

Dennoch blieb dieses merkwürdige Gefühl, was er auch am morgen im Bett gehabt hatte. Nach dem Traum hatte er sich elendig gefühlt und ihre Nähe hatte ihm ein sicheres Gefühl gegeben. Sie hatte ein sicheres Gefühl von Geborgenheit vermittelt.

Seto überschlug die Beine.

Fast schon, um sich selbst zu beweisen, dass er nicht feige war, griff er zum Handy und rief sie erneut an.

Das Freizeichen ertönte und Seto rechnete nicht damit, dass sie abnahm. Es war die letzten Tage nicht anders gewesen.

Er seufzte auf. So viel dazu, dass sie zuverlässig war.

Sicherlich verkroch sie sich in irgendeiner Ecke ihres Zimmers und ging ihm aus dem Weg! Doch zu seiner Überraschung hörte es auf zu klingeln. Fast rechnete er schon mit der Mailbox, doch es war nichts zu hören.

Sein Herz schlug schneller.

„Hallo? Naomie?“, fragte er leise und spürte ein ziehen in der Brust. Der Alkohol stieg ihm langsam in den Kopf. Ein schummriges Gefühl machte sich in seinem Körper breit. „Hörst du mich?“

Stille.

„Naomie?“, fragte er leise, doch er hörte nichts weiter als Rascheln und leise Atemzüge. „Ich höre dich atmen.“ Seto sprach leise, fast schon flüsternd. Er hatte das Gefühl, wenn er normal sprach, wäre es für diesen großen Raum viel zu laut. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl die großen Räume würden ihn vor Einsamkeit erdrücken.

Es war fast wie damals, als sie im Waisenhaus gewesen waren. Damals als er erfahren hatte, dass es keinen Nikolaus oder Christkind war und diese kindischen Albernheiten lassen musste. Damals hatte er sich auch so erdrückt gefühlt und hatte den starken großen Bruder für Mokuba raushängen lassen, damit er nicht merkte, dass etwas nicht stimmte. Irgendwann hatte er auch angefangen alle mit einem kalten Blick zu bedenken. Gozaburo hatte doch mehr Spuren bei ihm hinterlassen, als er sich bisher dachte.

Shadow sah von seiner Ecke auf, doch legte den Kopf sofort wieder auf ihren Schal.

Am anderen Ende der Leitung blieb es stumm und Seto legte wieder auf.

Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sie was gesagt hätte. Wieso machte er sich überhaupt noch Hoffnung?

Seto stand auf und ging zum Kamin. Er lehnte sich an den Kaminsims und hörte die Flamen knistern. Die Hitze schlug gegen seine Beine. Er fuhr sich durch die Haare und nippte wieder an dem Glas Wein.

Seto fuhr sich über die Lippen und spürte das Brennen in seiner Kehle und wie seine Glieder sich weich anfühlten.

Er griff wieder zum Handy, sah auf das Display und spürte wieder dieses merkwürdige schummrige Gefühl im Kopf.

Ohne groß nachzudenken, ging er in das SMS Feld und tippte mit flinken Fingern eine Nachricht ein.

„Wenn du dich nicht bald meldest, denke ich noch, dass du entführt oder in einem Unfall verwickelt bist. Wo steckst du?“

Ehe er es sich anders überlegen konnte, drückte er schon auf senden. Nur kurz wartete er auf eine Antwort, die natürlich aus blieb.

Genervt warf er das Gerät in den Sessel und leerte mit einem Zug sein drittes Weinglas.

Er hatte irgendwie nichts anderes erwartet gehabt, trotz der Tatsache, dass die endlich mal ans Telefon gegangen war.

„Hei, vielleicht ist sie nur ausversehen gegen den Knopf gekommen?“, schlug sein Gewissen vor und versuchte ihn zu beruhigen. Doch da war wieder diese innere Leere, die ihn ausfüllte.

Es war möglich, aber wieso reagierte sie trotzdem nicht auf die anderen Nachrichten? Es ergab keinen Sinn!

„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass sie gerade das selbe fühlt wie du?“, fuhr ihn sein Gewissen an, „Oder sie will nicht nur eine Bettgeschichte sein oder so behandelt werden wie von ihrem Ex!“

Er war nicht ihr Ex und würde sie bestimmt nicht so behandeln! Wie kam sie nur dazu ihn vorzuverurteilen?

Genervt ging er zum Sessel und nahm wieder das Handy in die Hand.

„Alles in Ordnung mit dir? Ich mache mir Sorgen. Entweder du bist verschollen, existierst gar nicht oder du bist ein feiges Biest.“

Wütend auf sie und dass sie kein Lebenszeichen von sich gab, schenkte er sich das nächste Glas ein. Bisher hatte niemand ihn einfach so ignoriert! Nicht mal der Köter! Er konnte sie feuern lassen. Sie könnte nie wieder einen Job als Fotograf kriegen. Woher nahm sie also die Frechheit so mit ihm, Seto Kaiba, umzugehen?

Seto trank einen weiteren Schluck des teuren Alkohols und lief in dem Zimmer auf und ab. Unruhig tigerte er umher, während Shadow wieder aufsah und ihn fast schon besorgt anblickte.

Sein Hund erhob sich von der Matte und schmiegte sich unterwürfig an Setos Beine. Er hielt inne und kraulte seinen Hund hinter den Ohren.

„Willst du schon wieder Gassi gehen?“, fragte er. Dabei war Seto vor dem Abendessen erst mit ihm gegangen und seine letzte Runde für den Tag war noch gar nicht soweit.

Shadow gab ein Kläffen von sich und tapste zu seiner Matte. Er nahm Naomies Schal und brachte ihn Seto mit einem Schwanzwendeln.

„Was willst du mir sagen?“, fragte er und nahm seinem Hund das rote Textilstück aus dem Maul. Es fühlte sich warm in seiner Hand an, aber auch nur, weil sein Hund die ganze Zeit damit gekuschelt hatte.

Shadow stupste ihn mit der Nase an, als wollte er ihn aufmuntern. Seto lauschte, ob sein Gewissen dazu etwas sagen würde, doch es schwieg. Langsam ließ er sich wieder in den Sessel nieder, trank einen Schluck und nahm wieder das Handy zur Hand.

Sein Herz klopfte stark gegen seine Brust und der Alkohol breitete sich in seinem Körper aus. Er hatte kurzzeitig das Gefühl, als würde er gar nichts mehr spüren. Lediglich ein schwebendes Gefühl war für eine Millisekunde da gewesen.

„Hast du kalte Füße wegen dem Kuss bekommen?“, schrieb er mit zittriger Hand, „Wenn ja, wird es Zeit, dass du dich zusammenreißt und nicht so ein Feigling bist und mit mir redest, was los ist. Ich mache mir Gedanken um dich, was ich nicht bei jedem tue und so langsam glaube ich, dass du tot bist. Wo bist du also?“

Kurz zögerte er, ob er abschicken sollte und drückte auf den Knopf fürs senden.

Seto atmete tief durch.

Shadow stupste ihn wieder an und holte ihn aus seinen Gedanken. Sein Hund war in letzter Zeit viel zu anhänglich geworden oder aber er spürte, wie nachdenklich sein Herrchen war. Egal, was es war, sein Hund wollte Aufmerksamkeit und diesen Willen, setzte Shadow auch durch.

Er schob seine kalte, feuchte Nase unter Setos Arm und hob ihn ein Stück an, damit er seinen Kopf drunter durchschieben konnte. Mit dem Kopf strich er Setos Bauch entlang und drückte sich dabei mit an den Schal.

Seto brummte missmutig über das Verhalten, strich dem Hund aber über den Kopf. In diesem Moment fiel ihm das Foto seines Hundes ein, was oben in Mokubas Zimmer stand.

Ein leichtes Grinsen stahl sich bei dem Gedanken auf sein Gesicht. Wäre Shadow nicht gewesen, würde er jetzt nicht hier sitzen und alleine eine Rotweinflasche leeren. Immerhin hatte sein Hund ja beschlossen gehabt Naomie über den Haufen zu rennen und ohne ihn, wäre er ihr ja nicht über den Weg gelaufen, sondern hätte vermutlich seinen freien Tag damit zugebracht zu arbeiten oder sich mit Yugi zu duellieren.

Seto nippte an dem Glas Wein und fragte sich, wie Naomie wohl zu der Fotografie gekommen war. Er hatte sie das bisher nicht gefragt gehabt und seine Neugier war geweckt.

„Ein Grund, wieso du sie nicht gehen lassen solltest“, merkte sein Gewissen an.

Innerlich nickte Seto. Er wollte mehr über sie erfahren. Immerhin hatte sie sogar Wheeler zum Schweigen bringen können.

Wieder trank er einen Schluck.

Wenn er genauer darüber nachdachte, wollte er wirklich mehr über sie wissen.

Aus dem Gespräch mit Wheeler wusste er, dass sie mehrere Geschwister hatte und ein nicht mehr ganz so rüstiges Großelternpaar. Aber das war viel zu wenig, als das er sagen konnte, dass er sie kennen würde.

Umso fuchsiger und unruhiger ließ ihn die Tatsache werden, dass sie sich nicht meldete.

Shadow zog den Schal von Setos Schoß und zog sich wieder auf seiner Matte zurück. Scheinbar war er diese geistesabwesenden Streicheleinheiten leid.

Seto warf einen Blick auf die Uhr. Um Naomie noch einmal anzurufen war es zu spät.

Mit einem schnellen Zug leerte es den Rest seines Weinglases und stellte es zu der fast leeren Flasche auf den Tisch.

Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Jeder Gedanke fühlte sich zäh und wirr an. Gleichzeitig war da das Gefühl, dass etwas fehlte. Seto sah zu Shadow, der den Schal knuddelte und sich total wohl fühlte.

Als würde sein Hund befürchten, dass Seto ihm den Schal wegnahm, legte er sich mit dem Körper auf das Stück Stoff, so dass nur noch ein Endstück unter dem Kopf hervor lugte.

„Gib zu, du willst auch mit dem Stoff kuscheln oder besser noch mit ihr!“

Was produzierte sein Gewissen denn da schon wieder? Natürlich nicht!

„Du wirst wütend. Also habe ich einen wunden Punkt getroffen!“, trällerte sein Gewissen.

Das war doch lächerlich was sein Unterbewusstsein da hervor brachte. Er war kein Kuscheltyp und kuschelte auch nicht.

„Sieht mit Mokuba und Shadow anders aus.“

Mokuba und Shadow? Das war doch etwas ganz anderes. Mokuba war sein Bruder und Shadow sein Hund. Mit Naomie zu kuscheln wäre etwas völlig anderes.

„Dir wächst halt nur keine Latte bei den beiden, was bei ihr wieder ganz anders aussieht.“

Seto zuckte bei den Worten zusammen. Das war ja langsam unverschämt. Ihm wuchs bestimmt keine Latte!

„Ja, ja!“, sagte die Fistelstimme mit ungläubigem Tonfall.

Was sollte den dieser abfällige Ton denn? Seto runzelte die Stirn.

„Das kann ich dir leicht erklären, Kumpel. Was ich da morgens sehe bei dir…“

Seto entfuhr ein Schnauben und er goss sich wieder etwas Wein ein. Sein Gewissen drehte langsam durch. Aus einem natürlichen morgendlichen Umstand etwas zusammen zu reimen, war ja wohl die absolute Frechheit! Das hatte doch nichts mit Naomie zu tun!

Diese lächerliche Schlussfolgerung hätte genauso gut vom Straßenköter kommen können. Allein bei dem Gedanken verkniff sich Seto ein Lachen.

„Hör auf dir was einzureden! Ich hab recht und das weißt du!“

Diese Stimme, die fast nach seiner Kinderstimme klang, ehe er in den Stimmbruch gekommen war, sollte Recht haben? In was für einer Welt lebte er denn, in der er einer imaginären Stimme Recht gab?

Obendrein redete er sich bestimmt nichts ein.

Demonstrativ überschlug er die Beine und trank einen Schluck vom Wein.

So hübsch war Kuzuki nun auch nicht, dass er beim bloßen Gedanken an sie erregt war!

„Wenn ich dir ein paar Bilder schicke, sieht das gleich ganz anders aus!“, kam es neckisch.

Wollte sein Gewissen ihn heraus fordern oder was sollte das werden? Das wurde ja immer lächerlicher.

„Ich bin ganz dick mit dem Teil deines Hirns befreundet, der für das Lustzentrum zuständig ist.“ Ein kichern war zu hören und Seto schnaubte abfällig.

Wenn sein Gewissen sonst nichts zu tun hatte, sollte es sich ruhig daran versuchen. Klein beigeben würde er bestimmt nicht. Im Gegenteil, selbst wenn sein Unterbewusstsein alle möglichen Bilder ausgrub, die es gab, würde es sich die Zähne ausbeißen.

Seto schloss die Augen, als sein Gewissen schwieg und nippte an dem Glas. Er schwenkte die Flüssigkeit nachdenklich hin und her, gespannt darauf, wann endlich das erste Bild in seinem Kopf sein würde. Denn eines musste er zugeben, neugierig, wie sein Gewissen das anstellen wollte, war er ja schon.

Am idealsten war es ja eigentlich dort anzusetzen, als sie sich geküsst hatten. Das wäre das einfachste für sein Gewissen.

Seto seufzte und fuhr sich über die Lippen. Er hatte den Moment noch genau vor Augen, als sich ihre Lippen ganz sanft und zärtlich berührt hatten. Bei der Vorstellung, wie ihr warmer Atem seine Haut gestreift hatte, lief ihm wieder ein Schauer über den Rücken.

Noch ganz genau spürte er, wie ihre Arme sich um seinen Körper gelegt hatten und ihre Fingerspitzen seine Nackenhaare berührt hatten. Nur das bisschen Stoff, was sie getragen hatten, hatten ihre Körper voneinander getrennt.

Ihr Seufzen im Kuss hatte Seto noch immer im Ohr, als er sie an sich gedrückt und über ihren Rücken gestrichen hatten. War der Kuss vorsichtig und zärtlich gewesen, war er in wenigen Augenblicken verlangender geworden. Seine Hände hatten den Saum des Pyjamaoberteils erreicht und es ein Stückchen höher geschoben, damit sie zu der warmen Haut darunter gelangen konnten. Dort hatte er inne gehalten und abgewartet, was passierte. Naomie hatte seine Hände nicht fort genommen. Im Gegenteil sie hatte es ihm gleich getan und mit ihren Händen über seinen Hals gestrichen, war dabei weiter gewandert und einen Knopf nach dem anderen seines Hemdes geöffnet. Geschickt waren ihre Hände in das offene Hemd geschlüpft und hatten seine Haut gestreichelt, sogar leicht darüber gekratzt.

Ihre offenen Lippen hatten grade dazu eingeladen, dass er an ihrer Unterlippe knabberte und mit der Zunge in ihren Mund schlüpfte.

Bei dem Gedanken überkam ihn ein Kribbeln und Seto hatte das Gefühl, sofort wieder ihren warmen Körper zu spüren und wie er sich unter den Berührungen bewegte. Seine Hände hatten das Stück Stoff an ihrem Körper höher geschoben und dabei versucht jeden Zentimeter Hautkontakt auszukosten. Jede noch so kleine Unebenheit hatte er spüren können und dann war das lästige Textilstück auch schon über ihren Kopf gezogen und irgendwohin geworfen worden.

Nur kurz und flüchtig hatte er einen Blick auf ihren freien Oberkörper geworfen, der nur noch von dem weißen BH mit dunkelblauen Punkte und feiner Spitze bedeckt worden war.

Es war ihm in dem Moment unglaublich schwer gefallen sich von ihr zu lösen. Mehrfach hatte er sich ermahnt aufzuhören, doch es war ihm jedes Mal misslungen. Aber so wie sich die Küsse angefühlt hatten, war es eben schwer zu widerstehen und Naomie hätte genauso aufhören können. Doch sie hatte ihn wieder geküsst, sich an ihn gedrückt und ihm gezeigt, dass sie mehr wollte. Genauso wie er.

Bis jetzt hatte er noch immer keine Erklärung dafür, woher das gegenseitige Verlangen gekommen war. Seto hielt sie nicht für leicht zu haben, erst recht nicht nach der Story mit ihrem Ex und er selbst war ziemlich wählerisch und ließ sich nicht so leicht rum kriegen. Aber bei ihr war da dieses unerklärliche Verlangen nach mehr gewesen, was ihn völlig ausgefühlt hatte. Hatte er irgendeinen Moment verpasst, der ihm klar gesagt hatte, dass sie übereinander herfallen würden?

Naomie hatte den Kopf ein Stück zur Seite geneigt, damit er an ihren Hals heran gekommen war. Seto hatte ihre warme und weiche Haut gekostet. In seine Nase war der Duft seines Duschgels gestiegen. Wie ein Schwamm das Wasser hatte er diesen Geruch eingesogen.

Zuerst hatte er ganz zarte Küsse auf ihren Hals verteilt gehabt, fast schon hauchfein, während seine Hände zärtlich über ihre Schulter strichen. Ihr Seufzer waren wie Musik für seine Ohren gewesen und ein sicheres Zeichen, dass sie es auch genossen hatte.

Mit der Zunge hatte er dann über die Haut geleckt, ihren Geschmack gekostet und mit den Zähnen ganz leicht an ihrem Hals geknabbert. Jedoch hatte er aufgepasst ihr keine Flecken zu verursachen. Sie sollte ja nicht aussehen, wie ein Dalmatiner.

Naomie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, entspannt aufgeseufzt und sich an ihn gekuschelt. Die Suche nach seiner Nähe hatte sich gut angefühlt und zufrieden hatte er in den Kuss gelächelt, den er ihr in dem Moment auf die Schulter gegeben hatte.

Wenn er jetzt daran dachte, überkam ihn erneut das Gefühl, dass ihn eine innere Kälte und Leere überkam. Wieder fröstelte Seto und er öffnete die Augen.

Dieser Augenblick war vorbei und sie meldete sich jetzt nicht mehr. Die Chance war vertan. Zudem war sie auch kurz darauf an seiner Schulter eingeschlafen. Offenbar mit der Entspannung auch die Müdigkeit immer weiter über sie gekommen.

Seto seufzte und trank einen weiteren Schluck des rotgefärbten Alkohols, der seine Sinne vernebelte.

Erschöpft rieb er sich über die Augen und sah vor seinem geistigen Auge, wie sich Naomie auf dem Bett regelte anstatt zu schlafen, wie es eigentlich passiert war. Sie schaute ihn verlockend an und winkte ihn zu sich.

Seto öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. Was war denn das? So ein abstruser Gedanke! Es passte überhaupt nicht zu ihr sich so lasziv zu rekeln, wie in einem billigen TV Erotik Spot, wie er nach 23 Uhr zu Hauf im Fernsehen lief.

Wenn das ein Versuch seines Gewissens war, dann war es viel zu billig und unrealistisch.

Genauso wie der nächste Gedanke, der ihm in den Sinn kam.

Vor seinem geistigen Auge sah er die Fotografin im Badezimmer stehen und sich langsam ausziehen. Der dünne BH-Träger fiel über ihre Schulter und sie öffnete den Verschluss am Rücken. Langsam segelte das Kleidungsstück zu Boden und er konnte die Umrisse ihrer nackten Brust sehen.

Noch billiger konnte sein Hirn die Bilder nicht werden lassen. Hatte es nur solche abgedroschenen Sachen auf Lager, die sie nie im Leben tun würde oder die gar nicht zu ihr passten?

„Was würdest du denn von ihr erwarten, dass sie tut?“, fragte die Stimme neugierig, „Ich mein, ich kann dir auch ein bisschen Stroh in die Ecken streuen.“

Stroh? Was sollte der Unsinn denn? Er war bestimmt nicht erpicht darauf Maria und Josef mit ihr zu spielen.

Von der Stimme kam ein kellertiefes Seufzen.

„Dann stell dir vor, wie sie nicht eingeschlafen ist und du ihre Schulter geküsst hast. Stell dir vor, ihr hättet weiter machen können, unbeobachtet und nur ihr zwei. Die Möglichkeiten, was zwischen euch passiert wäre, wären unzählig. Sie könnte noch mehr Kleidung verlieren zum Beispiel und eure Küsse könnten sich vertiefen. Lass deine Gedanken einfach mal wandern.“

Er würde alles andere als das tun!

Seto erhob sich aus dem Sessel und versuchte diese Möglichkeit zu ignorieren. Es war gut, dass nichts gelaufen war. Alles andere würde die Sachen nur verkomplizieren. Erst recht, wenn er sie für sein Projekt haben wollte. Mit Angestellten fing man kein Verhältnis an, viel zu kompliziert, wenn sich die eine Seite mehr erhoffte als die andere.

„Ist kompliziert jetzt dein neues Synonym für: Ich hätte gern mit ihr geschlafen und habe mich in sie verliebt, aber weil ich Seto Kaiba, gefürchteter Firmenchef, bin, habe ich einfach nur Schiss davor und kann keine Gefühle zeigen, deshalb erfinde ich Ausreden?“

Seto schnaubte abfällig über diesen Schwachsinn und schob die verbrannten Holzstücke mit dem Schürhaken zur Seite. Er legte etwas Tannengrün nach, das sofort von den Flammen verschlungen wurde.

„Der Schwachsinn passt aber so gut zu dir!“, erwiderte die Fistelstimme belustigt.

Seto ließ sich wieder in den Sessel nieder und griff zu seinem Tablett, was auf dem Tisch lag.

So langsam machte sich sein Unterbewusstsein aber lächerlich. Er war doch nicht in Kuzuki verliebt. Soweit käme es ja noch! Sie war noch nicht mal in derselben Gesellschaftsschicht wie er.

Abwesend schüttelte er den Kopf, überschlug die Beine und lehnte das Tablett gegen sein Knie, während er mit den Fingern über das Menüfeld ging und das Internet öffnete.

Er brauchte dringend Ablenkung von diesem Thema.

Immerhin war das sein freier Abend, es war durch den Kamin angenehm warm, Mokuba schlief und der Alkohol benebelte seine Sinne.

Ihm kann das Bild wieder in den Sinn was er vor wenigen Tagen schon einmal im Kopf gehabt hatte.

Er konnte sich sehen, wie er ein Bündel Mensch auf dem Sofa an sich drückte. Es war dunkel draußen, genau wie jetzt und auch das Licht passte mit dem in seinem Kopf überein. Doch diesmal war die Vorstellung deutlicher. Er konnte eine weibliche Silhouette ausmachen mit blonden Haaren, die er auf die Stirn küsste.

Seine Hand lag sicher um die Taille der Person und sie suchte seine Nähe.

Sofort war da wieder dieses warme Gefühl, was ihn bei dem Gedanken erfasste. Er schloss die Augen und entspannte sich etwas. Das Bild hatte doch etwas Beruhigendes an sich. Fast konnte der den süßen warmen Geruch in der Nase riechen und sein Herz klopfte etwas schneller.

Woher sein Gehirn dieses absolut kitschige Bild hatte, wusste Seto nicht.

„Wusste ich es doch! Du stehst auf sie!“, fuhr sein Gewissen dazwischen und zerstörte die Illusion mit einem Schlag.

Seto zusammen und konzentrierte sich auf das geöffnete Internetfenster von seinem Tablett.

Wann hatte er das Fotostudio gegoogelt?

Offenbar war er so sehr mit den Gedanken woanders gewesen, dass er nur halb mitbekommen hatte, wie er die Firmenhomepage durchforstet hatte. Er war gerade bei den Aufnahmen der Mitarbeiter und den aktuellen Weihnachtsfotos, die auf der Homepage zu sehen waren.

Naomie saß auf dem weißen Studioboden. Sie trug ein rotes Kleid und hatte eine Weihnachtsmütze auf. In den Händen hielt sie ein kunstvoll verpacktes Päckchen. Um sie herum auf dem Boden lagen goldene Weihnachtskugeln. Konfetti war überall verteilt und hing ihr sogar in den Haaren. Auch die Luftschlangen bildeten einen wunderbar farblichen Akzent im Bild.

Das Grün ihrer Augen kam gut zur Geltung und ihr Blick strahlte pure Freude aus. So aufgedreht und freudestrahlend hatte er sie kennen gelernt.

Mit dem Fingern fuhr er über den Bildschirm und wählte das aktuellste Album der Nikolausfeier an.

Neugierig besah er sich die Fotos von dem Abend auf dem Markt. Seto sah die ganze Fotostudiogruppe, wie sie grinsend Nikoläuse in die Kamera hielten und breit grinsten. Auch Wheeler war darauf zusehen und hatte einen Arm um Naomie gelegt.

Auf den nächsten Fotos waren ihr Chef und die unterschiedlichen Kollegen und Kolleginnen zu sehen. Doch die waren ihm herzlich egal. Seto suchte weiter und fand ein Foto auf dem Naomie fröhlich in die Kamera prostete. Aus ihrer Tasse stieg heißer Dampf auf und er konnte sich schon denken, dass es Glühwein war. Ihre Wangen waren Rot von der Kälte oder dem Alkohol. Das wusste er nicht, aber die Fotos deuteten daraufhin, dass sie Spaß gehabt hatte.

Wieder war da ein Foto mit Wheeler zu sehen. Diesmal stießen sie ihre Tassen aneinander und der Straßenköter grinste über beide Ohren.

Obwohl die Fotos ausgelassen waren und zeigten, wie viel Spaß das Team miteinander hatten, fuchste Seto es so ziemlich, wie sich die Flohschleuder förmlich an ihren Rockzipfel hängte.

„Na, eifersüchtig?“, meldete sich die kleine Stimme im Ohr wieder, die bis eben geschwiegen hatte, „Vielleicht ist sie ja sogar mit ihm zusammen und ist deshalb geflüchtet?“

„Was?“, entfuhr es ihm laut und er schloss schnell das Fenster und schaltete das Gerät ab, ehe er noch mehr solcher Fotos sah aus denen sein Gewissen irgendetwas zusammen spinnen konnte.

Naomie und der Köter? Niemals! Die Vorstellung war absolut verrückt. Sie passte doch gar nicht zu der Promenadenmischung und umgekehrt genauso wenig.

Ob Wheeler Kontakt zu ihr hatte und vielleicht wusste, wo sie steckte? Allein bei dem Gedanken geriet sein Blutdruck wieder in Wallung. Der Köter sollte bloß seine dreckigen Hundepfoten von ihr lassen und sich bloß nichts einbilden, nur weil sie mit ihm feierte.

Allein bei dem Gedanken überkam ihn eine ziemliche Wut auf diese Nervensäge und dann soll er auch noch eifersüchtig sein?

So langsam fing sein Gewissen an zu halluzinieren und Wahnvorstellungen zu entwickeln.

„Wenn du meinst, Kumpel“, murmelte die Fistelstimme leise.

Seto griff zu seinem Handy. Natürlich war nichts eingekommen an Nachrichten oder Anrufen. Nachdenklich sah er in die Kaminflammen.

Wenn Naomie aber wirklich was mit Wheeler hatte? Was hatte dann der Kuss zu bedeuten? War sie ihm dann fremd gegangen?

Seto schluckte schwer und er spürte den Wein in seinem Magen, der sich mit einem Mal mit einem bitteren Beigeschmack bemerkbar machte.

So sehr er Wheeler auch nicht mochte, er würde ihm bestimmt nicht die Freundin ausspannen und sei diese eben Naomie. Das hatte Kaiba bestimmt nicht nötig.

„Wenn das jetzt kein Geständnis war, dass du sie magst, Seto, weiß ich auch nicht weiter“, murmelte die Fistelstimme leise in seinem Ohr.

Wieder sah er auf das Handy. Wieso meldete sie sich denn nicht?

Entschlossen stand er auf und tigerte in dem Zimmer umher.

In seinem Kopf verfestigte sich der Gedanke immer mehr, dass sie vielleicht wirklich einen Freund hatte. Immerhin musste sie ihren Kolleginnen nicht alles erzählen oder es hatte sich kurzfristig ergeben. Es war gar nicht so abwegig.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn, das er nicht zuordnen konnte, gefolgt von dem Frösteln und der inneren Kälte. Vor dem Kamin blieb er stehen, genoss die Hitze, die die Flammen ausstrahlten und wärmte sich daran.

Sein Handy schien Kilos in seinen Händen zu wiegen und nur zögerlich ging er in das SMS Feld. Der Alkohol wärmte seinen Körper und mit einem Schlag fühlte er sich unglaublich heiß an.

„Es ist besser, wenn du dich nicht bei mir meldest“, tippte er als SMS in sein Handy ein. Seine Finger zitterten, so dass er einige Wörter immer wieder neu anfangen musste. „Deine Spiele kannst du mit Wheeler spielen. Verarschen brauchst du mich nicht!“

Seto zögerte und sein Daumen blieb über den Sende Knopf hängen.

Wieso schickte er die SMS nicht einfach ab?

„Weil du auf ihre Nachricht wartest“, antwortete die Fistelstimme wieder.

Türchen 12 – Eisschichten

Von einer stillen Nacht konnte im Haus von Naomies Großeltern nicht die Rede sein. Auch am Tage war es immer Laut. Stille war ein Fremdwort an diesem Ort.

Eine Diele, die ihr Großvater seit dem letzten Weihnachten schon repariert haben wollte, im Flur des Erdgeschosses knarrte so laut, dass es noch eine Etage höher zu hören war. Im nächsten Augenblick wurde die Tür zum Wohnzimmer zugeknallt. Das kleine Glas mit den Mosaikfenstern in der Tür klirrte bedrohlich. Dann war es wieder still im Haus. Die Frage war, wie lange hielt das an?

Naomie schreckte bei dem Lauten Poltern aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz schlug zehn Takte schneller und sie stöhnte leise auf. Genervt schloss sie die Augen wieder und atmete ruhig ein und aus.

Wieso musste man so spät noch mit den Türen knallen? Gab es keine Klinken?

Im Ohr hatte sie noch immer das leise Flüstern ihres Traumes und konnte die Wärme spüren, die sie umgeben hatte. Ihr Herz flatterte leicht vor Glück, trotz des Schreckens mit dem sie wach geworden war.

Ein Seufzen verließ ihre Lippen und sie drehte sich in dem provisorischen Bett herum. Naomie schob einen Arm unter ihr Seitenschläferkissen und drückte es an sich. Sie kuschelte sich an das Kissen und legte ihren Kopf auf eine Ecke, als wäre es eine bequeme Schulter.

In diesem Bett war an Schlaf kaum zu denken und nun, wo sie gerade eingeschlafen war und süß geträumt hatte, meinte jemand Poltern zu müssen. Ob sie einfach so wieder einschlafen und zu der Stelle in ihrem Traum zurück kehren konnte? Vermutlich nicht, aber Hoffnung durfte man ja noch haben, wenn man von zwei starken Armen träumte, die einen fest umschlungen hielten. Wohlig seufzte Naomie bei der Erinnerung auf.

Der fremde Geruch des Bettzeuges drang in ihre Nase und sie musste niesen.

Es war ein schlichter Duft, nichts Besonderes und nur ein feiner Hauch von Kernseife hing an dem Bettzeug. Der Geruch erinnerte sie an alte Möbel, Holz und alte Menschen, wie ihre Großeltern es eben waren.

Angespannt lauschte Naomie, ob wieder eine Tür geöffnet und zugeknallt wurde. Abwegig war der Gedanke in diesem Haus nicht, doch es blieb weiterhin totenstill. Unruhig rutschte sie auf dem harten Schlafsofa herum, zog ihr Kissen mit und versuchte eine bequeme Einschlafposition zu finden. Ihr Körper entspannte sich langsam, wenn auch nur schwer.

Die alten Federn drückten in ihren Rücken und die kleine Lehne fühlte sich steinhart an. Kein Wunder, wenn ihr Hals bei jeder Bewegung weh tat und sie seit Tagen nicht richtig schlafen konnte. Naomie fragte sich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, ob der Boden nicht bequemer war.

Aber sie blieb liegen und rollte sich wieder herum. Angestrengt lauschte sie nach weiteren Geräuschen in dem kleinen Haus, was es nicht einfacher machte wieder in den Schlaf zu fallen.

An ihr Spiegelbild wollte Naomie lieber nicht denken. Die roten Augen und die dicken Augenringe ignorierte sie schon längst. Sie fühlte sich nicht nur wie ein ausgelutschtes Gummibärchen, sie sah auch noch so aus.

Im Nebenzimmer war es still. Ihre Großmutter war scheinbar noch wach, genauso wie ihr Bruder Takuya, der in dem anderen Zimmer neben ihr einquartiert war. Über ihr war es auch still. Shun und Sanyu schliefen auch schon. Ihre Eltern würden sicherlich auch noch wach sein und später nach oben gehen.

Naomie seufzte und schob sich ein paar nervige Haare aus dem Gesicht.

Was gäbe sie alles dafür jetzt ein schönes Bad nehmen und sich in dem heißen Wasser strecken zu können, damit die verspannten Muskeln sich lockern konnten. Aber leider war ihr das nicht vergönnt, denn es gab nur eine Dusche in dem Haus und selbst da musste sie sich beeilen, wenn sie nicht wollte, dass jemand dauerhaft gegen die Tür hämmerte, als würde gerade die Welt unter gehen. Was auch wieder ein Grund war, wieso sie ihre Haare seit zwei Tagen nicht gewaschen hatte und sie durch einen Haarknoten etwas versteckte, damit es nicht auffiel.

Ihre ungewaschenen Haare gaben dem ausgelutschten Gummibärchenlook den letzten Schliff.

Naomie kam sich, seit sie hier war, ein bisschen wie zehn vor, wie sie so auf dem Schlafsofa lag und die anderen noch wach waren. Dabei war sie erwachsen und keine acht mehr, wie ihr kleiner Bruder.

Leise richtete sie sich in der Dunkelheit auf und lauschte nach irgendwelchen Geräuschen. Dabei war außer ihr niemand im Zimmer.

Das Licht von der Straßenlaterne und der weihnachtlichen Gartenbeleuchtung drang bis nach oben zu ihr ins Zimmer und sie konnte ein paar Umrisse der Möbel erkennen, wie die Stehlampe mit den vielen Fransen am Fenster und der alte, braune Holzschrank mit Glasvitrine in der alte Lederbücher standen, die heute keiner mehr las. In dem Schrank lagen unzählige alte, abgegriffene Papiere und Dokumente, die vermutlich schon längt in den Müll konnten. Auch alte Fotos von Leuten, die sie nicht kannte, lagen darin. Auf dem Schrank selbst stand eine alte Topfpflanze, deren Ranken sich über den Schrank verteilten. In der Dunkelheit wirkten sie wie unheimliche Monsterarme.

Auf der Fensterbank stand eine Puppe vom Weihnachtsmann. Durch das Schwache Licht wirkten die Züge tief und unheimlich.

Am Fenster klebten mehrere Sticker mit Weihnachtsmotiven, deren Konturen sich in der Dunkelheit abzeichneten.

Naomie rutschte etwas auf dem Sofa hin und er und starrte auf das Adventsgesteck, das auf dem Tisch vor ihr stand. Die Weihnachtsdekoration wirkte unter den Umständen, die sie hier war, absolut falsch und fehl am Platz. Denn die Stimmung im Haus war alles andere als festlich und voller Freude. Sie war bedrückend und Naomie hatte zeitweise das Gefühl, ihr fiel die Decke gleich auf den Kopf.

Besonders, wenn sie sich um Shun kümmern musste, kam es ihr besonders falsch und hinterhältig vor, vor ihm gute Miene zu machen und sich auf Weihnachten zu freuen, während eigentlich andere Probleme die Stimmung drückten.

Ihr Magen gab ein Knurren von sich.

Das Essen war auch ein Problem in diesem Haus. Durch die vielen Probleme verging ihrer Familie der Appetit und ihr erschien es unangebracht als einzige, neben Shun, was zu essen, weshalb sie mitfastete. Dabei hatte Naomie totalen Heißhunger auf ein gutes Schnitzel mit Kartoffeln oder einem guten Eintopf mit Kartoffeln und als Nachtisch einen süßen Schokokuchen.

Allein bei dem Gedanken rumorte es wieder und ihr Magen knurrte verräterisch laut.

Naomie starrte in die Dunkelheit.

Kurzentschlossen warf sie die warme Decke zurück und hatte das Gefühl der Raum war unglaublich heiß. Kalter Schweiß bedeckte ihren Rücken und ihr Shirt klebte ihr auf der Haut.

Langsam, als könnte jemand unter dem Sofa hervor kommen und sie an den Füßen packen, stand sie auf. Unter ihren nackten Füßen spürte sie den alten, rauen Teppich, der im Zimmer ausgelegt war. Sogar einen Brandfleck konnte sie mit ihren Zehen erspüren.

Naomie wollte nicht darüber nachdenken, wie alt der Teppich schon war und tapste auf Zehenspitzen zum Fenster.

Sie schlug die Gardinen zurück und öffnete das Fenster.

Die kalte Winterluft schlug ihr entgegen und kühlte ihre Haut. Naomie hatte das Gefühl in diesem Zimmer zu ersticken und zog die Luft tief in ihre Lungen ein.

Im Garten konnte sie die Schneemannfamilie erkennen, den sie mit Shun gestern Mittag gebaut hatte. Daneben waren noch die Abdrücke der Schneeengel, die sie gemacht hatten.

Die verschneiten Hecken und die Fliesen der Veranda wurden vom Wohnzimmerlicht erhellt.

Scheinbar saß unten der Rest ihrer Familie, der auch nicht schlafen konnte und noch Krisensitzung hatte.

Naomie gähnte und schloss wieder das Fenster, ehe es zu kalt wurde. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Wieder tapste sie so leise es ging zur Tür. Die Klinke quietsche ein wenig, als sie die Tür öffnete und durch den kleinen Spalt hinaus schlüpfte. Auch im Flur fühlte sich der Teppich rau und unangenehm an den Füßen an.

Der Flur lag ruhig und verlassen da. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Wenn sie sich fertig machen müsste, hätte sie jetzt freie Bahn. Doch das geflieste Zimmer war nicht ihr Ziel.

Auf leisen Sohlen lief sie zur Treppe und stieg die Stufen hinunter. Auf halben Weg hielt sie inne und lauschte angestrengt.

Stimmen drangen durch die geschlossene Wohnzimmertür.

Sowie sie auf der Treppe stand, fühlte sie sich wie ein kleines Kind auf großer Abenteuertour. Die Küche mit dem Mineralwasser und dem Müsliriegel im Schrank war das Ziel und sie musste unbemerkt an den Monstern im Wohnzimmer vorbei kommen, ohne entdeckt zu werden.

Naomie machte einen weiteren Schritt die Treppe hinunter und versuchte heraus zu hören, was gesprochen wurde. Durch die geschlossene Tür kamen die Worte aber nur bedingt bei ihr an.

Ein Schatten bildete sich im Flur und schnell lief sie die Treppe wieder nach oben in den dunklen Teil und spähte nach unten.

Die Tür vom Wohnzimmer wurde aufgerissen und sie hörte jemanden in die Küche gehen. Die Gläser klapperten laut.

„Es wird Zeit an den Verkauf zu denken!“, sagte die Stimme ihres Vaters energisch, „Ihr könnt es nicht mehr alleine verwalten.“

Worüber redeten ihre Eltern? Wollten sie das Haus verkaufen?

„Ich weiß, dass die Zeit grade hart ist, aber es ist besser so“, sagte ihre Mutter mit einfühlsamer Stimme. Naomie kannte den Tonfall. So sprach sie auch zu Kindern, wenn diese sich stur stellten. Auch zu ihr hatte sie früher so gesprochen, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. „Wir werden dir auch helfen eine seniorengerechte Wohnung zu finden.“

Naomie beugte sich etwas über das Geländer und versuchte noch mehr zu hören, doch die Tür wurde wieder zugeschlagen. Sie zuckte zusammen und seufzte.

Scheinbar verlernten die Leute in diesem Haus die Benutzung der Türklinken.

Doch vielleicht könnte sie jetzt nach unten schleichen, ohne dass sie jemand bemerken und dass sie stören würde. Denn eines war sicher, würde man sie sehen, würde das Gespräch sofort beendet sein und Naomie hatte keine Lust ein Störfaktor zu sein.

Ihre Füße fühlten sich kalt an und auch ihre Beine verloren langsam an Temperatur. Unruhig wackelte sie mit den Zehen.

Wieso lief sie nicht einfach nach unten, nahm sich ein Glas Wasser, einen Müsliregeln gegen den Hunger und ging wieder nach oben? Sie war genauso Gast hier wie der Rest ihrer Familie und würde bestimmt keinen Ärger kriegen. Dennoch war das dieses Prickeln, als würde sie etwas Verbotenes tun, sowie das Gefühl, dass es Falsch und pietätlos war.

Naomie seufzte und wurde das Gefühl nicht los, wieder ein Kind zu sein.

Vermutlich lag es daran, dass sie von der Familiensitzung ausgeschlossen war, während ihr älterer Bruder Takuya mit bei sein durfte.

Zählte ihre Meinung denn gar nichts? War sie nur gut genug, um auf Sanya und Shun aufzupassen, wie schon den Rest der Woche auch?

Das Gefühl nicht ernst genommen zu werden in dieser Familie beschlich sie immer mehr.

Von oben hörte sie Geräusche und wie die Tür geöffnet wurde. Schnell huschte sie wieder durch den Spalt ihrer Zimmertür und schloss diese leise.

Wenn einer ihrer Geschwister sie sehen würde, würde sie sich um das Problem kümmern müssen und darauf hatte sie absolut keine Lust. Es reichte schon, wenn sie sich tagsüber um sie kümmern musste. Sie war ihre Schwester, aber nicht ihr Kindermädchen.

Zitternd huschte sie wieder ins Bett und berührte dabei etwas Kaltes auf ihrem Kopfkissen.

Naomie presste ihr Handy an sich und zog die Decke hoch.

„Mama!“, rief ihr kleiner Bruder vor ihrer Zimmertür und sie sah den Schein des Flurlichts durch die Tür in ihr Zimmer kommen.

„Mama!“, rief Shun lauter und hämmerte gegen das Holzgeländer. Es hörte sich an wie ein Bauarbeiter, der sein Tagewerk verrichtete. Unten im Wohnzimmer wurde die Tür erneut geöffnet. Jemand kam die Treppe mit schnellen und schweren Schritten nach oben getrampelt.

Wenn sie nicht schon wach wäre, wäre sie es mit Sicherheit jetzt. Seufzend drückte sie sich ihr Kissen auf die Ohren. Das Haus ihrer Großeltern schien niemals ruhig zu sein.

Naomie hörte die Stimme ihrer Mutter vor der Tür und wie sie beruhigend auf Shun einredete. Sie gingen zur Treppe, die ins Obergeschoss führte und Naomie blieb weiterhin liegen. Langsam nahm sie das Kissen von den Ohren.

Sie wusste nicht, wieso sie sich aufführte, wie ein Teenager, der etwas verbrochen hatte. Aber so konnte es nicht weiter gehen.

Wieder lauschte sie angestrengt. Schritte waren von oben zu hören und ihre Mutter polterte wieder die Treppe hinunter, während sie vor sich hin murmelte.

Naomie rollte sich zur Seite, so dass sie mit dem Rücken zur Tür lag. Ihre Tür wurde aufgerissen und sie konnte den Schatten ihrer Mutter an der Wand sehen.

„Naomie?“, fragte ihre Mutter und wartete, ob sie reagieren würde, doch sie regte sich nicht.

Kurz blieb ihre Mutter im Zimmer und verschwand wieder. Die Tür wurde zugeschlagen.

Sie zuckte zusammen.

Glaubten die Leute in diesem Haus wirklich, dass man bei dem Krach tief und fest schlafen konnte? Leicht schüttelte Naomie den Kopf und knurrte leise. Wieder drehte sie sich herum.

Bei dem Lärm war es kein Wunder, wenn sie keinen Schlaf fand und übermüdet war. Zum Glück war das ihre letzte Nacht hier. Morgen Nachmittag würde sie wieder zu Hause in ihrem Bett sein. Es ging so nicht weiter und ihre Arbeit wartete auch. Sie musste aus diesem Haus raus, sonst würde sie früher oder später wegen Übermüdung noch die Nerven verlieren.

Naomie schaute auf ihr Handy und sah weitere SMS, die unbeantwortet im Postfach lagen, sowie ein Anruf in Abwesenheit, den sie merkwürdigerweise sogar angenommen hatte.

Ein verlegenes Schmunzeln stahl sich auf ihr Gesicht. Offenbar hatte sie den Anruf im Schlaf angenommen und Kaiba hatte sie schlafen gehört, während sie mit dem Telefon gekuschelt hatte. Hoffentlich hatte sie nicht irgendwas Wirres vor sich hin gemurmelt und wenn, dann hatte er wenigstens was zu lachen gehabt.

Naomie las sich jede einzelne SMS durch und seufzte auf.

Wie schon in den letzten Tagen wusste sie auch auf diese keine richtige Antwort.

Dafür, dass er so in sich gekehrt war und nicht viel von sozialen Kontakten hielt, schrieb er ihr oft und rief auch ziemlich oft an. Fast könnte man meinen, er war hinter ihr her.

Naomie kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Sicherlich dachte er, sie war zu feige um über den Kuss zu sprechen, doch das Gegenteil war der Fall. Aber inzwischen waren einige Tage ins Land gezogen und es wurde schwieriger, wie es weiter gehen sollte oder wie sie es ansprechen sollte.

Immerhin gab es gerade wichtigeres als dieser belanglose Kuss.

Aber der Gedanke daran ließ sie aufseufzen.

Sie sollte nicht daran denken. Es war absolut falsch sich jetzt damit auseinander zu setzen. Außerdem wollte er sicherlich nichts Ernstes von ihr und sie hatte nicht vor als irgendein Betthäschen zu enden, das seine Gelüste für eine Nacht stillte.

Dabei hatte sich das aber so gut angefühlt, was da passiert war. Allein bei der Erinnerung, wie seine Hände sich auf ihrer Hüfte angefühlt hatten, verließ sie ein weiterer Seufzer.

Was sollte sie machen? Sie konnte ihm auch nicht ewig aus dem Weg gehen oder sich nicht mehr melden. Das wäre auch nicht fair. Nicht nachdem er ihr geholfen hatte.

Mit Sicherheit hatte das keine Bedeutung für ihn und so beschäftigt wie er war, dachte er auch nicht mehr daran. Seine Nachrichten hatten sicherlich einen anderen Grund als der Kuss.

Nur flüchtig hatte sie mitbekommen, dass die KC gerade ein wenig in Verruf gekommen war, wegen einer Spendenaktion. Zu gern hätte sie in ruhe ein wenig im Internet dazu nach gelesen und recherchiert, doch im Haus ihrer Großeltern gab es so etwas nicht. Sie konnte froh sein, wenn sie richtigen Handyempfang hatte, denn auch der war nur schwer zu kriegen.

Aber deswegen würde sie sich nicht um ein Gespräch mit ihm drücken. Sie würde es zumindest versuchen und wenn er sie abwies, konnte sie immer noch sagen, dass sie es versucht hatte.

Wie schon die Tage davor ging sie auf „Antworten“ und hielt dann inne. Fieberhaft überlegte, was sie schreiben sollte. Sie wusste ja noch nicht mal, ob sie ihn duzen oder siezen sollte.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als eine weitere SMS eintraf. Diesmal von Joey, der sie ebenfalls fragte, was los sei und sich Sorgen machte.

Schnell schrieb sie ihm zurück, dass alles ok sei und die nächsten Tage wieder zur Arbeit käme.

Merkwürdigerweise fiel ihr das bei ihm recht einfach, aber er hatte auch eine Art und Weise an sich, die man nur als herzlich bezeichnen konnte. Es war amüsierend mit ihm zu arbeiten und die Zeit ging dann auch schneller rum.

Naomie richtete sich im Bett auf.

Wenn sie Setos SMS ansah, duzte er sie ja auch und hatte vorher nicht gefragt, ob das in Ordnung war.

„Ich lebe noch und bin auch nicht entführt worden“, tippte sie in das Feld ein, „Ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir. Also keine Sorge.“

Ob das so gut war?

Ehe, sie sich um entscheiden konnte, drückte sie schnell auf senden und atmete tief durch. Das wäre geschafft.

Naomie sah auf die Uhr. Eigentlich sollte sie lieber schlafen, aber sie würde im Moment kein Auge zu bekommen. Morgen würde sie auch nicht besser aussehen als heute und der ausgelutschte Gummibärchenlook würde sich weiter durch den Tag ziehen. Zum Glück sah Seto sie so nicht. Allein bei dem Gedanken und sie lief hochrot an.

Seufzend knipste sie die kleine Lampe an und richtete sich wieder auf.

Irgendwas musste sie tun. Diese Ruhelosigkeit würde sie noch wahnsinnig machen.

Draußen schneite es wieder und sie konnte sich schon denken, dass ihr Bruder morgen eine Schneeballschlacht veranstalten würde.

Es war unglaublich schwer vor ihren jüngeren Geschwistern so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Dabei war es genau das Gegenteil.

So wie sie ihre Eltern und ihre Oma kannte, saßen sie im Wohnzimmer und ihre Oma weinte sich grade die Seele aus dem Leib über die Entscheidungen, die nun alle auf sie zukamen und die ihr nicht leicht fielen.

Es war besser, wenn sie morgen wieder nach Hause fuhr. Hier wurde es langsam immer enger und so eng auf einen Haufen, sorgte das früher oder später nur für Streit.

Naomie schaltete ihren Laptop ein. Sie musste etwas tun und wenn sie sich nur alte Fotos ansah, aber irgendwas musste sie machen.

Während das Gerät hoch fuhr, ging sie noch einmal zur Tür und öffnete sie ein Stückchen.

Von unten drang Licht herauf und sie hörte Stimmengemurmel. Ihre Eltern würden also noch lange beschäftigt sein und so schnell nicht wieder hoch kommen.

Sie schloss die Tür leise und setzte sich wieder aufs Bett.

Schnell steckte sie den Internetstick ein und hoffte, dass es diesmal funktionieren würde.

Naomie öffnete das Fenster fürs Internet und wartete auf eine Verbindung. Nichts. Der Empfang war in diesem Haus einfach zu schlecht, als dass sie ins Internet kommen würde.

Genervt stöhnte sie und sah auf, als leise die Tür geöffnet wurde.

„Naomie?“, fragte die piepsende Stimme von Shun.

„Was machst du hier? Du sollst doch schlafen“, sagte sie und stand auf.

Shun blieb im Türrahmen stehen und rieb sich müde über die Augen. Im Arm hatte er ein Kissen.

„Ich kann nicht schlafen. Kann ich zu dir?“

Naomie drückte Shun etwas an sich.

„Aber du bist doch schon groß. Geh wieder nach oben. Dort ist auch Sanya“, sagte sie leise und strich ihm über den Kopf. Wieso musste sie wieder ihren Bruder trösten? Konnte ihr Schwester, die inzwischen auch alt genug war, das nicht tun?

„Sanya hat mich zu dir geschickt“, brachte er raus.

Naomie seufzte. Das war typisch ihre Schwester. Hauptsache sie hing an ihrem neuesten Handy, scheib mit ihren Freundinnen über Jungs und trug die neuesten Klamotten. Aber wenn es um ihren Bruder ging, war sie sich zu fein dafür und es blieb an ihr hängen.

Shun jetzt aber auch abzuweisen und nach unten schicken, konnte Naomie auch nicht.

„Schon gut, dann leg dich hin“, sagte sie ergeben und deutete auf das Bett.

Wenn ihr Bruder jetzt dort schlafen würde, wäre kein Platz mehr für sie da. Aber gut, dann würde sie es sich in dem Sessel bequem machen oder komplett wach bleiben.

Sie sehnte sich nach ihrem Bett oder dem großen Doppelbett bei Kaiba im Gästezimmer.

Allein bei dem Gedanken überkam sie wieder die Müdigkeit.

Shun kroch in das Bett und sie deckte ihn zu.

„So und jetzt schlaf schön“, sagte sie und nahm sich die Wolldecke und ihr Seitenschläferkissen.

Den Laptop stellte sie aus und verkroch sich zusammen mit ihrem Handy in den Sessel.

Shun war schnell wieder eingeschlafen und Naomie war es gewöhnt, dass er sehr leise atmete, dass man glauben konnte, dass er nicht mehr am leben war. Als sie das erste Mal auf ihn aufgepasst hatte, hatte sie totale Panik gekriegt und ihn wieder geweckt.

Doch inzwischen wusste sie es besser. Das einzig nervige war, dass ihre Schwester Sanya von diesen Aufgaben verschont blieb. Dabei hatten die älteren Geschwister immer mit auf die Jüngsten aufgepasst.

Das war etwas, was nicht nur Naomie wurmte, sondern auch ihre ältere Schwester Makoto und Takuya.

Müde sah sie auf ihr Handy. Eine neue SMS war eingegangen. Diesmal wieder von Seto.

Er war aber auch hartnäckig.

Naomie schloss die Augen und versuchte es sich im Sessel bequem zu machen.
 

Den Kopf hatte Naomie auf ihre Hand gestützt und langsam sackte er ihr auf die Brust. Das gleichmäßige Rattern der Räder unter ihr, sorgte dafür, dass die Müdigkeit immer mehr Besitz von ihr ergriff.

Naomie presste die Beine zusammen, um ihren kleinen Koffer fest zu halten und lehnte sich zur Seite. Sie gähnte und ließ sich Stück für Stück in den Schlaf fallen.

Aber nach der Nacht durfte sie auch im Bus schlafen.

Nachdem Shun zu ihr gekommen war, hatte sie in dem Sessel kein Auge mehr zu getan. Erst gegen den Morgenstunden hatte sie halbwegs schlafen können, doch ihre Großmutter war pünktlich um acht Uhr wieder auch und fing an herum zu poltern, dass sie glaubte, ein Volk stünde auf.

Wie konnten ihre Eltern und Geschwister nur so ruhe finden?

Müde hatte sie sich aus dem Sessel gequält und war ins Bad getapst, was besetzt gewesen war. Sie hatte fast dreißig Minuten warten müssen, ehe es frei geworden war. Kaum war sie drin gewesen, war ihre Schwester Sanya angekommen und hatte gegen die Tür geklopft, dass sie sich beeilen sollte.

Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, hatte Naomie sich nur schnell die Zähne geputzt und die Haare wieder zu einem Zopf gebunden. Schnell war sie dann wieder in ihrem Zimmer verschwunden und hatte leise ihre Sachen gepackt, um Shun nicht zu wecken.

Unten in der Küche hatte ihre Oma den Tisch gedeckt gehabt. Das Poltern war bis ins Zimmer zu hören gewesen.

Naomie hatte sich Zeit gelassen bis sie auch ihre Eltern gehört hatte und war dann erst nach unten gegangen.

Obwohl der Tisch mit frischem Brot und Wurst gedeckt worden war, saß niemand am Tisch. Ihr Vater war im Wohnzimmer gewesen, während ihre Mutter die Wäsche und ihre Oma den Abwasch gemacht hatte.

Freundlich hatten sie Naomie begrüßt gehabt, doch sie hatte gemerkt, dass die Stimmung bedrückt war und Niemand etwas gegessen hatte.

Unsicher hatte Naomie sich nur ein Glas Wasser genommen und angefangen zu trinken. Obwohl ihr Hunger groß war, hatte sie wieder das Gefühl gehabt, es wäre falsch und unangebracht. Immerhin war sie nicht Shun, der von all dem gar nichts mitbekam und sich nicht den Appetit verderben ließ.

Nachdem sie ihr Glas leer getrunken hatte, war sie unter dem Vorwand spazieren zu gehen, nach draußen verschwunden und hatte sich die Busfahrpläne angeschaut, die zurück nach Domino City führten.

Schnell hatte sie sich die Daten ins Handy notiert und war wieder zurück gelaufen. Sie hatte noch Zeit gehabt bis der nächste Bus fuhr und konnte sich in Ruhe fertig machen. Doch mit der Ruhe war es vorbei, sobald sie wieder das Haus betreten hatte.

Ihre Schwester Sanya war die Treppe herunter getrampelt und ihre Eltern waren aufbruchsbereit gewesen.

Ihre Mutter hatte ihr nur knapp zugerufen, dass sie sich um Sanya und Shun kümmern sollte, wie die anderen Tage auch. Doch diesmal hatte Naomie die Gelegenheit beim Schopf gegriffen und gesagt, dass sie in einer Stunde Heim fahren würde, da ihr Chef sie bräuchte.

Es war zwar leicht geflunkert, aber sie musste da raus, ehe es Krieg geben würde. Besonders zwischen ihrer Schwester und ihr, begann es schon seit Tagen zu knistern und Naomie wusste, bald würde einer von ihnen beiden die Bombe hoch gehen lassen.

Ihre Eltern waren zwar wenig Begeistert gewesen, dass sie abfuhr, aber hatten es immerhin verstanden, dass sie arbeiten musste.

Ihr Vater hatte sie angeboten Heim zu fahren, doch sie brauchte den Abstand, auch wenn sie dadurch fast zwei Stunden mit dem Bus fahren musste.

Das war es ihr wert.

Leider gab es keinen Bäcker oder dergleichen, so dass sie noch immer Hunger hatte. Aber zumindest fand sie in dem Bus etwas Ruhe.

Sie zog den Jackenkragen höher und kuschelte sich soweit es ging in ihre Winterjacke ein. Leider lag ihr roter Schal irgendwo herum. Naomie hatte schon überall nach ihm gesucht, aber vermutlich lag er auf Arbeit oder doch noch in ihrer Wohnung.

Seufzend rutschte sie tiefer in den Sitz und ließ ihre Gedanken wieder zu dem Traum schweifen, den sie in der Nacht gehabt hatte, ehe sie brutal heraus gerissen worden war.

Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie an die Wärme dachte, die sie dort gespürt hatte. Fast konnte sie die starken Arme spüren, die sie fest gedrückt hatten. Sie fühlte sich fast an den Morgen mit Seto erinnert und ihr Herz klopfte bei dem Gedanken etwas schneller in ihrer Brust.

Es war ein Gefühl, was sie schon lange nicht mehr hatte und bei dem sie gar nicht gewusst hatte, wie sehr sie es vermisste.

Sie versank immer mehr in den Gedanken und Gefühlen, die so gut taten und ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gaben.

Die Geräusche des Busses kamen nur noch langsam zu ihr heran. Nur hin und wieder fröstelte sie, wenn die Tür aufging und kalte Winterluft herein strömte.

Es würde nicht mehr lange dauern, dann war sie endlich zu Hause. Wieder seufzte sie auf bei dem Gedanken, als eine Berührung an der Schulter sie wach werden ließ.

Verschlafen blinzelte Naomie und richtete sich im Sitz auf.

War sie schon da?

Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass sie noch nicht mal Domino erreicht hatten und irgendwo in der Pampa war. Auch die Anzeigentafel im Bus kündigte noch längst nicht die Endhaltestelle an.

Müde sah Naomie sich um und entdeckte vor sich einen Jungen mit einer Stachelfrisur, der sie unsicher ansah.

Hatte er sie geweckt? Was wollte er denn? Sah er nicht, dass sie total müde und fertig war?

„Hei…“, begann er leise und lächelte schwach, „Nicht erschrecken, aber Sie haben schon eine ganze Weile geschlafen und ich wollte nur sicher gehen, dass Sie Ihre Haltestelle nicht verpassen.“

„Oh danke“, nuschelte Naomie und rieb sich über die Augen. Ein herzhaftes Gähnen verließ ihren Mund. Irgendwoher kam ihr der Junge bekannt vor. Sie konnte ihn nur nicht zuordnen. Fieberhaft überlegte sie. „Aber das wäre nicht nötig gewesen. Ich muss erst ganz am Ende raus.“

„Da scheinen wir wohl den selben Weg zu haben“, sagte der Junge freundlich und seine Kleidung raschelte, als er sich ihr gegenüber auf den freien Sitz setzte.

Naomie rückte mit ihrem Koffer etwas, damit er Platz hatte und sich nicht eingeengt fühlte.

„Sag mal, warst du…“, wollte sie ansetzen, wurde aber von dem Klingeln seines Handys unterbrochen.

„Kaiba“, seufzte er leise und dennoch konnte sie es hören.

„Du kennst Seto Kaiba?“, entfuhr es Naomie erstaunt und sie sah ihn aus überraschten Augen an.

„Ja, mehr oder weniger“, antwortet er und schob sein Telefon wieder in die Hosentasche zurück, „Und kennen Sie ihn?“

Naomie legte den Kopf leicht schief und sah nach draußen, wie die verschneite Landschaft an ihnen vorbei zog.

„Etwas“, sagte sie gedehnt langsam und wog sorgfältig ihre Worte ab. Immerhin kannte sie ihn nicht und hatte keine Lust irgendeinem Fremden auf die Nase zu binden, woher sie Seto Kaiba kannte. Aber obwohl sie ihn nicht zuordnen konnte, kam der Junge mit der wilden Frisur ihr bekannt vor. „Also mehr oder weniger…Mokuba war bei dem Weihnachtsmarktstand, wo ich arbeite und da war er auch dabei.“

Naomie glaubte sich zu erinnern, woher sie den Junge kannte.

„Sagen Sie, waren Sie auch auf dem Markt? Zusammen mit Joey Wheeler?“ Nachdenklich zog sie die Stirn in Falten. Wenn sie nicht alles täuschte, war er am selben Tag da gewesen, wie Mokuba.

Naomie musterte ihn.

Seine Hand ging zu der Kette mit dem großen Pyramidenanhänger.

„Ja, war ich. Joey arbeitet jetzt dort bei einem Fotostand“, erzählte der Junge.

„Ich weiß.“ Naomie grinste ihn an. „Ich arbeite für den Laden, dem der Stand gehört. Ich glaube, wir kennen uns auch.“

„Ja?“, fragte der Junge verwirrt.

Naomie nickte und flog kurz vom Sitz hoch, als der Busfahrer einen Hügel zu schnell überfuhr. „Ja, als Joey sich bei uns vorgestellt hat. Ich hab das Gruppenbild von ihm und seinen Freunden gemacht.“

Die Augen des Jungen weiteten sich überrascht. „Ah, Sie sind die Fotografin gewesen! Naomie, richtig?“

„Genau, die bin ich. Scheinbar hat Joey von mir erzählt.“ Sie musste bei der Vorstellung grinsen, was er wohl seinen Freunden erzählt hatte. Sicherlich, dass sie die Belegschaft mit Keksen versorgte und er sich schon die ein oder andere Extrapackung gesichert hatte.

„Und du bist?“, fragte Naomie neugierig.

Der Junge schaute sich kurz um, ob jemand in der Nähe war, ehe er die Stimme senkte und sich etwas zu ihr nach vorne beugte.

„Yugi Muto“, flüsterte er und sie hatte Mühe ihn über den Lärm des Motors zu verstehen.

Naomie streckte ihm die Hand freundschaftlich entgegen.

„Freut mich“, sagte sie und fragte sich dabei, wieso er die Stimme senkte bei seinem Namen. War er berühmt sie Seto oder wieso tat er es? „Was dagegen, wenn wir uns duzen?“

Yugi nahm ihre Hand entgegen und drückte sie kurz. Im selben Moment gab ihr Magen ein verräterisches Knurren von sich.

„Tut mir leid“, murmelte Naomie verlegen und merkte, wie eine leichte Röte in ihr Gesicht stieg. Ein Gähnen entfuhr ihr. Sie musste wirklich dringend nach Hause und Schlaf und Essen nach holen.

„Das erinnert mich an Joey“, lachte Yugi leise.

„Stimmt. Er kann wirklich viel essen“, sagte sie und konnte das nächste Knurren richtig spüren. Zum Glück war es diesmal aber nicht so laut, dass ihr gegenüber es hören konnte.

Dennoch begann Yugi in seinem Rucksack zu wühlen und hielt ihr einen Müsliriegel hin.

„Es ist nicht viel, aber es hilft vielleicht“, sagte er unsicher.

„Danke“, sagte sie erleichtert und wickelte das Papier von der Süßigkeit ab. Naomie nahm einen Bissen und kaute genüsslich auf der klebrigen Massen herum. Nachdem sie die letzten Tage nichts zwischen die Zähen bekommen hatte, tat dieser Riegel einfach gut und bis sie zu Hause war, musste es reichen. Auch wenn ihr Blutzucker im Keller war und sie eigentlich eine richtige Mahlzeit bräuchte.

Noch nie hatte so etwas zuckriges, so gut geschmeckt und Naomie verkniff sich ein wohliges aufstöhnen.

Immerhin wollte sie nicht, dass Yugi einen falschen Eindruck von ihr bekam. Es reichte, wenn Seto den von ihr hatte.

Naomie biss ein weiteres Stück ab und sah sich die verschneiten Bäume an. Ob Kaiba auch nur eine Sekunde daran dachte, was hätte sein können? Bereute er es vielleicht oder war er mit seinen Gedanken schon längst woanders?

Wenn sie aber an die vielen SMS und Anrufe dachte, schien er weniger woanders zu sein.

Naomie fragte sich, wie es gewesen wäre, wenn sie das Gespräch wirklich noch geführt hätten oder wenn sie nicht eingeschlafen wäre. Hätte sie mit ihm geschlafen?

Mit Sicherheit.

In dem Moment hatte sie ihn gewollt, war bereit gewesen sich fallen zu lassen und sich den lustvollen Gefühlen hin zu geben. Dabei war sie nicht so drauf, dass sie einfach so mit jemanden ins Bett sprang und wild herum knutschte. Doch schon am Nachmittag hatte sie diese Spannung gespürt, der sie fast zu einem Kuss geführt hätte, wären sie nicht unterbrochen worden.

Ob er sie wegen ihrem Geschenk hatte küssen wollen? War das seine Art gewesen zu sagen, wie sehr es ihn berührt hatte?

Naomie schluckte bei dem Gedanken.

Dabei hatte das gar keine große Bedeutung. Sie hatte nur nach etwas gesucht, was nicht mit Geld zu kaufen war. Immerhin besaß er genug, was den Wert von einigen Geschenken mindern würde. Aftershaves und dergleichen waren auch zu einfallslos. Naomie hatte nur etwas einfallsreiches finden wollen.

Sie dankte der Homepage, die sie auf den Gedanken gebracht hatte, immer noch im stillen für diesen Einfall.

Immerhin waren konservierte Schneeflocken wirklich etwas einzigartiges und besonderes. Kaiba konnte ihr auch nicht erzählen, dass er sich sowas mit Geld kaufen konnte. Natürlich könnte er sich durch seine Leute jederzeit sowas im Winter erstellen lassen, aber war es dann noch etwas Besonderes, wenn man dafür bezahlte?

Bestimmt nicht und das musste auch er einsehen.

Zudem erinnerte sie die kalten Flocken ein wenig an Seto.

Joey hatte ihr gesagt, dass er ein Eisklotz sei und Naomie konnte ihm nur bedingt zustimmen. Seto wirkte nach außen hin wirklich kühl, aber wenn sie an die Nacht und den Morgen dachte, war das alles andere als Kalt.

Im Gegenteil, es war so warm gewesen, dass sie es fast wieder spüren konnte, wenn sie nur daran dachte.

Naomie knüllte das Müslipapier zusammen und stopfte es in ihre Tasche. Ihr Magen brummte unruhig und forderte mehr, aber es gab nichts mehr.

Yugi sah aus dem Fenster und sie tat es ihm gleich. Immerhin konnte sie ihren Gedanken nach hängen.

Naomie spürte die Wärme der Heizung an ihrem Bein und schloss kurz die Augen.

Wenn Kaiba sie an Eis und Schnee erinnerte, bedeutete das nicht auch, dass er genauso leicht bei Wärme dahin schmolz? Hieß es nicht auch, dass er seinen Zustand ändern konnte?

Der Gedanke war ein wenig befremdlich, aber er kam ihr nicht zum ersten Mal. Schon als sie die Fotos von den Seifenblasen gemacht hatte, hatte sie dabei an ihn denken müssen.

Diese kalte, dünne Membran der Blasen war so empfindlich, dass sie bei der kleinsten Berührung brüchig wurden. Ob es bei Kaiba ähnlich war?

War seine kalte Schale auch so empfindlich?

Die Vorstellung, dass sie irgendwelche Dinge bei ihm auslöste, war merkwürdig und Naomie wusste nicht, ob es ihr gefiel. Lediglich ihr Herz pochte bei dem Gedanken, dass er grade bei ihr seine kalte Schale ablegte.

Ob das Geschenk wirklich so eine gute Idee gewesen war? Immerhin schenkte man sowas nicht irgendwem.

„Möchtest du noch einen?“

„Wie?“, fragte Naomie überrascht und sah wieder Yugi an, der ihr einen weiteren Müsliriegel hin hielt.

„Ich fragte, ob du noch einen willst. Dein Magen hat wieder geknurrt.“

„Gern, danke“, sagte sie und wickelte auch diesen Riegel schnell aus, „Ich hab irgendwie die letzten Tage kaum was gegessen. Ich bin froh, wenn ich zu Hause bin und etwas richtiges zwischen die Zähne kriege.“

Naomie schob sich eine Strähne unter die Mütze, die ihre ungepflegten Haare verbargen. Sie nahm einen weiteren Bissen.

„Das klingt nicht gut, aber wir sind bald in Domino.“

Naomie nickte. „Gott sei Dank. Ich will nur noch ins Bett, ein Bad und was essen.“

„Du hast wohl viel erlebt die Tage, was?“

„Familienkriese der obersten Güte“, nuschelte sie zwischen den Bissen. Leider war der Riegel auch schnell verputzt und das Papier wanderte ebenfalls in ihre Tasche.

Wenigstens hatten die Riegel genug Zucker, damit ihr Kreislauf in Schwung kam. Der Busfahrer bremste und sie rutschte auf dem Sitz etwas nach vorne.

Schnell setzte sie sich wieder richtig hin, als er anfuhr, ehe sie beim nächsten Mal auf Yugi fliegen würde.

„Das tut mir leid. Dann solltest du dich lieber nachher ausruhen“, sagte ihr Gegenüber.

Naomie nickte.

„Um ehrlich zu sein, ich hab die Flucht ergriffen, weil ich nicht mehr konnte“, seufzte sie und bekam ein schlechtes Gewissen. Allein bei dem Gedanken brannten ihre Augen, doch sie hatte nicht vor in der Öffentlichkeit los zu weinen. Um sich schnell abzulenken, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Seitdem sie Seto zurück geschrieben hatte, war es ruhig und er hatte auch nicht mehr angerufen oder ihr geschrieben. „Außerdem scheint Kaiba etwas mit mir besprechen zu wollen.“

„Kaiba hat dich angerufen?“, fragte Yugi überrascht und Naomie rutschte wieder ein wenig nach vorne im Sitz. Wo hatte der Busfahrer nur Fahren gelernt?

„Ja, nicht nur einmal.“

„Dann scheint es wirklich dringend zu sein.“

Naomie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Er sagt nur, es sei wichtig.“

Nachdenklich rieb sich Yugi über das Kinn. „Das sieht ihm nicht besonders ähnlich. Hast du denn geschäftlich mit ihm zu tun?“

Auf die Frage wusste sie auch keine Antwort. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bisher nur privat mit ihm zu tun gehabt. Nachdenklich verzog sie das Gesicht.

„Naja….eher weniger. Eigentlich bisher nur mit Mokuba“, langsam sagt, „Bei Kaiba selbst hatte ich dann nur kurz zu tun.“

„Habt ihr denn privaten Kontakt?“

Yugi konnte echt gute Fragen stellen. Konnte man diese vielen SMS und Anrufe privat nennen? Den Kuss in jedem Fall, aber das würde sie ihm nicht auf die Nase binden.

„Eher weniger“, sagte sie gedehnt, „Wir laufen uns einfach nur ständig über den Weg.“

„Oh dann hat Kaiba wohl irgendwas an dir gefressen. Er gibt sich nämlich sonst keine Mühe, wenn er nicht grade ein Duell haben will.“

Naomie schluckte und sah kurz aus dem Fenster. Der Busfahrer hielt erneut mit einem Ruck und wartete an der Ampel bis der Autofahrer es endlich geschafft hatte auf der glatten Straße vorwärts zu kommen.

Ein kurzes Lachen entkam ihrer Kehle.

„Soll mir das dann was sagen, dass ich fast zwanzigverpasste Anrufe und knapp dreißig SMS bekommen habe?“ Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. „Oder dass er mir neulich geholfen hat?“

Yugis Augen weiteten sich und Naomie fragte sich, ob sie nicht zu viel erzählt hatte.

„Das ist wirklich verwunderlich. Normalerweise meldet sich Kaiba nicht sehr oft bei Menschen. Erst recht nicht mit so vielen Anrufen.“

Naomie schluckte und ihr Herz begann zu klopfen. Wieso machte er bei ihr so eine Ausnahme. War das wirklich nur wegen dieser Nacht gewesen?

Ihr Herz schlug kräftiger in ihrer Brust und pumpte das Blut mit einem affenzahn durch ihre Venen.

„Ich glaube, Kaiba würde vielleicht drei Nachrichten hinterlassen und dann war es das.“

„Das…gibt mir jetzt doch zu denken“, sagte sie leise und vergrub sich halb im Kragen ihrer Jacke.

Naomie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss.

„Du kannst ihn ja anrufen, sobald du zu Hause bist. Dann wird sich das schon klären“, sagte Yugi optimistisch und grinste etwas.

„Was denkst du denn, wieso er so oft angerufen hat?“ Scheinbar schien der Junge Kaiba sogar recht gut zu kennen, wenn er ihn einschätzen konnte. Ob die zwei sich gut kannten?

„Ich bin mir nicht sicher. Aber irgendwas muss ihn Sorgen machen, sonst würde er dich nicht so oft anrufen.“

Bei den Worten weiteten sich kurz ihre Augen. Machte sich Seto wirklich solche Gedanken um sie, weil sie abgehauen war, dass er sie deshalb so oft angerufen hatte? Aus seinen SMS hatte sie ja schon ein wenig Sorge lesen können, aber nicht so ernst genommen. Immerhin hatte er eher betont, dass er etwas wichtiges mit ihr besprechen musste.

Das so vor Augen geführt zu bekommen, dass er sich scheinbar riesige Sorgen machte, war dann doch etwas anderes.

Naomie schluckte und wurde wieder im Sitz nach vorn gerissen.

Wenn der Busfahrer so weiter machte, würde ihr Mageninhalt bald den Sitz verzieren. Mit einem Blick auf die Anzeige stellte sie fest, dass es noch fast zehn Stationen waren. Dieses Stop and Go bekam ihr überhaupt nicht.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Yugi besorgt, „Du bist mit einem Mal so blass.“

Naomie nickte schwach.

„Der Fahrstil des Busfahrers bekommt mir grade nicht“, nuschelte sie und legte die Hand leicht an die Lippen, als könnte es das flaue Gefühl vertreiben.

Wieder sah sie zur Anzeige und versuchte sich selbst gut zuzureden, dass dieses Schaukeln gleich vorbei sein würde. Denn statt besser wurde es schlimmer.

Der Busfahrer fluchte vorne und drückte auf die Hupe, dann auf das Gaspedal, so dass sie einen weiteren Satz Richtung Yugi machte.

Naomie drückte den Knopf zum Halten und erhob sich wankend in ihrem Sitz.

„Musst du nicht auch am Ende erst raus?“, fragte Yugi überrascht, als sie ihren kleinen Rollkoffer und die Tasche nahm.

„Doch, aber ich kann nicht mehr. Mir ist schlecht“, brachte sie raus und ging zur Tür. Mit festen Griff hielt sie sich an der Haltestange fest und wurde gegen die Sicherheitsscheibe gedrückt, als der Bus zum Stehen kam.

Schnell ging sie hinaus und atmete die kalte Luft ein, die ihr ins Gesicht schlug. Sofort war die warme Luft der Heizung verschwunden und kroch ihr unter die Hosenbeine.

„Geht’s wieder?“

Naomie wirbelte herum und sah Yugi hinter sich.

„Wieso bist du nicht im Bus geblieben?“, fragte sie überrascht und richtete ihre Mütze.

„Ich hab gedacht, es ist besser, wenn ich mit dir mit gehe.“ Er zuckte mit den Schultern.

Sie nickte und setzte sich in das Wartehäuschen des Bushaltestelle. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre eine dicke Schicht Zuckerwatte darin gelandet. Jeder Gedanke fühlte sich zäh und quälend an.

Tief atmete sie die kalte Luft ein und rieb sich über die Stirn.

„Ist es noch weit bis zu dir?“, fragte Yugi und berührte vorsichtig ihre Schulter.

„Etwas“, murmelte sie, „Von hier etwa vierzig Minuten zu Fuß.“

Der Junge gab ein nachdenkliches Brummen von sich.

„Es geht gleich wieder“, brachte sie raus und sah die Straße entlang. Naomie erhob sich von der Bank und hängte sich ihre Tasche wieder um. Der Spaziergang würde gut tun und vielleicht auch die Übelkeit vertreiben. Auch, wenn der nächste Bus gleich kommen würde, war das grade keine gute Idee mit dem mitzufahren.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite öffneten sich die Schiebetüren des Luxushotels. Das bellende Lachen eines Mannes drang bis zu ihr herüber und ließ sie aufsehen. Sie zuckte zusammen und senkte schnell wieder den Blick, ehe Kaiba sie entdecken würde.

Das Schicksal schien irgendwas gegen sie zu haben, dass sie ausgerechnet ihm jetzt begegnen musste!

Vorsichtig schielte sie herüber und sah, wie er dem Mann, der gerade so laut gelacht hatte, ihm die Hand schüttelte und sich verabschiedete.

Ganz geschäftsmäßig trug er einen langen Mantel und den Aktenkoffer bei sich. Seine Meine war ausdruckslos und Naomie konnte nicht sagen, was in ihm vorging und ob er nicht sogar sauer war.

Kaiba wandte sich ab und stieg in den schwarzen Bentley, der vor dem Hotel hielt.

Erleichtert atmete sie auf und ihr Herz begann wieder zu schlagen.

So wie sie gerade aussah, wollte Naomie ihm in keinem Fall begegnen oder sich mit ihm auseinander setzen müssen. Erst nach einer gesunden Portion Schlaf, Essen und einer Dusche würde sie sich darum Gedanken machen, wie sie das Gespräch mit ihm anstellte.

Naomie zog die Mütze etwas tiefer in ihr Gesicht, als der Wagen in einem großen Bogen wendete und an ihr vorbei fuhr.

Für einen Moment glaubte sie, dass Kaiba sie beide entdeckt hatte, doch der Wagen fuhr bis zur Ampel weiter und hielt dort.

Naomie sah kurz auf die Heckscheibe und hatte Mühe ihren Blick los zu reißen. Der Wagen fuhr an, als die Ampel auf Grün umschaltete und der Blinker wurde nach wenigen Metern gesetzt. Wieder hielt der Wagen und Naomie sah auf die Straße.

„Geht es?“, fragte Yugi besorgt und dachte scheinbar, dass sie nach unten schauten, weil ihre Übelkeit schlimmer geworden war.

Sie hörte die Autotür zuschlagen und Schritte knirschten im Schnee.

Ihr Herz schlug mit jedem näher kommenden Schritt schneller.

Wieso musste er jetzt herkommen? Konnte er nicht einfach weiter fahren? Sie sah doch absolut schrecklich aus, als dass man sie ernst nehmen konnte und er würde mit Sicherheit irgendeinen dämlichen Spruch ablassen.

Ihr Herz schlug inzwischen bis zum Hals. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er stehen blieb.

„Yugi“, sagte er mit kalter Stimme und Naomie zuckte dabei zusammen. So kalt hatte sie ihn noch nie gehört.

„Kaiba, ich habe keine Zeit für ein Duell!“, sagte ihr Sitznachbar mit entschlossener Stimme.

Vorsichtig sah Naomie auf und begegnete Kaibas blauen Augen. Kurz weiteten sich seine Pupillen und sein Blick heftete sich auf sie.

Naomie schluckte unter den prüfenden Augen.

„Na sieh mal einer an, Alice ist aus dem Wunderland zurück“, sagte er kühl und mit leicht spöttischer Stimme. Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie nicht aus den Augen.

Türchen 13 – Schöne Bescherung

Da saß sie auf der Bank der Bushaltestelle und sah ihn aus geröteten Augen an, als hätte sie die letzten Tage nur geweint. Die Augenringe waren dunkel und tief unter ihren Augen, die Haut blass und auch wenn er nur ein paar Strähnen ihrer Haare sehen konnte, wusste Seto, dass sie seit Tagen nicht gewaschen worden waren. Sie hingen einfach schlaff und kraftlos unter ihrer Mütze hervor.

Was war um Himmel willen passiert, dass sie aussah, wie ein Zombie aus einem seiner neuesten Horrogames, das er grade programmierte?

Seto schluckte und zog seinen Schal ein Stück höher.

Ihr Anblick war irgendwie erschreckend und die Frustration der letzten Tage über ihren Verbleib, wichen einer Welle von Sorge, die bis jetzt nur am Rande seines Bewusstseins getobt hatte.

In seiner Manteltasche umschloss er das dünne Glas ihres Geschenkes. Dieses kleine Glasstück hatte er die letzten Tage überall mit hin genommen. Es war inzwischen zur Gewohnheit geworden, es kurz zu umschließen, um sich zu beruhigen, wenn wieder die Gedanken an sie zu groß wurden und den ganzen Platz in seinem Kopf einnehmen wollten. Dieses kleine Geschenk war fast zu etwas Tröstendem geworden und was die Zeit, die quälend zäh und unmöglich langsam erschienen war, wieder schneller laufen ließ. Jede Sekunde, die er sich Gedanken gemacht hatte, ob mit ihr etwas passiert war, war langsam verstrichen und die Tage hatten sich an manchen Stellen zäh wie Gummi dahin gezogen.

„Hallo“, sagte sie leise und senkte wieder den Blick.

Kaiba sah nur kurz zu Yugi.

Das Duell, was er eigentlich von ihm haben wollte, war uninteressant geworden. Stattdessen fixierte er Naomie mit seinen blauen Augen, damit sie nicht schon wieder vor ihm davon lief.

Es war ein ausgesprochener Glücksfall, dass er sie hier traf. Dabei war er grade auf dem Weg in die Villa gewesen. Wenn er nicht im Rückspiegel seines Fahrers den bunten Haarschopfs seines Rivalen gesehen hätte, wäre er nicht auf Kuzuki gestoßen. Zum ersten Mal hatte die bunte Haarpracht des Kleinen Sinn.

„Was ist, Kaiba?“, fragte Yugi und zwang ihn, dass er sich ihm zuwandte, „Ich hab keine Zeit für ein Duell, wenn du eines willst.“

Hatte er was verpasst oder seit wann besaß der abgebrochene Zwerg so viel Entschlossenheit in der Stimme?

Kaiba schüttelte den Kopf.

„Vergiss es, Yugi, ich bin nicht mehr an einem Duell interessiert. Denn da die kleine Alice endlich wieder da ist, habe ich etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen.“ Er wusste, dass seine Stimme eiskalt war und sah genau, wie sie schuldbewusst zusammen zuckte. Das geschah nur zu recht. Was haute sie auch einfach so ab und meldete sich die ganze Zeit nicht? War es denn so schwer gewesen kurz zu schreiben, dass alles ok war und sie sich melden würde? Er hätte sich unzählige Anrufe, SMS und Gedanken sparen können, wenn sie ihm das direkt geschrieben hätte und nicht erst nach vier Tagen! Und jetzt saß sie hier seelenruhig wie ein Zombie mit seinem Rivalen, als wären sie beste Freunde!

War es da nicht verständlich, dass er sauer auf sie war?

„Kaiba, was willst du von ihr? Siehst du nicht, dass es ihr mies geht?“, fuhr ihn Yugi an und legte schützend einen Arm um ihren Rücken, als würde er sie damit vor dem bösen Wolf beschützen können.

Was dachte sein Rivale eigentlich? Dass er blind war und nicht sah, dass sie aussah wie eine wandelnde Leiche?

Er rümpfte die Nase etwas und ignorierte den Zwerg.

„Naomie, kommst du bitte mit?“, sagte er betont ruhig und es kostete ihm alle Mühe nicht eiskalt zu klingen, „Es dauert nicht lange. Aber es ist wichtig.“

„Kaiba!“, brachte Yugi empört raus und er sah das Atemwölkchen des Kleinen.

„Halt du dich da raus, Yugi“, fuhr er ihn mit kalter Stimme an, „Das ist eine Sache zwischen Naomie und mir.“

„Aber das hat doch sicherlich noch einen Tag Zeit, oder?“, widersprach der Kleine, „Nicht mal du, kannst du sie dazu zwingen sich jetzt mit dir zu unterhalten oder auseinander zu setzen oder was auch immer du vor hast! Sie gehört ins Bett!“

„Schon gut, es geht schon“, mischte sich Naomie ein und hob abwehrend die Hand zu Muto, ehe er etwas erwidern konnte. Sie erhob sich von dem Sitz etwas schwerfällig und sah ihm direkt in die Augen.

Seto musst sich eingestehen, dass es ihm schwer fiel ihr in die geröteten Augen zu sehen. Es wirkte, als würden sie die ganze Zeit brennen und sie hatte Mühe, sie auf zu halten. Hatte sie die letzten Tage geweint oder nicht geschlafen?

Seto kannte diesen Anblick von sich nur zu gut, wenn er mal wieder durcharbeitete, aber an ihr wirkte es erschreckend.

Wo war ihre Lebensfreude und ihr Lachen hin mit dem sie ihn sonst bedachte und begrüßte?

Offenbar musste er einiges mit ihr reden, um an die Antworten zu kommen.

Leise seufzte Seto.

„Dann nimm deinen Koffer und wir fahren ins Büro“, sagte er bestimmt und wandte sich zum Gehen um.

„Kaiba, das ist nicht dein Ernst, oder?“, fuhr Muto ihn an.

„Yugi, ich habe nicht um deine Meinung gebeten und ich glaube, da kommt dein Bus“, sagte er über die Schulter hinweg mit kaltem Tonfall, der selbst dem Schnee von der Kälte Konkurrenz machte, „Einen schönen Tag noch!“

Seto griff zu Naomies Handgelenk. Ihre Haut fühlte sich klamm und kalt unter seinen Fingern an. Sie wirkte so irgendwie zerbrechlich, weshalb er seinen Griff auch etwas lockerte.

„Warte!“, sagte sie etwas atemlos und er hielt inne. Naomie entzog ihm ihr Handgelenk. „Ich würde wirklich gern erstmal nach Hause und mich etwas ausruhen, bitte. Die letzten Tage waren…“ Kurz hielt sie inne. „Sie waren einfach scheiße und ich möchte nur ins Bett.“

In ihrem Blick lag etwas Flehentliches und ein lautes Knurren verließ ihren Magen.

„Und etwas Essen“, fügte sie leise hinzu und senkte beschämt den Blick. Röte stieg ihr dabei ins Gesicht und färbte ihre blassen Wangen mit etwas Farbe.

Seto zog eine Augenbraue nach oben und spürte wieder die Welle von Sorge, die ihn zu überschwemmen drohte bei ihrem Anblick. Er musste das dringende Bedürfnis unterdrücken sie in den Arm zu nehmen und in eine Decke zu packen. Der einzige Mensch, der dieses Bedürfnis bei ihm auszulösen hatte, war Mokuba!

„Sag mir nicht, dass du nichts gegessen hast“, sagte er seufzend und fragte sich ernsthaft, wo sie gewesen war, dass es keine Nahrung gegeben hatte.

Naomie schwieg und ihr Magen gab stattdessen die Antwort.

„Du willst mir nicht weiß machen, dass du seit vier Tagen nichts gegessen hast, oder?“ Seine Stimme klang schärfer, fast schon vorwurfsvoll.

„Nein, natürlich nicht!“, gab sie zurück und blickte auf, „Ich habe natürlich was gegessen.“

„Was und wann?“

„Eben im Bus zum Beispiel zwei Müsliriegel.“

„Ich meine, wann hast du zuletzt was richtig Warmes gegessen?“ Er rieb sich kurz über die Schläfe. Wusste sie nicht, wie gefährlich es war nichts zu essen? Nicht mal er, verzichtete solange auf die Zunahme von Nahrung.

Ohne die Nährstoffe wurde der Körper schlaff und müde. Die Stimmung sank ebenfalls in den Keller und die Konzentration ließ nach.

Sah sie deshalb so fertig aus, weil sie nichts gegessen hatte? Wenn ja, wurde es aber höchste Zeit.

Seto fixierte sie wieder und bedachte sie mit einem Blick, den er sonst nur Mokuba zukommen ließ, wenn dieser etwas Falsch gemacht hatte.

„Musst du wirklich überlegen, wann deine letzte warme Mahlzeit war?“, fragte er ruhig und dennoch schwang etwas Vorwurfsvolles mit in der Stimme. Missbilligend schüttelte Seto den Kopf und griff wieder nach ihrer Hand. Ein unzufriedenes Brummen verließ seine Kehle. „Komm mit!“

Seine Stimme ließ keine Widerworte zu und er achtete auch nicht auf Yugis Protest, sondern zog sie an der Hand zum Wagen. Er konnte spüren, wie sie zitterte.

Offenbar musste er wieder einmal ihren Retter in der Not spielen und diesmal sogar aufpäppeln, ehe sie überhaupt wieder aufnahmefähig war.

Der Chauffeur stieg aus und kam ihnen entgegen. Mit knappen Worten wies er ihn an Naomies Taschen zu nehmen und zu verstauen, ehe er sie anwies einzusteigen.

Naomie zögerte, tat aber was er sagte, als sie seinen strengen Blick bemerkte. Nur kurze Zeit später stieg er ebenfalls ein und der Wagen fuhr los.

Es war Kaiba egal, dass er Yugi grade im kalten Schnee stehen ließ, aber das hier war eine Angelegenheit zwischen ihnen beiden und er konnte so ein emotionales Gefasel von dem Zwerg nicht gebrauchen.

Aus dem Augenwinkel sah er zu Naomie.

Sie saß zurückgelehnt im Sitz, doch sie wirkte alles andere als entspannt dabei. Stur sah sie aus dem Fenster und mied es ihn anzusehen oder auch nur ein Wort an ihn zu richten. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, so angespannt umklammerte sie ihre eigenen Hände.

Seto sah ebenfalls kurz nach draußen und drückte den Knopf, der die Trennscheine hoch fahren ließ, damit sie ungestört waren. Naomie schenkte dem nur kurz Aufmerksamkeit und sah wieder nach draußen.

Fieberhaft überlegte er, wie er mit ihr reden konnte, doch wenn Seto sie so ansah, fragte er sich, ob sie nicht jeden Moment in Tränen ausbrach. In solchen Momenten fragte er sich, wie Mokuba es schaffte mit den Leuten in solchen Augenblicken zu reden. Er schien damit keine Probleme zu haben.

Die Stille war selbst für ihn bedrückend und er wollte lieber nicht wissen, wie es für Kuzuki sein musste. Sicherlich ein Spießrutenlauf. Dabei hatte er nicht vor zu beißen oder über sie herzufallen.

„Willst du mir vielleicht sagen, wo du gewesen bist?“, sagte er nach einer Weile und schaute zu ihr herüber. Seine Stimme war ruhig und er versuchte nicht allzu angepisst zu klingen.

Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen.

Leise seufzte er. Wieso musste sie es ihm so schwer machen?

Er hatte es immerhin versucht. Aber wenn sie ihm nicht antworten wollte, dann sollte sie eben schmollen. Früher oder später würde sie mit ihm reden müssen.

Kaiba wandte wieder den Blick nach draußen und plante schon einmal seine restlichen Termine um, damit er endlich die Arbeit mit ihr abklären konnte. Kurz warf er einen Blick auf die Uhr.

Bald würde Mokuba von der Schule kommen. Wenigstens würde er sich freuen, dass er den restlichen Tag zu Hause sein würde.

„Kannst du mich bitte zu Hause absetzen?“, fragte sie leise und ihre Stimme klang kratzig und belegt.

„Nein, du kommst mit zu mir in die Villa. Dort kannst du dich ausruhen und wir können die Dinge besprechen. Ich will dir nicht noch einmal hinterher rennen müssen.“ Er klang wie immer bestimmt und sah, wie sie kurzzeitig die Hände zu Fäusten ballte. Hatte er da einen Wunden Punkt erwischt?

Kurz überlegte er, ob nicht vielleicht Mokuba mit ihr reden sollte. Vielleicht bekam sein kleiner Bruder mehr aus ihr heraus, doch wenn es seinetwegen und dem Kuss war, wollte er liebet nicht, dass der Kleine davon erfuhr. Das musste er mit seinen jungen Jahren noch nicht wissen.

Ihr Magen knurrte erneut und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Wieder schüttelte Seto den Kopf und konzentrierte sich auf die Häuser, die an ihm vorbei zogen.

„Willst du mir wenigstens sagen, wieso du mir nicht eher geantwortet hast?“, fragte er ruhig und die Gegend veränderte sich langsam. Die Hochhäuser und Wohnblocks wichen großen Vorgärten und Mauern hinter denen die großen Häuser und Villen lagen.

„Ich hatte kaum Empfang“, war ihre leise Antwort und mehr bekam er auch nicht zu hören.

Wie sollte das nur weiter gehen? Wie sollte die Arbeit verlaufen, wenn sie sich so anschwiegen?

Leise stieß er einen Seufzer aus und der Wagen hielt mit einem kleinen Ruck in der Auffahrt. Der Chauffeur öffnete ihnen die Tür und Seto stieg aus und nahm ihr Handgelenk. Mit schnellen Schritten zog er sie wortlos mit zum Eingangsbereich. Kuzuki protestierte auch nicht.

Um ihre Taschen würde sich das Hauspersonal kümmern.

Grade als er die Tür öffnen wollte, wurde sie geöffnet und eine schwarzhaarige Frau kam ihm entgegen. Sie hielt kurz inne, ehe sie gegen ihn prallen konnte.

Seto schluckte und trat einen Schritt zur Seite. Was machte sie noch hier? Sie sollte schon längst verschwunden sein. Sein Herz sank eine Etage tiefer und pochte ungleichmäßig in seiner Brust. Die Wärme entwich seinen Händen und kalter Schweiß bildete sich.

Kurz sah er zu Naomie, die den Blick gesenkt hatte. Ob sie merkte, wie unangenehm ihm das war?

Ein passenderes Timing, dass sich die zwei begegneten, konnte es gar nicht geben. So viel dazu, dass die Schicksalsgöttin ihn liebte.

„Oh, da bist du ja!“, sagte sie und reckte das Kinn stolz nach vorne. Sie zog den Kragen ihres teuren Mantels höher und streifte sich die weißen Lederhandschuhe über die Hände. Ihre Haare fielen ihr in dicken Locken auf die Schulter. Seto wusste genau, dass sie unter dem Mantel ihr Abendkleid vom gestrigen Abend trug, was sie bei dem Empfang eines Geschäftspartners getragen hatte.

„Ich bin dann jetzt weg! Ich nehme wie immer die Limousine“, sagte sie und schaute kurz zu Naomie. Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. Ihre kleine Handtasche, die sie in den Händen hielt, schnappte zu. „Ich habe auch nichts im Schlafzimmer liegen lassen. Also keine Sorge, dass Spuren von mir da sind. Bis zum nächsten Mal.“

Ihre Stimme war ein Säuseln und sie warf ihm zum Abschied eine Kusshand zu, ehe sie die Stufen zur Auffahrt hinunter ging.

Seto räusperte sich und ging dann in die Villa. Er brummte ihr nur zum Abschied zu.

Wieso hatte sich dieses Weib noch immer hier aufgehalten? Sie hätte längst weg sein müssen. Wieder brummte er missmutig.

Kurz sah er zu Naomie, die nur zu Boden sah und teilnahmslos wirkte. Seine Halt hielt ihre noch immer fest, damit sie nicht abhauen konnte.

So wie sie wirkte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht in Tränen ausgebrochen war. Er fragte sich, wann es soweit sein würde.

Das Hausmädchen kam um die Ecke und begrüßte ihn. Schnell nahm sie ihnen die Mäntel ab, so dass er mit Naomie nach oben gehen konnte.

Aus dem Wohnzimmer kam Shadow angetrottet und bellte aufgeregt als er Naomie sah. Er lief um ihre Beine herum und bettelte darum, dass sie ihn ausgiebig zur Begrüßung streichelte.

Wieder konnte Seto darüber nur den Kopf schütteln. Sein grauer Labrador hatte wirklich einen Narren an sie gefressen. Wenn er da an Ayumi, die Frau eben, dachte, dann war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Shadow hatte ihr noch nie eines Blickes gewürdigt und wenn sie ihn streicheln wollte, knurrte er sie an.

Seto wartete.

Naomie beugte sich nur kurz zu Shadow und strich ihm flüchtig über den Kopf und Rücken. Auf ihren Lippen war nur ein knappes Lächeln zu sehen und sein Hund schaute sie aufmerksam an, als würde er spüren, dass etwas nicht stimmte.

Da war er nicht der Einzige, der das spüren konnte. Kurz stieß Kaiba den Atem aus und zielsicher zog er sie die Treppe hoch zu den Schlafzimmern.

Ein Luftzug streifte ihn kurz und er fröstelte. Die Tür zum Gästezimmer, in dem Kuzuki beim letzten Mal gewesen war, stand offen und er sah das Dienstmädchen das Bett frisch beziehen. Die Fenster waren in dem Raum sperrangelweit offen, so dass ein eisiger Wind herein kam. Die alten Bezüge lagen achtlos auf dem Boden und der Geruch von dem Vanilleparfüm von der Frau eben drang in seine Nase.

Kurz sah das Hausmädchen über die Schulter und Kaiba zog Naomie ein Zimmer weiter, öffnete die Tür und zog sie mit in das Zimmer.

Hier war alles wie immer.

Die Fenster waren geschlossen, das Bett frisch gemacht und die Heizung auf eine angenehme Temperatur gestellt. Auf dem Tisch stand eine frische Orange, gespickt mit Nelken, die ihren Duft verströmte. Ein Weihnachtsstern stand auf der Fensterbank und ließ das kühle Zimmer nicht ganz so kühl wirken.

Seto ließ ihre Hand los und ging ins Badezimmer, was direkt daneben lag.

„Setz dich ruhig“, sagte er mit monotoner Stimme und drehte die Heizung in dem gefliesten Raum etwas auf. Kurz sah er in das Zimmer und sah, wie Naomie etwas unschlüssig im Raum stand. Sie machte keine Anstalten sich zu setzen und hielt sich mit einer Hand am Ärmel ihres Pullovers fest.

Seufzend öffnete Seto den kleinen Schrank und schob ein paar Töpfchen und Flaschen zur Seite.

„Da ich leider nicht auf ein spontanes Stelldichein mit dir vorbereitet bin, muss ich improvisieren“, sagte er ruhig und nahm eines der kleinen Cremetöpfe aus dem Schrank.

„Wie kommst du darauf, dass wir ein Stelldichein haben?“, fragte sie zurück und er hörte deutlich den leicht panischen Unterton.

Grinsend kam er wieder ins Zimmer.

„Muss ich dich erst an neulich erinnern?“, fragte er neckisch und warf ihr die Creme zu. Geschickt fing sie das Töpfchen auf.

„Nein, danke, aber wenn du Sex willst, dann kannst du doch sicherlich die Tante von eben fragen. Die ist sicherlich gern bereit die Beine für dich breit zu machen.“

In ihren Augen konnte er kurz ein kleines Leuchten sehen. Scheinbar war unter diesem Häufchen Elend immer noch die schlagfertige Frau versteckt, die er kennen gelernt hatte. Dennoch war in ihrem Tonfall eine spur Zynismus zu hören, als würde sie sauer sein.

„Wenn du Ayumi meinst, mit ihr würde ich nicht mal in zehn Jahren das Bett teilen“, antwortete er trocken und machte einen Schritt auf Naomie zu.

„Ach nein? Sie machte mir jetzt nicht den Anschein, als wäre sie nicht bereit dazu und wozu sollte sie sonst da gewesen sein?“

„Sie ist keine Prostituierte, wenn du das denkst.“

„Was dann?“

„Nur eine Begleitdame, die mich zu einem geschäftlichen Empfang begleitet hat. Das nicht zum ersten Mal.“

„Ah verstehe, aber der Sex ist inklusive in der Buchung?“ Ihre Stimme triefte vor Zynismus. War sie etwa eifersüchtig oder gekränkt, weil Ayumi hier gewesen war?

„Ist das wichtig?“

Naomie zuckte mit den Schultern. Immerhin redete sie mit ihm, was mehr als im Auto war. Wenn auch nicht das, was er gerne wissen würde.

„Ayumi mag zwar eine Begleitdame sein, die auch Sex anbietet, aber wenn dich der Gedanke beunruhigen sollte, dann versichere ich dir, dass ich mit so ihr nie schlafen würde.“

„Wieso nicht?“

„Weil sie nicht der Typ ist mit dem ich das Bett teile.“ Sprachen sie grade allen ernstes über sein Sexualleben? Das konnte doch nicht wahr sein! Aber Naomie hatte ihm auch schon etwas von ihrem erzählt. Es war nur fair, wenn er ihr ebenso Antworten gab.

„Verstehe“ Ihre Stimme hatte an Festigkeit verloren und sie sah auf den Teppich.

„Aber wenn es dich beruhigt, es sind keine Gefühle im Spiel.“ Seine Stimme klang entschieden und fest. „Ayumi begleitet mich nur, nicht mehr und nicht weniger. Ich empfinde die Vorstellung mit ihr das Bett zu teilen nicht gerade angenehm und Sex sollte genau das für beide Parteien sein. Oder siehst du das anders?“

„Nein, schon gut“, murmelte sie leise.

„Es gibt für dich also keinen Grund eifersüchtig zu sein.“ Auf seinen Lippen zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab.

„Wie kommst du auf die Schnappsidee, dass ich eifersüchtig bin?“ Kuzuki sah ihn an, wie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines Autos blickte. Sie verschränkte schützend die Arme vor der Brust und hielt noch immer die Creme in der Hand. In ihren Augen trat ein scharfer Blick, der ihn durchbohrte.

Seto verzog den Mund etwas. Vielleicht bekam er sie ja so aus der Reserve, damit sie endlich den Mund aufmachte.

Er konnte in diesem Zustand schlecht sagen, was sie dachte oder fühlte. Wenn sie unsicher war, war es gut durch die geröteten Augen verborgen. Doch im Gegensatz zu Naomie konnte Seto seine Unsicherheit hinter seiner kühlen Fassade verbergen.

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, so dass nur noch wenig Abstand zwischen ihnen war.

„Deine Reaktion sagt alles“, antwortete er ruhig und legte bestimmt einen Arm um ihre Hüfte. Sein Herz pochte etwas, doch er ließ sich davon nicht beirren. Er musste sie aus der Reserve kriegen. Besitzergreifend zog er Naomie an sich und legte seinen zweiten Arm um sie. Seine Stimme senkte sich zu einem Raunen. „Aber keine Sorge, das Laken ist noch immer warm von dir.“

Seto musste zugeben, dass es etwas Beruhigendes hatte, ihren Körper so an sich gedrückt zu halten. Die Sorge ebbte langsam ab und machte einem anderen Gefühl platz, dass sein Adrenalin nach oben schießen ließ. Ob sie sein Herz schlagen hören konnte?

Das Gefühl währte jedoch nicht lange, denn Naomie begann sich in seinem Arm zu regen. Sie drückte ihn von sich und verpasste ihm einen kleinen Schubs, der ihn nach hinten taumeln ließ.

„Was denkst du eigentlich wer du bist?“, fuhr sie ihn an und stolperte rückwärts. Ihre Beine stießen gegen das Bett. „Ich hab kein Interesse an dir und es ist mir egal, ob du mit einer Hostess oder Luxusnutte im Bett bist!“

„Dafür, dass es dir so egal ist, regst du dich aber ziemlich auf“, erwiderte er gelassen und machte wieder Anstalten auf sie zuzugehen.

Naomie versuchte zurück zu weichen, stieß aber erneut gegen das Bett und landete rücklings auf der Matratze.

„Bilde dir nur nicht so viel auf den Kuss ein!“, knurrte sie wütend, „Das hatte keine Bedeutung! Ich war angetrunken, andernfalls wäre es dazu gar nicht gekommen!“

„Ach wirklich?“ Fragend und skeptisch zog Seto eine Augenbraue hoch und lehnte sich über sie, so dass er ihren Atem an seinem Gesicht spüren konnte. „Du scheinst es aber genossen zu haben.“

Naomie unter ihm schnaubte abfällig.

„Ist dir eigentlich klar, dass, wenn du nicht eingeschlafen wärst, wir miteinander hätten schlafen können?“ Fragend sah er sie an und außer ihrem traurigen Blick und dem krampfhaften Versuch nicht los zu weinen, konnte er nicht erkennen, was in ihr vor ging.

War der Gedanke für sie so abstoßend oder erschreckend?

Sie schien an ihre Grenzen zu kommen. Genau da, wo er sie haben wollte.

„Ist mir klar“, brachte sie stur hervor und wandte das Gesicht ab.

War das ein Eingeständnis, dass sie es auch gewollt hatte oder was sollte er daraus schlussfolgern?

„Wenn du dich abwendest, wird es nicht besser“, sagte er kalt und sie schnaubte nur zur Antwort, als wäre damit alles gesagt.

Seto schwieg und überlegte, was er noch sagen konnte. Sie durfte sich jetzt nicht wieder in ihr Schneckenhaus flüchten. Sie war grade dabei heraus zu kommen und vielleicht hatte er sogar eine Chance, dass sie sich alles von der Seele redete.

Er war kein Seelenklempner und stand bestimmt nicht darauf, wenn sich jemand bei ihm ausheulte, aber es war die einzige Möglichkeit, dass Naomie nicht wieder mit einem affenzahn weg lief und er sich tagelang Sorgen machen musste, ob ihr etwas zugestoßen war.

„Wieso bist du geflüchtet?“, fragte er mit ruhiger Stimme und legte eine Spur Kälte mit hinein. Sie sollte merken, dass er sauer war. „Kann es vielleicht sein, dass du immer noch deinen Ex liebst und zu ihm gelaufen bist? Warst du die letzten Tage bei ihm?“

Bei dem Gedanken konnte Kaiba nicht verhindern, dass sein Tonfall schärfer wurde und er diesmal eifersüchtig klang. Dabei war es absolut lächerlich.

Naomie war unter ihm zusammen gezuckt.

„Rede keinen Unsinn! Ich war nicht bei meinem Ex! Den hab ich seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen und auch nicht das Bedürfnis ihn zu sehen!“, fuhr sie ihn an und versuchte ihn von sich zu drücken. Doch diesmal war er darauf vorbereitet und griff nach ihren Händen. Er biss leicht in ihr Handgelenk und hauchte einen Kuss auf das kleine Muttermal. Mit den Fingern strich er über ihren Handrücken. Ihre Haut fühlte sich noch immer kalt an.

„So wie du aber reagierst, scheine ich doch ins Schwarze getroffen zu haben.“ Seine Stimme klang ruhig und überlegen.

„Das denkst aber auch nur du!“ Sie entzog ihm ihre Hand und hielt sie an sich gedrückt.

„Ich denke es nicht, ich weiß es“, raunte er ihr zu und klang dabei gefährlich, wie der böse Wolf, der gleich das Rotkäppchen fraß.

„Dann hast du null Ahnung!“ Wieso musste sie nur so stur sein?

„Verdrängen ist auch eine Art mit unangenehmen Wahrheiten umzugehen.“

„Ich verdränge rein gar nichts! Das mit Ryuichi ist seit Monaten vorbei und ich hatte seitdem nichts mehr mit ihm!“

„So sicher bin ich mir da nicht. Immerhin hast du nach der Trennung noch Sex mit ihm gehabt.“

Sie knurrte leise. „Wieso fragst du, wenn du mir eh nicht glaubst und mir auch noch das vorhältst?“

Da war es.

Ihre Stimme klang dumpfer und belegter. Einen wunden Punkt hatte er getroffen und scheinbar war es die Tatsache, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte und sich dafür schämte mit ihrem Ex geschlafen zu haben.

Seto wusste, dass es nicht ganz fair von ihm war, das Wissen, was sie ihm anvertraut hatte, so auszunutzen, aber sie ließ ihm keine Wahl.

Er beugte sich etwas tiefer zu ihr herunter. Unter seinen Lippen konnte er ihre warme Haut spüren. Ihr Puls ging schnell, als er einen hauchzarten Kuss auf ihren Hals setzte.

„Dann gibt es doch keinen Grund, wieso du weggelaufen bist“, murmelte er leise gegen ihr Ohr.

„Was weißt du schon!“, knurrte sie und entzog sich ihm.

„Du könntest mir auch einfach den Grund nennen“, sagte er trocken und versuchte ihr in die Augen zu sehen.

„Das geht dich nichts an“, murmelte sie leise und wich seinem Blick aus.

„Da du vor mir abgehauen bist, betrifft es mich und somit geht es mich auch was an“, sagte er leise in ihr Ohr und merkte, wie sie sich schüttelte.

„Hast du nichts zu tun? Musst du nicht Verträge oder sowas abschließen?“, versuchte sie das Thema zu wechseln und ihn los zu werden. Als ob das ziehen würde. So ein plumper Versuch hatte er nicht von ihr erwartet.

„Doch, aber das hier ist grade wichtiger.“ Spielerisch biss er ihr leicht ins Ohr, wieder streifte sein Atem ihre Haut. „Außerdem arbeitet mein Geld für mich, so dass es ich es mir durchaus leisten kann mal nicht den ganzen Tag in der Firma zu sein.“

„Hast du mich etwa so sehr vermisst und dir solche Sorgen gemacht?“ Diesmal war es an ihr neckisch und spielerisch zu klingen.

Seto hielt inne und richtete sich auf. Sein Blick traf ihren und er wusste nicht, was er antworten sollte. Sein Gewissen schwieg und war auch keine Hilfe die richtige Antwort zu finden. In ihren Augen konnte er nur Traurigkeit erkennen und fragte sich, woher es kam.

„Sollte ich?“, fragte er mit kalter Stimme.

Naomie unter ihm richtete sich soweit es möglich war auf.

„Dann kannst du ja auch von mir runter gehen und mich nach Hause lassen“, sagte sie distanziert und rutschte im Bett etwas nach hinten, weg von ihm.

Er kam der Aufforderung nach und erhob sich sofort. Mit verschränkten Armen stellte er sich vor sie hin. Lässig lehnte sich Seto gegen den Pfosten vom Bett.

„Das kommt nicht in Frage. Du siehst wie ein lebender Zombie aus und ehe du wieder abhaust und ich dir nach rennen muss, bleibst du hier und erholst dich. Danach reden wir.“

Skeptisch schaute sie ihn, als er sich umdrehte und wieder ins Badezimmer ging.

„Reden?“, fragte sie verwirrt, „Ich dachte, das hätten wir grade?“

Seto entfuhr ein Schnauben und er drehte die Heizung etwas herunter. Dann ging er zu der großen Badewanne und drehte das Wasser auf eine angenehme Temperatur.

„Denkst du?“, rief er zu und legte ein frisches Handtuch auf die Ablage.

„Ja, denk ich oder wie würdest du das bezeichnen?“

Er trat aus dem Badezimmer. Kurz dachte er nach. „Ich stelle Fragen und du weichst mir aus.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen.

Naomie sah zum Fenster und dann wieder zu ihm. „Lass mich einfach nach Hause gehen, okay? Ich bin wirklich fertig und möchte nur noch schlafen.“

Entschieden schüttelte er den Kopf.

„Wenn dann bleibst du hier. Oder ist flüchten eine Spezialität von dir?“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch. „Sowieso frage ich mich, was du dir davon erhofft hast. Immerhin löst es keine Probleme und ich habe dich bisher nicht für so feige gehalten, dass du vor den Dingen davon läufst. Scheinbar habe ich mich in dir geirrt.“

Seto wusste, dass seine Stimme enttäuscht klang, doch genau das war es, was in ihm vor ging. Er hatte sie nicht als so jemand eingeschätzt, der vor den Dingen davon lief und dass sie sich nicht mal gemeldet hatte, machte es nicht besser. Immerhin hatte er sich auch Sorgen gemacht.

Wieder sah sie zum Fenster. Sie schloss die Augen und ihre Schultern bebten kurz.

Seto wartete und ließ sie nicht aus den Augen. Jeden Moment rechnete er damit, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

Naomie biss sich auf die Lippen und atmete ein paar Mal tief ein, ehe sie die angehaltene Luft ausstieß und sich über die Augen wischte. Wieder schloss sie die Augen und atmete noch einmal durch, ehe sie ihn wieder ansah und versuchte seinem Blick stand zu halten. Er konnte merken, wie schwer es ihr fiel und ihre Augen glänzten feucht.

Scheinbar gab sie alles dafür, um die Fassade der Starken aufrecht zu erhalten.

„Du kannst erstmal baden gehen und dich dort etwas entspannen“, sagte er resigniert und wies auf das angrenzende Badezimmer in dem grade das warme Wasser in die Wanne floss.

Naomie erhob sich vom Bett und kam auf ihn zu.

„Wenn es sein muss“, seufzte sie lustlos und ging an ihm vorbei. Dabei wischte sie sich wieder über die Augen.

Er stieß ebenfalls die Luft aus und schob sich ein paar Haare aus den Augen. Wieso machte sie es ihm nur so schwer? Es war doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie einfach auf seine Frage antwortete.

Sein Blick fiel zum Bett. Dort lag die Creme, die er ihr zugeworfen hatte. Schnell hob er sie auf und brachte sie zurück ins Badezimmer.

Die Tür war noch offen und Naomie stellte sich die Wassertemperatur grade ein.

„Die solltest du danach auftragen“, sagte er und legte die Creme auf das flauschige Handtuch, „Ich nehme sie auch, wenn ich manchmal nicht geschlafen habe. Sie deckt die Augenringe gut ab.“

Naomie nickte nur stumm und ihre Augen glänzten noch immer. Sie wandte ihm den Rücken zu.

Kurz hielt er inne.

„Naomie?“ Seto wartete bis sie sich aufrichtete und ihn ansah.

„Ich hab…“ Seto zögerte und hoffte, sie nahm seinen Versprecher nicht ernst. „Mokuba hat dich vermisst und sich Sorgen gemacht. Es wäre also gut, wenn du nicht wieder weg läufst.“

Seine Stimme war ruhig und er wartete auf ihre Reaktion.

„Das tut mir leid“, brachte sie raus und wirkte wieder wie ein Häufchen elend. Von ihrem kleinen Wortgeplänkel eben war nichts mehr zu sehen, „Ich werde mich nachher bei ihm entschuldigen.“

Kaiba nickte und schloss die Tür hinter sich. Wieder seufzte er.

Merkwürdig, bei Mokuba konnte sie sich entschuldigen und mit ihm reden, aber bei ihm machte sie alle Schotten dicht. Wieso?

Wieder überkam ihm der Sog von Sorge und füllte jede Faser seines Körpers aus.

Was tat er hier eigentlich? Er sollte sich nicht um sie Sorgen. Immerhin war sie nur eine flüchtige Bekannte, doch sobald er daran dachte, überkam ihn ein schmerzhafter Stich in der Brust und sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Auch jetzt blieb er mitten im Zimmer stehen und wusste, er sollte endlich im Büro anrufen und seine Arbeit erledigen. Aber seine Füße gehorchten ihm nicht.

Genervt fuhr er sich wieder durch die Haare und sah zur Tür.

„Na los, geh schon“, sagte sein Gewissen, „Du weißt, dass es richtig ist.“

Da war es also wieder. Wo war es vorhin gewesen, als er es wirklich gebraucht hatte?

Leise grummelte Seto und machte einen Schritt Richtung Zimmertür.

„Du weißt, dass du zu ihr gehen solltest. Du hast ihre Tränen gesehen und du weißt, sie heult sich dort grade die Seele aus dem Leib.“

Was kümmerte ihn das? Wenn sie etwas zu sagen hatte, hätte sie das eben tun können. Sie hatte ihre Chance gehabt und nicht genutzt. Er war ihr lange genug hinterher gelaufen.

Eine weitere schöne Bescherung brauchte er nicht in Form, dass sie ihn als Seelenklempner benutzte. Sowieso hing sie schon viel zu sehr bei ihm herum. Das musste aufhören.

„War es aber nicht das, was du grade eben noch wolltest als du auf ihr lagst?“, fragte sein Gewissen kalt, „Das ist nur dein Stolz, der da grade spricht, Setolein. In Wahrheit bist du nur enttäuscht und wolltest, dass sie sich dir anvertraut.“

Wieder brummte Kaiba und würdigte dem keine Antwort. Was wusste so eine imaginäre Stimme schon, was ihn ihm vor ging.

„Ich bin ein Teil von dir. Ich weiß alles!“, flötete sie, „Auch wieso du so hin und her schwankst!“

Das war doch lächerlich! Er brauchte keine Fistelstimme, die ihm sagte, was los mit ihm war oder was in seinem inneren vor sich ging.

„Ja, klar. Deswegen weißt du auch, wie du dich bei ihr zu verhalten hast und was war das vorhin auf dem Bett?“, höhnte die Stimme kalt und überheblich, „Du hast wieder nicht die Finger von ihr gelassen!“

Leise knurrte Seto. Wollte sein Gewissen ihm jetzt vorhalten, was er getan hatte? Dass er es auf charmante Weise versuchte hatte an ihr heran zu kommen?

Es war ja nicht so, als ob er an ihr interessiert wäre.

In seinem Kopf erklang bei diesem Gedanken ein lautes Lachen, was ihn die Augen verdrehen ließ. Mit seinem Gewissen brachte es nichts zu reden. Es hörte sowieso nicht auf ihn.

Zielstrebig ging er weiter zur Zimmertür und sah noch einmal kurz zur Tür hinter der sich das Bad befand. Sein Herz klopfte bei dem Gedanken zurück zu gehen.

Er zögerte kurz und öffnete dann die Tür.

Naomie war an dem Punkt, wo sie bald reden würde, das wusste Seto und er konnte warten bis sie soweit war. Solange würde er sich ablenken.

Mit schnellen Schritten verließ er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Wieso musste es so kompliziert sein?

„Was für eine schöne Bescherung…“, murmelte er dabei und seufzte.

Türchen 14 – Lasst uns froh und munter sein

In seinem Ohr rauschte das Blut und er konnte seinen Herzschlag rauschen hören. In seinem Kopf hallte der Klang der zugezogenen Tür noch immer nach und vernebelte seine Sinne, so dass ihm die Konzentration schwer fiel.

Immer wieder verschwamm sein Blick und Seto musste den blick vom Laptop abwenden, der auf der Ablage, jenseits der Gefahrenzone, in der Küche stand.

Er tippte mit schnellen Fingern etwas in das Dokument ein und warf einen Blick über die Schulter zur Tür.

Es war alles ruhig und lediglich Shadow trottete zum gefühlten hundertsten Mal durch den Flur. Es schien als wäre sein Hund auf der Suche nach etwas und immer wieder machte er kehrt und verschwand in eines der anderen Zimmer.

Seto konnte dazu nur missbilligend den Kopf schütteln.

Seit dem Naomie in seinem Leben war, verlief es nicht mehr so geordnet wie sonst. Er konnte ihr aber auch irgendwie nicht böse sein. Warum wusste er nicht mal selbst zu sagen und auch jetzt schwieg sein Gewissen wieder.

Aber umso besser. So musste er sich nicht irgendwelcher Kommentare aussetzen oder sich beleidigen lassen.

Zielsicher griff er in den oberen Küchenschrank und nahm sich eine Tasse heraus. Schnell goss er sich den warmen Kaffee ein und stellte ihn zu dem Laptop.

Zwischen den Lippen hatte er ein Zimtplätzchen und biss eine Spitze von dem Stern ab. Kurz kaute er auf dem Gebäck herum und beugte sich etwas zum Laptop um die neue Mail lesen zu können, die der Leiter des Waisenhauses ihm geschickt hatte.

Der Geschmack von der Priese Zimt, die Naomie in das Gebäck getan hatte, breitete sich in seinem Mund aus und er schluckte den Bissen hinunter. Dieses südländische Gewürz im Gebäck ließ ihn etwas entspannen. Nicht zuletzt, weil er Zimt mochte.

Zufrieden über die Antwort in der Mail nickte Seto und ein leichtes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

Alles lief wunderbar.

Sein Büro war informiert, dass er heute nicht mehr in die Firma kam und von zu Hause arbeiten würde. Seine Sekretärin hatte nur gesagt, sie würde die Anrufe aufschreiben und ihm einen schönen Tag gewünscht.

Seto konnte sich gut vorstellen, dass sie eher froh war, dass er nicht mehr zur Arbeit kam heute und sie ruhe hatte.

Selbst mit Naomies Chef hatte er schon reden können. Wie sie wohl auf die Neuigkeit reagieren würde?

Bei dem Gedanken musste er wieder grinsen.

Denn Seto war in der letzten halbe Stunde nicht untätig gewesen. Er hatte sofort bei ihrem Chef angerufen und ihm erzählt, dass sie wieder da war und ihm direkt sein Angebot unterbreitet, dass er Naomie für die nächsten Wochen als feste Fotografin jeden Tag buchen wollte.

Am Ende bekam er eben immer, was er wollte. Egal, wie.

Nach diesem erfolgreichen Telefonat hatte er die Rechnung von Naomies Chef abgewartet und sie direkt an seine Buchhaltung weiter geleitet, damit diese den Betrag überweisen konnte. Anschließend hatte er sich mit dem Leiter des Waisenhauses in Verbindung gesetzt und alles vorbereitet, damit die Fotoshootings mit den Werbeplakaten spätestens übermorgen beginnen konnten. Auch einige Duellanten und namenhafte Prominente waren eingeladen worden für die Fotos zu posieren.

Selbst Pegasus hatte er, eher widerwillig, dazu eingeladen und er hatte seine Unterstützung zugesagt. Ebenso machte seine Rivale Yugi mit.

Er musste nur noch mit Naomie reden und mit ihr die Details abklären, welche Accessoires sie brauchte und wie viel Zeit für die Bearbeitung. Doch das war eine Nebensache mit der er sich auch morgen mit auseinander setzen konnte.

Immerhin kam es für sie wesentlich überraschender als für ihn die Tatsache, dass sie wieder in der Stadt war.

Doch eines ließ Seto die Stirn runzeln. In der Mail vom Direktor des Waisenhauses stand, dass ein anonymer Spender aus England kommen würde und auch seine Unterstützung zugesagt hatte. Ebenso wolle dieser Spender auf der morgigen Besprechung dabei sein und sich vorstellen.

Seto öffnete die Facebookseite seiner Firma und nippte am Kaffee. Shadows tapsende Schritte ignorierte er, ebenso sein Winseln, was er hin und wieder hören ließ und was nur bedeutete, dass er Naomie suchte.

Auf der sozialen Netzwerkseite befanden sich keine neuen Kommentare und auch am Aktienmarkt lief es nach dem kleinen Tief wieder bergauf.

„Shadow, sei ruhig!“, mahnte Seto und drehte sich nur leicht zum Flur um.

Sein Hund stand etwas bedröppelt im Flur und sah sich um. Seine Rute hin herunter und er sah sein Herrchen an, als könnte dieser Naomie herzaubern.

„Du musst dich noch was gedulden“, sagte Seto und wandte sich wieder dem Laptop zu. Seine Finger flogen schnell über die Tastatur, während Shadow ein lautes Bellen von sich gab. Seine Krallen kratzten kurz über die Fliesen, ehe er zur Tür sprintete.

Seto horchte auf und hörte einen Schlüssel klappern.

„Ich bin da!“, schallte es durch die unterste Etage und er musste Schmunzeln. Seto hörte seinen Hund wieder bellen und wie sein kleiner Bruder auf den Hund einredete.

„Seto?“, rief Mokubas Stimme, „Bist du da?“

„Ich bin in der Küche“, rief er zurück und schickte die Mail ab, dann ging er auf die andere Seite und nahm ein frisches Brett und Messer aus der Schublade. Er griff zu der Obstschale und begann die Kiwi zu schälen.

„Hei, du bist ja schon da!“, sagte Mokuba und Seto hörte deutlich seinen freudigen Unterton.

Seto warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und nickte, während er die Kiwi klein schnitt.

„Was machst du schon hier?“, fragte Mokuba und ging an den Kühlschrank.

„Iss nicht so viel vor dem Essen“, sagte Seto und warf die Obststücke in eine Schüssel.

„Ich hab mir nur was zu trinken geholt!“, konterte sein kleiner Bruder und schraubte die Limoflasche aus. Seto hörte das Zischen der Kohlensäure. „Also, was machst du hier?“

Seto hörte den Topfdeckel klappern und drehte sich herum.

„Lass den Deckel drauf, sonst geht die Wärme verloren!“

„Es riecht gut“, sagte Mokuba und schnupperte an dem Essen. Er hatte noch immer seine Schultasche auf dem Rücken. „Was machst du denn hier in deiner Chemieküche?“

„Was zu essen, was sonst“, sagte er und gab eine weitere klein geschnittene Kiwi in die Schüssel.

„Das sehe ich auch.“ Sein Bruder verdrehte die Augen und sah ihn neugierig an. „Du kochst viel in letzter Zeit. Ich mache mir langsam Sorgen. Das machst du nur, wenn du dich ablenken musst, weil du mit deinen Gedanken nicht weiter kommst.“

Seto zog die Schultern hoch. „Bisher hat es dir aber immer geschmeckt und sonst beschwerst du dich auch, dass ich viel zu wenig Zeit mit dir verbringe. Sei doch froh.“

„Bin ich auch. Trotzdem kochst du nur dann, wenn dich irgendwelche Gedanken nicht in Ruhe lassen.“ Mokuba senkte den Blick. „Ist es wegen Naomie?“

Seto schwieg und nahm eine dritte Kiwi und begann sie zu schälen.

Natürlich war es wegen ihr, aber das würde er sicherlich nicht vor seinem Bruder zugeben. Mokuba würde nur Dinge hinein interpretieren, die nicht da waren.

Er hörte seinen kleinen Bruder seufzen und im nächsten Moment das Gluckern der Flasche.

Seto wandte sich kurz um, ehe er zu den Äpfeln griff.

„Du sollst nicht aus der Flasche trinken, Mokuba“, sagte er streng und ging zum Küchenschrank und stellte ihm ein Glas vor die Nase.

Sein kleiner Bruder verdrehte wieder die Augen.

„Hast du Hausaufgaben auf?“, fragte Seto beiläufig und hoffte so das Thema zu wechseln.

„Nicht viel“, sagte Mokuba und goss sich unter seiner Aufsicht etwas ins Glas ein, „Nur Mathe und English.“

Seto nickte und würfelte den Apfel in gleich große Stücke. Kurz wandte er sich von dem Obst ab und rührte den Inhalt des Topfes um.

Das Fleisch war schon gut angebraten und köchelte nun im Sud vor sich hin, damit es nicht so zäh und trocken wurde.

„Du solltest nach oben gehen und deine Tasche ablegen. Essen ist bald fertig“, sagte er und schloss wieder den Deckel vom Topf. „Fang schon mal mit den Hausaufgaben an. Ich komme dann, um sie zu kontrollieren.“

„Ja“, kam es nur genervt von Mokuba und er sah zu der Schüssel mit dem Obst. „Schon wieder Obst?“

„Was denkst du denn? Grade jetzt sind Vitamine wichtig!“

Mokuba verzog angewidert das Gesicht und nahm sein Glas und die Flasche und verließ die Küche.

Seto sah ihm kurz nach und hörte ihn dann die Treppe hinauf gehen.

„Komm, Shadow!“, rief er und Seto hörte den grauen Labrador bellen, ehe die Pfoten über den Boden scharrten und er mit dem roten Schal die Treppe mit nach oben ging.

Kurz atmete er ein und aus und wandte sich wieder dem Essen zu.

Schnell gab er das Gemüse und die Kartoffeln dazu, füllte die Brühe auf und würzte es mit etwas Curry und Knoblauch.

Hoffentlich mochte Naomie das Essen. Immerhin war der Eintopf dazu da, um sich zu stärken und alles wichtige, was zu einem Essen gehörte, war da drin. So wie sie aussah, konnte sie ein stärkendes Essen auch gut gebrauchen.

Seto wusch sich die Finger unter dem warmen Wasser und wandte sich wieder dem Obstsalat zu. Mit geschickten Fingern schnitt er die Äpfel in Stücke und gab sie zu der Kiwi dazu.

Danach waren die Bananen und Trauben fällig.

Kurz nippte er wieder an seinem Kaffee und sah auf die Uhr. Naomie war gerade mal eine dreiviertel Stunde im Bad, wenn sie es denn wahrgenommen hatte.

Inständig hoffte er, dass es ihr helfen würde, sich etwas zu entspannen und auszuruhen. Die Augenringe machten ihm noch immer Sorge, wenn er daran dachte. Es versetzte ihm auch ein Stich in die Brust, sie so zu sehen.

Er wusste auch nicht, wie er sie zum reden bringen sollte, ohne sie weiter zu kränken oder zu verletzen. Damit war er ja nicht weit gekommen.

Seto schluckte und ging zum Kühlschrank.

Nun wo der Nachtisch fertig war, war die Beilage dran. Egal, was Mokuba sagen würde, es würde einen Salat zum Eintopf geben.

Das Piepen seines Mailpostfaches ließ Seto aufhorchen und er trocknete sich kurz die Hände am Handtuch ab, ehe er zu dem elektronischen Gerät ging. Schnell öffnete er die Mail und schrieb eine Antwort.

Missbilligend schüttelte er den Kopf. Konnte seine Sekretärin nicht mal eine Konferenz planen? Was war an de Worten „So wie immer“ falsch zu verstehen?

Seufzend tippte er eine Antwort und kaum, dass diese sein Postfach verlassen hatte, kam eine weitere in sein Postfach geflogen und bat darum beachtet zu werden.

Der kleine weiße Drache mit dem Briefumschlag in den Krallen schlug in der Bildschirmecke munter mit den Flügeln.

Widerwillig klickte er auf das Icon und sofort öffnete sich eine Mail von Pegasus.

Seto brummte bei dem Anblick des Absenders.

„Hallo Kaiba-boy, wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen oder gehört. Umso großartiger finde ich es doch, dass wir nun gemeinsam an deinem Projekt „Roter Schal“ arbeiten. Im Übrigen finde ich deine neueste Technologie einfach großartig. Meine geliebten Monster sehen dadurch noch lebendiger aus!“ Fast konnte Seto sehen, wie Pegasus sein weißes Haar nach hinten warf bei den süßholzraspelnden Worten. „Aber das ist nicht der Grund meiner Mail. Du hattest uns allen ja mitgeteilt, wer der Fotograf dieses Projektes sein wird und ich bin erstaunt, dass du eine firmenfremde Person dazu holst und dazu eine ganz gewöhnliche Fotografin aus einem einfachen Studio. Mein lieber Kaiba-boy, wenn es dir grade an Personal mangelt, kann ich dir gerne jemanden aus meiner PR-Abteilung leihen. Meine Leute würden so ein Projekt nicht zum ersten Mal machen und bringe jede Menge Erfahrung mit. Du musst daher nicht zum nächst besten Notfallplan greifen. Mit den allerherzlichsten Grüßen Pegasus.“

Seto verzog das Gesicht. Offenbar war Pegasus bisher der Einzige gewesen, der sich die Mühe gemacht und recherchiert hatte. Doch er fiel nicht auf das Angebot herein.

Pegasus war nur ein namenhafter Prominenter, der zwangsweise eine Rolle in seinem Projekt spielte. Er musste sich nicht aufspielen und ihm aus Höflichkeit helfen wollen. Seto kannte diesen Kerl nur zu gut. Mit Sicherheit führte er damit auch etwas im Schilde.

Während er ihm eine Antwort tippte, kam eine weitere Mail in sein Postfach und er öffnete diese.

Zum Glück war es nur seine Presseabteilung, die ihm mitteilte, dass eine Talk Show ihn interviewen wollte. Er sollte sein neuestes Projekt im Fernsehen vorstellen.

Seto öffnete seinen elektronischen Terminkalender und suchte nach einem Termin.

Die einzige Zeit, die er hatte, war eigentlich während der Shootings. Doch er hatte vor gehabt, Naomie dabei im Auge zu behalten.

Er biss sich nachdenklich auf die Lippe und schrieb seiner Abteilung eine Antwort, wann er zeit hatte.

Naomie würde es schon schaffen und zur Not würde Roland ihr helfen müssen. Sie war eine erwachsene Frau. Um sie würde er sich in der Hinsicht bestimmt nicht Sorgen müssen. Im Gegensatz zu anderen Dingen, wo er es bereits tat.

Nachdem die Mail auch verschickt war, wandte er sich wieder dem Topf zu, rührte das Essen um und schmeckte es mit einem kleinen Löffel ab.

Nachdenklich ließ er sich den Geschmack der Soße auf der Zunge zergehen und griff gezielt nach etwas Salz und Pfeffer. Schnell verrührte er wieder den Eintopf und schloss den Deckel, damit die Kartoffelstücke weiterhin kochen konnten.

„Seto!“, kam es plötzlich von oben und Kaiba war froh, dass er noch nicht angefangen hatte den Salat zu schneiden. Andernfalls wäre vermutlich sein Finger weg gewesen.

„Was ist?“, rief er zurück und er konnte nicht verhindern, dass sein Herz bei dem Ruf schnell pochte. Was war denn nun passiert?

„Seto!“, kam es wieder von Mokuba und im nächsten Moment härte er trampelnde Schritte vom oberen Geschoss.

„Mokuba, was ist los?“, rief er besorgt und verließ die Küche, doch sein kleiner Bruder war schon auf der Treppe zu sehen. Mit schnellen Schritten rannte er die Stufen hinunter.

„Mokuba, was ist?“, fragte Seto erneut und sein Bruder kam keuchend vor ihm zum stehen.

„Wieso hast du mir das nicht gesagt?“ Sein Gesicht glühte vor Röte.

„Was denn gesagt?“ Verwirrt sah er ihn an und ging mit ihm zurück in die Küche.

„Naomie…“, japste Mokuba und Seto hielt inne. Sein Puls schoss in die Höhe. „Wieso hast du nicht gesagt, dass sie in DEINEM Zimmer ist?“

Seto schluckte. „Was hast du in meinem Zimmer gemacht?“

„Lenk nicht ab, Seto!“, fuhr er ihn an und schüttelte den Kopf, sodass seine schwarzen Haare hin und her flogen. „Ich wollte nach einem Spiel suchen und als ich rein gegangen bin, stand Naomie dort. Nur mit Bademantel! Was macht sie bei dir im Zimmer und wieso sagst du mir nicht, dass sie da ist!“

Vorwurfsvoll sah der Kleine zu ihm auf.

„Das Gästezimmer war noch nicht fertig. Ayumi ist spät gegangen.“

Mokuba schnaubte. „Als hätten wir keine anderen Zimmer im Haus und Ayumi solltest du längst in den Wind schießen, wenn du Naomie hast!“

„Da ist nichts zwischen uns.“ Seto wand sich wieder dem Salat zu und schaffte es endlich die Blätter klein zu schneiden.

„Deswegen ist sie auch in DEINEM Zimmer und in DEINEM Bademantel!“ Mokuba verschränkte die Arme und ging zum Topf. Er hob wieder den Deckel und spähte hinein. „Bist du deswegen heute wieder in der Chemieküche unterwegs.“

„Sag das nicht immer.“

„Oder ist da ein Aphrodisiakum drin, das nur auf blonde, weibliche Personen, die hier zu Gast sind, wirkt?“ Neckisch sah Mokuba ihn an.

„Auf was du für Gedanken kommst.“ Seto schüttelte den Kopf. „Naomie ist nur ein Gast und ich habe geschäftlich mit ihr zu tun. Das ist alles.“

„Ist klar.“ Mokuba kicherte. „Du hast aber noch keinem Geschäftspartner hier ein Zimmer angeboten oder ein Bad oder in deinem Bademantel herum laufen lassen.“

„Naomie ist eine Ausnahme.“

„Du meinst, weil sie so fertig aussieht.“

Er nickte stumm und wusch die Tomaten unter dem klaren Leitungswasser ab.

„Ja, das war wirklich übel. Kochst du deshalb?“

„Unter anderem.“

„Weshalb noch?“

„Wenn du ihren Magen gehört hättest, hättest du genauso Sorge wie ich, dass sie dich vor Hunger gleich auffrisst.“ Mit einem Grinsen sah er kurz zu seinem Bruder.

„Sehr witzig“, kommentierte er nur trocken, „Aber anstatt hier Küchenchef zu spielen, solltest du nach oben gehen und ihr beistehen.“

„Sie ist in der Badewanne. Da kann ich doch nicht rein.“

„Eben war sie draußen. Sie schien fertig zu sein.“ Ob Mokuba das Bad oder ihrem Gemütszustand meinte, war nicht ganz klar.

Seto nickte. „Ich kann auch warten bis sie unten ist und dann mit ihr reden. Vielleicht wäre es sogar besser abzuwarten bis sie auf mich zu kommt.“

Mokuba seufzte und griff in die Besteckschublade. Er nahm sich einen Löffel heraus und öffnete den Topf.

„Hör auf zu naschen!“

Mokuba nahm sich frech grinsend einen Löffel voll mit Eintopf, pustete kurz und schob ihn sich in den Mund.

„Seto, statt hier zu warten, solltest du nach oben gehen und klären, was zwischen euch vorgefallen ist.“ Seto öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Mokuba hielt ihn davon ab und sprach weiter. Er kaute nur kurz nachdenklich auf dem Essen herum und hielt den Löffel, wie ein Lehrer den Zeigestock, in die Höhe und schwang ihn belehrend hin und her. „Das sieht ein Blinder ohne Blindenhund, dass zwischen euch was passiert ist und ihr solltet endlich drüber reden und wenn ihr fertig seit, solltest du statt weiter zu kochen mit ihr das Bett zum wackeln bringen. Ihr solltet euch das Gehirn raus vögeln, statt euch aus dem Weg zu gehen und Trübsal zu blasen!“

„Mokuba!“, entfuhr es Seto bei den Worten und er verfehlte nur um Haaresbreite seine Fingerkuppe, als das Messer die Tomate teilte.

Entsetzt sah er seinen kleinen Bruder an, der nur mit den Schultern zuckte.

„Solche Ausdrücke will ich hier nicht hören!“, sagte Seto streng und legte das flutschige Stück Gemüse ordentlich auf das Brett, damit er es weiter klein schneiden konnte.

Von seinem kleinen Bruder kam nur ein Seufzen.

„Gut, dann anders. Statt Trübsal zu blasen, solltet ihr euch die Kleider vom Leib reißen und Matratzensport betreiben.“

„Mokuba, es reicht!“ Wieder fuhr das Messer nur knapp an seinen Fingern vorbei und teilte die Tomate. „Naomie ist eine Angestellte für mich. Damit wir uns da ganz klar verstehen. Sie arbeitet ab morgen in der Firma und hilft beim Projekt mit und ich habe bestimmt nicht vor mit einer Angestellten rum zu machen!“

Sein kleiner Bruder verdrehte die Augen, als Seto sich zu ihm herum drehte.

„Und Ayumi? Sie ist auch eine Angestellte!“

„Ayumi begleitet mich nur zu geschäftlichen Empfängen. Ich habe auch nichts mit ihr! Wieso kommt ihr alle drauf, dass ich sie außerhalb davon auch nur anpacken würde?“, fauchte er ungehalten und warf die Tomatenstücke zu dem Salat. Ungehalten gab er etwas Essig, Öl und Salz und Pfeffer dazu, ehe er alles vermengte.

„Moment!“, sagte Mokuba und schüttelte kurz den Kopf, „Ihr? Heißt das Naomie hat dich auch schon drauf angesprochen?“

Seto schwieg eisern und ging wortlos zum Topf. Schnell rührte er den Inhalt um und stellte die Flamme kleiner.

„Verstehe. Ihr habt euch deswegen in die Haare gekriegt?“ Mokuba verschränkte die Arme und hob gekonnt eine Augenbraue. Etwas, was er sich bei ihm abgeschaut hatte und was Seto absolut nicht leiden konnte, wenn sein kleiner Bruder ihm mit seiner eigenen Art kam.

Seto schwieg wieder und verkniff sich ein Knurren.

„Solltest du nicht Hausaufgaben machen?“, fragte er stattdessen und ging zum Laptop. Es waren keine neuen Mails eingetroffen. Sein Kaffee war inzwischen auch kalt geworden. „Was ist eigentlich mit eurer Theateraufführung?“

Mokuba verdrehte die Augen, ehe er antwortete.

„Es läuft gut. Ich werde auch gleich üben müssen“, sagte er und wandte sich ab, „Aber wenn du mich ablenken wolltest, das funktioniert nicht mehr, großer Bruder.“

Demonstrativ streckte Mokuba ihm die Zunge raus.

„Geh endlich nach oben und mach deine Aufgaben!“, mahnte Seto streng und gab seinem Bruder einen Klaps auf die Hüfte.

„Ich mach auch die Musik lauter, falls du meinen Rat befolgen willst mit dem Matratzensport.“ Frech grinste der kleine Kaiba und wich einem weiteren Klaps spielerisch aus. Mit schnellen Schritten rannte er nach oben und Seto konnte Shadow vom oberen Treppenabsatz aus bellen hören.

Er schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Eine Tür flog im oberen Stockwerk laut und demonstrativ zu.

Das Essen war bald fertig und so langsam sollte auch Naomie nach unten kommen.

Seto tippte etwas im Laptop ein und sah wieder zur Uhr an der Wand. Eine innere Unruhe hatte ihn erfasst und er musste an Mokubas Worte denken, dass sie fertig aussah und auch an die Worte, dass er die Chance bei ihr nutzen sollte.

Es war ein Gedanke, der ihm schon ein paar Mal ins Bewusstsein gekommen war. Aber wollte er die geschäftliche Beziehung für eine Nacht aufs spiel setzen?

Bestimmt nicht und so wie sie reagiert hatte, als er ihren Ex erwähnt hatte, schien da auch noch etwas zu sein. Lust ihr Trostpflaster zu sein oder sowas, hatte Seto auch nicht vor. Vor allem würde es ihr am allerwenigsten helfen.

Seufzend wandte er sich von seinem Laptop ab und schaltete den Herd aus. Auf der restlichen Hitze konnte das Essen gefahrlos weiter köcheln.

Zielstrebig verließ Kaiba die Küche und ging nach oben zu den Schlafzimmern. Als er an Mokubas Tür vorbei kam, hörte er laut Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Musik vom Nussknacker.

Kopfschüttelnd ging er weiter.

Wenn er an die letzten Tage zurück dachte, konnte er sich nicht erinnern, dass er jemals so unkonzentriert war. Geschweige denn eine fremde Person so nahe an sich heran gelassen hatte.

Wann hatte er überhaupt angefangen sich ihren Namen zu merken?

Noch vor einer Woche wusste er nicht mal mehr ihren Vornahmen oder Nachnamen, inzwischen duzte er sie und hatte sie so nahe an sich heran gelassen, wie es nicht mal Ayumi nach all den Jahren als feste Begleithostess geschafft hatte, obwohl sie im Vergleich zu Kuzuki ziemlich auffällig und aufreizend war und es nach jedem Treffen immer wieder bei ihm versucht hatte.

In einem Punkt war sich Seto allerdings sicher. Das mit Naomie musste nach ihrer Zusammenarbeit ein Ende haben, wenn er sich nicht in größere Schwierigkeiten bringen wollte oder zumindest in emotionalere Dinge. Seto hatte auch keine Lust, dass sie sich in irgendwelche Dinge verrannte und glaubte, er wolle eine Beziehung mit ihr führen oder so einen sentimentalen Unsinn.

Seto hielt kurz in seiner Überlegung inne und wartete auf einen zynischen Kommentar seines Gewissens, doch es blieb stumm. Merkwürdigerweise tat es das immer, wenn er in der Nähe von Kuzuki war oder etwas tat, was andere ihm geraten hatten.

Vor seiner eigenen Zimmertür blieb Kaiba stehen und klopfte vorsichtig. Nichts passiert. Kein Laut war zu hören und auch kein „Herein“. Wieder klopfte er und konnte nur darüber den Kopf schütteln, dass er an seiner eigenen Schlafzimmertür klopfen musste, um Einlass zu bekommen.

„Naomie?“, fragte er besorgt und wartete einen Moment. Es geschah wieder nichts.

Seufzend öffnete er die Tür und spähte vorsichtig hinein, sollte sie es noch nicht geschafft haben sich ihre eigenen Kleidern anzuziehen.

Doch der Blick ins Zimmer verriet, dass sie gar nicht da war.

„Naomie?“, fragte Seto wieder und ging in den warmen Raum hinein. Er schloss die Tür hinter sich. Naomies Tasche und ihr kleiner Koffer standen ordentlich am Bettende auf dem Boden. Aus dem Rollkoffer schaute der Ärmel von einem Pullover heraus. Er war auch nicht richtig geschlossen. Auf der Decke des Bettes lagen eine Aktionfigur und ihr Handy.

Seto betrachtete das Spielzeug und zog fragend eine Augenbraue nach oben. Wozu hatte sie eine Figur dabei? Hatte sie etwa ein Kind? Ging es ihr deshalb so schlecht, weil vielleicht mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte?

Der Gedanke war beklemmend für ihn, dass sie vielleicht sogar einen Sohn an der Hand hatte. Das könnte auch die Reaktion auf ihren Ex erklären.

Er musste schlucken und Seto hatte das Gefühl, dass ihm irgendetwas die Luft abschnürte. Seine Kehle zog sich förmlich zu und sein Körper fühlte sich gleichzeitig angespannt, als auch weich wie Pudding an.

Langsam ging er zur Tür, die zum Badezimmer führte und klopfte.

„Bist du da drin, Naomie?“, fragte er laut und wartete. Es war auch dort nichts zu hören. Nicht mal das Geräusch von Wasser.

„Ist alles in Ordnung?“ Seto konnte nicht verhindern, dass seine Stimme besorgt klang. Er klopfte lauter. Es war wieder nichts zu hören und langsam breitete sich ein ungutes Gefühl in seinem Magen aus. Er hätte sie nicht alleine lassen sollen. Was wäre, wenn sie sich was angetan hat und nun mit aufgeschnitten Pulsadern über dem Wannenrand hing?

Die Schlagzeilen in der Presse konnte er jetzt schon sehen und der Chef seiner PR-Abteilung würde einen Herzinfarkt erleiden.

Doch nicht nur dieser.

Allein der Gedanke sorgte dafür, dass ein Puls in die Höhe schoss.

Hatte er vielleicht irgendwelche Anzeichen übersehen, dass es ihr so schlecht ging, dass sie sich was antun musste? Hätte sich das nicht irgendwie äußern müssen?

Kalter Schweiß bildete sich auf seinen Händen und er klopfte wieder.

Diesmal nachdrücklicher und fester.

Keine Reaktion.

Mit leicht zittriger Hand griff er zur Klinke und drückte sie nach unten. Die Tür ging widerstandslos auf.

Erleichtert seufzte Seto und betrat das Badezimmer.

Sofort schlug ihm die feuchte, warme Luft entgegen, doch erleichtert stellte er fest, dass Naomie in der Wanne saß. Sie hatte der Tür den Rücken zugewendet.

„Naomie?“, fragte er besorgt und ging zu ihr. Mit wenigen Schritten war er da, doch sie reagierte nicht. Der Geruch vom Badezusatz drang in seine Nase und Seto kniete sich neben dem Wannenrand auf den Boden. Besorgt musterte er das Häufchen elend im Wasser.

Naomie hatte die Knie angewinkelt und eng an den Körper gepresst. Ihren Kopf hatte sie auf die Arme gestützt. Ihr Haar klebte nass auf dem Rücken und ihren bebenden Schultern. Einzelne Wassertropfen liefen an ihr herunter. Der nackte Körper zitterte. Eine Hand lag über ihren Augen und ein dicker Wassertropfen lief an ihrer Nase entlang nach unten. Mehrere Tropfen und hier war sich Seto auch sicher, dass es Tränen waren, liefen über ihr Gesicht.

Angestrengt versuchte er den Blick nicht allzu tief wandern zu lassen, was bei dem Anblick verdammt schwer fiel. So ernst die Situation auch war, so war es ein automatisches Wandern seiner Augen.

„Kuzuki?“, fragte er und versuchte nicht allzu besorgt und panisch zu klingen.

Sie reagiert wieder nicht. Lediglich ihr Körper bebte weiter.

Ignorierte sie ihn absichtlich?

Ein lauter Schluchzer entglitt ihr und er konnte sehen, wie sie sich auf die Lippen biss.

Was sollte er machen? Sie ignorierte ihn scheinbar und war aber in Tränen aufgelöst. Sie konnte jetzt nicht mehr leugnen, dass alles in Ordnung war.

Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. Sie hatte sich zum Glück nichts angetan und sein Herz schlug schneller. Es war gut zu wissen, dass sie hier saß und lieber sollte sie weinen, als sich etwas zu tun. Der Gedanke bereitete ihm immer noch schmerzen.

Seto schluckte und streckte seine Hand nach ihr aus.

Irgendwie konnte er sie nicht alleine lassen und wieder gehen. Es wäre falsch. Doch wie tröstete man eine Frau?

Bei Mokuba war es recht einfach. Aber er war auch sein kleiner Bruder.

Zögerlich hielt er inne und atmete tief durch.

Er konnte sie nicht einfach so in den Arm nehmen. Ihr ganzer Körper war nass und mit Sicherheit würde Kuzuki ausflippen, wenn sie ihn bemerkte. Davonschleichen konnte er sich aber auch nicht so einfach.

Seine Beine waren wie fest gefroren.

Ein weiterer Schluchzer von ihr ließ ihn zusammen zuckte. Seto biss sich auf die Lippen. Irgendwas musste er tun.

Kurz bewegte er seine Finger und hielte die Luft an, ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte. Sein Hirn machte einen Aussetzer und fühlte sich für einen Sekundenbruchteil an, wie aus Gummi. Sein Herz schlug bis zum Hals, als sich seine Arme um ihren Oberkörper schlangen und er sie von hinten an sich drückte.

Es war in dem Moment egal, dass sie nass war und er nun ebenfalls mit Wasser benetzt wurde. Sein Hemd konnte er später noch wechseln, doch jetzt brauchte ihn jemand. Sie brauchte ihn.

Er schluckte und spürte, wie sie zusammen zuckte.

Etwas fiel auf seinen Arm und er erkannte ein paar winzige Kopfhörer, die aus ihren Ohren gefallen war. Das Kabel führte zu ihrer Hand in der sie den Mp3-Player fest hielt. Die Musik des Rocksongs kam ihm entgegen.

„You can take this anymore, so just give it one more try to a lullaby and turn this up on the radio, if you can hear me now, I'm reaching out, to let you know that you're not alone”, hörte er leise.

Sein Atem ging ruhig, obwohl sein Herz noch immer schnell pochte und er das Gefühl hatte, gleich kam es aus seinem Hals heraus.

Ganz leicht lehnte er sich gegen sie und drückte sie aber auch gleichzeitig an sich heran.

Seto spürte die Wassertropfen unter seinen Fingern, die an ihrer Haut herunter liefen. Ganz leicht hatten sich die feinen Härchen auf ihrer Haut aufgestellt. Ihr ganzer Körper zitterte und fühlte sich noch verkrampfter an, als er ohnehin schon war.

Automatisch zog er sie noch enger zu sich.

Er schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus. Es kostete ihn alle Kraft sie so an sich zu halten und es fiel ihm nicht weniger schwer. Sein Herz pochte so stark, dass es ihm noch immer schwer fiel einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf fühlte es sich leer an. Viel zu sehr war er darauf konzentriert, zu spüren, wie sie atmete. Er konnte das Heben und Senken ihrer Brust an den Armen spüren.

An seiner Haut klebte sein Hemd, kalt und nass. Nur zögerlich lehnte Seto seinen Kopf ganz leicht gegen ihre Schulter.

Seine Stirn wurde leicht nass und einzelne Strähnen klebten an ihm.

„Just in case there's just one left, 'cause you know, you know, you know, that I love you, I have loved you all along, and I miss you, been far away for far too long, I keep dreaming you'll be with me and you'll never go, stop breathing if I don't see you anymore”, hörte er ganz leise aus den Kopfhörern schallen.

Es war der gleiche Sänger, wie von dem Lied davor und Seto kannte beide. Er hatte sie schon mal im Radio gehört, wenn seine Sekretärin das Gerät wieder zu laut gestellt hatte.

Dieser Song trug nicht grade dazu bei, dass seine Anspannung oder ihre nach ließ.

In seinem Kopf wollte auch kein klarer Gedanke ans Tageslicht kommen. Alles, was er grade tun konnte, war hier zu knien und sie an sich gedrückt zu halten.

Wieso sagte Naomie denn nichts? Konnte sie denn nichts sagen, um die Spannung zu lösen?

Sein Atem streife ihre Haut und er fragte sich unweigerlich, ob ihr davon nicht kalt wurde. Er konnte kaum schlucken, so sehr hatte sich seine Kehle zugeschnürt. Sein Daumen bewegte sich leicht über die feuchte Haut ihrer Schulter. Nur ganz zaghaft streichelte er sie und versuchte sie zu beruhigen.

Ein weiteres Beben erfüllte ihren Körper und er merkte, wie sie ein Schluchzen unterdrückte. Machte sie das absichtlich? Wusste sie nicht, wie schwer ihm das hier schon fiel? Musste sie es ihm noch komplizierter machen?

Er öffnete leicht die Lippen, streifte dabei flüchtig ihre warme Haut, um etwas zu sagen, schloss den Mund aber wieder, ohne einen Laut über die Lippen gebracht zu haben.

„Was…was machst du da?“, fragte sie leise und ihre Stimme klang krächzend. Sie zitterte und hatte Mühe ihren Körper ruhig zu halten. Er ließ sie nicht los, sondern drückte sich an sie.

„Dich festhalten“, flüsterte er leise und war über seine eigenen Worte überrascht und wie ruhig seine Stimme klang. Er hatte schon befürchtet, dass seine Zunge sich verknotet hatte.

„Wozu?“ Ihre Stimme klang schwach und ein Schluchzen war zu hören. Ihre Arme bewegten sich und er vermutete, dass sie sich über die Augen wischte. Die Musik verstummte und der Player lag anschließend auf dem Rand der Wanne, wo auch ein paar Shampoflaschen standen.

„Das fragst du noch?“, murmelte er leise.

Sie schwieg.

„Wieso weinst du?“

„Wer sagt, dass ich weine?“ Wieder klang ihre Stimme schwach und als würde sie ihr gleich versagen.

Seto zog eine Augenbraue hoch.

„Der Frage würdige ich keine Antwort.“

„Wenn das irgendeine Form der Anmache ist, dann hab ich doch vorhin schon gesagt, dass ich nichts von dir will.“

„Und ich nichts von dir. Da sind wir uns einig. Trotzdem weinst du. Wieso?“

„Ich sollte dich hochkant aus dem Bad werfen“, sagte sie ausweichend und winkelte ihre Knie weiter an, damit er nichts sehen konnte.

„Du solltest mir eine Antwort geben.“

Irgendwie fehlte ihm die Musik von dem kleinen Gerät im Hintergrund grade.

„Hör zu, wir sind keine Freunde. Wenn überhaupt flüchtige Bekannte. Im Grunde nicht mal das. Wir sind zwei Fremde, die sich durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen immer wieder über den Weg laufen. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!“

Diese Aussage hätte glatt von ihm kommen können. Es war merkwürdig so etwas nicht aus dem eigenen Mund zu hören, sondern aus dem von jemand anderem.

Seto schwieg und lehnte sich über ihre Schulter zu ihrem Ohr.

„Trotzdem lässt du es zu, dass ich, ein Fremder, der dich durch die Verkettung unglücklicher Umstände kennt, hier bin und dich fest halte.“

„Das ist gemein von dir“, nuschelte sie und ein leichtes amüsiertes Lachen klang in ihrer Stimme. Augenblicklich musste auch Seto schmunzeln.

„Ich weiß“, sagte er und küsste ihre Wange zaghaft. Er konnte die salzigen Tränen schmecken. Ein Schauer jagte über ihren Körper und sein schmunzeln wurde etwas breiter. „Aber wer von uns beiden hat denn damit angefangen? Du oder ich? Und jetzt wäre ich dir sehr dankbar, wenn du den Mund aufmachst und sagst, was los ist.“

Es fühlte sich merkwürdig an, nicht den Befehlston heraus hängen zu lassen. Seto war es einfach nicht gewöhnt so ruhig und einfühlsam zu sprechen und sicherlich entging ihr das nicht. Aber er tat sein Bestes, um sie nicht alleine zu lassen.

Wieder hauchte er einen Kuss auf ihre Wange. Es folgte wieder ein Schaudern und sogar ein leises Seufzen. Es war so leise, dass er glaubte, es sich eingebildet zu haben.

Etwas kaltes berührte seine Hand und Seto merkte, sie sie halt suchend nach seiner Hand griff. Trotz des warmen Wassers waren ihre Fingerspitzen eisig.

„Warst du bei deinem Sohn?“, fragte er und hoffte endlich darauf zu sprechen zu kommen, ohne weiter um den heißen Brei reden zu müssen. Die Frage fiel ihm nicht leicht und er sah wieder das Spielzeug auf seinem Bett vor seinem geistigen Auge.

„Sohn?“ Fast konnte er sehen, wie sie die Stirn runzelte. „Wie kommst du darauf?“

„Wegen der Figur“, antwortete er ruhig und strich wieder über ihre Schulter, „Es ist kein Problem, wenn zwischen dir und deinem Ex ein Kind rum gekommen ist. Es wäre immerhin deine Sache, aber du solltest zumindest ehrlich zu mir sein, nach allem, was ich für dich tue.“

Naomie schüttelte den Kopf. „Die ist von meinem kleinen Bruder Shun. Ich habe sie versehentlich eingepackt.“

„Dann hast du kein Kind mit deinem Ex?“ Fast schon erleichtert entfuhr ihm die Frage.

„Nein, keine Sorge. Ich bin kinderlos.“

Erleichtert stieß er die Luft aus.

„Dann warst du bei deiner Familie?“

Sie nickte.

Ein Anhaltspunkt und langsam kamen sie voran. Der erste Dominostein war gefallen und endlich konnte die Kettenreaktion starten.

„Was ist passiert?“

„Ich…ich wollte nicht abhauen, wirklich…“, begann sie schluchzend und lehnte sich ein wenig nach hinten an seine Schulter, „Ich wollte wirklich mit dir reden, aber mein Bruder…Er hatte mich angerufen. Mein Opa…er liegt im Krankenhaus. Es stand die letzten Tage ziemlich schlecht um ihn und wir waren alle da, falls er es nicht schafft.“ Wieder schluchzte sie und automatisch drückte er sie an sich. „Er hat Demenz. Bisher lief alles gut und Oma konnte sich noch alleine um ihn kümmern. Opa hatte nur hin und wieder Dinge vergessen, aber wenn wir ihn dran erinnert haben, wusste er es wieder. Ich bin sicher, meine Eltern haben Oma schon länger gesagt, sie muss eine Pflege besorgen. Aber…“

„Aber sie hat nicht drauf gehört“, schlussfolgerte er.

„Genau. Jetzt ist es soweit, dass Opa immer mehr vergisst. Selbst unsere Namen oder sowas. Als Oma im Keller war, ist er aus der Wohnung heimlich abgehauen und wollte ihr etwas zum Hochzeitstag holen. Dabei ist er angefahren worden.“

Kein Wunder, wenn sie mit einem affenzahn aus seinem Büro gestürmt war. Das wäre er bei Mokuba mit Sicherheit auch.

„Es stand ziemlich schlimm um ihn und ich habe gestern Nacht meine Eltern reden hören, wie sie darüber sprachen für Oma eine Wohnung zu suchen. Das Haus wäre zu groß und Opa braucht jetzt definitiv professionelle Pflegekräfte.“

Wenn er sich das so anhörte, konnte er verstehen, wieso sie so fertig aussah.

„Geht es ihm besser?“

„Ich denke schon. Ich habe nicht viel mitbekommen. Ich war nur zwei Mal mit im Krankenhaus. Die restliche Zeit musste ich mich um Shun und Sanya kümmern. Meine Eltern haben mich behandelt als wäre ich wieder ein Teenager und ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten.“ Sie schluchzte erneut und Seto wusste, dass ihr wieder die Tränen über das Gesicht liefen. Spätestens als einzelne Tropfen auf seinen Arm fielen. „Die ganze Zeit konnte ich nicht schlafen, weil irgendwer immer im Haus herum geschrien, getrampelt oder mit den Türen geknallt hat. Sanya hat auch nur rumgezickt, wenn ich ihr was gesagt habe…dann konnte ich dir auch nicht antworten, weil kaum Empfang im Haus war. Ich konnte auch nicht meine Mails abrufen, um dir dort zu schreiben, weil Oma kein Internet besitzt. Ich war froh, dass ich meinen Chef erreichen konnte….“

„Bist du abgehauen?“

Schwach nickte sie wieder.

„Ich wusste nicht mehr weiter…ich konnte nicht schlafen und es war auch so falsch, so zu tun als wäre alles normal und auch was zu essen, während ich gemerkt habe, wie angespannt alle sind. Dann stand noch das mit dir aus und ich hab die meiste Zeit darüber nachgedacht, dabei hätte ich an Opa denken sollen! Heute früh hab ich gesagt, dass mein Chef mich braucht und ich wieder weg muss…dabei stimmt das gar nicht. Ich hätte noch mindestens eine Woche Zeit gehabt!“ Sie weinte wieder.

So langsam wunderte Seto gar nichts mehr. Bei dem schlechten Gewissen konnte es ihr auch nicht gut gehen und er fragte sich, wieso sie nicht schon eher was gesagt hatte. Fühlte sie sich so schlecht? Dabei war es doch nur verständlich, wenn sie sich mit einer Notlüge da raus holte.

„Es tut mir leid…“, schluchzte sie und ihre Hand umschloss seine fester.

„Du hättest es mir von Anfang an sagen sollen“, sagte er und fragte sich, wie er ihr nur helfen konnte.

„Es tut mir leid…“, brachte sie wieder raus und sie drehte sich in seinen Armen herum. Das warme Wasser plätscherte leise dabei. Demonstrativ sah Seto auf den Player. Sie zitterte und hielt sich an ihm fest.

Beruhigend strich er ihr über den Rücken.

So viel zum Thema geschäftliche Beziehung. Das hier war alles andere als geschäftlich und er sah zur Decke, um nicht auf ihren Körper zu glotzen.

Doch statt sich zu beschweren, hielt er sie stumm im Arm. Sein Hemd konnte er gleich wechseln, so durchgeweicht war es.

„Du solltest langsam aus dem Wasser kommen. Das Essen ist fertig und du hast sicherlich Hunger, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Er sprach ruhig und versuchte mitfühlend zu klingen, was ihm gar nicht so einfach viel.

Langsam nickte sie und wischte sich wieder über die Augen.

Noch immer auf den Player starrend, tastete er nach dem Handtuch und breitete es mit einer Hand aus, während er sie immer noch im Arm hielt. Nur langsam löste er sich und hielt ihr das flauschige Stück Stoff so hin, dass es direkt alles bedecken konnte.

Ihre Hände streiften seine Hand, als sie ihm das Handtuch abnahm und langsam aufstand und sich umwickelte.

Seto stand mit auf und bot ihr ein wenig halt. Sein Blick war dabei auf sein Lieblingsduschgel gerichtet und sobald sie auf sicheren Füßen stand, ließ er sie los.

„Das Essen ist fertig. Wenn du dich angezogen hast, komm runter.“

Sie nickte und er sah ihre verquollenen Augen. Sie waren noch immer gerötet, aber es wirkte nur noch halb so schlimm wie vorhin. So wie Naomie dort stand, wollte er sie am liebsten wieder in den Arm nehmen. Sie wirkte so verloren und schutzbedürftig.

„Es wäre übrigens schön, wenn du wieder fröhlicher drauf wärst. So bist du mir wesentlich lieber“, sagte er mit einem leichten schmunzeln auf den Lippen.

„Du meinst, ich soll wieder froh und munter sein? Wie in dem Weihnachtslied?“, fragte sie und er hörte das Wasser plätschern, als sie aus der Wanne stieg.

„Wenn du es so ausdrücken willst und du wieder zu dem aufgedrehten und lächelndem Ding wirst, das mein Hund angesprungen hat, ja.“

Kurz blickte er über die Schulter und sah, wie sie sich über die roten Augen wischte und sich ein Lachen nur mit Mühe verkneifen konnte und auch sein Schmunzeln wurde eine Spur breiter. Sie wirkte so weniger schutzbedürftig und trotzdem, ließ das Bedürfnis nicht locker.

Doch diesmal ließ Seto sich nicht von dem Gefühl beeinflussen, sondern ignorierte es. Er verließ schnell das Badezimmer, ehe er dem nicht mehr widerstehen konnte. Außerdem, so sagte er sich selbst, wollte er es nicht darauf ankommen lassen, dass sie wieder übereinander her fielen und das Handtuch bot nicht wirklich Schutz davor, dass sie nicht zu weit gingen.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, pochte seine Schläfe und das Blut zirkulierte in seinen Adern.

So langsam musste er sich was einfallen lassen. So wie die Sache zwischen ihnen lief, dauerte es nicht mehr lange und die Presse würde ihm eine Beziehung andichten. Irgendwie musste er es schaffen, dass sie auf eine geschäftliche Ebene zurückkehrten.

Es war nicht das erste Mal, dass er sich das vor nahm und wie die anderen Male zuvor, hatte es auch nicht funktioniert.

Langsam ging er zum Schrank und knöpfte sein Hemd auf. Der Stoff klebte unangenehm auf seiner Haut und er zog es schnell aus.

Wie konnten sie nur so abdriften?

Aus seinem Kleiderschrank zog er ein neues Hemd und zog es schnell an. Es fühlte sich kalt an, aber besser als das feuchte, was er nun ordentlich über einen Stuhl hing.

Kurz stützte er sich an der Lehnen ab und sah auf die Polsterung.

Was hatte ihn nur da grade geritten, ihr diese Worte zu sagen? Es passte so gar nicht zu ihm.

Aus dem Bad erklangen ein paar Geräusche. Seto schluckte und er dachte an das beklemmende Gefühl in seiner Brust, als er dachte, sie hätte sich was angetan. Wieso war der Gedanke nur so erschreckend?

Wieder schluckte er.

Es war gefährlich weiter so mit ihr um zu gehen. Dabei war es doch nur ein schwacher Moment gewesen, der ihn dazu verleitet hatte.

Ein einziger, schwacher Moment sorgte nun dafür, dass sie es schaffte, dass er sie so nahe an sich heran ließ. Das konnte nicht wahr sein und er durfte sich nicht so schwach geben. Er empfand nichts für sie und würde es auch niemals tun. So etwas wie Gefühle oder gar Liebe existierte zwischen ihnen nicht! Er würde sich so einen sentimentalen Schwachsinn auch nicht hingeben. Es gab auch keine Liebe auf den ersten Blick. Das war alles nur gefühlsduseliger Unsinn, den Hollywood erfunden hatte, um Frauen eine falsche Vorstellung von einer Beziehung und Gefühlen zu vermitteln.

Aber trotzdem setzte da etwas bei ihm aus. Es fiel ihm schwer so kalt zu bleiben und sich nicht doch auf ihre Art einzulassen.

Vor einigen tagen war es noch kein Problem gewesen, so zu tun als würde sie ihn nicht interessieren, aber seit dem Kuss hatte sich irgendwas verändert. Nicht nur zwischen ihnen, auch bei ihm und diese Erkenntnis manifestierte sich langsam in sein Bewusstsein.

Er machte sich inzwischen fast so viele Sorgen um sie, wie er es sonst nur für Mokuba tat.

War das gut oder schlecht? Sollte er froh darüber sein oder nicht?

Ihm war auch bewusst, dass er nicht auf ihre entschuldigenden Worte eingegangen war. Es war nicht so, dass er noch sauer war oder sie hasst oder es nicht annehmen konnte, er wusste einfach nicht, was er darauf erwidern sollte. Besonders, wenn sie so aufgelöst war und alle seine Instinkte schrien, sie zu beschützen, wie er es sonst nur bei Mokuba kannte.

Das war etwas völlig Neues für ihn.

Die Tür zum Bad schwang auf und er drehte sich um.

Da stand sie, frisch gebadet und mit einer einfachen Hose und Pullover aus ihrem Koffer bekleidet. Die Augenringe hatte sie mit der Creme, die er ihr gegeben hatte, gut abgedeckt. Alles in allem sah sie wieder lebendiger aus und sie lächelte, wenn auch schwach.

„Du siehst besser aus“, bemerkte er und nickte ihr zu. Sie wirkte noch immer fertig, aber wenn sie erstmal etwas gegessen und eine gesunde Portion Schlaf bekommen hatte, würde auch das schnell vorbei sein.

Innerlich schallte er sich jedoch direkt selbst.

Hatte er nicht eben noch vor gehabt wieder Distanz aufzubauen? Wieso machte er sich also Gedanken darum, was sie brauchte, damit es ihr besser ging? Innerlich knurrte er sich dafür selbst an.

Am liebsten hätte er sich dafür selbst in den Hintern getreten, aber sein Gewissen machte das sicherlich gerne für ihn.

Dennoch löste sich langsam der Knoten von Sorge, der sich in seinem Magen gebildet hatte. Seto hätte auch nicht sagen können, wie lange er diesen elendigen Anblick von ihr hätte ertragen können, ohne selbst noch mehr Schwäche zu zeigen.

Sie kam auf ihn zu.

„Ich hörte es gibt etwas zu Essen?“, fragte sie und er hörte einen fröhlicheren Unterton. Auf dem Weg der Besserung war sie auf jeden Fall und das hob auch seine Laune ein wenig.

„Unten in der Küche. Eintopf, dazu Salat mit Tomaten und als Nachtisch Obstsalat“, sagte er ruhig und er sah ihr in die Augen. Die Ränder waren bei genauerer Betrachtung noch immer Rot, aber er konnte wieder das Grün ihrer Pupillen erkennen mit den kleinen braunen Sprenkeln darin.

Sie nickte und sah sich kurz um, als könnte man sie beobachten, ehe sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn auf die Wange küsste.

Überrascht blinzelte er.

Was hatte denn das zu bedeuten? Hatte sie nicht klar gesagt, sie will nichts von ihm? Wieso küsste sie dann jetzt seine Wange?

Fast hätte er sogar die Augen geschlossen, konnte sich aber grade so davon abhalten. Außerdem war der kleine, flüchtige Kuss so schnell vorbei, wie er ihn bekommen hatte.

„Danke“, nuschelte Naomie leise mit einem Lächeln und ließ ihn dann alleine im Zimmer stimmen, während sie leise „Lasst uns froh und munter sein“ vor sich hin summte.

So viel zum Thema geschäftliche Distanz und Beziehung. Naomie machte es ihm nicht grade einfach. Aber aus irgendeinem Grund musste er dennoch schmunzeln.

Es war eine Herausforderung an sich selbst wieder die kühle Mauer auf zu bauen und Seto war bereit diese anzunehmen.

Türchen 15 - Weihnachtslichter

„Kannst du bitte das Fenster schließen? Es ist kalt.“ Ihre Stimme klang ruhig und doch empfand er sie als laut in der Stille seines Büros. Kurz war er sogar zusammen gezuckt, da er Naomie auch vollkommen vergessen hatte, so vertieft war er wieder in seiner Arbeit gewesen. Doch nun war ihre Präsens wieder deutlich zu spüren und seine Konzentration schwand mit jeder Sekunde, die verstrich.

Seto blickte von seinem Laptop auf. Seine Finger tippten den Satz mit schnellen Anschlägen zu Ende. Kurz blinzelte er sie an und nickte.

Wortlos schloss er das Fenster hinter sich und drehte die Heizung etwas auf. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Dokument vor sich. Er blätterte die Postmappe kurz durch und schlug weiter auf die Tatstatur ein. Es waren die einzigen Geräusche in dem Zimmer.

„Geht es dir nach gestern besser?“, fragte er diesmal ohne auf zu sehen. Es war ungewohnt sich mit jemanden während der Arbeit zu unterhalten.

„Wie?“ Naomie blickte von dem Besuchersofa in seinem Büro auf. Das Papier in ihrer Hand raschelte. „Ja…etwas. Ich fühl mich immer noch etwas müde, aber besser als die letzten Tage in jedem Fall.“

Er nickte zufrieden und beobachtete kurz, wie sie sich wieder der dicken Mappe widmete und ein Blatt nach dem anderen auf verschiedenen Haufen legte. Sie schien wieder ganz vertieft darin zu sein, die verschiedenen Texte zu Slogans zu lesen, die seine Werbeabteilung inzwischen kreiert hatten und die ihr als Inspiration für die Fotoarbeit dienen sollte.

Naomie lehnte sich zurück und überschlug geschäftsmäßig die Beine, so wie er es auch oft genug tat. Sie fuhr sich mit der Zunge kurz über den Finger, um das Blatt besser greifen zu können und wiegte leicht den Kopf hin und her.

Das Blatt landete wieder ganz nach hinten in ihre Hand.

Es war nicht das erste Mal, dass sie sich die Papiere durch sah. Seit fast zwei Stunden saß sie schon hier in seinem Büro und arbeitete. Seto versuchte es ebenfalls und schaute nur hin und wieder zu ihr, um zu sehen, wie weit sie gekommen war. Aber ein Ende schien noch nicht in Sicht zu sein. Seine Neugierde wuchs, was sie ihm am Ende dazu sagen würde.

So wie Kuzuki schaute, schien es hinter ihrer Stirn auf Hochtouren zu arbeiten.

Ob sie mit den Texten etwas anfangen konnte? Ein weiteres Blatt landete auf einen Stapel und Kaiba konnte nicht sagen, ob es der Stapel war, der ihre Zustimmung fand oder der, den sie aussortierte.

Seto tippte wieder auf seinem elektronischen Gerät herum. Er griff zur Kaffeetasse und trank einen Schluck. Die Brühe darin war eiskalt, dennoch kippte er sie hinunter und verzog nur kurz dabei das Gesicht.

„Willst du etwas trinken?“, fragte er und sein Finger schwebte kurz über den Knopf für die Kurzwahl seiner Sekretärin.

Naomie blickte auf und nickte. „Tee wäre gut. Am besten Minze oder sowas.“

Er nickte und drückte den Knopf.

„Ja, Herr Kaiba?“, fragte seine Sekretärin fröhlich und gut gelaunt. Er konnte das Radio dudeln hören und wie es wieder irgendeinen Weihnachtssong spielte.

„Bringen Sie mir eine Kanne Kaffee und Pfefferminztee“, sagte er kalt wie immer und ignorierte die Musik.

„Wird gemacht.“

Ein Knacken und seine Sekretärin hatte aufgelegt. Sofort widmete er sich wieder seiner Arbeit.

Es war merkwürdig mit Naomie in seinem Büro zu sitzen und dass sie sich anschwiegen. Bisher hatten sie immer geredet, wenn sie aufeinander getroffen hatten. Aber diese Stille war fast schon beängstigend.

Dennoch immer noch besser, als nicht arbeiten zu können. An die letzten Tage wollte er nicht denken. Das alles, was er für sie hatte liegen lassen, musste er nun nach arbeiten.

Auf der anderen Seite tat es ihm auch nicht leid, auch der gestrige Tag nicht.

Dann sollten seine Angestellten eben denken, er zog sein Privatleben der Arbeit vor. Es war auch so und wiederum auch nicht. Immerhin war Naomie inzwischen nicht nur eine geschäftliche Person in seinem Umfeld geworden, sondern auch eine private Person. Das hatte nicht nur sein Gewissen in der Nacht beschlossen ohne sein Zutun, sondern auch Mokuba, in dem er Naomie als Freundin betitelte.

Darüber konnte Seto noch immer nur den Kopf schütteln. Wie sollte er sein Vorhaben umsetzen können, wenn scheinbar alles gegen ihn arbeitete? Es schien, als wollte das Schicksal grade zu, dass er privat immer wieder mit ihr aneinander geriet.

Natürlich war sein Verhalten bisher alles andere als geschäftlich gewesen. Aber umso mehr versuchte er es jetzt wieder, egal, wie schwer sie es ihm machte.

Das Blinken des kleinen Icons vom weißen Drachen auf seinem Monitor erregte seine Aufmerksamkeit. Mit einem gewohnten Klick öffnete sich die Mail.

Nur kurz huschten seine Augen über die Newslettermail und ein Seufzen entfuhr dem jungen Firmenchef. Wann sollte er denn dafür noch Zeit finden oder jemanden, der noch nicht im Urlaub war oder völlig ausgelastet?

Er selbst hatte auch keine Zeit dafür.

Nur kurz strich sich Seto ein paar Haare zur Seite und lauschte dem Rascheln des Papieres. Er sah wieder auf.

„Wie weit bist du?“, fragte er ruhig und im nächsten Moment klopfte es leise an der Tür.

Naomie hielt inne und schenkte der Sekretärin nur einen kurzen Blick. Sie nuschelte nur ein „Danke“, ehe seine Vorzimmerdame wieder verschwand. Dann wandte Kuzuki sich wieder ihm zu.

„Es geht. Ich kann mich bei einigen Sachen nicht entscheiden“, sagte sie und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Naomie goss sich etwas Tee ein.

„Welchen?“, fragte er ruhig und erhob sich.

„Bei diesen.“ Sie breitete die Papiere auf der freien Fläche aus, ohne dabei die anderen beiden Stapel durcheinander zur bringen.

Seto warf einen Blick auf die Skizzen und Texte mit der bunten, weihnachtlichen Kulisse im Hintergrund. Er konnte die kleinen Details der Weihnachtslichter sehen.

Naomie rutschte etwas zur Seite, damit er sich setzen konnte, doch statt neben ihr, nahm er auf dem kleinen Sessel gegenüber des Sofas Platz.

„Zeig doch erstmal deine Favoriten. Vielleicht erübrigt sich der Rest schon.“

Seto wartete bis sie den Stapel unter den Papieren hervor gezogen hatte und reichte sie ihm. Er schenkte sich derweil etwas Kaffee ein.

„Ich dachte mir, dass man vielleicht ein paar Details verändern könnte. Grade weil Weihnachten ist“, sprach sie und er sah sich ihre Favoriten an der Skizzen an.

„Und was?“ Fragend sah er sie mit seinen blauen Augen an.

„Nun zum einen dachte ich an ein paar Kostüme, wie das vom Christkind oder vom Weihnachtsmann. Dann an viele bunte Lichter, Schnee, Schneekugeln, Geschenke, Tannenbaum, Weihnachtssterne…“

„Mit anderen Worten, du willst, dass das Studio unten in ein Winter Wonderland wird?“

Auf ihren Lippen erschien kurz ein schwaches Lächeln.

„Nicht ganz…“, sagte sie und Seto konnte sehen, wie sie sich ein Kichern verkniff.

„Aber fast“, schlussfolgerte er. Tief atmete er durch. Mokuba durfte davon nie etwas erfahren, sonst würde er sich noch Monate nach Weihnachten und im nächsten Jahr anhören, wieso die Villa nicht geschmückt werden dürfe, aber das Studio ein reines Weihnachtsparadies war.

„Naja, ein bisschen weihnachtliche Stimmung auf den Bildern wäre nicht schlecht. Ich hab da ganz viele Ideen und auch wie ich ein paar der Skizzen kombinieren kann zu einem Bild.“

Seto hob eine Augenbraue und rümpfte etwas die Nase.

„Du bist nicht begeistert?“, fragte sie und trank etwas Tee.

„Ich bin kein Freund von Weihnachten“, gestand er ruhig und besah sich die Skizzen zu Ende an, ehe sie wieder auf dem Tisch landeten.

„Ist mir schon aufgefallen“, sagte sie. Seto konnte sehen, wie sie überlegte. Ihr rechter Mundwinkel zog sich dabei nach oben und ihre Lippen kräuselten sich leicht. Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine kleine Denkerfalte.

„Dafür bist du aber ein totaler Weihnachtsfreak“, sagte er.

„Das ist nicht wahr!“

„Und wie wahr das ist. Da brauchst du gar nicht so schmollend zu schauen!“

Naomie sah ihn noch immer mit vorgeschobener Unterlippe und großen Schmollaugen an.

„Also wenn dann schon ein Weihnachtsengel!“, sagte sie bestimmend.

„Wie kommst du auf die Idee, dass du ein Weihnachtsengel bist? Hattest du heute schon Schnaps getrunken?“

„Weil ich Weihnachten mag und mich jedes Jahr darauf freue?“, sagte sie.

Seto schnaubte. „Nur wegen ein paar Keksen bist du noch lange kein Engel.“

„Dafür hast du die aber ziemlich gern gegessen.“

„Wird ja nicht frech. Nur weil du die Nacht wieder in meinem Bett schlafen konntest, heißt das nicht, dass du frech werden darfst. Ich bin immerhin jetzt dein Chef.“

„Worum ich bei beidem nicht gebeten habe.“

„Bist du immer noch sauer, weil ich dich bis Weihnachten bei mir buche und einspanne?“ Fragend sah er sie an und nahm sich die Papiere zur Hand für die sie sich nicht entscheiden konnte.

„Wie kommst du darauf?“, fragte sie und leerte die Tasse.

Seto zuckte mit den Schultern. „Nur so.“

Er wusste, er log ihr damit direkt ins Gesicht, doch er hatte nicht die Absicht ihr mitzuteilen, dass er sich innerlich darum Gedanken machte, ob sie ihm nachtragend war.

Immerhin hatte er Besserung in seinem Verhalten geschworen.

Die Frage war, ob er es schaffen konnte ihr zu widerstehen, ehe seine Firma und auch noch die Presse davon wusste, dass er sich bei ihr wie ein normaler Mensch verhielt.

Trotzdem konnte er die Anspannung spüren, die nun zwischen ihnen lag.

Er hatte sie am morgen schon einmal gespürt, als sie von ihrem Chef den Anruf bekommen hatte, dass sie ab dem heutigen Tag bei ihm in der Firma sein würde. Dass ihr Ausweis für das Firmengelände auch schon neben ihrem Frühstücksteller lag, schien es noch weniger erfreulich machen.

Sie hatte ihn mit einem kalten Blick gestraft und ihn auch vorwurfsvoll angesehen, dass er doch hätte etwas sagen können.

Lediglich der Vorwurf, dass er sie ja hätte vorher fragen können, ob sie damit einverstanden wäre, kam über ihre Lippen. Doch zum Diskutieren kamen sie nicht wirklich, denn Mokuba war in dem Moment die Treppe herunter gekommen.

Seto hatte nur erwidern können, dass ihm keine andere Lösung eingefallen war und er sie dringend bräuchte. Er wusste, wie zweideutig das war, doch es war egal.

Aber wann hätte er es ihr sagen sollen?

In der Badewanne als sie weinend an ihn gelehnt hatte oder beim Abendessen, als Mokuba fröhlich über sein Theaterstück erzählte und wie gut die Proben liefen? Mokuba hatte den ganzen Abend über das Gespräch geführt und sie später sogar zu einer Runde „Mensch, ärger dich nicht“ überredet hatte. Dabei hatte er bestimmt nicht vorgehabt mit ihr zu Diskutieren oder zu Streiten. Immerhin war sein kleiner Bruder so glücklich darüber, dass sie wieder da war und es ihr gut ging soweit.

In dem schummrigen Licht aus Kerzen und Weihnachtslichter hatten sie bis halb elf abends noch gespielt bis Seto seinen Bruder zu Bett geschickt hatte.

Mokuba hatte ihr zwar angesehen, dass sie müde war, aber es hatte ihn trotzdem nicht davon abgehalten, sie zu bitten, dass sie ihm etwas aus seinem Adventsmärchenbuch vor las. Sobald sie fertig war, war es auch für sie Zeit gewesen endlich den wohlverdienten Schlaf zu bekommen.

Zu diesem Zeitpunkt war schon von ihrem Chef der Vertrag abgesegnet worden, dass sie für ihn arbeiten würde.

Wann hätte er ihr also sagen sollen, dass sie nun eine Angestellte von ihm war? Hätte er es ihr gesagt, als sie ins Bett gegangen war, wäre sie wieder hell wach gewesen und Seto war froh, dass sie endlich Schlafen ging.

Seto war auch froh gewesen, dass Mokuba Naomie den Abend über in Beschlag genommen hatte. So hatte er schon einmal ein paar Dinge aufarbeiten können. Außerdem konnte er so schlecht seinem Bedürfnis nachgehen sie wieder in den Arm zu nehmen oder sonstiges zu tun.

Dafür war die Nacht umso schlimmer gewesen.

Nachdem Mokuba sich auch noch „aus Versehen“ verplappert hatte, dass Naomie in seinem Zimmer Quartier bezog, hatte sie ihn kurz vorm Schlafen gehen gebeten mit im Zimmer zu bleiben. Als Erklärung hatte sie angegeben, dass sie ihm nicht sein Zimmer wegnehmen wollte, aber wirklich glauben, tat Seto es nicht.

Aber den wahren Grund konnte er bis jetzt immer noch nicht finden.

Was das Zwischenmenschliche anging, konnte er sowieso vieles nicht verstehen. Genauso wenig konnte er verstehen, wieso er ihrer Bitte nachgekommen war. Hatte er nicht Besserung gelobt?

Aber statt auf seinen Vorsatz zu hören, hatte er sich von seinem Gewissen wieder reizen lassen, so dass er ihrer Bitte nachgekommen war.

Stumm hatte er sich auf der freien Bettseite hingesetzt und gearbeitet.

Sein Laptop war auf seinem Schoß gewesen und das Licht gedimmt, so dass es ein wenig schummrig war. Nur das nötigste war beleuchtet, alles andere zog durch das Licht tiefe, dunkle Schatten im Raum.

Obwohl sie miteinander schwiegen und Naomie direkt ins Bett gegangen war, blieb er noch mit dem Rücken an die Kopfstütze gelehnt dort sitzen. So leise es ging, tippte er auf den Laptop herum.

Neben ihrer Atmung war es das einzige Geräusch im Zimmer.

Immer wieder hatte Seto zu ihr sehen müssen. So friedlich wie sie geschlafen hatte, hatte es auch in ihm eine innere Ruhe ausgelöst. Müde war er zwar nicht geworden, aber es hatte die Wirkung, dass er sich ausnahmsweise mal nicht über die Inkompetenz einiger Leute aufregte. Stattdessen hatte er tief durchgeatmet und eine passende Antwort in den Laptop eingehämmert.

Auch wenn Seto ruhig gearbeitet hatte, war es ihm dennoch schwer gefallen, ihr nicht über den Kopf zu streichen, wie er es bei Shadow oft tat oder bei Mokuba, wenn dieser in seinem Schoß lag und döste.

Doch er hatte sich zurück gehalten bis Naomie angefangen hatte sein Bein als Kissen umzufunktionieren. Jegliche Beherrschung und Konzentration war dahin gewesen, als ihre Arme sich um sein Bein wickelten und ihr Kopf auf seinem Schoß lag. Wohlig seufzend hatte sie weiter geschlafen, während er wie gelähmt für einen Moment da gesehen hatte.

Mehrfach hatte er tief durch atmen müssen, um sie nicht von sich zu stoßen oder rücklings aus dem Bett zu fallen.

Nachdem seine Beherrschung wieder gekommen war, hatte er versucht sie von seinem Bei zu lösen, doch stattdessen hatte sie ihn nur feste an sich gedrückt. Was das werden sollte, wusste er immer noch nicht. Sie hatte doch gesagt, sie wollte nichts von ihm. Weshalb sie sich dann an ihn gekuschelt hatte, war ihm ein Rätsel.

Brummend hatte er dann aufgegeben sie von sich zu bekommen und stattdessen ihren Nacken gestreichelt, während er gleichzeitig immer wieder auf den Laptop herum tippte, um alles für die Präsentation fertig zu bekommen.

Erst tief in der Nacht hatte Naomie von ihm abgelassen, so dass er endlich aufstehen und gehen konnte. Seto war sogar in der Nacht noch zur Firma gefahren, um ihren Ausweis zu holen und einige andere Dinge vorzubereiten, wie den Schlüssel für das Büro in der Fotoabteilung und ihr einen Firmenlaptop zu besorgen.

Nichts sollte dem im Weg stehen, dass sie nicht arbeiten konnte. Keine Ausrede, die ihr einfallen würde, würde er gelten lassen.

Das laute Krachen seiner Bürotür gegen die Wand, holte ihn aus den Gedanken und sofort sprang Seto aus dem Sitz auf. Die Papiere in seinem Schoß segelten auf den Tisch und Naomie versuchte ein Blatt aus der Kaffeetasse zu fischen, ehe es ganz braun geworden war. Sie nahm ein Taschentuch und tupfte vorsichtig die Ecke ab, doch darauf konzentrierte sich Seto grade nicht.

Seine Aufmerksamkeit galt den Herren mit dem roten Anzug und den weißen Haaren, der einfach so in sein Büro geplatzt war.

Seine Sekretärin kam ebenfalls herein gestürmt.

„Herr Kaiba…es tut mir leid“, keuchte sie atemlos. Offenbar war sie ihm hinterher gerannt. „Er ist einfach so an mir vorbei gelaufen…“

„Hallo Kaiba-boy“, sagte Pegasus mit süffisanter Stimme und zog seinen Wintermantel aus und drückte ihn seiner Sekretärin in die Hand. „Ich bin etwas früher gekommen. Ich denke, das macht dir doch nichts aus, oder?“

„Natürlich nicht“, presste Kaiba hervor und hatte Mühe ein Knurren zu unterdrücken. Seiner Sekretärin gab er nur ein kurzes Nicken, das alles in Ordnung war. „Bereiten Sie schon mal den Konferenzraum vor.“

„Sehr wohl“, war ihre Antwort, ehe sie hinausging.

Seto wartete kurz, erst dann sprach er weiter: „Anklopfen kannst du wohl auch nicht, was? Sind deine Manieren im Flugzeug geblieben?“

„Oh mein lieber kleiner Kaiba“, sagte Pegasus gespielt schockiert, „Spricht man etwa so mit einem alten Freund?“

„Wir sind keine Freunde“, korrigierte er und setzte sich in den Sessel. Geschäftsmäßig überschlug er die Beine und fixierte Pegasus mit seinen blauen Augen.

„Aber, aber….du hast mich immerhin mit eingeladen und gebeten Sponsor zu sein. Wäre es da nicht von Vorteil ein bisschen netter zu sein?“

Seto brummte nur. Er musste im neuen Jahr dringend sein Team der Presseabteilung überarbeiten. Er könnte denjenigen noch immer alle Knochen für die Idee brechen. Allein aus reiner Not und weil das Argument, es würde sich für die Öffentlichkeit besser machen, hatten ihn überzeugt.

„Willst du mir nicht auch einen Sitzplatz anbieten und mich der jungen Dame vorstellen?“, fragte Pegasus leicht pikiert und sah ihn tadelnd an. Sein Blick lag auf Naomie, die das Gespräch stumm verfolgt hatte und etwas zur Seite rutschte, damit Pegasus sich setzen konnte. Sie tupfte grade die Ecke des Papieres trocken.

„Pegasus, ich habe hier noch etwas zu besprechen und es wäre für uns besser, wenn du im Konferenzraum wartest.“ Setos Tonfall war schneidend und bestimmend.

„Willst du mich wirklich eine Stunde allein lassen?“

„Ja, das will ich. Immerhin ist es nicht mein Problem, wenn du zu früh erscheinst.“

Ein Räuspern war zu hören und sein Blick fuhr zu Naomie, die zwischen ihnen hin und her sah.

„Ich glaube nicht, dass Sie stören“, sagte sie zu Pegasus, „Mich jedenfalls nicht und ich denke, es kann nicht schaden hierbei noch eine weitere Meinung zu hören.“

Kurz sah sie ihn verständnislos an.

„Gut, da ich überstimmt bin, setz dich, Pegasus“, sagte er resigniert und wies auf den Platz neben Naomie, „Das ist im Übrigen die Fotografin, die für die Fotoarbeit zuständig sein wird. Ihr Name ist Naomie Kuzuki.“

„Ah, ich habe schon davon gehört“, sagte der ältere Geschäftsmann und ließ sich neben ihr nieder. Er nahm ihre Hand. „Ich bin Maximillian Pegasus, Geschäftsführer von Industrial Illusion.“

„Es freut mich sehr“, sagte Naomie und Pegasus ließ ihre Hand los.

„Kaiba hatte schon in seiner Mail berichtet, dass Sie die Fotos machen würden und ich muss sagen, ich bin immer noch sehr erstaunt, dass er Sie aus einem Studio gebucht hat.“

„Wieso das?“, fragte sie überrascht und schenkte sich Tee nach. Ihre Stimme klang eher amüsiert als beleidigt.

„Weil es gar nicht Kaiba-boys Art ist jemand firmenfremdes zu so einem wichtigen Projekt dazu zu holen.“

„Es ist eine Ausnahme. Der eigentliche Fotograf wurde von mir entlassen“, mischte sich Seto ein und kurz verengten sich seine Augen.

„Dabei hatte ich dir doch angeboten dir jemanden aus meinem Team zur Verfügung zu stellen!“

„Nein, ich als Projektleiter baue das Team auf und ich vertraue Frau Kuzuki, dass sie ihre Arbeit gut macht. Du wirst doch sicherlich recherchiert haben, Pegasus, oder?“

„Natürlich, Kaiba, oder glaubst du wirklich, ich lasse mich von irgendwem ablichten?“

Naomie räusperte sich, als Zeichen, dass sie noch da war.

„Ich versichere Ihnen, Herr Kaiba“, kurz sah sie zu ihm und Seto wusste nicht, ob der Blick beleidigt war, „kennt meine Referenzen und auch, wenn ich zum ersten mal bei so einem Projekt dabei bin, bin ich kein Anfänger und weiß, wie ich die Leute ablichten muss.“

„Ich wollte Sie nicht beleidigen“, sagte Pegasus mit einem entschuldigenden Lächeln zu Naomie, „Ich frage mich nur, wieso Kaiba Sie genommen hat, wenn Sie doch keine Erfahrung haben. Immerhin ist unser kühler Firmenchef dafür bekannt nur Profis zu nehmen.“

„Glauben Sie mir, die Frage habe ich mir auch schon gestellt“, sagte sie scherzend und Pegasus stimmte in dem kurzen Lachen mit ein.

„Sie können sich trotzdem etwas darauf einbilden, dass er Sie genommen hat“, sagte er, „Ach Kaiba, wie wäre es mit etwas zu trinken? Mein Mund fühlt sich so ausgetrocknet an.“

Seto hob eine Augenbraue, als er angesprochen wurde. Er hatte sich wieder in die Skizzen vertieft und die beiden ignoriert.

„Gleich in der Konferenz gibt es genug zu trinken“, erwiderte er kühl und blätterte eine Seite um.

„Geht man so mit seinen Gästen um? Dabei will ich doch nur einen schlichten Kaffee.“

„Normalerweise kommen die Gäste auch nicht eine Stunde zu früh und stören Besprechungen.“ Trotz dieser Worte erhob er sich und ging kurz zum Schreibtisch, um bei der Sekretärin Kaffee zu ordern.

„Das war jetzt aber nicht nett, Kaiba“, entrüstete sich Pegasus gespielt und warf seine weißen Haare nach hinten. „Dabei bin ich extra her gekommen, um dir zu helfen.“

„Wäre meine Presseabteilung nicht auf diese hirnrissige Idee gekommen, säßest du gar nicht hier.“

„Dann muss ich deinem Mitarbeiter wohl eine Dankeskarte schreiben, was?“ Pegasus lächelte süffisant und im nächsten Moment erhob sich Naomie.

„Wo willst d…“ Seto hielt inne und sah kurz zu Pegasus, ob dieser was bemerkte. „Wo wollen Sie hin? Wir sind noch nicht fertig.“

„Ich geh kurz ins Studio. Offenbar wäre es gut eine Referenzmappe vorzubereiten, wenn man schon an mein Können zweifelt.“ Sie sah dabei kurz zu dem älteren Geschäftsmann und ihr Blick sagte deutlich, dass es sie doch gekränkt hatte. „Außerdem war ich soweit durch mit den Skizzen. Meine Favoriten hatten Sie grade in der Hand, Herr Kaiba. Wir sehen uns in einer dreiviertel Stunde.“

Damit verließ Naomie das Büro und machte Platz für die Sekretärin, die gerade den Kaffee herein brachte.

Kurz seufzte Seto auf. Ihm war bis eben nicht bewusst gewesen, dass er sie ab jetzt wieder siezen sollte, wenn es nicht hinter vorgehaltener Hand heißen sollte, dass Naomie und er irgendwas miteinander hätten. Wenn er eher daran gedacht hätte, hätte er sie darauf vorbereiten können. Wer weiß, was sie jetzt dachte? Glaubte sie vielleicht, ihm wäre es unangenehm, wenn er sie vor den anderen duzte?

Egal was, sie hatte den Wink zumindest verstanden und es ihm gleich getan.

„Herr Kaiba, der Leiter vom Waisenhaus hat angerufen. Er verspätet sich etwas. Der Spender aus England…sein Flieger hatte es Verspätung mit dem Start durch das Wetter. Es wird etwa eine halbe Stunde dauern.“

Seto nickte und setzte sich wieder in den Sessel. „Ist der Konferenzraum vorbereitet?“

„Ja, es steht alles bereit an Getränken. Die Kopien der Unterlagen wurden gemacht und der Beamer für die Präsentation ist auch bereit. Notizzettel und Stift liegen ebenso bereit und das White Board ist auch sauber gewischt.“

Wieder nickte Kaiba und entließ damit seine Vorzimmerdame.

Pegasus schwieg und wartete bis sie den Raum verlassen hatte, ehe er den Kaffee trank. „Sie ist süß.“

Er hob eine Augenbraue. „Findest du? Der kitschige Weihnachtsschmuck in ihrem Haar ist etwas übertrieben für meinen Geschmack.“

„Ich meine nicht deine Sekretärin. Aber ich hätte im übrigen nicht gedacht, dass du deine Firma mit Weihnachtsdeko schmückst und sogar in deinem Büro Weihnachtslichter gibt. Deine Warteschleifenmusik ist ja auch wunderbar weihnachtlich.“

„Für die Deko ist Mokuba verantwortlich“, antwortete Seto kühl, „Die Musik sollte eigentlich wieder geändert sein, aber ich schätze da steckt auch mein Bruder hinter, der sie jedes Mal aufs Neue ändert.“

Pegasus nickte und nippte wieder an der Tasse. Er überschlug die Beine und lehnte sich lässig zurück.

„Wen meinst du dann mit süß, wenn nicht meine Sekretärin?“, fragte er ein wenig neugierig.

„Oh, als ob du das nicht weißt, kleiner Kaiba“, kicherte Pegasus amüsiert und seine Lippen verzogen sich, „Ich rede natürlich von der kleinen Fotografin.“

„Findest du, dass sie süß ist?“

„Als ob dir das nicht aufgefallen ist.“

„Ich habe sie aufgrund ihrer Qualifikation eingestellt, nicht wegen ihres Aussehens.“

Diesmal war es an Pegasus eine Augenbraue skeptisch zu heben.

„So?“, er klang zweifelnd, „Ich erinnere mich, dass dein Team bisher immer aus Männern bestand. Was ist los? Hat sie dir etwa den Kopf verdreht?“

„Selbstverständlich nicht. Aber ist mal wieder typisch, dass du gleich auf so etwas kommst. Wie ich vorhin sagte, wurde ein Fotograf entlassen und sie ist der Ersatz bis ich jemand neues gefunden habe.“

„Und wie bist du auf sie gekommen? Laut meinen Recherchen arbeite sie im Fotostudio „Dreamland“ und ich bezweifle, dass du je einen Fuß dort hinein gesetzt hast. Das wäre nicht deine Art und nicht dein Geschmack.“

„Glückwunsch zu diesem Ergebnis und ja, ich würde unter normalen Umständen keinen Fuß in das Studio setzten.“

„Wie kommt es dann dazu?“

„Es war reiner Zufall, Pegasus.“

„Zufall?“ Amüsiert lachte der Geschäftsmann auf. „Ich brauche kein magisches Auge um zu sehen, dass da was zwischen euch ist.“

„Rede dir nur weiter so einen Unsinn ein.“ Das war ja fast schon schlimmer als mit dem Gewissen zu diskutieren.

„Siehst du, ich bin nur halb so schlimm!“, sagte es und genervt brummte Kaiba auf.

„Vergiss nicht, mein lieber Kaiba-boy, dass ich auch mal in deinem Alter war und verliebt. Ich mag nur noch halb so gut sehen können, aber ich habe deine Blicke durchaus bemerkt.“

„Du machst dich lächerlich. Aber bitte, wenn du unbedingt wissen willst, woher ich sie kenne: Es war ein Zusammenprall mit meinem Hund, der meinte sie anspringen zu müssen.“

„Oh was für eine niedliche Geschichte und seitdem geht sie dir nicht mehr aus dem Kopf, ist es nicht so?“ Pegasus seine Stimme klang euphorisch und begeistert klatschte er in die Hände.

„Denk was du möchtest, Pegasus.“ Damit erhob sich Seto und setzte sich wieder hinter seinem Schreibtisch, um die Präsentation fertig zu bekommen

„Oh das tue ich schon lange“, grinste er süffisant, „Ich mein, deine Blicke waren kälter als sonst, als ich ihre Hand genommen habe und ihre Fähigkeiten in Frage gestellt habe.“

„Ich mag es nur nicht, wenn man meine Mitarbeiter kritisiert und beleidigt“, antwortete er sachlich, „Wenn einer das tun darf, dann ich.“

„Und was ist mit deinem Versprecher?“

„Was meinst du, Pegasus?“

„Du hast sie geduzt. Denkst du ich merke sowas nicht? Ich mag älter sein als du, aber so alt nun auch wieder nicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Dein Versprecher ist mir aufgefallen und auch wie sie deine Anrede betont hat.“

Seto knurrte leise. War es doch so offensichtlich gewesen?

„Also vor mir müsst ihr zwei nicht die fremden Geschäftspartner spielen.“

„Wie du sagtest, es war ein Versprecher, weil ich dich vorher geduzt hatte.“ Ohne aufzusehen blätterte er in einer Mappe herum.

„Das soll ich dir glauben, Kaiba-boy?“

„Es wäre besser als weiter mit mir darüber zu diskutieren, ob ich für eine Angestellte irgendwas empfinde oder nicht empfinde.“

„Wie du willst, kleiner Kaiba. Ich werde dann mal sehen, ob ich ihr nicht etwas zur Hand gehen kann.“

„Tu was du nicht lassen kannst, aber lass die Finger von ihr.“ Seine Stimme nahm einen drohenden Unterton an.

„Eifersüchtig?“

„Nein, garantiert nicht.“ Sein Tonfall war eisig und dieses Grinsen in Pegasus sein Gesicht war einfach nur nervig. „Ich will nur nicht, dass sie von ihrer Arbeit abgelenkt wird.“

„Was denkst du nur von mir?“

„Ziemlich viel und nichts Gutes“, war die schlichte Antwort.

„Sie ist viel zu jung für mich“, sagte Pegasus kopfschüttelnd.

„Hat andere reiche Männer noch nie davon abgehalten jüngere Frauen zu heiraten.“ Mit schnellen Bewegungen unterschieb er einen Brief. Der Stift kratzte kurz über das Papier. Als Seto wieder aufsah, konnte er das bunte Licht der Weihnachtslichter auf dem Teppich sehen, das vom Gebäude gegenüber herein fiel. Es war ein buntes Licht und warf merkwürdige Muster auf den Boden.

Pegasus sein Haar bekam einen leichten Grün-, Blau- und Rotstich.

„Nein, keine Sorge, ich nehm sie dir schon nicht weg. Ich seh doch, wie dein Herz an ihr hängt.“ Wieder war da dieses süffisante Lächeln, als wüsste Pegasus viel zu viel und wäre ihm überlegen.

Die Vorstellung, dass er hinunter in die Studioräume gehen würde, behagte Seto nicht im geringsten, doch ihm wollte auch kein Grund einfallen, wieso es nicht ging. Mit einem „Bis später, Kaiba-boy“ verließ Pegasus sein Büro.

Nur ungern ließ er den Geschäftsmann gehen und widmete sich den letzten Vorbereitungen, doch weit kam er nicht, denn seine Sekretärin rief bei ihm an.

„Herr Kaiba?“, sagte sie, „Die Duellanten sind jetzt eingetroffen und warten im Konferenzraum. Der Waisenhausleiter ist mit dem Sponsor jetzt auch auf dem Weg.“

„Gut, dann stellen Sie ab jetzt Niemanden mehr durch. Ich bin auch gleich im Studio unten.“

„Sehr wohl.“

Damit legte Seto auf und nahm seinen Laptop mit, als er nach unten ging. Es ließ ihn keine Ruhe, dass Pegasus alleine mit ihr war. In seinem Magen hatte er ein ganz mieses Gefühl und er kannte diese Schlange nur zu gut. Er würde ihr sicherlich irgendetwas einreden oder sie überreden, dass sie ihn mit dem Projekt sitzen ließ. Oder er würde versuchen sie für irgendeines seiner Projekte zu nutzen, nur um ihn eifersüchtig zu machen.

„Moment…“, murmelte er und blieb kurz im Flur stehen.

„Ja, du hast grade eifersüchtig gedacht“, sagte sein Gewissen und seufzte.

Aber er war nicht eifersüchtig. Hatte er nicht eben genau das groß vor Pegasus gesagt?

„Ja, auch das hast du.“

Seto seufzte und ging die Treppe hinunter, die ins Studio führte. Was dachte er da nur? Er würde… Was? Das war die Frage. Seto wusste selbst nicht, was er sein würde, wenn sie wirklich für Pegasus arbeiten würde. Gefallen würde es ihm nicht. Aber konnte man das schon Eifersucht nennen?

„Wehe, wenn dieser Pinkel sie genötigt hat!“, hörte Seto eine laute und ihm nur zu deutlich bekannte Stimme. Schritten zogen an einem Nebengang an ihm vorbei.

„Beruhig dich, es wird schon alles seine Richtigkeit haben, wieso Naomie hier arbeitet“, sagte eine zweite Stimme.

„Da ist doch aber was oberfaul! Zuerst verschwindet sie, dann nimmt Kaiba sie im Wagen mit und ist dabei stinksauer auf sie und jetzt arbeitet sie für den Idioten? Das stinkt doch zum Himmel!“

„Es wird sicherlich eine Erklärung dafür geben. Aber dich jetzt so aufzuregen bringt doch nichts.“ Diese Stimme war weiblich und sie stammte nicht von Gardner, die sonst immer mit dem Straßenköter und dem Zwerg zusammen war.

Ihre Stimmen verhallten und Seto ging weiter.

Im Studio unten war alles hell erleuchtet und er hörte Pegasus seine Stimme, die mit Naomie redete. Seto blieb bei der Tür stehen und beobachtete die beiden neugierig.

Offenbar hatte Naomie die Dekorationskiste gefunden und sich dort weihnachtlich eingerichtet. Ein Schmunzeln stahl sich dabei auf seine Lippen. Es passt einfach zu ihr und er konnte sich gut vorstellen, wie sie schon am Morgen herum gelaufen war und die Praktikantin angewiesen hatte ihr zu helfen. Wenn Mokuba keine Schule gehabt hätte, wäre er sicherlich auch dabei gewesen.

Das große, weiße Tuch lag über dem Boden ausgebreitet und ein Schlitten stand bereit. Mehrere Geschenkpakete standen dekorativ herum. Eine bunte Weihnachtslichterkette hing um den kleinen Kunsttannenbaum, der inzwischen einige Kugeln an seinen Zweigen hängen hatte. Auf einem Tisch außerhalb der Kulisse hatte sie noch eine Weihnachtsmütze liegen, eine Flasche voll mit Glitzer und Kunstschnee und Handschuhe. Ein viktorianisch aussehender Stuhl mit roter Polsterung stand ebenfalls bereit. Auf einem Kleiderständer hingen verschiedene Kostüme.

So wie es aussah, bereitete sie schon alles für das Shooting vor und leuchtete grade die Leinwand aus. Seto wollte nicht wissen, wie viele Ideen in ihrem Kopf Fuß gefasst hatten, wenn sie schon so klar und deutlich alles bereit legte. Innerlich betete er darum, dass sie ihn nicht auch vor die Kamera zerrte.

„Sagen Sie, wie sind Sie und Kaiba zueinander gekommen?“, hörte er Pegasus fragen und beobachtete, wie er ihr eine Dose mit künstlichen Keksen reichte. Dabei stand er hinter ihr und beugte sich über sie. Eine sehr intime Geste, wie Seto fand und die ihn die Hände zu Fäusten ballen ließ. Leise knurrte er.

„Das war Zufall“, sagte Naomie und stellte die Dose auf den Tisch. Sie wandte sich wieder der Kamera zu, die um ihren Hals hing und schaltete einen weiteren Lichtstrahler an. „Wir haben uns im Park getroffen. Sein Hund hatte mich angesprungen.“

Naomie zuckte mit den Schultern. „Könnten Sie sich kurz auf den Schlitten setzten, bitte? Dann kann ich sehen, ob das Licht gut ist.“

Pegasus tat ihr den Gefallen.

„Und wie kam es, dass er sie jetzt eingestellt hat?“, fragte er neugierig und Seto konnte das Lachen auf seinen Lippen sehen, dass er mehr wissen wollte und ihm die Story mit dem gefeuerten Fotografen nicht abkaufte. Die Kamera surrte und klickte mehrfach.

„Das hat sich so ergeben. Mich hat das auch überrascht“, sagte sie und ging zu einer Lampe, um sie höher auszurichten.

„Wieso das?“

„Bitte einmal hinstellen. Danke“, sagte sie und wieder klickte die Kamera mehrfach, „Weil es hinter meinem Rücken war. Ich hab davon nichts mitbekommen. Aber gut, ich sehe das hier als neue Herausforderung.“

„Sind Sie deswegen sauer?“

„Vielleicht ein bisschen, aber nicht viel.“ Ihre Stimme klang distanziert und sachlich.

Seto stieß die Luft aus und war irgendwo erleichtert das zu hören. Irgendwo meldete sich auch sein Gewissen, dass er nicht weiter lauschen sollte, aber er wollte wissen, was Pegasus im Schilde führte.

„Kennen Sie sich gut?“

Naomie schwieg eine Weile, ehe sie antwortete. Sie tat, als würde sie ganz vertieft sein und die Kamera einstellen.

„Nun?“, hakte Pegasus nach einem Augenblick nach.

„Wollen Sie mich ausfragen?“, war ihre Gegenfrage.

„Oh nicht im Geringsten. Ich wollte nur ein wenig plaudern.“

„Mir scheint es aber so.“

„Dann entschuldigen Sie“, sagte er und blieb weiter vor der Leinwand stehen. „Mir scheint es nur, als würden Sie sich gut kennen. Immerhin wollte er Sie doch vorhin duzen, oder irre ich mich da?“

„Mag sein, ist mir gar nicht aufgefallen“, erwiderte sie ruhig und gelassen. Innerlich war Seto erleichtert, dass sie scheinbar nicht auf das Spiel von Pegasus einließ und sich vor ihm verschloss.

„Ich kann Ihnen aber versichern, dass Sie sich wirklich etwas darauf einbilden können. Auch, dass er Sie duzt und wie ich unseren Kaiba-boy kenne, tut er es nicht ohne Grund. Ich habe ihn eben auch ein wenig beobachtet. Offenbar liegt ihm etwas an Ihnen.“ Pegasus ließ seine Worte kurz wirken.

„So? Dann wird er da auf verlorenem Posten sein“, seufzte sie kurz und richtete ein Päckchen etwas. Sie ließ sich von außen nicht anmerken, was die Worte bei ihr bewirkten. Das bunte Licht der Weihnachtskette fiel auf ihr Gesicht. „Ich hab nämlich keinerlei Interesse, wenn das der Fall sein sollte.“

„Woran dann? Einen Partner? Verschmähte Liebe? Oder ist er zu jung? Mögen Sie etwa ältere Männer“ Er kicherte.

Seto knurrte. Machte dieser Kerl sich wirklich grade an sie ran?

„Nein, auch nicht. Ich bevorzuge grade das Singeldasein.“

„Verstehe, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass Liebe oft unerwartet kommt“, philosophierte Pegasus und Seto überkam eine unbekannte Übelkeit bei den Worten. Dachte er, dass er sie so rumkriegen würde? Wenn ja, dann kannte er sie aber schlecht. So wie Seto sie einschätzte, war sie nicht der Typ für solche schnulzigen Dinge.

Naomie schwieg dazu. Ob er eintreten und sie aus der Lage retten sollte? Seto schluckte. Es war auch interessant, wie es weiter ging und ob sie sich alleine wehren konnte.

„Ich habe Ihre Arbeiten gesehen“, fuhr Pegasus fort, „Wenn Sie bei Kaiba fertig sind, dachte ich, dass Sie vielleicht mal Lust haben zu mir auf die Insel zu kommen. Es gibt dort sehr schöne Landschaftsbereiche, die sich sehr gut für ein kleines Shooting eignen. Ich lade sie herzlich ein.“

„Danke für das Angebot. Ich komm bestimmt gern darauf zurück.“ Sie klang interessiert und doch distanziert bei der Antwort, als würde sie ihn nicht kränken wollen.

„Es würde mich freuen Sie als Gast bei mir zu wissen“, sagte Pegasus, „Ich plane außerdem eine Reihe neuer Karten und es würde sich anbieten, diese mit der neuesten Holografik von Kaiba für die Werbung zu fotografieren. Es wäre also alles rein geschäftlich.“

„Klingt interessant. Das müsste ich nur mit meinem Chef abklären.“

„Darüber machen Sie sich keine Sorgen, das würde mein Büro übernehmen.“

„Verstehe“, sagte sie und schaltete die Lichter von dem Kunsttannenbaum aus, „Aber dann würde ich Sie bitten das nicht vor dem neuen Jahr zu planen. Meinen Urlaub würde ich gern nehmen, trotz der momentanen Lage hier.“

„Natürlich. Meine Firma ist über die Festtage geschlossen“, sagte Pegasus ohne zu zögern und es wunderte Seto nicht, dass seine Firma ihm den Rang ablief, wenn er jeden Feiertag als Grund nahm seinen Angestellten frei zu geben.

„Ich glaube, die Konferenz fängt gleich an. Wir sollten langsam nach oben gehen“, sagte sie und wechselte damit unvermittelt das Thema.

„Stimmt, Sie haben recht. Soll ich Ihnen helfen?“, frage Pegasus und sah dabei zu, wie sie alle Leuchten und Strahler ausschaltete.

„Nein, gehen Sie ruhig vor. Ich komme nach, ich muss eh gleich abschließen.“

Pegasus nickte und Seto trat etwas von der Tür zurück und wartete bis dieser aus dem Studio gegangen war.

„Oh, hallo kleiner Kaiba“, grinste Pegasus und schloss die Tür hinter sich, „Lauschen ist aber nicht sehr nett.“

„Jemanden ausfragen auch nicht“, konterte er bissig.

„Aber, aber“, sagte Pegasus und sah ihn siegreich an, „Ich dachte, du bist nicht eifersüchtig?“

„Bin ich auch nicht. Ich mag es nur nicht, wenn man versucht mir Angestellte abzureden.“

„Bilde dir nichts ein, kleiner Kaiba. Sie ist nicht deine Angestellte.“

„Im Moment schon.“

„Nicht mal wirklich das“, erwiderte Pegasus ruhig, „Kuzuki wurde dir nur von ihrem Chef geliehen, wenn du so willst. Wenn ein anderes, wichtigeres und sagen wir, lukrativeres Angebot käme, was glaubst du, wo sie morgen stehen würde?“

„Du würdest es nicht wagen!“, zischte Seto zwischen zusammengepressten Zähnen.

Abwehrend hob der Ältere die Hände und sah ihn schockiert an, dass er wirklich glauben konnte, er würde ihm das Projekt dadurch ruinieren, dass Naomie nicht mehr für ihn arbeitete.

„Nein, nein, keine Sorge“, lachte Pegasus leicht, „Ich habe nicht vor dir dein kleines Projekt zu ruinieren. Immerhin wären am Ende die Kinder, die am meisten leiden. Das würde ich nie tun.“ Er schüttelte den Kopf, so dass die langen weißen Haare leicht hin und her flogen. „Nein, ich lasse sie dir bis zu den Feiertagen. Dann geht sie doch so oder so in den Urlaub und dein Projekt ist dann zu Ende. Demnach kann ich sie ja danach anstellen. Du hast doch sicherlich nichts dagegen, oder? Ihre Bilder strahlen so viel Wärme aus!“

„Ein Grund, wieso sie hier arbeitet. Schön, dass die endlich die Qualität auffällt.“ Er schenkte seinem Gegenüber nur einen abschätzigen Blick. „Aber tu was du nicht lassen kannst und denk, was du willst. Es mag auch sein, dass du in dem Punkt recht hast, dass sie nicht wirklich meine Angestellte ist, aber bis zu ihrem Urlaub ist sie es und ich rate dir, sie solange in Ruhe zu lassen.“

„Oh meine Güte, du wirst ja ganz schön fuchsig!“, grinste er und seine Augen bekamen einen funkelnden Ausdruck, der einer Katze glich, die ihre Beute in die Enge getrieben hatte.

Seto brummte nur. „Entschuldige mich, ich muss noch was mit Frau Kuzuki besprechen.“

„Versuchst du immer noch verzweifelt so zu tun, als würdet ihr euch nicht näher kennen?“ Pegasus schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Das kränkt mich zutiefst, dass du mich für so einfältig hältst.“

„Ich halte dich nicht dafür, du bist es, Pegasus. Du weißt ja, wo der Konferenzraum ist“, sagte er kalt und öffnete die Tür und ließ ihn alleine im Flur stehen. Seto seufzte auf, als er das Studio betrat.

Lediglich die Deckenlampen waren an. Die weihnachtliche Stimmung von eben war fort, trotz der vielen Dekoration mit den Kostümen. Doch aus einem der Büroräume drang leise Musik. Es war leise, doch klang es ganz eindeutig nach winterlichen Songs.

Seto ging näher und wich dabei der Fotoausrüstung aus. Er hatte keine Lust Naomies Unmut auf sich zu ziehen, weil er ihre Dekoration für das Shooting durcheinander gebracht hatte.

Vor der Bürotür blieb er stehen und spähte hinein.

Naomie saß am Laptop und tippte etwas ein, während ein paar Ausdrucke von ihren Fotos auf dem Tisch lagen.

„Sollten Sie nicht langsam im Konferenzzimmer sein, Frau Kuzuki?“, fragte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

„Ihre Vorzimmerdame sagte mir, dass die Besprechung später anfangen würde, Herr Kaiba, deshalb wollte ich noch ein wenig an meiner Mappe arbeiten.“ Ihre Stimme klang genauso kühl zu ihm, wie zu Pegasus. Lediglich der Blick war ein anderer. Deutlich sagten ihre Augen, dass sie nicht gut auf ihn zu sprechen war.

Innerlich seufzte Seto über die Stimmung der Frauen.

„Aber diese magst du“, flüsterte das Stimmchen in seinem Kopf.

„Wieso siezst du mich wieder?“, fragte er grinsend.

„Weil du es tust“, war ihre schlichte Antwort und ihre Stimme brummte dabei.

„Stimmt etwas nicht? War Pegasus zu aufdringlich oder hat er dir was getan?“

„Nein, der ist mir doch egal. Selbst, wenn der mich zehn Mal beruflich auf seine Insel einladen würde!“

„Was dann? Stimmt was mit dem Laptop oder Büro nicht?“

Naomie schüttelte den Kopf und ließ eine weitere Seite durch den Drucker jagen.

„Wieso duzt du mich und vor den anderen nicht? Ist dir das so peinlich?“

„Nein, peinlich ist es mir bestimmt nicht“, sagte er ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust, „Ich hielt es nur für angebrachter, wenn nicht direkt jeder weiß, dass wir uns auch privat kennen.“

Naomie zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Pegasus zum Beispiel.“

„Ihr mögt euch nicht. Das habe ich schon gemerkt.“

„Das ist noch untertrieben.“

„Wieso ist er dann hier?“ Sie begann die Papiere zu ordnen.

„Lange Geschichte und hat was mit der Presse und sowas zu tun.“ Seto winkte ab. „Darum geht es aber nicht. Pegasus hat einmal versucht die Firma zu übernehmen und das über Mokuba. Sei also vorsichtig, was ihn betrifft.“

„Warum sollte er das diesmal über mich versuchen?“ Sie klang amüsiert bei dem Gedanken.

„Ich weiß es nicht.“

„Lügner!“, sang die Stimme seines Gewissens direkt in seinem Kopf, „Du weißt doch genau wieso. Weil sie dir nahe steht und zu einem Schwachpunkt geworden ist und Pegasus weiß das!“

„Ich rate dir nur vorsichtig zu sein und wenn er irgendwas tun sollte, was dir nicht geheuer ist, dann sag mir Bescheid.“

„Mach ich“, sagte sie und nickte. Die Papiere räumte sie in eine Mappe ordentlich zusammen. „Sag mal, stand die Konferenz schon lange fest oder kannst du neuerdings hellsehen?“

„Wie?“

„Woher wusstest du, dass ich wieder da bin? Stand die Besprechung heute schon länger fest und du hast es auf gut Glück gemacht oder…?“

„Die Besprechung stand schon länger und entweder du wärst dabei gewesen oder es wäre ohne dich gelaufen und die Fotos hätten sich weiter verschoben.“

„Was hättest du getan, wenn ich nicht rechtzeitig zurück wäre?“

„Dann hätte dein Chef ein sehr gutes Angebot verpasst und ich wäre auf irgendwen zurück gekommen“, sagte er kühl.

„Hättest du mich nicht vorher fragen können?“

„Wenn die Dame ans Telefon gegangen wäre, hätte ich das auch getan.“

„Dann hast du deshalb so oft angerufen?“

„Natürlich. Bestimmt nicht wegen Small Talk.“

Naomie seufzte.

„Was?“ Etwas verwirrt über diesen Seufzer sah er sie an, auch sein Gewissen seufzte kellertief.

„Du bist ein Trampeltier!“, kommentierte die Fistelstimme, „Du hättest ihr ruhig sagen sollen, dass du dir Sorgen gemacht hast und das Projekt nicht der einzige Grund war.“

„Schon gut. Es ist nichts“, sagte sie und räumte ihre Sachen zusammen, „Wir sollten hoch zur Besprechung.“

Seto nickte und wartete, bis sie alles zusammen gesucht hatte, ehe sie los gingen.

„Wie viele Leute werden etwa bei dem Shooting dabei sein?“, fragte sie und schloss das Studio ab.

„Etwa zehn Leute“, antwortete er, „Auf jedem Foto sollte mindestens ein Kind zu sehen sein. Welche daran teilnehmen, darfst du dir aussuchen.“

Naomie nickte. „Ich finde es teilweise…naja…“

„Was?“, fragte er und hob die Augenbraue fragend. Ihr Gesichtsausdruck ließ nichts gutes verheißen.

„Ich weiß nicht, ist es nicht auch so, als würde man die Kinder anpreisen, wie in einem der Tiersendungen, die Sonntags immer laufen?“, fragte sie und schaute leicht pikiert drein.

„Glaube mir, wenn ich dir sage, dass das für die Kinder wie ein sechser im Lotto ist“, seufzte er und konnte sich noch gut daran erinnern, wie er gehofft hatte einmal das Freitagskind zu sein.

Freitagskind zu sein bedeutete immer, dass ein kleines Video über einen gedreht wurde und es dann jeden Freitag im Fernseher lief, um die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass sie elternlos waren und adoptiert werden wollten. Oft hatten die Kinder auch Glück. Leider hatte er nie die Chance bekommen gehabt als Freitagskind ausgewählt zu werden.

„Woher weißt du das?“, fragte sie und Seto ging etwas langsamer, damit sie mit ihm Schritt halten konnte.

Sollte er ihr sagen, dass er eigentlich kein richtiger Kaiba war sondern auch nur aus gewöhnlichen, sogar ärmlichen Verhältnissen gestammt hatte? Dabei versuchte er es so gut es ging geheim zu halten. Es war nicht so, dass er sich schämte, aber er wollte seine Vergangenheit auch nicht an die große Glocke hängen oder dass die Leute plötzlich anfingen ihn mitleidig anzusehen, weil seine richtigen Eltern tot waren.

Seto wollte, dass die Menschen ihn so sahen, wie er heute war und nicht mit dem, was früher gewesen war.

„Na los, sag du es ihr lieber, ehe es Pegasus tut oder Joey raus rutscht“, sagte sein Gewissen und Seto schluckte. Wenn sie es vom Kindergarten oder dieser Schlange erfahren würde, würden sie vermutlich nur die halbe Wahrheit sagen oder die Tatsachen vollkommen verdrehen.

„Trau dich, Romeo“, feuerte ihn die Stimme an.

Ob sie verstehen würde, wieso er sich damals hatte von Gozaburo adoptieren lassen? Würde sie dann Mitleid mit ihm haben, wenn sie wusste, welche Hölle er hinter sich gelassen hatte? Oder würde sie ihn verachten, weil er seine Kindheit einfach so weg geworfen hatte?

Seto schluckte und bog in den nächsten Gang ab, ehe jemand gegen ihn stieß. Naomie neben ihm fiel zu Boden.

„Verzeihung!“, brachte die Person heraus und er sah den Leiter vom Waisenhaus. Auch dieser erkannte ihn. „Oh Herr Kaiba, das tut mir so leid!“

Seto hatte aber seinen Blick schon längst auf die Person neben dem kleinwüchsigen Mann gerichtet. Seine Augen verengten sich und sein Kiefer spannte sich an.

„Verzeihung, Miss“, sagte der Mann mit den rosa Haaren und reichte Naomie die Hand, um ihr aufzuhelfen, „Es war meine Schuld.“

„Schon gut“, brachte sie gequält heraus und ließ sich aufhelfen. Sie klopfte sich den Staub vom Po, während der Mann ihre Mappe aufhob.

Seto hatte indes Mühe ruhig zu atmen und seine Nasenflügel bebten unruhig. Seine Hand klammerte sich fester um den Laptop, so dass seine Fingerknöchel weiß hervor traten.

„Herr Kaiba?“, fragte der Leiter besorgt.

„Was ist?“, fragte er und ließ seine Augen nicht von dem Mann neben ihm.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles Bestens.“

„Tut mir leid für die Verspätung. Zuerst ist der Flieger nicht gestartet, dann standen wir im Stau….Es war furchtbar.“

Er nickte, doch hörte er dem Mann nur halb zu. Viel zu sehr konzentrierte er sich auf die rosafarbene Pest, die noch immer Naomies Hand hielt.

„Ich kann mich nur noch mal bei Ihnen entschuldigen.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken, was Seto ein Knurren entlockte.

„Schon gut, es ist ja nichts passiert“, sagte sie und lächelte ihr Gegenüber in Rosa an. Ihre Wangen hatten bei dem kleinen Kuss an Farbe gewonnen und sie konnte ihm kaum in die Augen sehen, so verlegen und unangenehm war es ihr.

Was sollte das werden, wenn es fertig war? Wollte die rosa Pest etwa flirten?

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Siegfried von Schröder, Leiter von Schröder Corporation. Aber nennen Sie mich Siegfried.“

Kapitel 16 - Weihnachtsstern

Die Luft war stickig und die warmen Strahler aus dem Studio machten es nicht besser. Die Luft war zum schneiden dick geworden, obwohl keine Heizung an war. Trotz dieser erschwerten Umstände arbeitete das Fototeam mit den Visagisten, der Praktikantin und den wenigen Assistenten auf Hochtouren, damit die Fotos für die Plakate fertig wurden. Grade wurden ein paar große Christbaumkugeln in Rot und Gold mit Perlenketten ins Bild gelegt, während das Mädchen von der Visagisten neu abgepudert wurde, damit das Gesicht nicht so glänzte.

Für die Kinder, die Naomie in den letzten Tagen abgelichtet hatte, war das alles ein riesen Spaß und großes Abenteuer. Sie standen ausnahmsweise im Rampenlicht und alles drehte sich um sie. Besonders die kleinen Mädchen fühlten sich wie kleine Engel oder gar Prinzessinnen, hatte sie den Eindruck.

Das war auch die Hauptsache, dass die Kinder Spaß an der Sache hatten und es gerne taten. Es gab nichts schlimmeres, wenn sie anfingen zu quengeln. Aber nicht nur die Kinder schienen ihre Freude zu haben. So wie es Naomie vorkam, hatte auch Joey seinen Spaß und selbst die Firmenchefs, die sich eingefunden hatten, waren nach einer Zeit lockerer geworden, nachdem sie angefangen hatte mit den Kindern zu arbeiten.

Auch Mai, die blonde Duellantin, war inzwischen ein wenig aufgetaut. Bei ihr hatte Naomie am meisten Zweifel gehabt, da sie sehr distanziert gewirkt hatte.

Doch die Fotos der letzten zwei Tage waren im Kasten und auch sie saß grade auf einem Stuhl und ließ sich nachschminken.

Jemand lief durch das Bild und Naomie stellte ein paar Lampen aus, so dass die Lichterkette am Boden zur Geltung kam.

Nach der Konferenz vor drei Tagen hatte ihr tierisch der Kopf geschwirrt. Was Seto alles geplant hatte, hatte sie irgendwann nur noch halb mitgebkommen und sie bewunderte Pegasus und Schröder dafür, dass sie selbst nach der dreistündigen Sitzung noch frisch und munter waren, während sie nur noch das Gesicht auf den Tisch hatte packen wollen.

Naomie hatte sich auch nur den Großteil merken können und hatte teilweise sogar Mühe gehabt nicht zu gähnen, auch wenn es sich das ein oder andere Mal nicht hatte verhindern lassen können.

Ein kühler Blick von Seto war ihr dann sicher gewesen. Es war auch die einzige Aufmerksamkeit, die sie im Moment von ihm bekam. Kühle Blicke und dass er sie wieder siezte sobald jemand in der Nähe war. Solange sie alleine waren, duzte er sie wieder.

Es war verwirrend und inzwischen glaubte sie wirklich dran, dass es ihm peinlich war, dass sie sich kannten. Aber wieso?

Sie verstand es nicht, aber Naomie hatte auch schon so gemerkt, dass Seto kein Charakter war, der einfach gestrickt war.

Zuerst suchte er ihre Nähe und nun konnte sie froh sein, wenn er sie morgens überhaupt grüßte oder überhaupt mal eines Blickes würdigte.

Es war verwirrend. Tat er das vielleicht nur, weil er gekränkt war? Hätte sie ihm nicht sagen sollen, dass sie kein Interesse an ihm hatte? Hatte er es vielleicht falsch verstanden?

Immerhin hatte sie nichts gegen eine gute Freundschaft. Sie wollte sich grade nur nicht Hals über Kopf in irgendwelche Beziehungsdinge stürzen. Immerhin wusste sie selbst noch nicht mal genau zu sagen, ob sie wieder bereit war so etwas einzugehen.

Nach der Besprechung hatte sie herzlich gähnen müssen und Joey hatte sie dann direkt in Beschlag genommen. Er war ein guter Freund, doch manchmal in seiner Art ziemlich aufbrausend. Doch dem sorgenvollen Blick von ihm hatte sie nicht lange böse sein können, dass er Kaiba direkt angefaucht hatte.

Dieser hatte sie nur kalt angesehen und gefragt, ob sein Vortrag so langweilig für sie gewesen war. Sie hatte unter diesem Blick nur ein „Nein“ nuscheln können und verlegen zu Boden geblickt.

Es machte sie nervös, dass er sie so behandelte und irgendwie vermisste sie die Gespräche, wo sie ihn necken konnte und er ihr ein Lächeln schenkte. Mokuba hatte ihr gestern Nachmittag erzählt, dass sein Bruder selten lächelte und sie einen guten Einfluss auf ihn hatte. Er hätte während ihrer Abwesenheit viel Zeit mit ihm verbracht und gekocht, was er nur täte, wenn er zu viele Gedanken im Kopf hatte.

Inzwischen fragte sich Naomie auch, ob seine Nachrichten, die noch immer auf ihrem Handy waren, nicht nur so daher gesagt waren, sondern ernst. Hatte er wirklich geglaubt, sie sei entführt worden oder es wäre mit ihr was nicht in Ordnung? Sie konnte sich gut vorstellen, dass er sogar die Krankenhäuser abtelefoniert hatte. Bei dem Gedanken daran musste sie schlucken, dass sie ihm nicht direkt erzählt hatte, was passiert war. Offenbar hatte er es wirklich gut gemeint und es war nicht nur irgendeine Tour, um sie ins Bett zu kriegen.

Ein schlechtes Gewissen beschlich sie und irgendwie hatte sie das Gefühl, sie sollte ihm gegenüber nicht undankbar sein. Immerhin hatte er ihr auch mehrere Tage hinterher telefoniert und geschrieben, nur weil er sie als Mitarbeiterin wollte.

War das nicht auch eine Art Kompliment von ihm an ihr? Dafür dass er am Anfang so desinteressiert war und sie nun hier stand und die komplette Leitung eines Teams hatte und zudem mit wichtigen Leuten zusammen arbeitete?

Allein bei dem Gedanken pochte ihr Herz und schlug wieder Purzelbäume, wie so oft in letzter Zeit. Je mehr sie darüber nachdachte, desto größer wurde auch ihr Gewissen und sie musste sich was überlegen, wie sie ihm danken sollte.

Naomie schluckte und schaute hinter der Kamera hervor. Die leise Weihnachtsmusik lullte sie ein wenig ein und sollte etwas Stimmung verbreiten.

„Herr Pegasus, bitte richten Sie einmal Ihren Kragen“, sagte sie und zupfte zur Verdeutlichung an ihrem. Er tat wie ihr geheißen. „Jetzt bitte die Hand von unserem kleinen Engel nehmen.“

Das Mädchen, das die kleinen Engelsflügel trug, lächelte breit bei der Bezeichnung. Die Kamera klickte. Sie kam wieder hinter der Kamera hervor.

„Ich werde mich nicht an das Make up gewöhnen“, sagte Joey und fuhr sich über die Wange. Er verzog das Gesicht, als ein wenig Puder an seinen Fingern klebte.

„Tu es lieber, das geht noch zwei weitere Tage hier so weiter“, sagte Naomie grinsend und schaltete die bunte Lichterkette ein.

„Zwei Tage?“, fragte Joey entsetzt.

„Ja, dann hab ich alles im Kasten und kann auswerten“, sagte sie, „Es geht nicht schneller, leider, weil die Kinder nicht so viel arbeiten dürfen und weil, wenn hier zu viele sind, sie anfangen rumzurennen. Das ist auch nicht gut."

Ein Schweißtropfen lief ihre Stirn hinunter, als sie unter die Strahler trat. Sie wusste, nur zu gut, was sie den anderen abverlangte.

„Aber keine Sorge, wir machen gleich Pause für zwei Stunden. Dann kommen neue Kinder und ich bau die Kulisse um“, sagte sie und Pegasus machte Platz für den nächsten. Joey stellte sich ins Bild und umarmte das Kind von hinten. Beide hielten ein großes Päckchen mit grüner Schleife in die Kamera.

„Sehr gut. Augen auf!“, sagte sie und drückte den Auslöser. Mehrfach klickte es. „Sehr schön. Wir können dann jetzt Pause machen!“

Ein Seufzer ging durch die Reihe.

„In zwei Stunden geht es weiter“, rief sie bestimmt und schaltete die Kamera aus. Jemand schaltete das Deckenlicht wieder an, während ein Assistent die Scheinwerfer ausschaltete.

„Naomie, kommst du mit was essen?“, fragte Yugi und nahm sich seinen Mantel von der Garderobe.

„Tut mir leid, ich bau hier schon mal die Kulisse auf und esse, wenn wir fertig sind nachher“, sagte sie entschuldigend und ging zu einer Kiste mit Nikoläusen. Sie fischte ein paar heraus und reichte sie den Kindern zum Abschied als Belohnung.

Das war die Idee von Schröder und vom Waisenhausleiter gewesen.

Als kleines Dankeschön und zur Belohnung für die gute Arbeit mit den Kindern, sollte sie am Ende ihres Tages einen Nikolaus bekommen.

„Danke schön“, brachte das Mädchen piepsend heraus und drehte sich ganz leicht, so dass ihr Röckchen hin und her schwang. Sie nahm die Schokolade an sich und verschränkte schüchtern die Arme hinterm Rücken und sah zu Boden, während sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht abzeichnete.

„Dann bis bald“, sagte Naomie fröhlich und reichte dem Kind die Hand, wie sie es auch bei anderen Leuten tun würde.

Der Leiter vom Waisenhaus lächelte sie an und schob die Kinder dann in den Nebenraum, damit sie sich umziehen konnten.

„Bis später, Naomie“, rief Joey, „Sollen wir dir was mitbringen?“

„Nein, ist ok“, antwortete sie und war dann die einzige im Raum. Alle waren aus dem Raum geflüchtet, selbst die Assistenten waren fort und gönnten sich eine Pause.

Es war auch gut so. Sie wollte grade auch nur alleine sein und die Ruhe genießen.

Sie wartete noch bis der Leiter mit den Kindern gegangen war und wünschte ihm eine gute Fahrt. Nach der Pause würden zwei neue Kinder hier sein.

Sie fuhr sich mit einem Erfrischungstuch über die Stirn und ging zu den Fenstern. Schnell riss sie diese auf, damit die stickige Luft entweichen konnte.

Die kühle Luft von draußen schlug ihr ins Gesicht und der Wind peitschte ihr Haar zur Seite.

Es war eine Wohltat den Wind zu spüren und für die anderen die später wiederkommen würden genauso. Immerhin arbeiteten sie seit vier Stunden und die Leuchten waren nicht unbedingt kalt. Sie stießen schon eine gewaltige Hitze von sich.

Naomie rieb sich kurz über die Wange. Sie fühlten sich heiß an, doch frisch machen, konnte sie sich gleich noch. Erstmal musste die Kulisse neu aufgebaut werden.

Auch da hatte sie schon einige Ideen im Kopf, die sie umsetzen wollte.

Doch ehe sie anfangen würde, würde sie andere Musik anspielen. Obwohl sie Weihnachten liebte, hatte sie grade genug von den Christmas Songs.

Aus ihrem Büro, es war noch immer ungewohnt, es so zu nennen, holte sie ihren MP und stöpselte ihn an die Anlage an. Zum Glück war ihr Lieblingslied nicht weit entfernt, so dass es schnell angespielt wurde.

Der Rhythmus begann schnell. Die klassischen und traditionellen japanischen Trommeln und die Shamisen gaben den Takt an. Die Bambusflöte kam dazu und beschleunigte den Takt. Die Sängerin sang mit lauter und schneller Stimme den Songtext und versuchte dabei den alten, traditionellen Stil zu behalten.

Dennoch war es ein sehr poppiges und rockiges Lied, das ihr Herz schneller schlagen ließ, so dass das Blut nur so durch ihre Venen schoss.

Ganz leicht bewegte sie ihre Hüfte zum Takt und sang den Text mit. Ihr Fuß wippte im zur Musik mit, als sie die Geschenkpäckchen stapelte und zur Seite räumte.

Es war eine Mischung aus Aufräumen und halbwegs rhythmischen Bewegungen, doch nach der langen Zeit, die sie gestanden hatte, war es eine willkommene Abwechslung für ihre Glieder. Mit jeder Bewegung merkte sie die versteiften Muskeln. Besonders in ihrem Rücken spürte sie ein paar Glieder knacken, wenn sie die Hüfte hin und her bewegte.

Sie räumte die Dekoration in die Kisten zurück und drehte sich kurz im Kreis bei der Musik. Schnell bewegte sie die Arme mit und ihre Muskeln dankten es ihr mit einem angenehmen Knacken. Sie ging wieder zurück zur Leinwand und räumte die Lichterkette ordentlich zurück, während ihr Körper mit der Musik mitschwang.

Entspannt schloss sie die Augen und genoss es alleine zu sein.

Nach der Lichterkette folgten der Baum und die Kugeln mit der Perlenkette, die noch auf dem Boden lag. Den Schlitten hatte sie schon gestern weggeräumt.

Als der Boden frei war, räumte sie das Tuch zusammen und klopfte es ein wenig aus. Es waren einige Schuhabdrücke zu sehen und vor der nächsten Benutzung musste es gereinigt werden. Sie legte es zur Seite und wurde nachher einen Assistenten fragen, ob es einen Korb für die Reinigung oder sowas gab.

Noch immer leichten Hüftbewegungen und das Lied mitsingend, rollte sie die weiße Leinwand zusammen und breitete den roten Hintergrund aus. Auf dem Boden breitete sie ein ebenso rotes Tuch aus.

In den Kisten fand sie noch weitere Flaschen mit Glitzer und Kunstschnee.

Eigentlich war es ihr zuwider und Naomie wusste, sie würde am Ende des Tages glitzern, wie Peter Pans Tinkerbell oder Edward aus Twilight.

Sie stellte das Lied wieder von vorne an und schüttelte sich kurz bei dem Gedanken. Sicherlich wurden die anderen sie ebenfalls für diese Fotoidee hassen, aber sie wusste, die Mädchen würden es lieben.

Im Rhythmus der Musik schüttelte sie die Flaschen durch, damit sich der Kunstschnee gut mit dem Glitzer verteilen konnte. Als sie ihre Hände ansah, bemerkte sie schon den ersten Glitzer.

Wo kam das Zeug nur her? Die Flasche war zu und dennoch glitzerten ihre Finger, als wäre sie Barbie persönlich.

Seufzend klopfte sie sich das Zeug an der Hose ab, wohl wissend, dass es wenig bringen würde. Ihre kleine Schwester und sie hatten früher genug mit Glitzer gebastelt, dass Naomie wusste, wie schwer es abzukriegen war.

Seufzend besah sie sich die Leinwand und wippte mit dem Fuß. Noch immer war sie allein und es waren grade mal dreißig Minuten um. Gleich würde sie die Fotos schon mal auf den Laptop ziehen und soweit es ging auswerten. Umso schneller war sie auch mit der Bearbeitung fertig.

Naomie wollte nicht daran denken, wie viele Fotos sie noch bearbeiten musste. Allein bei dem Gedanken wollte sie vor Verzweiflung aufheulen.

Seufzend nahm sie die Kamera und entnahm den Akku und die Speicherkarte.

Das Lied erreichte seinen Höhepunkt und sie schwang etwas kräftiger mit der Hüfte. Sie schloss die Augen und sang mit.

„Senbon zakura yoru ni magire…“, sang sie mit und bewegte sich schneller.

„Ist das hier privat oder darf ich reinkommen?“, fragte jemand amüsiert und Naomie zuckte zusammen.

Sofort hörte sie auf zu singen und während der Arbeit leicht zu tanzen. Eine Röte erfasste ihr Gesicht und brachte es zum Glühen. Ihr Herz setzte vor Schreck sogar aus, dass sie sich an die Brust griff und es pochen spürte.

„Sie haben mich ganz schön erschreckt, Herr Schröder“, sagte sie japsend und stellte die Musik aus. Ihre Finger zitterten so sehr, dass ihr fast die Speicherkarte aus der Hand fiel.

„Kein Grund gleich einen Herzinfarkt zu kriegen“, sagte er lachend und trat in das Studio. Er stellte einen Pappbehälter mit zwei Getränkebechern auf den Tisch.

Naomie hatte Mühe zu atmen und legte beschämt die Hand vor Augen.

„Gott, das ist mir grade peinlich. Das haben Sie nie gesehen!“ Ihre Wangen brannten vor Wärme.

„Was? Deine kleine Tanz- und Gesangseinlage?“, fragte er kichernd, „Ich fand es recht amüsierend.“

„Das glaube ich“, brachte sie raus und atmete kurz tief ein und aus.

„Es muss dir aber nicht peinlich sein“, sagte er und trat näher an sie heran, „Ich mag Menschen, die offen sind.“

Naomie nickte nur und ihr viel wieder auf, dass er sie duzte, obwohl sie seit der ersten Begegnung versucht hatte beim siezen zu bleiben.

„Wie ich sehe hast du gelüftet. Die Luft ist viel besser“, bemerkte er und schloss aber ein Fenster wieder, ehe es zu sehr ziehen würde.

„Die Luft war einfach zu stickig“, erwiderte sie und legte die Sachen ins Büro. Schnell schloss sie den Akku ans Ladegerät an.

„Sie haben auch die Kulisse umgebaut. Allein?“, fragte er und sag sich die Accessoires auf dem Tisch an.

Naomie kam wieder aus dem Büro und nickte.

„Wann gedenkst du denn Pause zu machen?“

„Wenn wir heute fertig sind“, antwortete sie ruhig und schob die leere Speicherkarte in die Kamera.

„So wie ich das sehe, brauchst du jetzt schon eine“, erwiderte er ruhig und beobachtete sie, wie sie alles vorbereitete, „Lass mich raten, du hast wieder nichts zwischen den Shootings getrunken, oder?“

Die Fürsorglichkeit war ganz nett, aber so langsam erinnerte sie das an Seto. Er hatte sie auch schon deswegen gerügt, weil sie während der Arbeit nichts getrunken hatte bis alle weg gewesen waren. Genauso mit dem Essen. Auch da hatte sie sich am ersten und zweiten Tag etwas anhören müssen.

Auf der einen Seite war es ja ganz süß, wie die zwei sich um sie sorgten, doch auf der anderen Seite war sie nicht mit einer Notlüge von ihrer Familie abgehauen, um sich hier weiter wie ein Kind behandeln zu lassen.

„Das geht schon. Ich hab keinen Durst oder Hunger.“

Siegfried sah auf die Uhr. „Wie lange arbeitest du schon? Seit acht schätze ich. Jetzt haben wir halb zwei. Fast sechs Stunden ohne Essen oder Trinken. Dann bewegst du dich die ganze Zeit, die Luft ist stickig...“ Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Das geht so nicht.“

Missbilligend schüttelte er den Kopf, so dass seine langen Haare hin und her flogen.

„Warte, ich helfe dir“, sagte er und nahm ihr einen Topf mit einem künstlichen Weihnachtsstern ab. „Wofür sind all diese Kunstpflanzen?“

„Für die Fotos gleich“, sagte sie und ordnete die einzelnen Blüten sorgfältig an. Sie griff in die Tüte und verteilte weitere Sterne.

„Wie viele sind das?“

„Ich schätze etwa hundert künstliche Weihnachtssterne.“ Naomie verzog etwas das Gesicht. Mit dem Ärmel fuhr sie sich über die verschwitzte Stirn.

„Mach lieber Pause. Ich hab dir auch etwas mitgebracht.“ Siegfried ging zu dem Behälter und drückte ihr einen Getränkebecher in die Hand. Er fühlte sich eiskalt an.

„Das kann ich nicht annehmen. Aber danke.“

„Ich bestehe darauf, Naomie. Ansonsten muss ich Herrn Kaiba sagen, dass du mit deinem körperlichen Wohl spielst.“ Es wirkte wie ein Scherz, doch war sie sich nicht sicher, ob er es nicht in die Tat umsetzte.

Naomie seufzte und nahm das Getränk murrend an.

„Danke“, nuschelte sie und zog vorsichtig an dem Strohhalm. Eine kühle, süße Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab. Es schmeckte nach Kaffee und Karamell. Die Sahne war frisch und mit einer Karamellsoße überzogen.

„Schmeckt es dir?“, fragte Siegfried und trank aus seinem Becher.

Naomie nickte. „Ja, es ist wirklich lecker. Danke noch mal.“

„Jetzt setz dich auch und ruh dich etwas aus. Wir haben alle Pause und ich schätze Kaiba zahlt keine Überstunden, oder?“ Fragend sah er sie an und ließ sich auf einen Stuhl nieder, doch Naomie ignorierte die Frage.

Naomie tat es ihm gleich und seufzte auf, als sich ihr Rücken entspannt. Sie lehnte sich zurück und streckte ihre Beine aus. Genüsslich zog sie noch mal an dem Strohhalm und trank eine größeren Schluck von dem kühlen Getränk.

„Ich wusste, es würde dir schmecken.“

„Es ist wirklich nett von Ihnen mir was mitzubringen.“

„Nichts zu danken, aber ich bitte dich, duz mich ruhig und nenn mich Siegfried.“

Naomie seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass er sie darum bat. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er darauf bestanden. Doch sie hatte ein merkwürdiges Gefühl dabei, wenn sie ihn einfach so duzte. Er bot es ihr zwar an, aber es fühlte sich falsch an. Es war anders, als wenn sie Seto duzte. Immerhin hatten sie dort auch schon einiges für getan, dass ein Sie nicht mehr angebracht wäre. Eigentlich, wäre da nicht die Tatsache, dass er es wieder tat.

„Ich bleibe lieber beim Sie“, antwortete sie etwas nervös.

Siegfried seufzte und zupfte seinen Ärmel zurecht.

Naomie sah ihn kurz an und riss die Augen auf. Sie stellte den Becher auf den naheliegenden Tisch und sprang auf.

„Mir fällt was ein!“

Verwundert sah der Geschäftsmann mit den rosa Haaren ihr nach.

„Was hast du?“, fragte Siegfried und folgte ihr in den Kostümraum.

„Zieh dich aus!“, forderte sie und wühlte zwischen den Kleiderständern herum. Ihr fiel nicht mal auf, dass sie ihn duzte.

„Bitte was?“ Siegfried sah sich um. „Findest du nicht, dass das der falsche Ort ist und vorher ein paar Dates nötig wären?“

„Was?“, fragte sie verwirrt. Sie schüttelte den Kopf. „Ich meine, du sollst dich umziehen.“

Fragend legte Siegfried den Kopf schief, grinste frech und knöpfte sein Hemd auf. Die Krawatte hatte er schon gelockert.

„Warte damit bis ich draußen bin!“, rief sie schockiert und wieder schoss ihr die Röte ins Gesicht.

Siegfried hielt inne und sie konnte einen Blick auf seine nackte Brust werfen. „Erst willst du, dass ich mich ausziehe, jetzt soll ich warten…Was willst du?“ Er grinste amüsiert über ihre plötzliche Nervosität.

Sie zog ein weißes Hemd vom Bügel. „Ich will, dass du dich umziehst.“

Naomie drückte ihm das Stück Stoff in die Hand und zog noch eine blaue Jeanshose heraus.

„Das soll ich anziehen?“, fragte er und musterte die Sachen.

Naomie nickte. „Dein Anzug sticht zu sehr mit der Leinwand. Das passt besser und auch zu dir. Die rote Krawatte sollte dazu dann den letzten Schliff geben.“

Sie legte das seidige Textilstück auf den Stuhl. Erleichtert stieß sie die Luft aus.

„So jetzt kannst du von mir aus strippen“, grinste sie.

„Es freut mich, dass du dich jetzt doch zum Du entschieden hast“, antwortete Siegfried und zog sein Jackett aus. „Du kannst auch gerne hier bleiben und zusehen.“

Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu.

„Nein danke. Kein Interesse“, antwortete sie trocken. War das grade eine plumpe Anmache oder hatte er es nur scherzend gemeint. Naomie war sich nicht ganz sicher.

„Sag mal, da du ja in der Pause nichts isst, würdest du nach der Arbeit mit mir essen gehen?“, fragte er und zog die Weste aus, „Ich lade dich ein. Es gibt hier in der Nähe ein gutes asiatisches Restaurant, wenn du magst.“

„Ich weiß nicht, wie lange ich arbeiten muss“, sagte sie ausweichend. Es behagte ihr nicht, dass er sie zum Essen einladen wollte. Es fühlte sich wie ein Date an und dafür fühlte sie sich alles andere als passend gekleidet. Im Gegenteil. Naomie hatte das Bedürfnis unter die Dusche zu steigen und nur noch die Füße hoch zu legen mit einer Portion Schokoladeneis.

„Ich kann warten und dich abholen. Du kannst mir eine SMS schreiben“, bot er an und Naomie drehte ihm den Rücken zu, als er das Hemd auszog. Nun sah sie ihm doch halb beim umziehen zu. Sie starrte zur Decke und entdeckte ein kleines, verlassenes Spinnennetz.

„Ich weiß nicht. Es könnte spät werden“, versuchte sie weiter und verschränkte die Arme hinter den Rücken.

Naomie konnte sich nicht helfen. Siegfried war netter als Seto, dennoch war es ein komisches Gefühl von ihm eingeladen zu werden. Zudem hatte sie schon viel zu sehr Setos Hilfe in Anspruch genommen und seine Gastfreundschaft genutzt, da wollte sie sich nicht direkt den nächsten reichen Mann suchen. Immerhin wollte sie auch nicht, dass es hieß, sie ließ sich von Geschäftsmännern aushalten.

Was würde zudem Seto sagen, wenn er davon wüsste? Immerhin hatten sie schon viel für die kurze Zeit zusammen erlebt und er war ihr schon wichtig geworden. Nicht umsonst hatte sie ihm die Schneeflocken geschenkt.

Seto hatte aber offenbar nicht nur ein Problem mit Pegasus in der Vergangenheit gehabt, sondern auch mit Siegfried. Letzterer schien er noch weniger leider zu können, obwohl er seine Hilfe freiwillig anbot.

Es war schwer zu verstehen, was in ihm vorging.

Sie wollte Seto auch nicht kränken, indem sie jetzt mit Siegfried zu tun hatte. Immerhin vermisste sie ja schon irgendwie die Gespräche mit ihm und irgendwie schlug ihr Herz auch schneller, wenn sie daran dachte.

Naomie schluckte.

„Das ist für mich kein Problem und ich bin sicher, dass Kaiba dich auch nicht ewig arbeiten lässt“, fuhr Siegfried fort und zog sich das weiße Hemd an, was sie ihm rausgesucht hatte.

Langsam fragte sich Naomie, ob sie einen Magneten in der Tasche hatte.

Zuerst Seto, dann bereitete ihr Pegasus ebenfalls ein Arbeitsangebot unter und jetzt war Siegfried an ihrer Seite.

War es da natürlich, dass sie sich wie eine Schlampe fühlte?

Pegasus ließ sie zwar in Ruhe, bemerkte aber dennoch, dass er sie aufmerksam beobachtete, besonders, wenn Seto in der Nähe war. Ahnte er vielleicht, dass da war gewesen war?

Doch Siegfried war anders.

In vielen Dingen ähnelte er Seto, ging aber ganz anders als er vor. Während Seto über fünf Ecken sagte, dass er sich sorgte und einem dabei lieber eine Standpauke hielt, sprach Siegfried es offen aus.

„Ich bestehe darauf dich einzuladen. Wenn schon nicht, damit du was im Magen hast, dann als kleine Anerkennung für deine Arbeit hier“, sagte er und knöpfte den obersten Knopf des Hemdes zu.

„Ich kriege Gehalt dafür“, antwortete sie, „Dazu auch einen Bonus von der Kaiba Corp.“

„Verstehe. Trotzdem möchte ich dich einladen, denn ich würde dich auch gern besser kennen lernen.“

Offenbar ließ Siegfried nicht so einfach locker und es entlockte ihr ein Seufzen, doch ehe sie etwas sagen konnte, hörte sie ihn fluchen.

„Alles ok?“, fragte sie grinsend.

„Nein, der Knoten von der Krawatte will nicht sitzen“, knurrte Siegfried und zog ungehalten an dem Stück Seide.

Naomie drehte sich um und ging zu ihm.

„Lass mich mal“, sagte sie und nahm beide Enden an sich. Nur kurz berührten sich ihre Finger. Mit schnellen Gesten wickelte sie die Krawatte um seinen Hals und zog den Knoten zu.

„Woher kannst du das?“, fragte ihr Gegenüber und wartete bis sie auch die kleinen Ecken zurecht gezogen hatte.

„Von meinem Opa“, murmelte sie und wollte lieber nicht an ihn denken, sonst käme das schlechte Gewissen wieder.

Seto hatte ihr zwar gesagt, dass sie keines haben brauchte, immerhin entsprach ihre Notlüge jetzt der Wahrheit, aber es so schnell los werden, ging nicht. Es war fast schon erstaunlich, wie viel er doch für sie da gewesen war und umso unverständlicher war es ihr, dass er ihr jetzt die kalte Schulter zeigte.

Naomie schob die Enden zurecht als die Tür aufging.

„Naomie, ich muss mit dir…“ Seto hielt inne und blieb stehen. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich und sein Blick lag mörderisch auf Siegfried. In den Händen hielt er einige Unterlagen.

Naomie bemerkte, wie sich seine Hand verkrampfte, als er sie so eng beieinander stehen sah.

„Wieso so sprachlos, Kaiba?“, fragte Siegfried und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein siegreiches Lächeln ab.

„Was geht hier vor?“, fragte er und Naomie hörte deutlich die Kälte in der Stimme. Als sie in seine Augen sah, konnte sie den Blick nur schwer deuten.

Setos Gesicht war wütend und verschlossen, doch in seinen Augen spiegelte sich so etwas wie Enttäuschung und Schmerz.

„Oh nichts weiter, Kaiba“, sprach Siegfried ruhig und lächelte ihr zu, „Ich habe mich nur ein wenig mit Naomie unterhalten und sie gefragt, ob sie mit mir Essen geht.“

Seto sah zu Naomie und er zog eine Augenbraue hoch. Sein Blick schien emotionslos zu werden.

„Verstehe“, sagte er nur, „Kommen Sie mit, Kuzuki! Auf ein Wort!“

Bei den kalten Worten zuckte Naomie merklich zusammen. Ob er sehr wütend war?

„Kaiba, Kaiba, Kaiba…“, sagte Siegfried und schob sich vor Naomie, als wollte er sie schützen.

„Was willst du, Siegfried?“, knurrte er ungehalten und verschränkte die Arme vor der Brust.

„So geht man nicht mit Angestellten um und zum anderen kannst du mit dem Spiel aufhören.“

Seto zog eine Augenbraue hoch.

„Wie es scheint, hat Pegasus recht gehabt, als er mir sagte, ihr beide verstellt euch“, sagte er ruhig und sah auch kurz zu Naomie über die Schulter, „Denkst du ich bin ein Idiot, Kaiba? Zuerst kommst du rein und duzt Naomie und jetzt siezst du sie?“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig“, zischte er.

Siegfried schüttelte wieder nur mit dem Kopf, während Naomie sich auf die Lippe biss. Offenbar war es doch aufgefallen, dass sie sich beide verstellten und sie hatte sich auch schon gefragt, wie lange es gut gehen würde.

„Naomie, komm. Es gibt was zu bereden!“, sagte er wieder an sie und unterließ es diesmal sich zu verstellen. Scheinbar sah auch Seto ein, dass es nichts mehr bringen würde.

„Naomie, so musst du dich nicht behandeln lassen!“, fuhr Siegfried dazwischen und diesmal war es an ihm die Arme zu verschränken. Wie eine Mauer stand er zwischen ihr und ihrem vorläufigen Chef.

„Willst du dich jetzt einmischen, Siegfried?“, knurrte Seto und durchbohrte ihn mit seinem kalten Blick. „Ich kann dir direkt sagen, dass ich bestimmt nicht zulassen werde, dass sich meine Angestellte mit einem dahergelaufenen Idioten wie dich einlässt.“

„Ist das nicht ihre Sache?“, lachte er.

„Indem Fall muss ich dich enttäuschen“, sagte er gelassen, „Eure Beziehung basiert auf einer geschäftlichen Ebene und ich erlaube nicht, dass Mitarbeiter mit Geschäftspartnern private Beziehungen führen.“

„Dann bedeutet das doch für mich, ich muss nur abwarten bis das Jahr zu Ende geht, oder?“ Wieder war da dieses überlegene Lächeln auf seinem Gesicht.

„Naomie, komm endlich! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“

„Lass deine schlechte Laune nicht an ihr aus!“, fauchte Siegfried zurück, doch Naomie legte ihm eine Hand auf den Arm.

„Schon gut“, sagte sie ruhig und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, was in ihr vorging. Natürlich war sein Tonfall verletzend und es war nett von Siegfried, dass er sich für sie einsetzte, aber das war ihre Sache. Wenn er ein Problem damit hatte, dass sie sich gut mit seinen Rivalen verstand, dann musste er das mit ihr klären.

„Zieh dich fertig um. Wir sehen uns gleich“, sagte sie und Kaiba packte ihr Handgelenk. Er zog sie aus dem Raum und knallte die Tür hinter ihr zu. Wortlos zog er sie mit in ihr Büro und auch dort flog die Tür ins Schloss.

Was würde das denn werden?

Ein wenig hatte sie das Gefühl, er sah sie als sein Eigentum.

Irritiert über diesen Auftritt blieb sie stehen, während er die Unterlagen auf ihren Schreibtisch knallte.

Ein Prospekt zu einer Fotografenmesse lag dabei und eine Hotelrechnung.

„Was denkst du dir?“, knurrte Seto sie wütend an.

„Was…was meinst du?“, fragte sie und konnte ein Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen. Ihr Herz pochte ein wenig vor Nervosität und Aufregung.

„Du und Siegfried?“, fuhr er sie an und seine Augen funkelten wütend, „Oder was sollte das da grade in der Garderobe werden? Mir sagen, dass du kein Interesse hast und lieber Singel bleiben willst und das auch vor Pegasus und jetzt sehe ich euch zwei ganz Intim in der Garderobe stehen. Verbündest du dich jetzt schon mit meinen Rivalen?“

„Du hast mich und Pegasus belauscht?“, fauchte sie und nun sah Naomie Seto wütend an, „Außerdem, was interessiert es dich mit wem ich zu tun habe und wem nicht? Es ist nicht mein Problem, wenn du nicht mit Pegasus und Siegfried klar kommst!“

„Du arbeitest für mich, vergiss das nicht!“

„Oh wie könnte ich!“, höhnte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, „Bist du so eifersüchtig? Ich bin nicht dein Eigentum!“

„Beantworte mir die Frage: Läuft da was zwischen euch?“, fragte er und ging nicht auf ihren Satz von eben ein.

„Nein“, knurrte sie, „Da ist nichts zwischen uns! Selbst wenn, ginge es dich nichts an!“

„Ich gebe dir den guten Rat, lass dich nicht auf Siegfried ein.“

„Nur weil du schlechte Erfahrungen gemacht hast und ihr euch nicht versteht, muss ich ihn nicht auch hassen!“

„Der Typ will dir doch nur an die Wäsche!“

Naomie zog eine Augenbraue hoch. „Kann ich bisher nicht bestätigen. Er ist bisher nur höflich und nett, vielleicht flirtet er auch. Aber ich finde das alles andere als verdächtig. Außerdem ist er charmanter als du.“

„Willst du mir damit was sagen?“ Er zog eine Braue hoch und schaute zu ihr herab.

Naomie seufzte. Sie hatte nicht vor mit ihm zu streiten. Angestrengt rieb sie sich über die Stirn und setzte sich auf den Stuhl.

„Ich habe keine Lust zu streiten“, sagte sie ruhiger, „Aber Fakt ist, Siegfried und ich verstehen uns ganz gut als Bekannte. Aber ja, er geht anders vor als du, weniger kühl. Er ist emotionaler.“

Naomie sah auf die Unterlagen. Sie hatte keine Lust Seto weiterhin Erklärungen abzuliefern mit wem sie zu tun hatte und wem nicht. Viel lieber wünschte sie sich, es wäre wieder so wie am Anfang.

Seto seufzte.

„Ich glaube, es wäre angebrachter, wenn wir wieder komplett zum Sie über gehen würden.“

Ihr Herz setzte aus und Naomie konnte ihn nur anstarren. Was sollte das denn jetzt werden? War seine Eitelkeit so groß? Oder war es sein gekränktes Ego? Sie verstand nicht und es versetzte ihr einen schmerzhaften stich ins Herz. Oder war es seine Eifersucht, die ihn dazu trieb?

„Wenn du das willst“, sagte sie ruhig und sie musste sich zusammen nehmen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie doch traf. Sie konnte zwar über Seto schimpfen und doch die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war nicht spurlos an ihr vorbei gezogen, aber offenbar an ihm. Wie sonst konnte er so nüchtern vor ihr stehen und ihr sagen, dass sie wieder komplett zum Sie gehen würden?

„Gut, dann wäre das geklärt“, sagte er, „Ich rate Ihnen auch, dass Sie die geschäftliche Beziehung nicht vergessen, die Sie mit Schröder und Pegasus haben.“

Naomie nickte brav und versuchte in Setos Augen zu lesen, was in ihm vor sich ging. Doch sie konnte nur kurz ein kleines Aufflackern erkennen, als er sie wieder gesiezt hatte, aber es hätte auch Einbildung sein können.

„Nun zum eigentlichen Grund…“ Seto räusperte sich. „Du…ich meine Sie, werden nächste Woche zu eine Messe fahren.“

„Was?“ Naomie starrte ihn an. So viel zum Thema Weihnachtsshoppingtour. Ob sie es noch zu Mokubas Aufführung am letzten Schultag schaffen würde? „Aber was ist mit der Arbeit hier? Die Bearbeitung der Fotos und…?“

„Es ist alles geregelt“, fuhr er ihr dazwischen, „Sie können dort das Studio von Ihrem Chef vertreten, als auch die Kaiba Corp. Dazu kann auch direkt ein erstes Plakat für das Projekt gezeigt werden. Hotelkosten übernimmt natürlich die Firma. Begleitet werden Sie von einem Assistenten. Es ist eine viertägige Messe.“

Naomie nickte und es erschreckte sie, wie schnell er wieder so distanziert sein konnte.

„Hier sind alle Unterlagen und das Datum Ihrer Abreise.“ Er reichte ihr die Unterlagen und ging dann wieder aus dem Büro. Zum Glück schloss er die Tür, sodass sie einen Moment für sich hatte.

Naomie atmete schwer ein und aus. Sie starrte auf die Papiere, die auf der Tastatur ihre Firmenlaptops lagen. Die Worte drangen nur undeutlich in ihren Geist und die Schrift verschwamm leicht vor ihren Augen.

Hatte Seto grade wirklich ihr gutes Verhältnis zunichte gemacht, weil er nicht damit klar kam, dass sie sich gut mit seinen Rivalen verstand?

Sie blinzelte die feinen Tränen weg und schniefte kurz. Mit den Fingern wischte sie sich am Augenwinkel entlang und unter das Augenlid.

Es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz. Wenn sie daran dachte, dass sie ihn vor nicht allzu langer Zeit noch aus dem Leben haben wollte und alles dafür getan hätte, dass er ihr lieber so kam, war es jetzt ziemlich ironisch, dass sie darüber weinte.

Es war nicht das erste Mal, dass Seto in ihrem Kopf Fragen aufwarf, aber das erste Mal, dass sie seinetwegen weinte.

Naomie schluckte mehrfach. Am liebsten wäre sie nach Hause gegangen und hätte ihn auf der Arbeit sitzen lassen. Aber so einfach war das nicht. Immerhin hatte er den Vertrag mit ihrem Chef gemacht und somit war Kaiba ein sehr wichtiger Kunde. Würde sie jetzt einfach gehen, würde sie riesen Ärger mit ihrem Chef kriegen.

Sie fuhr sich durch die Haare und griff zu ihrem Kalender in ihre Tasche. Noch immer mit tränenden Augen notierte sie sich die Sachen von den Papieren ab und legte sie in die entsprechende Seite.

„Naomie?“ Es klopfte und sie zuckte zusammen. Siegfried hatte sie total vergessen. Er wartete bestimmt schon länger und machte sich auch Sorgen.

Kurz schniefte sie und wischte sich noch mal unter den Augen entlang. Naomie wollte nicht Schuld daran sein, wenn sich die beiden noch mehr miteinanderbekriegten.

„Ja, komm rein“, rief sie und schob den Kalender wieder in die Tasche.

„Alles in Ordnung?“, fragte Siegfried und brachte ihr den Getränkebecher, den sie auf dem Tisch hatte stehen lassen. „Kaiba ging ja weg, wie ein stampfendes Rhinozeros!“

„Ja, alles ok“, antwortete sie und versuchte zu lächeln. Siegfried reichte ihr den Becher und setzte sich auf den freien Stuhl.

„Ich dachte mir, dass du eine Aufmerksamkeit gebrauchen kannst, wenn du dich schon mit dem zornigen Drachen auseinandersetzen musst“, lachte er und zog aus seiner Jackettasche eine Tafel mit Zartbitterschokolade. An ihr klebte ein kleiner Weihnachtsstern von der Dekoration.

Fragend legte sie den Kopf schief und zog schlurfend an dem Strohhalm. Ob er ihr ansah, dass sie den Tränen nahe war?

„Danke. Das ist lieb von dir, aber so schlimm war es nicht“, log sie und legte die Schokolade auf den Tisch. Es war irgendwie süß, dass er sich solche Mühe gemacht hatte. Auch der Weihnachtsstern war süß.

Siegfried streckte die Hand nach ihr aus und strich ihr kurz über den Augenwinkel.

„Deine Augen sind aber ganz schön nass.“ Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu und grinste. Der Geschäftsmann lehnte sich ein wenig zu ihr vor. „Ich weiß, es ist etwas spät für den Poinsetta Day“

„Den was?“, fragte sie verwirrt.

„Poinsetta Day“, sagte er, „Als ich in den USA war, habe ich davon gehört. Es ist der Tag des Weihnachtssterns. Am zwölften Dezember schenken sich die Menschen in Amerika diese Pflanze. Der Tag geht zurück auf den ersten Botschafter aus den USA in Mexiko, der auch Namensgeber des Tages ist. Vor fast zweihundert Jahren importierte er den Stern und in Gedenken an ihn wurde der Tag gegründet.“

„Das wusste ich ja gar nicht!“, sagte sie erstaunt und sah auf den kleinen künstlichen Dekostern.

„In Frankreich nennt man ihn auch „Liebesstern“, was auf die vielen Legenden zurück geht.“

„Was für Legenden?“, fragte Naomie interessiert und fragte sich, ob Siegfried ihn deshalb mit Absicht an die Schokolade gepinnt hatte.

„Eine aztekische Legende besagt, dass das Rot der Blüten aus dem Herzblut einer unglücklich verliebten aztekischen Göttin entstand. Sie sahen die Blume als Symbol der Reinheit.“

„Das ist interessant“, sagte sie und warf den leer getrunkenen Becher in den Papierkorb. Ihr Blick fiel wieder auf die Blüte. Wollte Siegfried ihr damit etwas sagen?

Hatte Seto vielleicht Recht? Ihr fielen seine Worte ein.

Naomie hatte nicht vor mit Siegfried etwas anzufangen oder mit Seto oder sonst irgendwem. Sie wollte auch nicht den Eindruck erwecken sprunghaft zu sein.

„So und wie steht es jetzt mit unserem Abendessen?“, fragte er und lehnte sich etwas zu ihr nach vorne.

Im hinteren Teil des Studios bewegte sich etwas. Naomie sah kurz an Siegfried vorbei.

War Seto noch da und hatte gelauscht? Sie sah wieder zu dem Geschäftsmann. Ein Seufzen entfuhr ihr.

„Du wirst weiter fragen, wenn ich ablehne, oder?“, lachte sie und irgendwie fühlte es sich komisch an ihn zu duzen. Immerhin hatte sie noch vor wenigen Stunden auf ein „Sie“ bestanden. Es war merkwürdig, wie sich die Dinge ändern konnten.

„Natürlich frag ich weiter“, sagte er bestimmt, „Ich bin kein Mann, der so schnell aufgibt.“

Wieder seufzte Naomie. Sie hatte wenig Lust mit ihm zu Essen und ihm möglicherweise falsche Hoffnungen zu machen.

„Immerhin weiß ich im Gegensatz zu andere Firmenchefs deine Gegenwart zu schätzen“, fügte er hinzu.

Naomie schluckte. Der Satz sorgte schon für ein leichtes, nervöses Pochen ihres Herzens, doch am meisten Schlug es noch bei Seto.

„Zudem könnten wir unsere geschäftliche Beziehung vertiefen.“

Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Gegen ein geschäftliches Essen kann selbst dein Boss, Seto Kaiba, nichts einwenden“, erklärte er verschwörerisch, „Außerdem sobald deine Arbeit hier vorbei ist, können wir immer noch freundschaftliche Kontakte pflegen und es geht ihn dann nichts mehr an.“

Das klang doch harmlos und ganz anders, als das, was Seto vermutete. Er sah Gespenster. Siegfried flirtete vielleicht ein wenig mit ihr und sie mit ihm, aber wenn er selbst sagte, dass sie freundschaftliche Kontakte pflegen könnten, klang es nicht so, als würde er ihr an die Wäsche wollen!

Naomie wusste, sie begab sich in eine gefährliche Grauzone, wenn sie seine Einladung annahm. Es könnte noch mehr Streit mit Seto bedeuten. Auf der anderen Seite…er hatte ihr ihre Freundschaft vor die Füße geworfen, indem er sie wieder siezte und beim Nachnamen nannte.

War es außerdem nicht auch so, dass Joey ein Freund und Kollege war und sie sich gut verstanden ohne gleich miteinander etwas zu haben?

Naomie verwarf also den Gedanken und das schlechte Gewissen.

Siegfried war nett und vielleicht ergab sich wirklich eine gute Freundschaft zu ihm.

„Na gut, ich glaube bei den Argumenten, kann ich nicht nein sagen. Ich seh auch nichts Verwerfliches dabei mit einem Kollegen oder Kunden essen zu gehen.“, lachte sie und bemerkte wieder, wie sich etwas im Studio bewegte.

Zufrieden nickte Siegfried.

„Ich hol dich um acht hier ab“, sagte er, „Ich denke, dann wird auch Sklaventreiber Kaiba dich gehen lassen. Jetzt lass uns zurückgehen. Die Pause ist gleich um.“

Auch sie nickte und erhob sich schwerfällig, während ihre Knochen knackten. Sie konnte Joey reinkommen hören, gefolgt von Yugi und den Kindern.

Wenn Seto meinte, ihr ab jetzt die kalte Schulter zu zeigen, gut, das konnte sie auch mit dem Unterschied, dass sie hier Leute hatte mit denen sie sich gut verstand.

Mit dem Gedanken und einem Lächeln auf den Lippen ging sie wieder ins Studio.

Türchen 17 - Engelsaugen

Die Kälte war schrecklich und Siegfried verfluchte nicht zum ersten Mal die Kaiba Corporation dafür, dass sie schon geschlossen hatte, aber Niemanden mehr, der nicht dort arbeitete oder einen Termin beim Oberboss Seto Kaiba hatte, hinein gelassen wurde. Mit verschränkten Armen sah er in die dunkle Nacht. Stumm beobachtete er den Schnee und wie die einzelnen Wagen auf der Hauptstraße vor bei fuhren.

Es war nicht so, dass er sich keine Limousine hätte leisten können oder nicht in ihr hätte warten können. Ihm erschien es nur nicht richtig. Zumal das Restaurant nicht weit entfernt lag zu dem er hingehen wollte, was einen Wagen überflüssig machte.

Er zog den Kragen seines Mantels höher und sah auf die Uhr seines Handys. Seufzend schob er es wieder in die Tasche.

Hoffentlich kam Naomie bald, ehe er hier fest gefroren war oder musste er erst das Gebäude stürmen und sie aus den Händen des Sklaventreibers holen?

Allein bei dem Gedanken daran, wie mies Kaiba sie behandelte, knurrte der Firmenchef auf. Siegfried verstand einfach nicht, wieso sie sich das gefallen ließ. Immerhin hatte sie einen guten Job, war herzlich und eine verdammt hübsche Frau.

Sie musste ihm unbedingt erzählen, wie sie zu Kaiba gefunden hatte. Auch wenn er von seinem Geschäftspartner Pegasus schon gehört hatte, dass es wegen Kaibas Köter gewesen war, wollte er es noch mal genauer von ihr wissen. Denn nicht nur Pegasus wusste, dass es nicht dabei geblieben war und es brannte ihm unter den Nägel zu erfahren, was es damit genau auf sich hatte. Immerhin hatte sie sogar fast geweint, wegen diesem Eisklotz von Chef. Das tat man auch nicht einfach so.

Stumm schüttelte er den Kopf. Wie konnte Kaiba eine Frau nur so behandeln? Es wurde endlich mal Zeit, das jemand ihm die Stirn bot. Er hatte keine Angst vor ihm und wenn er Naomie damit helfen konnte, dann tat er dies gern.

Siegfried runzelte die Stirn und schob seine Hände in die Manteltaschen.

Kaiba benahm sich aber auch merkwürdig. Zum merkte man sofort, dass er sich zwingen musste sie zu siezen. Das angeblich, versehentliche du kam ihm viel zu häufig über die Lippen. Ein Fehler, den Kaiba nie begehen würde. Dazu war er viel zu sehr Geschäftsmann. Zum anderen war da seine Art und Weise, wie er seine Angestellte ansah. Der Blick war nur halb so kühl und dieser Blick sprach Besorgnis aus.

Letzteres galt sonst nur dem kleinen Kaiba.

Ein Lächeln zog sich über Siegfrieds Lippen. Auch wenn Kaiba es nicht wahr haben wollte, aber jeder konnte sehen, dass seine Angestellte ihm etwas bedeutete.

Aber nicht etwa Kaiba war der Grund, wieso er sich grade die Beine in den Bauch stand und auf Naomie wartete.

In diesem Fall hatte Siegfried nicht die Absicht gegen Kaiba zu agieren, auch nicht bei seinem Projekt. Er wollte wirklich den armen Kindern helfen und damit auch ein wenig PR für seine Firma machen, dass er sich dabei verliebte war nicht sein Plan gewesen.

Allein bei dem Gedanken schluckte er und konnte seine Wangen brennen spüren.

Ja, er hatte sich in Kaibas Angestellte verliebt und Siegfried war sich auch ziemlich sicher, dass er nicht nur daher kam, um Kaiba eins auszuwischen. Natürlich wollte er den Firmenchef auch aus der Reserve mit seinem Flirten locken, aber in erster Linie waren es wirklich seine Gefühle, die im Vordergrund standen. Kaiba eifersüchtig zu machen, war nur ein netter kleiner Bonus obendrauf.

Wieder sah er auf sein Handy. Vor einer Stunde hatte er Naomie geschrieben gehabt, dass er sie abholen würde. Doch bisher hatte sie noch nicht geantwortet.

Ob Kaiba sie grade in die Mangel nahm und ihr wieder irgendeine Standpauke hielt, so wie am Mittag?

Siegfried drehte sich zu den Eingangstüren um und versuchte zu erkennen, ob sich etwas bewegte, doch es war niemand zu sehen.

Langsam begannen seine Nerven durchzudrehen und seine Hormone verrückt zu spielen.

Er hätte nicht damit gerechnet, dass er so schnell ein Date mit ihr haben würde. Gut, zwar war es für sie ein geschäftliches Essen, aber für ihn war es ein Date. Er hatte ihr sogar eine kleine Glasblume besorgt, wie es sich für einen Gentlemen auch gehörte.

Ein Schauer fuhr ihm bei der Kälte über den Rücken und unruhig wippte er hin und her. Sie war schon zehn Minuten zu spät, ob sie ihn versetzt hatte oder Kaiba sie einfach länger arbeiten ließ?

Sein Herz pumpte das Blut in seine Venen und er konnte es schlagen spüren. Es war nicht seine erste Verabredung mit einer Frau, aber die erste, wo er wirklich ernstes Interesse hatte. Alles andere war nur geschäftlich gewesen oder alles kleine Püppchen, brav erzogen, verwöhnt und zickig. Nichts, was seiner Aufmerksamkeit wert wäre.

Doch wer hätte gedacht, dass er kurz nach seiner Ankunft in Japan und gerade in der Kaiba Corporation jemanden traf, der sein Interesse weckte?

Er wäre der Letzte gewesen und hätte vermutlich laut gelacht, wenn man ihm erzählt hätte, er würde sich in eine normale Angestellte vergucken.

Aber wie hätte er diesem grün-blauen Augenpaar widerstehen können? Allein der Blick mit dem sie ihn angesehen hatte, als sie zusammen geprallt waren, war wundervoll gewesen. Ihre Augen waren so klar und offen, wie ein Buch. Dazu diese süße Nase und der entzückende Mund, der grade dazu einlud, dass man sie küsste.

Allein die Tatsache, dass er ihre warme Hand gehalten und mit den Lippen ihre wohlig riechende Haut geküsst hatte, brachte sein Herz zum schneller schlagen.

Siegfried wusste, dass er sich genau in dem Moment verleibt hatte, als sie zusammen geprallt waren und sie ihn entschuldigend angeschaut hatte.

Dieser unschuldige Blick, dazu die geröteten Wangen und der leicht abgehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht.

Zuerst hatte er sie auch nur für interessant empfunden, doch nachdem er abends in seinem Hotel gewesen war, hing sie noch immer in seinen Gedanken fest. Los bekam er sie auch nicht. Am nächsten Tag war es nicht besser gewesen. Er hatte ihre Nähe gesucht, versucht sie zum Lachen zu bringen, nur damit er ihr Lachen hatte hören können und damit sie ihn anlächelte.

Siegfried hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht gedacht, dass es mehr sein könnte, als nur Interesse und ein belangloser Flirt. Doch nachdem sein Bruder ihm geschrieben hatte und ihm von einem Mädchen erzählt hatte, was er mochte, konnte er sich darin ebenfalls sehen. Sein kleiner Bruder hatte ähnliche Anzeichen wie er und was wäre ein Computergenie ohne Zugang mit Internet?

Siegfried hatte sich also einige Stunden damit herum geschlagen im Internet nach Symptomen fürs Verliebt sein zu gucken und er hatte den Beweis auf schwarz auf weiß vor sich gehabt.

Der Gedanke schreckte ihn auch nicht ab. Es ließ ihn sogar ein wohliges Gefühl empfinden bei der Vorstellung, dass sie mit ihm zusammen wäre, in seinem Arm liegen würde und sie neben ihm im Bett schlafen würde.

Ein sehnsüchtiger Seufzer entfuhr ihm.

Es war außerdem schon einsam in dem riesigen Anwesen, weit ab von der Stadt. Weit und breit gab es nichts außer einer Landstraße und einen riesigen Wald mit einem rauschenden Fluss in der Nähe, dessen Bachbett im Frühjahr immer anstieg, wenn der Schnee schmolz. Auch wenn Siegfried seinen beiden Papageien Brunhilde und Mimir und seinen Rosengarten hat, um den er sich regelmäßig selbst kümmerte, war es dennoch oft ruhig und viel zu still in den Zimmern. Zwar gab es auch die Diener, aber sie boten wenig gute Gesellschaft. Auch die beiden Katzen Luna und Lili waren oft auf dem Gelände unterwegs und selten im Anwesen anzutreffen. Sein Bruder Leon war gerade in Australien für ein Austauschjahr.

Im Grunde war Siegfried wirklich allein und das merkte er oft genug, wenn er durch die Zimmer lief. Eine Frau wie Naomie würde frischen Wind in das Anwesen bringen.

„Hei!“

Siegfried zuckte kurz zusammen, als zwei Hände von hinten seine Hüfte packten. Hinter ihm konnte er die warme Luft spüren, doch als die Türen der KC sich schlossen, war es wieder kalt.

„Hei, da bist du ja endlich“, sagte er und begrüßte Naomie mit einer kurzen Umarmung.

„Tut mir leid, wenn du warten musstest. Ich war grade echt vertieft in der Bearbeitung“, sagte sie entschuldigend. Sie zog sich ihre Handschuhe über und fröstelte. „Wartest du schon lange?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es geht.“

„Ok gut.“ Sie strahlte ihn an und sah sich kurz um. „Also, wohin wolltest du gehen?“

„Ich dachte da an ein Restaurant direkt die Straße runter. Es ist nicht weit und wir können zu Fuß durch die Innenstadtpassage gehen. Ein paar Geschäfte haben auch noch auf.“

„Oh shoppen ist nicht mehr!“, wehrte sie ab und nahm sogar seinen Arm an, als er ihn ihr anbot. Sie hakte sich unter. „Mir tun um ehrlich zu sein die Füße total weh von heute. Ich bin froh, wenn ich sitzen kann und später die Beine hochlegen.“

„Wie wäre es dann statt Essen zu gehen, kommst du mit und wir machen es uns im Hotelzimmer gemütlich. Das Badezimmer dort ist riesig, nichts im Vergleich bei mir zu Hause, aber es ist für Hotelzimmergröße riesig. Du könntest dich dort ein wenig ausruhen und dann in aller Ruhe was essen.“

„Das klingt wunderbar. Aber ich denke, so gut kennen wir uns noch nicht, dass ich mit zu dir ins Hotel gehe“, sagte sie langsam und suchte sorgfältig die Worte. „Erzähl mir mal, wie ist es bei dir zu Hause. Du sagtest, du hast ein noch größeres Bad als im Hotel?“

Siegfried nickte und führte sie sicher über die Straße, ehe sie in die Stadtpassage einbogen und auf die Innenstadt zugingen.

„Ja, ich habe einen großen Raum mit einer Wanne“, begann er, „Das Wasser fließt aus einer Säulenfigur, wie bei einem Springbrunnen. Es ist ein geschlossenes System. Das Wasser kann ich auf die gewünschte Temperatur einstellen und es wird dann von einer Pumpe angesaugt, Heizstäbe wärmen dann das Wasser auf und lassen es dann aus der Figur wieder ins Becken fließen“, erklärte er und dachte sehnsüchtig an das Ölbad, was er gerne genoss. „So hat das Wasser immer die gewünschte Temperatur. Das Plätschern im Hintergrund ist auch sehr entspannend. Der Boden ist beheizt und ich habe einen Glaspavillion indem steht ein riesiger Pool. Dazu habe ich auch eine Sauna und einen Spabereich mit verschiedenen Becken. Ich habe dazu ein riesiges Aquarium mit exotischen Fischen in die Wand einbauen lassen.“

„Wow, das klingt ja wirklich atemberaubend.“

„Du müsstest es dir mit eigenen Augen ansehen. Ich habe auch ein kleines Gewächshaus mit Rosen.“

Naomie nickte. „Dein Hobby?“

„Ich denke, das kann man so nennen“, antwortet er ruhig, „Ich mag Rosen und ich kümmere mich in meiner Freizeit gerne um sie.“

„Hast du auch neben den Fischen andere Haustiere?“, fragte sie interessiert und blieb vor einem Geschäft mit Abendkleidern stehen.

„Ja, zwei Katzen und zwei Papageie“, antworte er und sah sich die Anzüge an. „Gefallen sie dir?“

„Oh ja…Besonders das hellblaue gefällt mir gut“, sagte sie sehnsüchtig und Siegfried konnte sehen, wie ihre Augen es anstarrten. Ein Funkeln lag darin. „Aber leider übersteigt es mein momentanes Kontoguthaben und für einen Abend ist es dann doch zu teuer.“

„Das hellblaue?“, fragte er und zog die Stirn ein wenig kraus.

„Oder denkst du das nicht?“, fragte sie und musterte ihn.

„Ich denke, es macht dich zu blass“, sagte Siegfried und musterte sie kurz, „Ich glaube das dunkle violette Kleid würde dir stehen oder das in Rot. Aber hellblau? Nein, darin würdest du zu blass wirken und aussehen wie ein Mauerblümchen.“

„Das Rote? Aber das wäre zu auffällig! Es hat außerdem ein Korsett und…“ Naomie verstummte.

„Wofür soll es eigentlich sein?“, fragte er und ging nicht auf ihre Gegenwehr ein.

„Für den Spendenabend. Ich bin ja auch eingeladen.“

„Verstehe.“ Nachdenklich sah er ins Schaufenster. „Wir haben doch Zeit. Lass uns reingehen und du probierst es an. Vielleicht irre ich mich auch!“

„Was? Aber ich kann es mir doch eh nicht leisten!“

Siegfried nahm ihre Hand.

„Warte…“

Er hielt inne.

„Du bist verrückt. Es ist etwas, was ich mir nie leisten könnte und das ist mehr was für Frauen, die zum Beispiel viel häufiger ins Theater gehen oder in Konzerte oder in die Oper.“

„Du sollst es nicht kaufen. Nur anprobieren.“

„Ich glaube nicht, dass die dort Leute drin haben wollen, die nur zum Spaß die teuren Kleider anprobieren, aber nichts kaufen.“

Siegfried entfuhr ein kleines Lachen. „Mach dir da mal keine Sorgen. Jetzt komm mit.“

Er öffnete die Tür und zog sie mit hinein.

„Ich habe aber ein gutes Kleid zu Hause“, erwiderte sie unsicher und nickte der Verkäuferin zu.

„Glaub mir, für den Abend hast du kein Kleid“, sagte er wissend. Siegfried bezweifelte nicht, dass das, was sie sich überlegte hatte zu tragen, hübsch wäre, aber für einen Abend mit reichen Leuten war es bestimmt nicht angemessen.

Die Röte stieg ihr ins Gesicht. Er wusste, er brachte sie in Verlegenheit. Es war nicht seine Absicht, aber nun mal eine Tatsache, dass sie ein richtiges Abendkleid brauchen würde.

„Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen“, sagte er beruhigend, „Wenn nicht für dich, dann tu mir den Gefallen.“

Bittend sah er sie und kurz schloss sie die Augen, ehe sie nickte.

Siegfried nickte und wandte sich der Verkäuferin zu, die etwas ungeduldig zu ihnen herüber sah.

„Meine Freundin hier braucht ein Abendkleid“, sagte er und deutete zum Schaufenster, „Sie möchte das hellblaue anprobieren.“

Die Verkäuferin sah zu Naomie und nickte. „Wissen Sie, es ist sehr mühsam es abzunehmen. Wenn Sie also nicht vorhaben, eines zu kaufen, dann…“

„Schon gut…“, fing Naomie neben ihm an und sah die Frau entschuldigend an. Innerlich schüttelte Siegfried nur den Kopf. Sie sollte sich nicht so einschüchtern lassen. Immerhin wurde die Frau dafür bezahlt, dass sie dort stand.

„Sehe ich so aus, als würde ich es nicht vorhaben?“, fuhr er ihr dazwischen, ehe die Frau weiter so überheblich sein konnte, „Ich bitte Sie nicht umsonst darum.“

Er konnte Naomies Seitenblick auf sich spüren und sah der Verkäuferin nach, wie sie ins Schaufenster kroch und die Puppe Stück für Stück das Kleid vorsichtig auszog.

„Du solltest dich nicht von anderen so behandeln lassen“, sagte er leise zu ihr.

„Aber ich kann es mir doch nun mal nicht leisten!“, zischte sie ebenso leise.

„Beruhige dich“, sagte er beschwichtigend, „Ich kümmere mich darum. Aber nimm meinen Rat an. Lass dir nie Unsicherheit anmerken.“

„Ich versuchs“, murmelte sie, „Du klingst grade wie Seto.“

„Wirklich?“ Er hob eine Augenbraue und sie nickte.

Die Verkäuferin kam mit dem Kleid wieder. Sie legte es Naomie über den Arm und deutete nach hinten zu den Umkleidekabinen.

Naomie verschwand in eine und Siegfried schmunzelte leicht.

Auch wenn sie sich wehrte, konnte er sehen, wie aufgeregt ihre Augen leichteten. Es waren wunderbare grün-blaue Engelsaugen und er mochte es, wie sie funkelten vor Freude.

Siegfried wandte sich an die Verkäuferin und bat sie noch zwei weitere Kleider von einer Puppe zu nehmen. Dann trat er vor die Kabinen. Hinter einer bewegte sich der Vorhang.

„Und? Wie ist es?“, fragte er.

„Es ist hübsch“, antwortete sie zögerlich und er sah den blauen Stoffsaum am Boden.

„Dann komm raus und zeig mal“, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich weiß nicht…“

„So schlimm kann es doch nicht sein“, lachte Siegfried und wartete. Nur zögerlich öffnete sie den Vorhang und trat hinaus.

Unschlüssig blieb sie stehen und suchte nach einem Punkt, auf den sich ihre Augen heften konnten.

Der durchsichtige hellblaue Stoff des Oberrocks war luftig und leicht. Mit jeder Bewegung flatterte er leicht hin und her, während der Unterrock zu Boden fiel und sie das Kleid ein wenig anheben musste, um nicht auf den Saum zu treten. Ihre Schultern lagen frei und die Haut, die zu dieser Jahreszeit eigentlich durch einen Pullover verdeckt wurde, war für alle sichtbar.

Der Schnitt war perfekt, doch wie erwartet, wirkte ihre Haut blass wie bei einer Leiche.

Siegfried schüttelte den Kopf.

„Probier mal das in Rot an“, sagte er und die Verkäuferin übergab ihr die nächsten Kleider.

„Scheinbar hast du recht gehabt mit der Farbe“, sagte sie etwas eingeschüchtert und wirkte ein wenig enttäuscht, dass es zwar gut im Schaufenster, aber an ihr nicht gut aussah.

„Vertrau mir. Ich weiß, wie sich eine Frau kleiden sollte, um vorteilhaft auszusehen.“

Sie verzog ein wenig das Gesicht. „Aber die anderen sind so…Sie sagen förmlich: Hei, hier bin ich und jetzt seht mich an!“

„Sollte das nicht genau die Aussage sein, die das Abendkleid einer Frau sagen sollte?“

„Ich weiß nicht.“

„Lass mich das machen. Du bist zum ersten Mal auf so einer Veranstaltung und kennst das nicht. Aber ich lüge nicht, wenn ich sage, dass es eben genau das ist. Du sollst nicht aussehen wie ein Mauerblümchen, sondern zeigen, was du hast!“

Mit geröteten Wangen nickte sie und verschwand wieder in der Kabine. Siegfried sah sich im Laden um und entdeckte ein Kleid mit einem schwarzen Korsett mit roten Stickereien darauf. Der dunkelrote Tüll war mit einer feinen Spitze bestickt und hob sich deutlich von dem schwarzen Stoff hervor.

„Warte mal kurz, ehe du die anderen anprobierst“, sagte Siegfried und deutete der Verkäuferin, dass sie dieses Kleid zu ihr in die Kabine reichen sollte.

„Okay…hast du etwas Besseres gefunden?“

„Ja, ich glaube, das ist perfekt“, sagte er und konnte sich schon gut vorstellen, wie sich das Kleid an ihren Körper schmiegte und jede Kurve betonte.

Nachdem die Dame auch das von der Puppe gezogen hatte, reichte sie es ihr rein.

„Bist du sicher?“, fragte sie und klang ein wenig schockiert.

„Wieso? Stimmt damit etwas nicht?“, fragte er und entdeckte ein seidiges Paar Handschuhe mit Spitze.

„Es ist so…so…“ Sie schien nach Worten zu ringen.

„Figurbetont?“, fragte er und musste grinsen.

„Ich hätte es anders formuliert, aber ja…“

„Du hast keinen Grund dich zu verstecken.“

Siegfried hörte sie murren und Stoff rascheln, während sich nur kurz ein nackter Arm aus der Kabine zeigte und der Verkäuferin wieder das Kleid reichte.

Er wartete einige Minuten und spielte mit den Handschuhen. Der Stoff fühlte sich glatt auf seiner Haut an.

„Und? Kommst du auch raus und zeigst es mir?“

„Nein“, sagte sie entschieden.

Siegfried lachte auf. „Muss ich also reinkommen?“

„Wag es nicht!“, sagte sie.

„Was dann? So schlimm kann es doch nicht sein, oder?“

„Nein, aber ich kann das Kleid nicht richtig zumachen, wegen dem Korsett.“

Die Verkäuferin seufzte auf. „Ich komme schon und helfe Ihnen.“

Sie verschwand hinter dem Vorhang und er konnte einen kurzen Blick auf den bodenlangen Saum und die Spitze werfen. Wieder wartete er kurz.

„Bitte versprich mir nicht zu lachen oder zu starren, ok?“

„Ich verspreche, ich lache nicht“, antwortet er amüsiert, „Aber dich anstarren werde ich vielleicht.“

Die Verkäuferin kam heraus und es dauerte einen kurzen Moment, sicherlich holte sie grade tief Luft, ehe sich der Vorhang zur Seite schob.

Siegfrieds Augen weiteten sich kurz und seine Haltung spannte sich etwas an, während sein Herz Luftsprünge machte.

„Also?“, fragte sie etwas schüchtern, was so gar nicht zu ihr passte. Naomie biss sich auf die Lippen und spielte nervös mit ihren Händen.

„Du siehst wundervoll aus.“ Er umrundete sie und musterte sie von allen Seiten. Der Stoff raschelte leise, als sie nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

„Sicher?“

„Wunderschön“, murmelte er und griff mit der Hand in ihren Nacken. Erschrocken zog sie die Luft ein, als er ihre Haare nahm und nach oben zu einem Zopf hoch hielt. Ihr Hals wirkte länger und schlanker. „So sieht eine Traumfrau aus“, flüsterte er und beugte sich etwas näher zu ihrem Ohr, „Wenn du jemals das Gefühl hast, nicht hübsch zu sein oder denkst, dass du zu fett bist oder sonst irgendeine irregeleitete Selbstkritik, dann denk an diesen Augenblick. Du bist alles andere als ein Mauerblümchen und hast nur das Beste verdient. Lass dich also von Kaiba nicht so runter machen.“

Siegfried konnte sehen, wie ihre Wangen noch weiter an Farbe gewannen. Offenbar war sie Komplimente auch nicht gewöhnt. Eine Tatsache, die er mehr als Schade fand.

Im Spiegel traf er ihren Blick und in dem Moment wünschte er sich, dass es nicht nur ein Wunschgedanke war, dass sie zusammen wären, sondern eine Tatsache.

Er ließ ihre Haare los und sie seufzte auf.

„Leider werde ich mir das nie im Leben leisten können“, sagte sie etwas enttäuscht und er zuckte nur mit den Schultern. Sie verschwand wieder in der Umkleidekabine und Siegfried ging zur Theke.

„Seto, muss ich eine Krawatte tragen?“, hörte er jemanden und die Tür schlug zu.

„Keine Widerrede, Mokuba“, brummte der ältere Kaiba die Antwort und beide hielten inne, als sie Siegfried sahen.

Kaiba rümpfte die Nase, während der Jüngere wortlos an ihm vorbei rauschte und es sich in einem Sessel gemütlich machte.

„Ich bin sofort für Sie da“, sagte die Verkäuferin und wartete bis Naomie ihr das Kleid reichte.

„Was machst du hier, Siegfried?“, knurrte Kaiba ihn an und sah auf das Kleid, das die Frau auf die Theke legte.

„Suchen Sie noch passende Schuhe raus und packen Sie es ein. Liefern Sie es dann bitte ins Hotel“, sagte er, ehe er sich dem Firmenchef zuwandte. „Was soll ich schon hier machen?“

„Hattest du nicht eine Verabredung mit Kuzuki?“, brummte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen blitzen bei der Frage kurz auf und es wirkte, als wollte er ihn erdolchen. Fast erschien es ihm, dass Kaiba nur darauf wartete zu hören, dass er sie versetzt hatte oder nur mit ihr spielte.

„Ja, das habe ich und sie ist gerade in der Kabine und zieht sich um“, antwortete Siegfried lässig.

Kaiba zog die Augenbraue hoch. „Ach geht ihr jetzt schon auf die Spendengala zu zweit?“

Sein Tonfall war spöttisch, dennoch entging ihm nicht der eifersüchtige Unterton.

„Vielleicht“, antwortete Siegfried verschwörerisch und reichte der Frau seine Kreditkarte. Es war ein riesen Spaß Kaiba damit zu ärgern, dass er sich so gut mit ihr verstand. Viel zu deutlich sah man dem kühlen Firmenchef an, dass es in ihm kochte und brodelte. An seinem Hals pochte sogar eine kleine Ader. Offenbar kostete es ihm alle Mühe nicht die Fassung zu verlieren. Doch grade das war es, was Siegfried gern gesehen hätte. Was versteckte der Firmenchef hinter seiner kalten Maske?

Wortlos zog die Verkäuferin die Karte durch den Schlitz und gab sie ihm wieder, während sie die Sachen in eine große Schachtel packte.

Kaiba gab nur ein Knurren von sich, als würde ihn der Gedanke stören.

„Wenn ihr meint, das tun zu müssen“, sagte er abweisend und klopfte mit den Fingern ungeduldig auf die Glasvitrine herum.

„Hei, Naomie!“, entfuhr es dem kleinen Kaiba und Siegfried wandte den Kopf. Naomie war fertig und hatte wieder den dicken Wintermantel mit ihrem roten Schal an.

Nicht zum ersten Mal, fragte er sich, ob Kaiba wegen diesem Schal auf den Namen seines Projektes gekommen war.

Überrascht sah sie den jüngsten Kaiba an und begrüßte ihn freudig. Ihr Blick fiel auf Seto und er konnte sehen, wie sie zusammen zuckte unter dem kalten Blick.

Kaiba benahm sich wirklich wie das letzte Arschloch.

„Amüsieren Sie sich gut, Frau Kuzuki?“, fragte Kaiba kalt und selbst Siegfried lief dabei ein Schauer über den Rücken.

Naomie brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Für sie musste es grade wie ein Gang durch die Hölle sein.

„Vergessen Sie ihre Pflichten nicht“, brummte er ihr zu und verlor kein weiteres Wort darüber, dass sie zusammen unterwegs waren.

„Natürlich nicht“, antwortete sie ruhig und Kaiba nickte zufrieden. Es schien, als wollte der Firmenchef noch etwas sagen, besann sich aber dann anders.

Siegfried bot ihr wieder den Arm an. „Unser Tisch wartet.“

Naomie hakte sich bei ihm unter und mit einem kurzen „Tschüss“ verabschiedete sie sich von den Kaibabrüdern.

Als sie hinaus traten war es kalt und es schneite wieder.

„Alles in Ordnung?“, fragte Siegfried und konnte sehen, wie in diesen Engelsaugen wieder Tränen glänzten.

Sie nickte schwach.

„Ich weiß, du hast es nicht verdient, wie er dich behandelt“, flüsterte er leise und drückte sie an sich. Sie vergrub ihr Gesicht an seine Brust und kleine Schneeflocken sammelten sich in ihrem Haar. Unter seiner Hand fühlten sie sich kalt an und schmolzen sofort.

„Es tut nur so weh…“, schluchzte sie und er strich ihr beruhigend über den Rücken.

Siegfried seufzte und hatte Mühe nicht über den kalten Firmenchef zu schimpfen. Das würde es nämlich nicht besser machen.

„Ich kann verstehen, dass dir das nicht einfach fällt“, sagte er und überlegte, wie er sie trösten konnte. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen.

Flüchtig hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn, während ihre in weiteres Schluchzen entwich. Im Schaufenster sah er, wie die Verkäuferin die Puppen wieder anzog. Kurz sah er den jüngeren Kaiba mit seinem Bruder reden. Er wirkte besorgt.

„Wieso lässt du dir das überhaupt gefallen?“, fragte er und konnte sich gut vorstellen, dass sie eigentlich zu der Sorte Mensch gehörte, der keine Angst hatte und ihm sogar Konter geben konnte.

Doch Naomie schwieg und drückte sich kurz enger an ihn heran.

„Mach mir bitte nicht weiß, dass der Eisklotz dich einschüchtert“, sagte Siegfried scherzend.

„Nein, tut er nicht“, antwortete sie leise, „Ich kann es nur schwer erklären…als ich ihn kennen gelernt habe, da war es so einfach ihm Widerworte zu geben…“

„Jetzt, wo du zwangsweise unter ihm stehst, nicht mehr?“, schlussfolgerte er fragend.

„Unter anderem. Immerhin ist mein Chef ziemlich stolz darauf so einen Kunden zu haben.“

„Und der soll natürlich auch zufriedenstellend behandelt werden“, beendete er ihren Satz seufzend. Siegfried strich ihr durch das Haar, als sie nickte.

„Das natürlich auch“, fügte sie hinzu, „Aber seitdem ich da arbeite…“

„Ja?“

„…naja…mir ist einfach klar geworden, dass…“

„Was denn?“, fragte er neugierig.

„…dass ich ihn liebe“, sagte sie leise und einzelne, heiße Tränen flossen aus ihren hübschen Engelsaugen.

„Oh“, war alles, was er dazu rausbringen konnte, ehe sein Herz sich beschleunigte.

Türchen 18 – Gefrorenes Herz

Am liebsten wäre Seto Kaiba am nächsten Tag nicht in die Firma gefahren. Am liebsten hätte er sich den Tag frei genommen, doch die Arbeit stapelte sich und von einem freien Tag konnte er nur träumen. Doch Seto wusste, dass es nicht an der Arbeit lag, weshalb er gerne frei hätte.

Er hatte absolut keine Lust Naomie zu begegnen nach dem gestrigen Tag. Erst recht nicht nach ihrer Begegnung nach Feierabend in dem Modegeschäft. Noch immer entlockte es ihm ein Knurren, wenn er nur daran dachte und dementsprechend war auch seine Laune an diesem Tag.

Was fiel ihr eigentlich ein mit Siegfried auszugehen und dann auch noch mit ihm eine Verabredung für den Spendenabend zu haben? War er ihr nicht reich genug? Suchte sie etwa jemand anderen, den sie nun ausnutzen konnte? War das vielleicht ihre Masche?

Allein der Gedanke, dass sie seinen kleinen Bruder und ihn nur ausgenutzt hatte, ließ sein Adrenalinpegel steigen. Innerlich verfluchte er sie und erst recht die Tatsache, dass er auch noch mit ihr herumgemacht hatte, wie ein hormongesteuerter Teenager.

Seto verfluchte auch seinen Hund. Denn nur wegen Shadow, war er diesem Weib begegnet, dass sich nun fröhlich mit Siegfried traf, plauderte und lachte, als gäbe es ihn gar nicht oder das, was zwischen ihnen jemals gewesen war.

Der Gedanke, dass es sie gar nicht interessierte, wie es ihm damit ging, dass sie sich mit Schröder und Pegasus zusammen tat, zog seine Brust zusammen. Sein Herz verkrampfte sich und fühlte sich schmerzhaft an, als hätte es in Eiswasser gebadet.

Auch bei der Vorstellung, dass diese intimen Momente keine Bedeutung für sie hatten, zog sich sein Magen zusammen.

Seto fuhr sich über die Lippen und brummte unruhig.

Er hätte es von Anfang an wissen und sich gar nicht weiter auf sie einlassen sollen. Sie hatte sich bestimmt nur mit ihm abgegeben, damit er sie als Fotografin bekannter machte und nun, wo ihr Ziel erreicht war, war er für sie nichts mehr weiter wert. Nun waren Pegasus und Schröder dran ihr weiter zu helfen, ehe sie diese auch fallen ließ, wie eine heiße Kartoffel.

Innerlich fluchte Kaiba über sich selbst, dass er nicht auf sein Gefühl gehört hatte, sondern sich von ihr hatte verführen lassen. Eine Schwäche, die ihm so schnell nicht noch einmal passieren würde. Er würde sich nicht noch einmal so von ihr an der Nase herum führen lassen!

Das Bild gestern Abend, als sie den Laden verlassen hatten, war doch mehr als eindeutig gewesen. So eng wie Schröder hatte er sie auch einmal im Arm gehalten und getröstet.

Seto atmete tief durch, ehe sich sein Körper weiter anspannte und sich sein Herz weiter anfühlte, als würde es in Eis getaucht und gleich gefrieren.

Knurrend stampfte Seto durch die Flure seiner Firma und schon durch seinen Blick, konnten die Mitarbeiter merken, dass er nicht gut drauf war.

Seto hörte seine Angestellten hinter vorgehaltener Hand tuscheln und es war nicht das erste Mal, dass er über sich hörte, er hätte ein Herz aus Eis oder sei ein Eisklotz.

Doch es hatte gestern Abend ziemlich geschmerzt, dass er sich das auch von Mokuba hatte anhören müssen, als er bemerkt hatte, dass er Naomie wieder siezte.

Aber was hätte er sagen sollen, außer, dass es geschäftliche Gründe hatte?

„Stellen Sie keine Anrufe durch. Ich bin für Niemanden zu sprechen“, knurrte er seine Sekretärin an und lief dann an ihr vorbei zu seinem Büro.

Ihre gemurmelte Antwort ignorierte er.

„Man, du kochst ja ganz schön“, murmelte sein Gewissen, dem er nur ein Knurren schenkte. Es sollte sich verpissen!

„Du bist ziemlich sauer auf sie, was? Aber du weißt genauso wie ich, dass deine Vorwürfe ungerecht sind!“, fuhr er weiter mit ruhiger Stimme fort.

Ungerechtfertigt? Was sollte daran ungerechtfertigt sein? Er hatte sie doch in Siegfrieds Armen gesehen, genauso in der Umkleidekabine! Eng beieinander stehend und schon per du.

„Du bist doch nur eifersüchtig!“, fuhr sein Gewissen dazwischen, „Du weißt genau, wie sehr du ihr weh tust mit deiner abweisenden Art und Siegfried entpuppt sich nur als guter Freund!“

Ein guter Freund, der ihr doch nur an die Wäsche wollte! Wie blind war sie denn, dass sie nicht sah, wie er sich an sie ran warf?

„Er ist eben anders als du. Er geht es langsam an“, konterte sein Gewissen, „Es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich sogar in ihn verguckt, weil du sie nur vor den Kopf stößt und wenn du ehrlich zu dir bist, dann bist du genau deswegen so grummlig! Du hast schiss, dass ein anderer sie kriegt!“

Dann sollte eben ein anderer sie kriegen. Es war ihm sowas von egal!

„Red dir das ruhig weiter ein, du sturer Esel!“, fuhr ihn die Fistelstimme an und er konnte eine Spur Ungeduld darin erkennen, „Du weißt genau, dass sie deinetwegen gestern geheult hat!“

Diesmal klang die Gewissensstimme lauter und wütender. Sein Schädel pochte, als wäre das die Strafe dafür, wie er Naomie behandelte.

Aber sollte er jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie ein paar Krokodilstränen rauspresste? Sollte er ihr etwa weiterhin die Hand reichen und sie nahm direkt den ganzen Arm?

„Das kann man sich ja nicht mit ansehen“, seufzte sein Gewissen und sein Schädel begann stärker zu pochen, „So, da ich ganz dick befreundet bin mit der Großhirnrinde, wo der Trigeminusnerv liegt, werde ich dir jedes Mal eine Minimigräne verpassen, wenn du schlecht über Naomie denkst!“

Setos Nasenflügel zuckte genervt bei den Worten der Fistelstimme. Musste er sich jetzt schon von einer imaginären Stimme erpressen lassen? Er konnte über dieses Weib denken, was er wollte!

Eine weitere Welle von Schmerz durchzuckte seine Schläfe, was wohl die Antwort darauf sein sollte.

„Nein, darfst du nicht, du alter Grinch!“, schimpfte die Stimme und in seinem Kopf entstand das Bild, wie sein Gewissen mit einer Hausfrauenschürze und Nudelholz in der Hand vor ihm stand. Dazu die Hände in die Hüfte gestemmt und zetternd, wie ein altes Waschweib.

„Du bist so verbohrt und denkst, dass dir jeder was Schlechtes will!“, zetterte die Stimme weiter, „Dein Griesgram lässt dich irgendwann alleine dastehen! Selbst Mokuba bezeichnet dich schon als Eisklotz und hat dir vorgeworfen, dass du ein Herz aus Eis hast!“

Seto atmete tief durch. Was erlaubte sich dieses imaginäre Irgendwas eigentlich? Das Gespräch mit Mokuba war allein ihre Sache. Sein Gewissen hatte sich da gar nicht erst einzumischen!

„Ich bin ein Teil von dir. Schon vergessen?“

Dem würdigte er keine Antwort.

„Natürlich nicht. Immer, wenn dem werten Herren etwas nicht passt, dann ignorierst du es! Genauso wie Naomie! Dir passt es doch nur nicht, dass sie sich so gut mit deinen Rivalen versteht. Aus keinem anderen Grund ignorierst du sie doch!“

Seto schnaubte abfällig und wühlte in seiner Tasche nach der Erkennungskarte für sein Büro. Seine Finger streiften dabei kurz über die Glasplatte und sein Herz krampfte sich zusammen.

„Morgen, Herr Kaiba.“ Es zog sich bei den Worten weiter zusammen und blieb sogar kurz stehen, so dass ihm für einen Sekundenbruchteil die Luft fehlte.

Seto hielt vor seinem Büro inne und musterte Naomie, die mit einer Mappe vor der Tür geduldig wartete. Stand sie schon lange dort?

Sein Blick fiel auf ihr blasses Gesicht, als hätte sie zu wenig Schlaf gehabt. Auch die geröteten Augen mit den dunkeln Ringen entgingen ihm nicht. Ein Anblick, den er schon einmal gesehen hatte und der ihn veranlasst hatte, dass er sie mit in seine Villa genommen hatte.

Fast könnte er wieder weich werden, wenn er sie so sah. Den Blick eingeschüchtert gesenkt und in sich zusammen gesunken, als wäre jemand gestorben.

Kurzzeitig überkam ihn wieder das Gefühl, ihr nahe sein zu wollen, sie an sich zu drücken und das Gesicht an ihrem Hals zu vergraben. Nichts an ihr zeigte etwas von der selbstbewussten und fröhlichen Frau, die er kennen gelernt hatte.

Doch diesmal würde er nicht weich werden. Diesmal würde er nicht den Tröster spielen. Sollte sie doch zu Siegfried gehen! Er nahm sie bestimmt gerne in den Arm.

„Morgen“, brummte er ihr kühl entgegen und ließ die Karte durch den Schlitz fahren. Ein Klacken war zu hören, als sich die Tür entriegelte. Seto würdigte ihr so gut es ging, keinen einzigen Blick.

„Ich habe die ersten Fotos fertig und wollte sie d…“ Sie hielt inne und Seto warf ihr einen mahnenden Seitenblick zu. Sie verstummt und biss sich kurz auf die Lippen. Offenbar wollte sie ihn trotz allem noch duzen. „…Ihnen zeigen.“

„Kommen Sie rein und schließen Sie die Tür“, brummte er ihr entgegen und zog seinen Mantel aus. Mit schnellen Schritten ging er zu seinem Schreibtisch und packte den Laptop aus.

Innerhalb weniger Sekunden war er hoch gefahren und betriebsbereit.

Naomie folgte ihm und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Stumm reichte sie ihm die fertige Fotomappe.

Seto ließ sich nichts anmerken, als er ihre kalten Finger berührte und schlug seufzend die Mappe auf. Grob überblätterte ihre Auswahl, während sie die Hände hinter dem Rücken verschränkte, während sie nervös wartete.

Seto kam nicht umhin sie kurz zu mustern und fragte sich, was wohl in ihr vor sich ging. Hatte er sie so schnell einschüchtern können, wie die anderen Mitarbeiter in seiner Firma auch?

Innerlich schüttelte er den Kopf. Er hatte sie für Stärker gehalten. Immerhin hatte sie am Anfang keine Angst vor ihm gehabt. Was war passiert, dass sie jetzt so vor ihm kuschte und sich so behandeln, ließ ohne zu kontern?

Seto erinnerte sich besonders an den Tag auf dem Weihnachtsmarkt, als er sich mit dem Köter gezofft hatte. Wortlos hatte sie ihr Geplänkel verfolgt und dann ein lautes und demonstratives Schlürfen von sich gegeben. Die Art und Weise, wie sie ihn und Wheeler angeschaut hatte, war unschuldig und doch gleichzeitig wissend gewesen. Sie hatte genau gewusst, was sie hatte tun müssen, um ihren Streit zu beenden. Wo war diese Frau abgeblieben?

„Ich komme später auf Sie zurück“, sagte er ruhig und sah noch einmal kurz in ihre verquollenen Augen, die aussahen, als würden gleich wieder Tränen fließen.

Naomie brachte nur ein Nicken zustande und verließ sein Büro. Von der Frau, die ihn vor kurzem noch Konter gegeben hatte und die keine Angst vor ihm gezeigt hatte, war nichts mehr zu sehen.

„Siehst du, was du angerichtet hast!“, fauchte die Fistelstimme und sofort überkam ihn eine Welle von Schmerz, so dass er sogar die Augen zusammen kneifen musste, weil das Licht in den Augen brannte.

„Wolltest du das? Dass sie deinetwegen heult?“, knurrte sein Gewissen und sein Schädel pochte stärker, „Du bist doch nur eifersüchtig und deswegen zerstörst du eine gute Freundschaft oder sogar mehr, du alter Esel! Du willst es nur nicht wahr haben, dass du sie magst!“

Konnte sein Gewissen mal die Klappe halten? Er hatte bestimmt nicht vor gehabt sie zum weinen zu bringen und das sollte sie auch gar nicht. Genauso wenig wollte er, dass sie vor ihm zurück schreckte, wie andere Angestellte.

„Ach dafür hast du aber wunderbar dafür gearbeitet, dass sie es nun doch tut!“, fauchte die Fistelstimme und Seto spürte, wie ein weiteres Hämmern zwischen seinen Schläfen.

Was sollte er sonst tun, außer sie zurück weisen?

„Wie wäre es mal nett zu sein?“, zischte die Stimme, „Aber das kannst du ja nicht, ohne einen epileptischen Anfall zu kriegen, was?“

Wurde sein Gewissen jetzt auch noch zynisch? War er nicht schon freundlich zu ihr gewesen? Was außerdem sollte er sonst tun, damit Pegasus und Schröder nicht auf die Idee kamen, sie als Druckmittel gegen ihn zu nutzen? Es reichte, wenn Mokuba eine Schwachstelle darstellte, da wollte er wenigsten sie aus den Angelegenheiten raus halten.

Was wäre also dazu besser geeignet, wenn die beiden im Glauben waren, dass sie ihm egal war und nur irgendeine Angestellte? Gab es einen besseren Weg sie aus den Machenschaften von den beiden Idioten raus zu halten, außer so zu tun, als würden sie sich nicht gut kennen?

„Ah, dann magst du sie also doch und tust es aus Nettigkeit?“, fragte sein Gewissen ruhiger.

Tat er das? Mochte er sie? Er wollte nur nicht, dass sie in seine Angelegenheiten gezogen wurde und Pegasus vielleicht auf die Idee kam, ihn mit ihr zu erpressen, wie er es mit Mokuba auf seiner Insel getan hatte.

„Das ist ja süß von dir!“, quietschte mit einem Schlag sein Gewissen, dass er ein Tinnitus im Ohr hatte und fast fürchtete, dass Yugis kleine Freundin, deren Namen er sich nie merken konnte, schon in seinem Kopf saß.

„Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh mein Gott!“, quietschte sie weiter und sein Herz fing schneller an zu schlagen. Seto konnte genau spüren, wie es flatterte vor lauter Euphorie seines Gewissens.

Musste es jetzt unbedingt anfangen an eine Gottheit zu beten und religiös werden? Wollte sie noch Glitzer streuen? Zuckerherzen verteilen?

„Oh du bist einfach süß und sie bedeutet dir was!“, quietschte es weiter und Seto musste sich kurzweilig die Ohren zuhalten, weil die Stimme so schrill wurde.

Wieso übertrieb diese nervige Stimme nur so? Naomie bedeutete ihm doch gar nichts. Er wollte sie doch nur aus Angelegenheiten raus halten mit denen sie nichts zu tun hatte.

„Du kannst dich da nicht mehr raus retten, Seto!“, fuhr die Stimme fort und Seto spürte deutlich, wie seine Hände feucht wurden, „Du bist verliebt!“

Das war doch nun wirklich absurd. Er war nicht verliebt und würde es auch niemals sein!

„Oh doch. Die Symptome hätte ich schon eher erkennen müssen!“, zwitscherte die Stimme fröhlich und aufgeregt, was sich bei ihm mit einem leichten Zittern der Hände bemerkbar machte. „Zum Beispiel die Ausschüttung von Dopamin und Adrenalin! Dann dein Interesse an ihr. Dann vernachlässigst du die Arbeit für sie, als sie wegen ihrer Familie schlecht drauf war, hast du mit ihr gelitten, aber am meisten dein Drang sie zu berühren!“ Ein kichern war in seinem Kopf zu hören und so langsam glaubte Seto wirklich verrückt zu werden. Er war doch nicht verliebt! Das war so absurd, dass er fast aufgelacht hätte.

„Ach nein? Und wieso arbeitest du nicht und denkst darüber nach, dass du sie ja gar nicht vor den Kopf stoßen willst?“ Ein triumphierendes Geräusch kam von der Fistelstimme und Seto stützte den Kopf kurz in den Händen.

Die Antwort war wirklich einfach. Wenn diese imaginäre Stimme mal die Klappe halten würde, anstatt irgendwelchen Zeug daher zu reden, dass er verliebt sei, dann würde er auch arbeiten können. Geschweige denn davon, dass er noch immer ein leichtes Pochen zwischen den Schläfen verspürte, was seine Konzentration ebenfalls milderte.

„Willst du damit sagen, dass ich Schuld bin?“ Ein gespielt empörter Unterton mischte sich in die Stimme.

Ein Wunder, diese Stimme war lernfähig. Seto hatte schon daran gezweifelt, ob sie je auf die Idee kam, sie würde ihn von der Arbeit abhalten. Genervt verdrehte er die Augen und widmete sich der prall gefüllten Postmappe, die wieder mehrere Grußkarten für das neue Jahr enthielten.

Wenn das so weiter ging, dann würde sich die Arbeit auch an Weihnachten anstauen und er würde die Festtage über Arbeiten müssen. Seto konnte schon jetzt seinen Bruder darüber schimpfen hören.

„So ist eben die Liebe“, seufzte die Stimme sehnsüchtig, „Man denkt eben nur an die Herzdame.“

Ein Knurren entfuhr ihm. Er musste arbeiten! Er brauchte kein Gelaber von Liebe oder sonstigen Dingen darüber! Was versuchte diese dämliche Stimme ihm überhaupt einzureden? Er würde keinen Gedanken an Naomie verschwenden, wenn dieses Gewissen nicht ständig damit anfangen würde!

„Also soll ich schuld sein, dass du dich verliebst?“

Wenn sein Gewissen so weiter redete, dann war es nur natürlich, dass er den Unsinn irgendwann sogar selbst glaubte. Aber wie gut, dass er es besser wusste und sich nicht durch eine Überdosierung irgendwelcher Hormone beirren ließ. Denn was war Liebe schon?

Eine Ausschüttung von Hormonen, die ein glückliches Gefühl verursachten. Es war also nichts weiter als eine Art Rauschzustand, wie man ihn beim Alkohol auch erlebte.

„Und du erlebst grade Entzug oder was soll mir das sagen?“, fragte sein Gewissen neugierig und seufzte. „So wie du das sagst, klingt das auch total unromantisch! Denk doch mal an den Moment, als sie bei dir in der Wanne saß und du sie im Arm hattest! Dein Hormonspiegel war dann aber im extremen Rausch!“

Seto schluckte. Was sollte das denn jetzt werden?

Natürlich erinnerte er sich an den Abend. Es war ja noch nicht allzu lange her und senil war er auch noch nicht. Den Anblick würde er bestimmt auch so schnell nicht vergessen, wie sie weinend in seiner Badewanne gesessen hatte. Genauso wenig würde er vergessen, wie sich ihre Haut angefühlt hatte oder ihr warmer Atem auf seinem Arm.

Allein bei der Erinnerung überkamen ihn wieder ein warmes und ein fast sehnsüchtiges Gefühl. Er konnte wieder spüren, wie sein Hirn einen leichten Aussetzer machte.

Tief musste Seto durchatmen, um sich nicht in der Erinnerung zu verlieren und sehnsüchtig aufzuseufzen.

„Gefällt dir das?“, fragte die Fistelstimme hoffnungsvoll und klang dabei wie ein kleines Kind, „Ich dachte mir, wenn du schon auf eiskalten Entzug stehst, dann hilft dir vielleicht die Erinnerung. Wenn du mich fragst, das ist der Moment, wo du dich endgültig in sie verliebt hast. Aber rettungslos, mein Freund!“

Konnte das nicht mal mehr aufhören? Das wurde langsam richtig nervig!

„Ist geschenkt!“, kicherte das Gewissen, „Außerdem hast du eh deine Chance vertan.“

Was für eine Chance? Hatte er je eine gehabt?

„Natürlich, Dumpfbacke! Aber jetzt wird sie vielleicht eher mit Schröder ihr happy end finden.“

Allein bei dem Namen zog sich sein innerstes zusammen. Von dem Gefühl zu ersticken, wenn er daran dachte, dass Kuzuki was mit der rosa Pest anfing, wollte er gar nicht denken und schüttelte schnell den Gedanken ab.

„Wenn du nicht dran denken willst, dann sieh dir erstmal das Dokument an, an dem du arbeitest“, erwiderte die Stimme ruhig und sachlich.

Seto hob eine Augenbraue und blickte von der Postmappe auf. Was war an dem Vertrag denn so besonderes, dass ihn sein Gewissen darauf hin wies?

Fragend schaut er das Dokument an und musste schlucken.

„Ja, ja von wegen ich bin Schuld!“, meckerte die Stimme kichernd los, „Du musst doch auch schon ohne mein zu tun an sie denken! Sonst würdest du nicht an einem Arbeitsvertrag für sie arbeiten! Hast wohl Angst, dass Schröder oder Pegasus sie abwerben, was? Aber psst! Ich sag dir was, Nägeln mit Köpfen machen ist immer gut!“

Seto wich etwas zurück und schloss das Dokument mit zittrigen Fingern. Wieso erinnerte er sich daran, dass er daran arbeitete? Tat er das schon so unterbewusst?

Erschrocken stand er vom Bürostuhl auf, der soweit zurück rollte, dass er gegen das Panzerglas fuhr.

„Du bist scharf auf sie! Du findest, sie ist ein heißes Teil!“, zwitscherte die Stimme, „Du hast sie gern!“

Seto schluckte und atmete schneller. Sein Körper begann zu zittern und sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Brust.

„Dein Herz verrät dich!“, trällerte die Stimme triumphierend.

Mehrere Gefühle schlugen mit einem Mal auf ihn ein. Zuerst war da Panik, dann Fassungslosigkeit, gefolgt von Hilflosigkeit und das Gefühl, was man hat, wenn man eine Treppe beim runter gehen übersprang.

Seine Atmung ging schneller.

„Ich weiß es!“, trällerte sein Gewissen weiter, „Und dein ganzer Körper verrät dich!“

Seto blickte auf die Postmappe und wich weiter zurück bis er an den Stuhl stieß. An der Rückenlehne musste er sich festhalten.

„Sag mal, kann es sein, dass du das bis eben so erfolgreich verdrängt hast, dass du das nicht mal selbst wusstest?“ Der Triumph in der Stimme war verflogen. Stattdessen war eine Spur Besorgnis zu erkennen.

Seine Atmung ging flach und nur langsam beruhigte sich sein Herz. Sein Gewissen schwieg ausnahmsweise mal.

„Was passiert hier?“, fragte er verwirrt und leise in den Raum und fuhr sich durch die Haare. Sein Gehirn wollte die Antwort nicht heraus rücken. Seto spürte aber, dass sie da war. Er war nur einen Hauch davon entfernt. Sein Herz hämmerte weiter, während ihm das Atmen schwer fiel.

Konnte es sein, dass dieses absurde Gerede doch stimmte? War er wirklich so abweisend zu ihr, weil er sie eher schützen wollte, als dass es ihm darum ging, dass jemand in seine Angelegenheit hinein gezogen wurde? Wurde er deshalb so schwach in ihrer Nähe, weil an diesem aberwitzigen Behauptungen doch etwas dran war?

Seto schluckte wieder.

„Hei, nimm es nicht so schwer…“, begann sein Gewissen vorsichtig.

Seto knurrte und fuhr sich wieder durch die Haare.

„Bekomm mir keine Panikattacke oder sowas!“, sagte sein Gewissen ängstlich, „Oder kipp mir aus den Schuhen! Ich kann dich nicht retten! Wenn du ein Knock Out hast, hab ich es auch!“

Na wunderbar. Machte sich dieses Gewissen oder was auch immer es am Ende war, doch tatsächlich noch mehr Sorgen um sich selbst, als um ihn? Aber wenn es damit beruhigt werden konnte, er hatte nicht vor umzufallen oder sonstige Dinge zu tun, die seinen Geisteszustand ändern würden.

„Dann setz dich hin!“, fuhr ihn die Stimme an und klang nicht weniger beruhigt. Dabei war es doch, der sich Sorgen machen musste. Immerhin spielte sein Gemütszustand grade Achterbahn.

Dennoch ließ sich Seto langsam wieder in seinen Bürostuhl fallen. Er schloss die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher als doch noch eine Migräne zu bekommen. Dann würde er zumindest aufhören können zu denken.

„Es wird alles gut. Atme weiter!“, sprach die Fistelstimme besorgt und im selben Augenblick klopfte es an die Tür.

Seto schwieg und starrte das Holzstück an. Seine Atmung war noch nicht besser, doch er versuchte sich zu konzentrieren.

„Kann ich rein kommen?“, fragte Naomie und steckte den Kopf durch den Türspalt, „Deine…ich meine, Ihre Sekretärin sagte, Sie sind nicht zu sprechen, aber ich habe noch ein paar Fotos fertig und denke, dass ist wichtig.“

Setos Atem stockte kurz und sein Herz setzte für einige Sekunden aus. Er konnte es nicht pochen spüren, so gelähmt war er gewesen, ihre Stimme zu hören und das vertraute du. Aber es tat auch auf der einen Seite gut.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt und runzelte die Stirn. Sie öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür und kam in sein Büro. Er konnte sehen, dass Siegfried draußen wartete. Sie schloss seine Bürotür wieder.

Seto knurrte wieder. „Keine Sorge. Mir geht es prächtig!“

Naomie trat näher an seinen Schreibtisch heran und legte die Mappe ab.

„Du siehst wirklich blass aus“, sagte sie besorgt und musterte ihn kurz.

„Hatten wir uns nicht auf Sie geeinigt?“, fragte er knurrend.

Abwehrend hob sie die Hand. „Bitte um Verzeihung, aber das ist mir grade egal! Du siehst echt scheiße aus! Hast du hyperventiliert oder sowas?“

Da war sie. Da war die Frau, die ihm Konter gab und keine Angst hatte.

„Mach dir keine Gedanken“, wehrte er ab.

„Tu ich aber“, erwiderte sie, „Außerdem wissen eh alle, dass wir uns duzen und fragen auch mich schon, was der gespielte Unsinn soll!“

Er brummte darüber.

„Willst du etwas trinken?“, fragte sie ruhig und kam um den Schreibtisch herum. Seto konnte sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie seine Haare zur Seite schob und eine Hand auf seine Stirn legte.

Kurz sahen sie sich in die Augen, doch sie brach den Blickkontakt ab.

„Fieber hast du nicht. Immerhin etwas“, sagte Naomie und klang erleichtert.

„Siehst du, sie sorgt sich auch um dich!“, sagte sein Gewissen, während er den Kopf schüttelte, „Aber hei, es hätte schlimmer kommen können. Sich zu verlieben, bedeutet nicht das Ende der Welt.“

Für sein Gewissen vielleicht nicht, aber für ihn vielleicht? Vielleicht auch für sie?

„Was ist passiert?“, fragte sie und hockte sich vor seinen Bürostuhl und sah zu ihm herauf, als wäre er ein kleines Kind. „Du siehst aus, als hätte man dir die Insolvenz deiner Firma verkündet, was nicht sein kann, weil ich grade jemanden aus der Finanzabteilung habe sagen hören, dass der Umsatz durch den Verkauf der Schals und die viele Werbung durch die Spendenaktion in die Höhe gestiegen ist.“

So wie sie ihn ansah, war es fast schon eine Einladung sie zu küssen.

„Tja, sieh es mal so, Grinchilein, wenn du eine Freundin hast, dann hört die Unmenge an Fanpost auf, die du jeden Tag in den Schredder stecken lässt und die Geschenke zu Geburtstagtag, Valentinstag, Weihnachten, Nikolaus, Ostern hören auch auf. Genauso wie diese jämmerliche Jahresnominierung zum begehrenswertesten Junggesellen.“

Zum ersten Mal bedauerte Seto nicht wie viele andere Geschäftspartner auch etwas Alkohol im Büro stehen zu haben. Denn grade war ihm eindeutig nach etwas hochprozentigem. Sollte er das als Anlass nehmen, damit anzufangen?

Seto schüttelte den Kopf und lehnte sich in dem Stuhl zurück, um Naomie nicht weiter in die Augen sehen zu müssen und nicht weiter in Versuchung zu sein.

„Mir ist nur etwas klar geworden“, nuschelte er und seufzte.

Sie richtete sich auf und grinste. „Das scheint ja eine sehr umwerfende Erkenntnis gewesen zu sein, was?“

„Du hast ja keine Ahnung.“

„Egal, was es ist, lass es sacken und dann sieht es auch nur noch halb so schlimm aus. Hab ich mit dem Job hier auch getan.“

Seto sah auf und sie grinste ihn kichernd an und zuckte kurz mit den Schultern.

„Ist die Arbeit hier so schlimm für dich?“, fragte er prompt.

Sie schüttelte den Kopf. „Sagen wir es so, ich war am Anfang wenig begeistert, aber…“ Naomie zögerte kurz und wurde mit einem Mal verlegen. „…aber dadurch ist mir auch was klar geworden und zwar, dass ich mich wieder verliebt habe.“

„Gott steh uns bei!“, entfuhr es seinem Gewissen, während er sie nur ansehen konnte. Er konnte fast bildlich sehen, wie die Stimme die Finger kreuzte und ein Gebet murmelte, dass es nicht Pegasus oder Siegfried waren.

„Das ist…“ Nun zögerte er. „…schön für dich.“

„Ich bezweifle es. Denn ich glaube nicht, dass er dasselbe fühlt, wie ich.“ Sie klang traurig und Seto wurde bewusst, dass sie deswegen so verheult aussah. Liebeskummer, schlicht und ergreifend. Dabei hatte er schon angefangen sich Sorgen zu machen, er sei Schuld.

„Wenn er das nicht tut, hat er ein Herz aus Eis“, erwiderte er und musterte sie kurz. Egal, in wen sie sich verliebt hatte, wenn er so dumm war und sie abblitzen ließ, dann war dieser Mann einfach nur dumm.

Naomie seufzte. „Naja…ich muss sagen, der wärmste Typ ist er wirklich nicht. Ich dachte am Anfang auch, er ist ziemlich kühl. Aber was solls…ich geh was Essen.“

Seto nickte und seine Gedanken versuchten die neu gewonnen Informationen zu verarbeiten.

Kuzuki war also verliebt in jemanden, der sie abblitzen ließ. Hieße das nicht, dass Schröder damit aus dem Schneider war? Immerhin war es offensichtlich, dass er was von ihr wollte. Dann war da noch der Straßenkläffer und Pegasus.

Hatte Siegfried sie deshalb gestern Abend im Arm gehabt, weil sie sich ausgeweint hatte? Konnte er beruhigt sein, weil da doch nichts war?

Seto bekam nur am Rande mit, wie sie wieder sein Büro verließ und in seinem Kopf drehte sich alles.

„Bist du soweit?“, fragte Schröder.

„Ja, ich bin fertig. Wohin gehen wir?“

„Wie wäre es mit Italienisch?“

Die Tür schloss sich und er war wieder alleine.

„Was ist eigentlich mit dir selbst, du Blindgänger?“, fragte sein Gewissen, „Von allen Leuten hier bist du doch derjenige, der sie am meisten von sich gestoßen hat und ihr damit das Gefühl gab, sie nicht zu mögen und die Beschreibung passt am besten zu dir. Du bist der Kälteste von allen.“

Seto runzelte die Stirn. Hatte er grade über sich selbst gesagt, dass er ein Herz aus Eis hatte, weil er sie in ihren Augen abblitzen ließ, obwohl er sie nur beschützen wollte?

„Sag mal…Wenn das stimmt, würde es nicht auch bedeuten, dass Naomie dir grade indirekt „Ich liebe dich“ gesagt hat?“

Türchen 19 - Weihnachtsgeschenke

Weihnachtsgeschenke kaufen war schon immer Krieg und ändern würde sich das nie!

Erst recht nicht, wenn es darum ging die Geschenke von Geburtstag oder dem letzten Weihnachten zu übertreffen und sich gegenseitig immer wieder darin zu übertrumpfen, wie viel der andere einem Wert war.

Dabei stand Weihnachten nie plötzlich vor der Tür und es gab eigentlich keinen Grund, wieso sich an einem Wochentag und erst recht am Wochenende zig Leute in ein Kaufhaus drängten und sich gegenseitig zur Seite schubsen mussten, um noch irgendetwas zu kaufen, weil sie mal wieder Heilig Abend verschwitzt hatten.

Ebenso die Generation der älteren Herrschaften und Damen.

Es war jedes Jahr das gleiche Spektakel. Das ganze Jahr über betüdelten diese Leute ihre Enkelkinder und kauften schon Monate vorher das Geburtstagsgeschenk, aber stand plötzlich Weihnachten vor der Tür, musste noch schnell ein Schokoladenweihnachtsmann gekauft werden, sowie eine Debatte mit dem Käufer, dass das bestellte Geschenk doch bitte innerhalb eines Tages im Laden sei und nicht erst in vier, weil die Zeit ja knapp war, man es ja noch abholen musste und hübsch verpacken.

Aber solche Leute waren es auch, die einen ihre Tüten und Schirme vors Schienbein knallten, um noch an das letzte Produkt im Regal zu kommen und dann einen ankeiften, weil man sich beschwerte.

Doch neben den Großmüttern waren die Mütter mit ihren schreienden Kindern mitunter die schlimmere Plage. Entweder schrien die Kinder und die entnervten Frauen mussten sie durch die überfüllten Läden schleifen oder aber die kleinen Lieblinge liefen wild durch die Gegend und einem fast noch in die eigene Beine, wenn man nicht rechtzeitig zur Seite sprang. Doch am allerschlimmsten waren jene Mütter, die einen Kinderwagen dabei hatten und ein kleines Kind nebenher lief und am Wagen rüttelte, um die Aufmerksamkeit zu erregen, während die liebevolle Mami nichts besseres zu tun hatte, als am Handy zu hängen und zu telefonieren und ihr Kind dann anzuschreien.

Aber am schlimmsten waren doch die Menschen, die grade in solche überfüllten Kaufhäusern keinen Plan hatten und mitten im Weg stehen blieben, um sich in aller Seelenruhe umzusehen.

Naomie seufzte und hasste sich grade selbst dafür, dass sie zur letzteren Kategorie gehörte.

Eigentlich hatte sie alle Geschenke beisammen. Eigentlich, aber da waren noch zwei Leute auf ihrer Liste, wo sie absolut gar keine Idee hatte und die auch eher spontan dazu gekommen waren.

Obwohl sie überlegt hatte es zu lassen, doch nun war sie zu dem, noch immer zweifelnden, Entschluss gekommen, den Kaiba Brüdern ein Geschenk zu besorgen.

Mokuba erwies sich da als einfacher, als der Ältere und dieser machte ihr am meisten Probleme.

Seufzend sah sie sich ziellos und um wich einer Rentnerin mit Rollator aus, die wütend ansah, als würde sie sagen wollen, was ihr denn einfiele einfach so da rum zu stehen und sich umzuschauen.

Sie drängte sich zu dem großen Weihnachtsbaum durch, der in der Mitte aufgestellt war und atmete tief durch.

Naomie schaute sich um und überlegte, was sie für den älteren Kaiba holen konnte und betrachtete die kleine Tüte mit Mokubas Geschenk.

Siegfried hatte sich ebenfalls auf den Weg gemacht durch das Kaufhaus und sich von ihr getrennt, weil er selbst etwas besorgen musste und sie würden sich später zum Essen an diesem Baum treffen.

Eigentlich hatten sie vor gehabt, die Pause zusammen zu verbringen, wie die anderen Tage auch, doch bei dem vollen Kaufhaus hielten sie es beide für eine gute Gelegenheit nicht zusammen unterwegs zu sein. Alleine wären sie schneller. Zudem hatte Siegfried gesagt, dass er noch in einem anderen Laden etwas holen müsse.

Seit sie das Büro von Kaiba verlassen hatte, verfluchte sie sich selbst.

Sie hatte sich so mitreißen lassen. Aber er hatte auch hundsmieserabel ausgesehen! Kein Wunder, wenn sie sich Sorgen gemacht hatte und die Pferde mit ihr durchgedreht waren, dass sie ihn wieder geduzt und Konter gegeben hatte. Chef hin oder her. Sie liebte diesen Idioten von Eisklotz und grade aus dem Grund, machte sie sich Sorgen.

Doch auch grade, weil sie ihm praktisch ein „Ich liebe dich“ an den Kopf geworfen hatte, würde sie den Kopf am liebsten gegen die Wand hauen. Wie hatte sie sich nur so sehr im Gespräch mitreißen können, dass ihr das über die Lippen gekommen war?

Noch immer fassungslos über diese Dummheit schüttelte sie ganz leicht den Kopf. Darüber, wie sie ihn in den nächsten Tagen über den Weg laufen sollte, ohne hochrot anzulaufen oder an einem Herzinfarkt zu sterben, wusste Naomie noch nicht. Immerhin pochte ihr Herz bei dem Gedanken immer noch und sie könnte sich am liebsten selbst für diese Idiotie ohrfeigen.

Auch wenn Kaiba ein Herz aus Eis hatte. Er war nicht blöd oder auf den Kopf gefallen.

Unruhig lief sie vor dem Weihnachtsbaum auf und ab.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sich rausreden, ging gar nicht mehr. Was, wenn er sie darauf ansprechen würde? Ihn anlügen und sagen, jemand anderer war gemeint, wäre möglich, aber Naomie wusste, dass sie eine miserable Lügnerin war. Spätestens, wenn sie ihm nicht mehr in die Augen sehen und ihr Gesicht einer Ampelschaltung bei Rot glich, würde sie sich verraten.

Sie konnte schon als Kind ziemlich schlecht Lügen. Im Alter hatte sich das auch nicht gebessert. Ihr Blick ging zu Mokubas Geschenk. Was machte sie nur mit Seto? Es musste etwas sein, was zeigte, was er ihr bedeutete, aber auch nicht zu deutlich war.

Kurz sah sie in ein Parfümeriegeschäft und überlegte, ob ihm davon etwas gefallen konnte. Doch ihr fiel das Gespräch wieder ein, was sie geführt hatten an Nikolaus.

Er bekam solche Dinge genug von seinen Fans, genauso wie Schokolade oder Weihnachtssterne.

Seufzend blickte sie zu dem kleinen Imbiss und winkte Joey und Yugi zu, die dort saßen und ihre Pause verbrachten. Sie lächelte schwach und wandte sich wieder um und ging in der Nähe der Schaufenster die Läden entlang in der Hoffnung eine inspirierende Idee zu bekommen.

Sie blieb an einem Geschäft stehen und betrachtete die Auswahl von verschiedenen Schals und schüttelte den Kopf. Mit Sicherheit gab es genug Fans, die sich hinter so etwas klemmten und sogar selbstgestricktes verschickten. Wenn Naomie daran dachte, seufzte sie erneut auf. Ihre Häkel- und Strickkunst war so gar nicht vorhanden. Aber was könnte ihm sonst gefallen?

Sie lief weiter und überlegte etwas aus dem Kartenstore zu kaufen, womit er sein Deck aufpolieren konnte, aber sie wusste zu wenig über das Spiel, um zu wissen, welche Karte ihm gefallen könnte oder bräuchte.

Fragend kratzte sie sich am Kopf und zog ihren Schal enger um den Hals, ehe sie das Kaufhaus verließ und auf den Weihnachtsmarkt ging. Eine gute halbe Stunde hatte sie noch übrig, ehe sie zurück zum Treffpunkt müsste.

Zum Glück war der Markt recht leer, so dass sie sich noch mal in aller Ruhe nach etwas passendem umsehen konnte.

Ein Kettenanhänger hatte er schon und ein Armband war eindeutig zu weiblich. Dennoch blieb sie am Stand mit dem Schmuck stehen.

Ihr Blick hing auf einer Taschenuhr mit Kette, die an der Weste befestigt wurde. Die Uhr war silbern und auf dem Deckel war ein Drach eingraviert worden.

Neugierig musterte sie das kleine Wunderwerk und nahm es in die Hand. Das Gewicht war leicht und der Deckel ließ sich problemlos öffnen und wieder schließen.

Der Preis war auch recht passabel, aber wirklich vom Hocker riss sie die Idee noch nicht. Irgendetwas fehlte. Aber was, kam ihr noch nicht in den Sinn.

Dennoch kaufte sie die kleine Taschenuhr und schob sie in die Einkaufstüte.

Seufzend ging sie weiter.

Noch immer spukte ihr im Kopf herum, was eben im Büro vorgefallen war.

Wie konnte sie sich nur so mitreißen lassen? Das war das Dümmste, was sie hätte tun können!

Seufzend ging sie zurück zum Kaufhaus und fuhr sich kurz durch die Haare.

Die Worte hingen ihr noch immer im Kopf und der Anblick seines blassen Gesichts wollte Naomie auch nicht aus dem Kopf gehen.

Sie fragte sich, was passiert war, dass er so blass gewesen war und ausgesehen hatte, als wäre er kurz davor umzukippen. Aber er machte auch nicht den Mund auf! Das war etwas, wofür sie ihn am liebsten jedes Mal einen Tritt in den Hintern geben wollte.

Er presste ihr alle möglichen Infos raus, aber selbst sprach er nie über sich oder was in ihm vorging.

Was wusste sie schon darüber, was in ihm vor sich ging? Im Grunde wusste sie nichts und dann hatte sie nichts besseres zu tun, als sich auch noch zu verlieben!

Aber so gut wie im Moment hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt, egal, wie sehr ihr Herz schmerzte. Immerhin glaubte sie nicht daran, dass er je das selbe fühlen würde wie sie.

Es war seit der Trennung von ihrem Ex ein wunderbares Gefühl und sie fühlte sich lebendig. Das Herzklopfen sagte ihr, dass sie endlich losgelassen hatte und der Schmerz, dass er nicht das selbe empfindet wie sie, würde auch vorbei gehen.

Es waren nicht mehr viele Tage, dann hatte sie auch Urlaub und dann konnte im neuen Jahr auch alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Sie würde nicht mehr für ihn arbeiten, ihre Begegnungen wären vorbei und Mokuba…

An den kleinen Kaiba hatte sie bisher wenig gedacht. Er war ihr als Freund ziemlich schnell ans Herz gewachsen mit seiner kindlichen, unschuldigen Art und dem Schalk im Nacken, der hin und wieder in seinen Augen aufblitze.

Grundlos konnte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen. Das zwischen seinem Bruder und ihr hatte nichts mit ihm zu tun und deswegen ihm die Freundschaft zu kündigen, wäre kindisch.

Sie konnte also nur ein wenig Abstand suchen und hoffen, dass ihre Hormone sich schnell wieder im Griff hatten, ehe der Kleine etwas merken würde. Er sollte am wenigstens drunter leiden, wenn sie sich mit seinem älteren Bruder in der Wolle hatte oder sonstige Dinge zwischen ihnen schief liefen.

Sie musste auch an Joey denken.

Er war so nett zu ihr gewesen und in letzter Zeit hatte sie keine Zeit für ihn gehabt. Dabei hatte er sich als ebenso guten Kumpel bewiesen, aber durch die ganze Arbeit und die Sache mit Seto war er in den Hintergrund gerückt.

Aber im Moment war ihr Leben einfach chaotisch.

Naomie quetschte sich zwischen einer Gruppe Frauen durch, die im Eingangsbereich des Kaufhauses standen und sich unterhielten.

Eigentlich war ihr der Appetit vergangen, aber Siegfried versetzen wollte sie auch nicht, weshalb sie zum vereinbarten Treffpunkt ging. Außerdem würde sie entweder von ihm, Pegasus oder Seto was anhören dürfen, dass es ungesund sei nichts zu essen.

Beim Imbiss saßen noch immer Joey und seine Freunde.

Als er sie erblickte stand er auf und kam auf sie zu.

„Hei, magst du dich zu uns setzen?“, fragte er direkt und grinste sie breit an. In seinem Haar hingen noch immer Reste vom Dekoschnee, den sie zuletzt benutzt hatte.

Naomie grinste zurück und fischte die Überreste aus seinem blonden Haare.

„Ne, ich bin verabredet zum Essen“, antwortete sie, „Halt still, du hast immer noch Schnee im Haar.“

„Wieder mit Siegfried?“, fragte er und sie nickte zur Antwort und warf die Kunstflocken in den nächstbesten Mülleimer. Naomie entging nicht, dass Joey das Gesicht verzogen hatte.

„Hör mal“, begann er vorsichtig und sie sah auf.

„Was denn?“

„Du solltest dich nicht zu sehr auf Siegfried einlassen“, fuhr Joey fort und an seinem Blick konnte sie sehen, dass er sich Sorgen machte. Fragend sah sie den Blondschopf an. Etwas Nervös sah er kurz zur Decke, als müsste er genau überlegen, was er sagen sollte.

Wollte er ihr jetzt auch sagen, sie sollte sich von ihm fern halten?

Bei dem Gedanken zog sich ihr Magen zusammen.

So langsam fragte sie sich, ob sie ein kleines Kind war, dass jeder meinte, sie vor irgendwem warnen zu müssen.

„Was ist los?“, fragte sie, als er nicht weiter sprach.

„Naja…Kaiba und er…“

„Kennen sich von früher?“, beendete sie den Satz und verschränkte die Arme vor der Brust, „Das weiß ich. So wie die zwei sich benehmen, ist mir das schon von Anfang an klar gewesen.“

„Weißt du auch, was passiert ist?“, fragte er.

„Ich kann es mir denken“, sagte sie, „Aber hör mal, ich kann auf mich aufpassen. Ich komme mit Siegfried super klar.“

„Ja, aber Kaiba nicht.“

„Kaiba ist vielleicht grade mein Boss, aber nicht mein Vormund“, konterte sie.

„Ich weiß, ich wollte dir auch nichts vorschreiben“, beteuerte er und hob abwehrend die Arme, „Ich mach mir nur Sorgen. Nicht dass du in den Klinsch zwischen Kaiba und Pegasus oder Kaiba und Siegfried rein stolperst.“

Sie nickte. Wenn Joey nur wüsste. Dafür war es nämlich schon zu spät. Immerhin strafte Kaiba sie schon mit kalten Blicken und glänzender Ignoranz in den letzten Tagen.

„Ähm was anderes…du bist doch auch eingeladen bei der Gala, oder?“

„Ja, wieso?“

„Hast du schon ein Date?“

Perplex sah sie Joey an. Wollte er sie ernsthaft fragen, ob sie mit ihm hingehen würde oder was würde das werden?

„Ähm bisher noch nicht“, antwortete sie langsam. Eigentlich hoffte sie ja, dass Seto sie fragen würde, aber sie glaubte fast nicht mehr dran.

„Naja würdest du dann mit mir…?“

„Hingehen?“ Naomie stieß die Luft aus. Wie sagte sie jetzt höflich, dass sie sich freihalten wollte?

Zaghaft nickte er nun.

„Naja…ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig schaffen werde. Kaiba schickt mich auf eine Fotomesse“, antwortete sie, „Und um ehrlich zu sein, ich hatte gehofft, jemand anderer würde mich fragen.“

Es fiel ihr nicht leicht ihm einen Korb zu geben. Immerhin wusste sie, wie viel Mut es ihn kosten musste sie zu fragen. Sein enttäuschter Blick war kaum auszuhalten.

„Du meinst, du hoffst, dass Kaiba…?“

Naomie schwieg und biss sich kurz auf die Lippen. Er hatte sie ertappt und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich.

„Bitte versteh es nicht falsch…“, setzte sie zaghaft an, doch er unterbrach sie.

„Woran liegt es?“, fragte er kühl.

„Wie?“

„Liegt es daran, dass ich nicht so viel Geld habe?“

„Was? Nein!“

„Woran dann, dass du lieber auf den Arsch wartest?“

„Ich…“ Sie überlegte, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte und sah zu Boden. Joey aber wartete gar nicht erst auf eine Erklärung.

„Kommst du wenigstens zur Weihnachtsfeier bei Yugi?“

„Ich kann es dir nicht versprechen. Grade ist alles ziemlich chaotisch und ich überlege eher weg zu fahren, um ein wenig zur Ruhe zu kommen.“ Ob Siegfried was dagegen hätte, wenn sie sich bei ihm einquartierte?

Joey schob seine Hände in den Taschen. „Was ist los mit dir? Du benimmst dich total komisch seit du bei Kaiba arbeitest!“

„Ich weiß. Es tut mir leid“, murmelte sie und schaffte es nicht den Blick stand zu halten.

Naomie hörte, wie Joey aufseufzte und im nächsten Moment spürte sie, wie eine Hand auf ihrer Schulter lag und sie freundschaftlich drückte.

„Gut, ich seh schon, du kannst es nicht erklären“, sagte er ruhig und sie hörte trotzdem seinen Unmut in der Stimme, „Aber lass dir gesagt sein, Kaiba ist auch kein richtiger Kaiba.“

Fragend sah sie auf. Was meinte er damit? „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Warum solltest du darauf warten, dass er dich um ein Date bittet, wenn nicht wegen dem Geld?“, fragte er, „Wegen seines Charakters bestimmt nicht.“

„Aber mir geht es nicht um das Geld!“, entgegnete sie.

„Es muss dir nicht unangenehm sein. Ich bin nur enttäuscht. Ich hab dich nicht für so eine gehalten.“

„Joey, ich bin auch nicht so eine!“, erwiderte sie und Panik stieg in ihr auf. Glaubte er das tatsächlich?

„Ist schon gut“, sagte er.

„Joey, hör mir zu. Das ist ganz anders…“

„Und wie?“

„Er…also…ich….“ Sie seufzte auf. Nun fehlten ihr die Worte. „Wir haben uns geküsst, okay? Ich steh auf ihn, ich bin ihn in verliebt. Nur deswegen. Das hat mit dem Geld nichts zu tun!“

Er sah sie mit großen Augen an. Offenbar überraschte es ihn nicht.

„Und du bist sicher, dass es mit dem Geld nichts zu tun hat?“, fragte er.

„Absolut sicher!“

„Deshalb dein komisches Benehmen und eurer Du und Sie Spiel?“

„Das Benehmen vielleicht und das Spielchen geht von ihm aus. Das musst du ihn fragen, was das soll.“

Der Blonde sah sie verständnislos an und sie befürchtete, er würde sie jeden Moment auslachen.

„Dann findest du es nicht schlimm, dass er in Wahrheit kein richtiger Kaiba ist und nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde?“

Naomie lachte auf. „Bin ich das etwa? Es ist interessant, aber schöner wäre es gewesen, ich hätte es von ihm erfahren, statt von dir.“

Joey setzte zum Sprechen an, doch das Klingeln ihres Handys unterbrach sie. Schnell wühlte Naomie in ihrer Tasche und zog es raus. Auf dem Display war Kaibas Nummer zu sehen. Roch er es oder hatte er eine Antenne, dass er wusste, dass sie über ihn redeten?

„Ich geh wieder. Wir sehen uns!“, flüsterte Joey und Naomie nickte, während sie auf „Annahme“ drückte.

„Hallo?“

„Wo steckst du?“, fragte Kaiba sofort, ohne ein Wort der Begrüßung. Seine Stimme klang kühl, aber nicht eiskalt. Auch war jegliche Unruhe, die vorhin von ihm Besitz ergriffen hatte verschwunden. Er klang so wie vorher, als sie noch nicht mit ihm gearbeitet hatte.

„Was Essen. Das habe ich dir doch gesagt!“, erwiderte sie und winkte Joey zum Abschied, sie sah Siegfried näher kommen und winkte auch ihm leicht.

„Wo genau? Denn in der Kantine bist du nicht!“

„Vermisst du mich etwa?“, fragte sie neckisch mit einem frechen Grinsen.

„Werde nicht lächerlich!“, gab er kalt zurück.

„Was dann? Hast du mich gesucht?“

Stille. Ein Augenblick verstrich und Siegfried stand nun neben ihr. Er hatte es endlich geschafft sich durch die Masse zu ihr durch zu quetschen.

„Wer ist das?“, flüsterte er leise.

„Seto“, formte sie stumm mit den Lippen.

„Ich brauch dich hier“, gab er schließlich von sich, „Es wäre also gut, wenn du so schnell es geht wieder hier bist und in mein Büro kommst. Wir müssen was bereden!“

„Oh und was?“

„Einiges. Unter anderem die Auswertung der Fotos und die Messe.“

„Apropos…Beweg deinen Hintern schon mal in Maske, denn der einzige Promi der noch auf einem Plakat fehlt bist du.“

„Träum weiter.“

„Das ist kein Traum. Du wirst gleich fällig sein vor der Kamera.“ Ihre Stimme klang fest und entschlossen, duldete keine Widerworte und war sicher, dass sie Recht behalten würde.

„Nicht mal zehn Pferde bringen mich dazu.“

„Ich bin auch keine zehn Pferde und werde deinen Hintern trotzdem vor die Kamera kriegen.“ Sie lachte leicht.

„Wir werden sehen. Immerhin habe ich keine Lust, dass du weiß Gott was mit den Fotos von mir anstellst.“

„Ach Mist!“, konterte sie mit vor Ironie triefender Stimme, „Jetzt hast du mich aber erwischt. Dabei wollte ich daraus ein Pin up Kalender machen und an deine Fangirls verschachern.“

„Wenn du das wagst….“, sagte er drohend. Zumindest klang es so, als würde er es versuchen, denn es war deutlich etwas Amüsiertes in seiner Stimme, als müsse er sich das Lachen verkneifen.

„Ja?“

„Beweg einfach deinen Hintern wieder in die Firma“, sagte er ernst und legte wortlos auf.

Seufzend schob sie das Handy wieder in ihre Jackentasche.

„Was wollte Kaiba?“, fragte Siegfried, der geduldig neben ihr gestanden und gewartet hatte.

„Er sucht mich. Ich soll zurück ins Büro“, seufzte sie und sah ihn entschuldigend an.

„Was ist mit unserem Essen?“, fragte er besorgt.

„Der Chef ruft“, sagte sie und verzog ein wenig das Gesicht.

„Kaiba kann warten!“, entfuhr es ihm, „Du hast Pause!“

„Ich weiß, aber offenbar ist es dringend.“

„Bei ihm ist es immer dringend“, brummte Siegfried und sie wusste, sie hatte ihn verärgert. „Wir holen das dann eben heute abend nach.“

Siegfried brummte. „Dir steht eine Mittagspause aber zu!“

„Ich weiß, aber vielleicht verschiebt sie sich ja nur?“, versuchte sie es versöhnlich und prallte gegen Siegfrieds Brust, als eine Frau sie zur Seite schubste.

Sie brummte etwas unverständliches, dass die Leute doch nur unnütz im Weg stünden. Finster sah Naomie ihr nach und löste sich von dem Firmenchef ihr gegenüber. Sie murmelte eine kurze Entschuldigung an Siegfried und schob sich ein paar Haare aus dem Gesicht, als sie sich von ihm löste.

Ihr behagte es auch nicht zurück in die Firma zu müssen. Was wäre, wenn es endlich bei ihm Klick gemacht hatte und er sie gar nicht brauchte, sondern mit ihr darüber reden wollte? Bei dem Gedanken schnürte sich ihr die Kehle zu.

„Du glaubst doch nicht, dass es sich nur verschiebt, oder?“ Ihr Gegenüber sah sie skeptisch an und Naomie schüttelte den Kopf.

„Nein, aber was soll ich dann machen?“

„Lass mich mit ihm telefonieren und ich verschaff dir deine Pause“, antwortete er schnell und mit einem frechen Grinsen. Er griff in ihre Manteltasche, kitzelte sie dabei, so dass sie auflachen musste.

Naomie drehte sich weg und er schlang beide Arme um sie und versuchte ihr Hand zu packen.

„Nicht“, brachte sie raus und lachte, als er sie weiter kitzelte. Sie hörte sein Lachen, als er sie an sich drückte. Sie stieß gegen eine Frau mit Kind und brachte kichernd eine Entschuldigung hervor.

Siegfried hörte auf, doch los ließ er sie noch nicht.

„Du solltest mich los lassen“, murmelte sie verlegen. Wieso hielt er sie noch fest? Was hatte er vor?

Sein warmer Atem kitzelte sie an der Wange und sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte. Sie hatte das Gefühl eines Déjà-vu. Sie fühlte sich zurück versetzt in den Moment, als sie bei Seto in der Wanne gesessen hatte. Er hatte sie fast genauso im Arm gehalten.

„Kaiba tut dir echt nicht gut“, murmelte Siegfried an ihrem Ohr, „Du brauchst dringend eine Pause und Ablenkung. Komm mit mir. Verbring deinen Urlaub bei mir zu Hause.“

„Ich…“ Sie stockte. Auf der einen Seite hatte er recht. Sie brauchte wirklich etwas Abstand und Ruhe. Ihr Instinkt alles zu packen und fort zu gehen, war auch schon groß und es könnte ihr helfen sich von Kaiba zu lösen.

„Ich krieg keine Luft“, presste sie raus und sofort ließ Siegfried sie los und sie atemte tief durch. Der Geruch von frisch gebratenem Gemüse und Nudeln drang in ihre Nase. Ihr Magen knurrte leise.

„Also?“, fragte er abwartend.

Eine leichte Panik schnürrte ihr die Luft ab. Was sollte sie antworten? Eigentlich hatte sie ja auch schon mit dem Gedanken gespielt sich für die Urlaubszeit bei ihm einzunisten.

„Ich überlege es mir“, antwortete sie zögerlich und wandte sich um zum gehen. Immerhin wartete ein grummliger Firmenchef auf sie.

„Warte“, sagte er und hielt sie an der Hand fest, „Antworte mir jetzt. Denn ich bin sicher, wenn du bei Kaiba warst, wirst du nein sagen.“

„Ich muss aber los“, sagte sie etwas abgehetzt. Es war bestimmt schon zehn Minuten her, dass Kaiba sie angerufen hatte und er würde bestimmt nicht ewig auf sie warten und zur Not ein weiteres Mal bei ihr anrufen.

„Ich lass dich nicht gehen, ehe du mir nicht antwortest.“ Seine Stimme klang ernst, aber auch nicht zu ernst. Sie konnte immer noch etwas ruhiges darin hören, auch etwas neckendes.

„Hei…das nennt man bedrängen“, sagte sie herausfordernd.

„Und? Ich halte dich doch nur fest.“ Er grinste sie frech an.

Ergeben seufzte sie auf. „Na gut, ich glaub eine Auszeit schadet nicht. Also gut.“

Sein Griff lockerte sich. „Das freut mich, dann schreibe ich sofort meinem Personal, dass sie das Gästezimmer herrichten sollen. Was isst du am liebsten? Was magst du gar nicht? Hast du Allergien?“, fragte er sofort und sie fühlte sich kurz überrumpelt. „Ich werde dir die Umgebung zeigen. Du wirst es lieben und du wirst auch gute Motive zum fotografieren haben! Wir können direkt nach der Spendengala an dem Morgen los fliegen!“

„Wow…nicht so schnell!“, zügelte sie ihn und lachte auf über seinen Übermut.

„Ich freu mich nur, dass du mitkommst! Mein Bruder ist nämlich mit Freunden in den Alpen unterwegs und alleine wäre es ziemliche dröge!“

„Ah verstehe, dann bin ich nur Ersatz?“ Gespielt beleidigt wandte sie den Kopf zur Seite.

„Ach so ein Unsinn!“, sagte er abwehrend, „Also mach mir eine Liste, damit mein Koch Bescheid weiß, sonst kriegst du Gänseleber in Minzsoße oder sowas!“

„Igitt! Ist gut, ich mach dir eine Liste, aber nach der Gala kann ich nicht sofort mit dir mitfahren“, sagte sie, „Ich habe Mokuba versprochen, dass ich mir an seinem letzten Schultag die Aufführung ansehe.“

„Muss das sein?“

„Ich habe es versprochen und auch gesagt, dass ich seinen Auftritt fest halte.“

„Naja…dem kleinen Kaiba kann man ja doch nichts abschlagen.“

Wissend sah Naomie ihn an und nickte. „Eben, aber jetzt muss ich wirklich los! Wir sehen uns später.“

„Ja, bis später!“

Nur ungern ließ sie ihn dort stehen und ging zurück, doch eine Wahl hatte sie nicht, wenn sie den Job weiter machen wollte.

Mit schnellen Schritten ging sie zurück in die Kaiba Corporation, drängte sich an den vielen Leuten vorbei und rannte durch die Straße.

Vor der Eingangstür stand ein Paket wagen und der Lieferant holte gerade mehrere Pakete aus seinem Wagen und legte sie in einen Rollwagen.

Die Päckchen und Pakete stapelten sich bereits und Naomie konnte sich nicht vorstellen, dass es nur Büromaterial war. So viele einzelne Päckchen für Stifte oder Kopierpapier würde eine Firma nicht nehmen. Zumal hätte die Sekretärin ziemlich dämlich sein müssen und alles bei unterschiedlichen Firmen bestellen müssen.

Ein Verdacht beschlich Naomie und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass ihr Geschenk eine ziemlich dumme Idee war.

Wenn sie die Pakete so betrachtete, mussten sich Setos Fans einiges einfallen lassen haben, um ihm etwas zu schenken. Da war so eine Taschenuhr doch nichts gegen. Aber sicherlich wurde er auch wieder mit Schokolade zugepflastert.

„Verzeihung!“, rief der Paketbote und schob den Rollwagen an ihr vorbei. Sie folgte ihm und ging am Empfang vorbei, wo er die Sachen als geliefert unterschreiben ließ.

„Wo sollen die hin?“, fragte er seufzend und Naomie konnte nichts anderes als Mitleid für den Mann empfinden, der grade jetzt so viel auszuliefern hatte.

„In die oberste Etage“, sagte die Frau am Empfang und erblickte sie. „Frau Kuzuki, könnten Sie den Herren nach oben führen? Dann muss ich den Sicherheitsdienst nicht rufen, der ihn begleitet.“

Bittend sah die Frau sie an und Naomie nickte. „Ja, ich muss eh zum Chef.“

„Ah, das trifft sich gut“, sagte sie freudestrahlend und etwas blitzte in ihren Augen auf. „Könnten Sie mir den Gefallen tun und die zwei Postwannen mit nach oben nehmen?“

Sie holte hinter ihrem Schreibtisch die Boxen hervor, die förmlich überquollen.

„Ach du heilige…“ Naomie unterbrach sich. Jetzt wusste sie, wieso ihre Augen so aufgeblitzt hatten. Die Frau hatte endlich einen Deppen gefunden, der ihr die dämlichen Wannen tragen würde!

„Ähm ja, ich versuch es“, sagte sie und nahm eine Wanne auf die Arme. Sie roch verschiedene Düfte, die ihr in die Nase stiegen und eindeutig aus den Briefen kamen. Auch das war sicherlich Fanpost und mitunter kleine Geschenke von den weiblichen Fans.

Etwas missmutig stemmte sie die schwere Wanne. Seit wann wogen Briefe nur so viele Tonnen?

„Geht es? Ich kann eine Wanne noch in den Wagen legen“, bot der Paketbote an und nahm die zweite Post.

„Das geht, danke!“, sagte sie erleichtert, dass er ihr das zweite Gewicht ersparte.

„Danke schön!“, trällerte die Empfangsdame zufrieden, dass sie ihnen die Sachen aufbrummen konnte. Naomie hatte große Lust zum Papiervernichter in den Keller zu gehen und die ganzen Pakete und Briefe da rein zu werfen.

Aber das konnte sie nicht machen. Immerhin hatten sich die Mädchen Mühe gegeben. Aber vermutlich waren die Sachen um einiges besser, als das, was sie in ihrer kleinen Tasche hatte.

Als der Aufzug da war, ließ sie den Paketboten einsteigen und folgte ihm. Sie drückte den Knopf und schwiegen sich die Fahrt nach oben an. Es war unbehaglich, doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Ihr Handy fing an zu klingeln und genervt verzog sie das Gesicht. Der Vibrationsalarm kitzelte sie am Bein und es schien sie penetrant anzuschreien mit dem Klingelton, dass sie endlich rangehen sollte.

Aber sie hatte keine Hand frei, um ran zu gehen und sicherlich war es auch Kaiba, der keinerlei Geduld hatte.

„Soll ich die Box nehmen?“, fragte der Mann plötzlich.

„Nein, ist nur der Chef. Ich bin ja gleich da“, sagte sie und versuchte abzuwinken, ohne dass ihr die Wanne aus der Hand fiel.

Sie suchte neuen Halt und stieg aus dem Fahrstuhl. Zielsicher steuerte sie auf die Vorzimmerdame zu und der Paketbote folgte ihr.

„Wohin damit?“, sagte sie und deutete auf die Sachen.

„Stellt da zu den anderen“, sagte sie und Naomie sah in eine unauffällige Ecke, wo bereits eine weitere Briefwanne wartete und sich Pakete stapelte.

„Ach du scheiße!“, entfuhr es ihr unwillkürlich.

Wie viele Fans hatte Kaiba? Innerlich schüttelte die den Kopf und stellte die Sachen ab. So langsam hatte sie das Gefühl, dass sie ebenfalls zu einem seiner Fans wurde. Vielleicht waren ihre Gefühle auch genau das? Reines gefangirle und doch nichts Ernstes?

Mit einem Mal fühlte sie sich nicht so sicher in ihren Gefühlen und sie zweifelte daran, ob das so eine gute Idee gewesen war, ihm das indirekt zu sagen.

Natürlich war es keine gute Idee gewesen, aber wenn sie nicht anders war als viele andere Fans auch, war es umso bescheuerter gewesen, ihm das zu sagen.

Unsicher sah sie zur Bürotür. Die Angst schlich in ihre Glieder und ihre Wangen färbten sich. Was sollte sie tun, wenn er sie fragen würde, ob er gemeint war? Sie konnte nicht lügen!

Ihr Herz pochte vor Aufregung und Naomie zuckte zusammen, als die Tür seines Büros aufging. Doch es war nur Pegasus, der mit einem süffisanten Lächeln hinaus ging.

„Wir sehen uns bei deiner Gala, kleiner Kaiba!“, sagte er grinsend und warf seine Haare zurück, „Und denk dran, was ich dir gesagt habe. Immer lieb sein!“

Sie hörte Seto schnauben und die Tür schloss sich.

Grinsend und mit einem leichten Lachen auf den Lippen ging Pegasus in ihre Richtung. Als er sie sah, hielt er inne.

„Ah, wie gut, dass ich dich noch sehe!“, sagte er fröhlich und mit einem breiten Lächeln, „Ich muss mich nämlich verabschieden, aber keine Sorge, wir sehen uns bei der Gala wieder.“

„Was ist passiert?“, fragte Naomie überrascht. So viel sie wusste, waren doch alle noch hier fest eingebunden in der Planung.

„Die Geschäfte rufen. Ich werde in meiner Firma gebraucht“, sagte er leichthin und sie fragte sich, ob es wirklich nur eine Kleinigkeit war, so wie es sich anhörte.

„Aber mach dir keine Sorgen, das wird alles großartig laufen!“ Es klang, als würde nicht im geringsten daran zweifeln. „Und lass dich bloß nicht von Kaiba ärgern.“

Naomie nickte. „Keine Sorge, das werde ich nicht.“

„Achja…ehe ich es vergesse.“ Er nahm etwas aus seinem Aktenkoffer, den er bei sich trug. „Ich habe hier etwas für dich. Als kleines Geschenk für deine Arbeit.“

Pegasus überreichte ihr eine schwarze Metallbox. Sie fühlte sich schwer an und nichts bewegte sich darin.

„Was ist das?“

„Das neueste Kartenset“, antwortete er verschwörerisch und senkte die Stimme. Kurz ging sein Blick zu Kaibas Bürotür, die noch verschlossen war. „Besser gesagt…es ist eine vollständige Kartenbox mit den neuesten Duell Karten. Die gibt es erst im neuen Jahr auf dem Markt. Es ist das komplette Set der Serie mit allen Special- und Sondereditionen, sowie den seltenen Karten.“

„Das ist wirklich nett, aber…“

„Sag nicht, dass du es nicht annehmen kannst!“, sagte er theatralisch.

„Nein, das nicht, aber ich spiele das doch nicht. Wäre es für Kaiba nicht besser geeignet?“

„Dann weißt du doch, was du damit machen kannst. Immerhin steht Weihnachten vor der Tür“, zwinkerte Pegasus ihr zu und er senkte die Stimme weiter, „Außerdem würde er es von mir nicht annehmen und glaube mir, keines seiner Fangirls wird sowas in den Paketen haben und sein Herz führt über dieses Spiel.“

Er deutete mit dem Finger nachdrücklich auf die Box. Woher wusste er von ihren Gefühlen? Hatte Siegfried etwa gepetzt oder war es so offensichtlich gewesen?

„Offensichtlich“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen und Naomie zuckte zusammen. „Man sieht es an deiner Nasenspitze und ich war auch mal so alt.“

Er grinste sie an.

„Naomie, wo bleibst du?“, fragte eine fauchende Stimme und erneut zuckte sie zusammen.

Ihr Blick ging zur Bürotür, die bis eben noch verschlossen gewesen war. Mit verschränkten Armen lehnte Seto am Türrahmen und musterte Pegasus kalt.

„Oh keine Sorge, deine kleine Freundin, kommt sofort!“, sagte der Firmenchef lässig zu ihm und stellte sich so vor ihr hin, dass sie schnell die Box in der Tasche verstecken konnte. „Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder.“

Pegasus ging zum Aufzug. Sie hatte es geschafft die Box zu verstecken und hoffte, dass Seto sie nicht gesehen hatte.

„Da bist du endlich!“, sagte er mit kühler Stimme zu ihr und ersparte sich jegliche Begrüßung.

„Herr Kaiba, es sind weitere Briefe und Pakete für sie eingetroffen“, sagte sie Sekretärin dazwischen und seine blauen Augen glitten kurz über den Stapel in der Ecke.

Angewidert rümpfte er die Nase, als wolle er die Sachen auch direkt in den Keller in den Schredder stecken lassen.

„Sortieren Sie die Sachen. Ich kümmere mich später darum“, antwortete er und winkte Naomie in sein Büro.

Ob er sich später darum kümmern würde, bezweifelte sie. Sicherlich würde Mokuba sich den Spaß machen und die Geschenke auspacken.

Aber eines wusste sie. In keinem der Pakete würde so ein Kartenset drin sein, wie das, was sie von Pegasus bekommen hatte.

Mit einem zufriedenen Grinsen ging sie ein Büro.

„Wo hast du solange gesteckt?“, fragte er gereizt und doch halbwegs ruhig.

Türchen 20 – Stille

Stille konnte ziemlich bedrückend sein.

So bedrückend, dass sie drohte einen zu ersticken. Erst recht, wenn man grade alles andere als allein sein wollte. Normalerweise machte es dem jungen Firmenchef wenig aus, wenn er allein in seinem Büro saß und Shadow auf seiner Hundematte lag und vor sich hin döste und alles friedlich und ruhig war. So konnte er am besten Arbeiten. Keine unnötigen Störungen, keine Telefonanrufe, keine nervigen Mails und keine nervige Fistelstimme, die ihm einredete, dass er sich Hals über Kopf und rettungslos verliebt hatte. Nur er und seine Arbeit.

Doch solche Tage gab es eigentlich nur, wenn er sonntags arbeitete oder abends bis tief in die Nacht. Tagsüber war so etwas undenkbar. Erst recht seitdem sein Gewissen angefangen hatte ein Eigenleben zu führen, so dass er sogar glaubte, schon schizophren zu werden. Aber er wusste auch, dass er schon schlimmeres überstanden hatte. Wenn er zum Beispiel an den vierzehn Stunden Tag dachte, den Gozaburo ihm aufgebrummt hatte, war das nichts dagegen. Er sollte sich also nicht so anstellen.

Immerhin hatte auch Siegfried schon an seinen Nerven gesägt und von Pegasus wollte er gar nicht erst anfangen. Beide hatten es geschafft, dass er ein Wrack gewesen war, sowohl nervlich als auch körperlich. Aber auch das hatte er geschafft, da würde ihn ein kleines Mädchen nicht so einfach aus der Bahn werfen können und erst recht keine imaginäre Stimme!

Es gab eigentlich auch keinen Grund missgelaunt zu sein. Egal, was zwischen ihm und einer Angestellten vorgefallen war. Es bedeutete nichts und war in wenigen Tagen auch vorbei. Dann lebte sie ihr leben und er seines.

Er konnte sich wieder seinen Umsätzen widmen, die grade ein Rekordhoch erlebten und das nur wegen eines roten Schals und guter Werbung. Was Besseres konnte doch nicht passieren. Auch die Planung für die kommende Feier lief sehr gut.

Heute war auch einer der Tage, wo es ruhig war und sich seine Sekretärin auch an die Anweisung hielt, ihn nicht zu stören. Es gab keine lästigen Anrufe oder sonstiges. Er hatte absolute Ruhe und Stille. Doch genau das erdrückte ihn nun und er hatte das Gefühl, dass ihm die Luft abgeschnürt wurde.

Dabei mochte er es, wenn es ruhig war und er hatte Zeit endlich zu arbeiten. Doch grade jetzt wollte er gestört und unterbrochen werden in seinen Gedanken.

Seit er gesehen hatte, dass er an einem Arbeitsvertrag gearbeitet hatte, kam er kaum zur Ruhe. Heimlich hatte Seto sich auch schon einen Tee gemacht und auch der hatte wenig geholfen. So hing er nun in seinem Büro und starrte auf den Laptop.

Die Post war, so viel er von Pegasus gehört hatte, der bis eben in seinem Büro gewesen war, auch wieder überfüllt und er ahnte schreckliches.

Wieder so ein Schokoladen- und Geschenkedesaster wie an Nikolaus. Wieso konnten ihn die Leute nicht in Ruhe lassen?

Er brauchte keine Schokolade, die er eh nicht essen würde oder irgendwelche selbstgezeichneten Bilder, wie er mit seinen Rivalen rumknutschen würde. Allein der Gedanke, dass Mokuba wieder so einen Brief öffnete und so ein Bild heraus zog, ließ ihn schaudern. Seinen kleinen Bruder traumatisieren, wollte er auch nicht.

Er brauchte auch keine Geschenke von Seifen, Parfümen oder Duschgels oder anderen Pflegeprodukte. Sah er so heruntergekommen aus?

Genauso wenig wollte er irgendwelche Boosterpacks oder einzelne Karten bekommen, die für sein Deck nutzlos waren.

Leider konnte er das Ganze auch nicht unterbinden.

Seto fuhr sich durch die Haare und sah auf den Monitor seines Laptops.

Wieder einmal sah er auf die Facebookseite seiner Firma und sah sich die aktuellsten Beiträge durch. Seine Presseabteilung hatte seit dem Desaster viel getan und gearbeitet. Ein offizielles Statement war veröffentlicht worden und inzwischen sogar andere Beiträge, die sein PR—Abteilung für gut hielt.

Unter anderem waren die ersten Bilder von Naomie online, die Werbung für die Spendenaktion machte. Darunter waren aber auch Backstageaufnahmen dabei, die jemand mit einer anderen Kamera gemacht hatte. Sie zeigten deutlich Vorbereitungen für das Shooting oder wie Naomie hinter der Kamera stand und arbeitete. Es gab auch ein Foto, wie die Visagistin grade die Jungs mit Make up bearbeitete und ihre Haare mit großen Klammern nach hinten gesteckt hatte.

Auch ein Gruppenbild von den Modellen und Naomie als Selfi waren online auf der Seite. Sie grinste frech in die Kamera und schien jede Menge Spaß zu haben.

Jemand hatte sie darauf auch verlinkt und das hatte zur Folge, dass er neben seiner Firmenseite ein Fenster mit ihrem Profil offen hatte.

Als Titelbild hatte sie einen sonnigen Tag an einem Brunnen genommen auf dem sie lag und dabei mit einem süßen Lächeln in die Kamera schaute. Es wirkte warm und angenehm. Sie trug auf dem Bild ein rotes Top, was deutlich ihre Weiblichkeit betonte und verführerisch aussah. Das Profilbild war nicht minder niedlich und gut aussehend. Ihre schwarz umrahmten Augen leuchteten von dem reflektierendem Licht und ihre Lippen wirkten durch den Lippenstift kräftig rot. Die Sonne schien direkt in ihr Gesicht und hellte es auf. Durch den fotografierten Winkel wirkte die andere Gesichtshälfte auch nicht zu dunkel. Man könnte förmlich die kleinen Perlen auf dem Halsband erkennen, das sie trug.

Nun saß er hier und sah ihr Facebook Profil durch. Er hatte sich ein paar Einträge angeschaut, die sie geteilt hatte, wie ein Gewinnspiel für ein Roman und Kerzen. Er hatte sich auch angeschaut, was sie für Filme und Serien mochte und welche Seiten ihr gefielen. Sie hatte ein paar Hobbyfotografen gelikt und war auch in einigen Gruppen aktiv, die sich mit dem Thema befassten. Offenbar war es eine wirklich große Leidenschaft von ihr, dass sie es selbst in ihrer Freizeit beschäftigte.

Auch ein paar Fotos von ihren alten Profil- und Titelbildern schaute er sich an und bewunderte die Vielfältigkeit, mit der sie vor der Kamera aktiv gewesen war. Irgendwo wuchs seine Bewunderung noch mehr für ihre Arbeit. Wenn er an sein Team dachte und an seinen ehemaligen Mitarbeiter, wusste er, dass sie nie aktiv vor der Kamera gewesen waren. Sie wussten kaum, was ein Model abverlangt wurde. Sie schon und das qualifizierte sie doch auch weiterhin bei ihm zu arbeiten.

Bei einigen Bildern verharrte er länger, um die Farben zu bewundern und die Ästhetik des Bildes. Zwei gefielen ihm besonders gut.

Auf dem ersten Bild trug sie ein langes, roten Seidenkleid und lag auf dem Boden. Der Boden und ihr Körper war mit Herbstblättern bedeckt und auf dem anderen Bild war sie in einem weiß-blauen Kleid zu sehen. Kleine Schneeflocken hingen in ihren Haaren und ihre Augen und Lippen waren mit Glitzer und kalten Tönen bemalt worden, als wäre sie die Eiskönigin selbst.

Zu beiden Bildern war ein Link zu einem Blog gepostet worden, wo er sich das ganze Ausmaß der Fotos sehen konnte und auch einen Einblick darin, wie sie hergerichtet worden war.

Der Blog gehörte zu dem Fotostudio „Dream Land“ und die Fotos waren für ein Kalenderprojekt gemacht worden. Er fand ein paar Fotos von Naomie, die sie von ihren Kollegen gemacht hatte und auch von ihr selbst.

„Jetzt hör mal auf zu Sabbern! Das ist ja nicht mehr zum aushalten!“, fuhr ihn die Fistelstimme an und holte ihn aus den Gedanken, „Nur weil dich jetzt die glorreiche Erkenntnis getroffen hast, dass du rettungslos in diese Frau verliebt bist, musst du jetzt nicht jedes Bild von ihr ansabbern, wie ein verliebter Trottel! So toll ist sie ja nun auch nicht!“

Fragend zog er eine Augenbraue hoch. Nicht toll? Wer hatte ihm denn tagelang im wahrsten Sinne des Wortes im Ohr gelegen und ihm vorgeschwärmt, wie süß oder toll sie war und dass er sie doch mochte?

Nun, war er endlich an dem Punkt, wo er es sich auch selbst mehr oder weniger eingestehen konnte, da redete ihm diese penetrante Stimme ein, sie sei nicht toll? Was wollte sein Gewissen denn jetzt damit bezwecken?

„Ich hab mich halt geirrt…“ Er konnte fast das Achselzucken sehen. „Schau dir nur mal ihre Hüfte und Becken an. Viel zu dürr. Das ist nicht gut, wenn sie Kinder kriegen soll!“

Fast schon fassungslos sah er auf die Foto und betrachtete ihre Hüfte. Sie war rundlich und auf ihrer Hüfte war nicht zu viel oder zu wenig Fett. Sein Gewissen übertrieb maßlos und er konnte auch nicht behaupten ihre Rippen oder andere Knochen gespürt zu haben, als er sie einmal umarmt hatte.

Wer sprach eigentlich davon, dass er Kinder mit ihr wollte?

„Als ob du wie ein Mönch leben würdest, wenn sie sich auf dich einlässt“, brummte sein Gewissen. Aus der anfänglichen Euphorie war nun ein Giftzwerg von Fistelstimme geboren worden. „Vergiss nicht, Siegfried ist auch noch da.“

Was hatte diese Fistelstimme nur? Sollte er sich jetzt wieder gegen jegliche Art von Gefühle stemmen und leugnen, dass er sie doch mochte, wo er doch fast umgekippt wäre, als er es nun endlich begriffen hatte?

Durfte er dann nicht jetzt auch diese Emotionen zulassen?

„Nein“, sagte sie fest und bestimmt. Nun benahm sich sein Gewissen so, wie er es sonst immer tat.

Kopfschüttelnd klickte er weiter und schluckte kurz.

Das Bild war heiß. Es gab kein Bild, was das anders Beschreiben würde.

„Nackt? Billig?“, kommentierte die Fistelstimme mies gelaunt und er ignorierte sie.

Sein Gewissen übertrieb maßlos! Es war weder billig noch nackt.

Naomie zeigte zwar etwas mehr Haut auf dem Bild, aber es war einfach schön anzusehen, wie sie dort mit dem Korsett stand und dem tiefen Ausschnitte.

„Tiefer Ausschnitt. Billig, sag ich doch!“

Knurrend kommentierte er die Aussage.

Ein Signalton holte ihn in die Realität zurück und er öffnete das Fenster seines Firmenaccounts. Seto merkte, dass es ihm sogar ein Stück schwer fiel den Blick von dem Bild zu lösen und er sogar mit dem Gedanken spielte, es sich abzuspeichern. Aber so tief würde er nicht sinken und sich jetzt wie ein verliebter Trottel benehmen.

„Ist geschenkt, Junge. Dafür bin ich da!“, sagte sein Gewissen und Kaiba verzog ein wenig den Mund bei dem Gedanken. Dann war das Schlechtreden also nur dafür da, dass er sich nicht wie ein Idiot aufführte und jetzt überall Herzen verteilen wollte, wie ein magical Girl mit blonden Haaren und der Kraft des Mondes?

„Du solltest dir eher darüber Gedanken machen, dass du diese Kindermädchenserie überhaupt kennst“, kicherte die Fistelstimme amüsiert.

Kennen tat er diese Serie nicht wirklich. Mokuba hatte sie einmal geschaut, als er auf die nachfolgende Sendung gewartet hatte.

Aber wieso rechtfertigte er sich eigentlich?

Kurz strich Seto sich ein paar Haare aus den Augen und schaute auf die aktuellste Meldung in dem Firmenaccount.

Es waren neue Kommentare dazu gekommen.

Jemand hatte unter dem Gruppenselfie etwas geschrieben. Neben den unzähligen Kommentaren mit positivem Feedback, dass es doch eine gute Sache sei und die Werbung gut wäre, kamen auch Vorschläge, diese Aktion mehrfach im Jahr zu machen und mit anderen Aktionen zu verknüpfen.

„Ihr wisst, dass noch immer Kinder im Krankenhaus sind, wegen dem Brand, oder?“, schrieb jemand.

„Ich hab gehört, dass Kaiba selbst für den Brand verantwortlich ist. Der tut doch alles für ein bisschen Publik!“, schrieb der Nächste und Seto schnappte kurz empört nach Luft, ehe er sie in einem Knurren wieder ausstieß.

„Kann ich mir sogar richtig gut vorstellen. Angeblich ist er ja sogar für den Tod seines Stiefvaters verantwortlich! Er soll auch Kontakte zur Mafia haben!“

Fast hätte er über die Behauptung aufgelacht. Er und Kontakt zu Mafia? Mit dem Geld, was er hatte durchaus möglich und machbar, aber Seto hatte es einfach nicht nötig auf solche Tricks zurück zu greifen. Gozaburo konnte er es dafür umso mehr zutrauen.

Es war schon fast lachhaft, was die Leute sich für Geschichten ausdachten. Doch leider waren solche Dinge auch nicht gut für das Geschäft und genauso wenig wollte er, dass solche Lügengeschichten an die falschen Ohren kamen.

„Mit dem Geld wüsste ich aber besseres anzufangen, als bei der Mafia zu lassen. Aber vermutlich kriegt er sonst nicht anders Erfolg…hahaha“, schrieb jemand.

„Leute, kommt zum Thema zurück! Es geht hier um Spenden für arme Kinder! Mir tun sie total leid….“ Dazu war ein sehr viel weinender Smily gepostet worden. So eine Reaktion kam meistens nur von Frauen.

„Das Geld kann ich auch direkt verbrennen….dann kommt es genauso wenig bei den Kindern an.“

„Manche hier sind solche Idioten…Das ist für eine gute Sache. Du kannst froh sein, dass du überhaupt ein zu Hause hast!

„Es gibt auch Obdachlose, die kein zu Hause haben. Vielleicht sollte mal jemand für die spenden!“

„Vielleicht sollte die Kohle lieber an Projekte über sexuelle Aufklärung gehen. Denn woher kommen denn die armen Kindern, wenn nicht durch Geburten von jungen Teenies?!“

„Hahaha!“

„Geiler Kommentar!“

„Wenn ihr mir nicht glaubt, dann lest doch mal die Statistiken von ungewollten Schwangerschaften und von Teenie-Müttern!“

„Das ist absoluter Schwachsinn!“

Seto überflog die Kommentare. So langsam wurde es ihm doch zu blöd diese Unterhaltung, wenn man das so nennen konnte, zu verfolgen. Sie artete immer weiter aus. Hier und da gab es noch vernünftige Leute, die dazu etwas produktives sagten oder zu dem Bild ihre Meinung kund taten. Einige Fangirls schrieben auch ihre Kommentare dazu. Natürlich bekam Naomie auch ihren Senf ab.

„Die und scharf? Die sieht total klein aus…Meine Ex war auch so klein und die hat im Bett gequiekt wie ein Hamster.“

„Mir egal, was die quiekt. Die kann von mir aus auch schreien, während ich sie von hinten nehme! Yiihaa!!!!“

„Bei dir schreit sie sicherlich, dass sie nix merkt, Alter!“

Seine Finger knackten kurz und sein Nasenflügel zuckte. Es ging ihm ziemlich gegen den Strich, was dort geschrieben wurde und er setzte schon zu einer passenden Reaktion an, dass sie die Finger von ihr lassen sollten, als er noch mal tief durchatmete und die Nachricht löschte.

Wenn er jetzt auf die Idee kam eifersüchtig zu werden oder sie in Schutz zu nehmen, würde bald das Gerücht umgehen, sie beide wären ein Paar oder sowas. Darauf konnte er gut und gerne verzichten. Seufzend schloss er das Fenster und beschloss sich nicht weiter darüber aufzuregen. Er konnte solchen Leuten leider nicht die Meinung verbieten.

Ob Naomie die Kommentare schon gelesen hatte? Was dachte sie von ihm, wenn dort solche Dinge standen? Ob ihr die anderen sexistischen Kommentare nahe gingen?

Kurz sah er auf die Uhr. Wo blieb sie nur? Es war schon genug Zeit vergangen, dass sie wieder hier sein müsste.

Aber sie erneut Anrufen wollte er auch nicht. Immerhin war sie eben auch nicht ans Telefon gegangen. Ungeduldig trommelte er auf die Tischplatte und griff zur Tasse, die schon wieder leer war.

Seufzend erhob er sich. Naomie würde schon noch auftauchen, wenn sie ankam.

Erstmal würde er sich eine Kanne Tee aufsetzen, die er mit in sein Büro nehmen konnte und danach konnte er sie immer noch mal anrufen.

Kurz streckte er sich und sah auf den Stapel Bewerbungen, die er mit Naomie durchgehen wollte. Auch wenn er an ihrem Vertrag gearbeitet hatte und noch immer nicht wusste, wie geistesabwesend er gewesen sein musste, dass er sich nicht mal daran erinnerte es angefangen zu haben, konnte er es sich nicht vorstellen, dass sie bei ihm in der Firma blieb.

Zum einen wusste Seto, wie sie an dem Studio hing und zum anderen, wenn der unwahrscheinlichste Fall eintreffen würde, dass sie zusammen kämen und sie wirklich ihn gemeint hatte vorhin, dann würde er seine Freundin bestimmt nicht unter sich arbeiten lassen.

Solche Beziehungen brachten meist nur Probleme mit sich und waren zum Scheitern verurteilt.

„Oh denkst du schon über feste Pläne nach?“, lachte sein Gewissen wieder ganz nach alter Manier.

Wenigstens das benahm sich wieder völlig normal, während anscheinend alle in seinem Umfeld grade durchdrehten. Ob Seto Naomie darauf ansprechen sollte, was sie gesagt hatte? Sollte er nachhaken, wen sie meinte? Die Anspielung, dass man nachfragte, war mehr als deutlich gewesen und irgendwo ärgerte er sich, dass er nicht genauer nachgehakt hatte.

Brummend darüber, dass sein Herz schon wieder in wilden Takten in seiner Brust schlug, ging er zum Fenster und öffnete es, damit etwas frische Luft herein kam und ging zur Tür. Er brauchte dringend etwas zur Beruhigung.

Je näher er der Tür kam, umso mehr konnte er die Stimmen hören. Es war seine Sekretärin, die sich mit einem Lieferanten unterhielt und er konnte sich schon denken, dass wieder eine Wagenladung mit Geschenken und Fanpost eingetrudelt ist.

Leise öffnete er die Tür und trat hinaus. Vielleicht konnte er sich in die kleine Küche schmuggeln, ohne belästigt zu werden und er müsste erst gar nicht einen Blick auf die viele Post werfen.

Doch sobald die Tür offen war, hörte er noch andere Stimmen, die leise miteinander sprachen. Unweigerlich sah er in den Flur hinein und erspähte Pegasus und Naomie, die miteinander tuschelten. Wollte der Typ nicht schon längst weg sein und ach so wichtigen Geschäften nach gehen?

Er lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Demonstrativ räusperte er sich. Doch sie ignorierten ihn. Kurz wartete er.

„Naomie, wo bleibst du?“, entfuhr es ihm kälter, als beabsichtigt. Aber was ließ sie sich auch solange Zeit und ließ ihn warten?

Er konnte sehen, wie sie zusammen zuckte und bereute schon seinen Tonfall, denn nun war es vorbei mit der Ruhe.

„Oh keine Sorge, deine kleine Freundin, kommt sofort!“, sagte Pegasus in seiner typischen lässigen Art und stellte sich so vor Naomie, dass er keinen Blick mehr auf sie erhaschen konnte. Ein Wunder, dass er nicht wieder seine Haare nach hinten warf.

„Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder“, trällerte er fröhlich zu Naomie und ging zum Aufzug. Sein Blick ging wieder zu Naomie, die schnell ihre Tasche schloss. Fragend zog er eine Augenbraue hoch.

„Da bist du endlich!“, sagte er etwas ruhiger und ersparte sich jegliche Begrüßung. Seto wollte sich nicht anmerken lassen, wie überrascht er war, sie zu sehen, obwohl er sie eigentlich herbestellt hatte.

„Herr Kaiba, es sind weitere Briefe und Pakete für sie eingetroffen“, mischte sich seine Vorzimmerdame dazwischen und seine blauen Augen glitten kurz über den Stapel in der Ecke. Seto konnte nicht verhindern, dass er die Nase angewidert rümpfte und kurzzeitig überlegte, die Sachen ungeöffnet in den Reißwolf und in die Müllverbrennung zu stecken.

Allein die Vorstellung wie viele Kilo Schokolade und arme, unschuldige Bäume ihr Leben lassen mussten für irgendwelche Herzbriefe, Bilder oder sonstigen Sachen.

„Sortieren Sie die Sachen. Ich kümmere mich später darum“, antwortete er seufzend. Seine Presseabteilung würde einen Herzinfarkt kriegen, wenn er heraus kam, dass die Post ungeöffnet vernichtete. Also würde Mokuba später seine Freude daran kriegen. Der packte die Sachen nämlich sehr gerne aus und erfreute sich an die vielen Sachen.

Seto winkte Naomie in sein Büro und ihm entging nicht, dass sie zufrieden grinste.

„Wo hast du solange gesteckt?“, fragte er gereizt und doch halbwegs ruhig. Es interessierte Seto schon, wieso sie solange gebraucht hatte.

Er schloss die Tür hinter sich und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

„Ich habe eben noch einen Stapel Kisten mit Fanpost hoch getragen“, sagte sie und er brummte. Machte sie jetzt schon die Arbeit für die Postabteilung? Wie faul war sein Personal eigentlich geworden?

Mit einem nicken und leisen Brummen nahm er es zur Kenntnis. Immerhin war sie jetzt hier. Seto ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in seinen Stuhl, während er aus einer Schublade die Unterlagen heraus zog.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sie ihre Sachen ablegte und gespannt wartete. Sie wirkte irgendwie nervös und biss sich immer wieder auf die Unterlippe. Ihre Finger spielten mit dem Saum ihres Pulloverärmels.

„Guck nicht wie Rotkäppchen, das gleich vom bösen Wolf gefressen wird“, sagte er und schob ihr die kleine Mappe zu.

Naomie zuckte kurz zusammen und hörte für einen Moment auf sich auf die Lippe zu beißen. Sofort bildete sich eine Röte auf ihren Wangen, als hätte er sie grade angemacht.

Sie schwieg auch dazu und er räusperte sich kurz, ehe er fortfuhr.

„Morgen geht es für dich zur Fotomesse. Ich hoffe, dass du gut vorbereitet bist.“ Nur kurz wartete er auf ihr Nicken. „Ein Hotelzimmer ist für dich gebucht wurden und auch die Fahrkarten liegen bereit. Vor Ort steht dir ein Fahrer zur Seite, der dir hilft die Sachen zur Messe zu bringen und dich auch vom Hotel abholt und zurück bringt. Du wirst auch Roland zur Seite gestellt kriegen, der dir helfen wird. Ich habe auch mit deinem Chef gesprochen und ihr werdet einen gemeinsamen Stand haben. Also Kooperationsarbeit, wenn du so willst.“

Naomie nickte artig. „Hier steht ich soll auch einen Workshop geben?“

Seto beugte sich etwas nach vorne, um die Zeile besser lesen zu können auf die sie deutete. „Ja, das ist richtig. Ich halte dich für Kompetent genug, dass du die KC würdig vertreten wirst und auch Werbung für uns machst. In den genannten Workshops lernst du den Leuten im Grunde einfache Grundlagen der Perspektive, Belichtung, Einstellung und Bearbeitung.“

„Werbung? Heißt das, ich soll den Leuten irgendwelches Zeug aufschwatzen, wie ein Staubsaugervertreter?“

„Nein, das nicht.“ Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. „Du wirst eher dafür Werben, dass aktuell neue Fotografen gesucht werden und auch Ausbildungen vergeben werden.“

„Oh!“ Ein enttäuschter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. „Ich soll also Werbung für meinen Nachfolger machen.“

„Richtig.“ Seto musterte ihr Gesicht und ihm entging nicht, dass sie traurig wirkte, als täte ihr die Vorstellung weh gehen zu müssen. Er verkniff es sich ihr anzubieten, dass sie hierbleiben könnte, was ihm prompt einen Kommentar seines Gewissens einbrachte.

„Feigling!“

Er ignorierte den Kommentar und fuhr fort, als wäre nichts gewesen.

„Wobei es falsch wäre zu sagen dein Nachfolger. Immerhin bist du nicht fest angestellt, aber sinngemäß stimmt es schon. Zudem wird das Team auch größer werden.“

Sie nickte und schwieg dazu. „Deswegen hast du mich aus der Pause geholt?“

„Denkst du das wirklich?“ Fragend zog er eine Augenbraue hoch.

„Nein, deswegen warte ich, was du noch auf Lager hast außer mich in die Pampa zu schicken und mich vor die Tatsache zu stellen, dass ich einen Workshop machen soll, obwohl ich das noch nie gemacht habe.“

„Das klingt als würde ich dich in Hölle schicken wollen.“

„Fühlt sich auch genauso an.“

Was sollte er zu dieser offenen Antwort sagen? Sollte er sie jetzt ermutigen oder in den Arm nehmen.

„Tja…entweder die Hölle oder du arbeitest hier weiter mit dem großen bösen Wolf.“ Er wusste, wie provokant die Aussage war und wie zweideutig.

Naomie verzog das Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht, was mir lieber wäre….entweder ich geh in die Pampa oder ich werde vom Wolf gefressen. Nicht sehr verlockende Aussichten für meine Zukunft…“

„Wer sagt, dass der Wolf dich frisst?“

„Stimmt, ich bin zäh und schwer zu verdauen.“

„Du meinst wie altes Leder?“

„Oh wie nett“, sagte sie scherzend, „Jetzt bin ich also alt?“

Seto konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Naja, die Jüngste bist du wirklich nicht mehr. Sicher, dass du nicht schon über dem Verfallsdatum bist?“

Empört schnappte sie nach Luft und blies kurz ihre Backen auf, während ihre Mundwinkel belustigt zuckten.

„Was bist du denn jetzt? Ein Kugelfisch?“

„Du bist gemein!“

„Deswegen heißt es doch großer, böser Wolf und nicht der nette, liebe Wolf, der Komplimente verteilt.“

„Wenigstens pflanze mich nicht durch Mitose fort!“

„Mitose?“, fragte er und gab ein belustigtes Schnauben von sich. „Du denkst, ich pflanze mich durch Zellteilung fort?“

„Ja“, sagte sie entschieden, „Wie sonst schaffst du die viele Arbeit? Wer weiß, wie viele Abkömmlinge du schon getötet hast. Vielleicht ist dein Keller voller Leichen! Oder du legst irgendwelche schleimigen Eier.“

Nun konnte Seto nicht mehr an sich halten und lachte auf.

„Du hast eine ziemlich blühende Fantasie!“

„Achja…ich vergaß…du hast ja deine Hostessen…“ Sie verdrehte die Augen und klang angewidert.

„Freu dich, bald nicht mehr.“

„Was? Davon weiß nicht mal ich was!“, fuhr sein Gewissen dazwischen und klang, wie eine aufgeregte Reporterin aus der Klatschpresse, wie „Frau von heute“.

Auch Naomie sah ihn aus groß gewordenen Augen an. „Wie kommt das?“

„Das hat verschiedene Gründe.“

„Und die wären?“, fragte Naomie skeptisch.

„Ja, bitte. Ich bin auch mal ganz Ohr. Wobei ich es mir denken kann. Du willst das kleine süße Ding vor dir haben und deswegen wirst du das nicht mehr machen!“

Innerlich verdreht er die Augen.

„Zum einen, weil ich keine Lust habe ständig mit denen die Benimmregeln durch zu kauen, dann kriegen sie Dinge mit, die nicht für ihre Ohren sind und da immer eine Rechtslage abzuklären ist auf Dauer auch ziemlich nervend.“

„Verstehe.“

„Ja, klar…sag doch einfach, dass es wegen ihr ist, du sie ziemlich scharf findest und gern Sex mit ihr willst.“

„Es gibt noch den einen oder anderen Grund mehr, aber das geht dich nichts an.“

„Du bist doch eine Flachpfeife, Junge!“

„Ich muss ja nicht alles wissen und rechtfertigen musst du dich nicht vor mir. Ich bin nicht deine Frau oder Freundin.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. Seto hatte das Gefühl dem beipflichten zu müssen, um keine falschen Schlüsse aufkommen zu lassen und nickte.

„Richtig. Aber nun zurück zum Thema…ich hol dich sicherlich nicht grundlos aus der Pause, um mit dir darüber zu reden, dass du in die Pampa musst. Glaub mir, die Messe würde ich auch gerne umgehen dieses Jahr, wäre nicht schon länger unser Stand dort angemeldet.“

„Und ich darf es jetzt ausbaden?“, brummte sie.

„So sieht es leider aus. Immerhin wirst du auch hier gebraucht.“

Sie stieß ein leises Seufzen aus.

„Damit du aber bald diesen quälenden Job los bist und auch mich, den großen, bösen Wolf, habe ich eine Sonderaufgabe für dich.“

Fragend zog sie die Augenbrauche hoch und er ging zu dem kleinen Ecktisch. Sie folgte ihm wortlos, während er sich setzte.

„Das hier sind alles Bewerbungsmappen“, sagte er ruhig und deutete auf den Stapel.

„Das sehe ich...“, sagte sie und hielt inne. In ihrem Gesicht spiegelte sich blanke Überraschung. „Oh nein, nein…ich ahne übles.“

Seto holte tief Luft. „Doch genau das. Es hat sich schon ein wenig herum gesprochen, dass hier ein Platz für einen Fotografen frei wurde und du nur übergangsläufig hier bist. Bedanken kannst du dich in der Presseabteilung, die für die online Seiten zuständig ist.“

„Ich hab es schon gesehen“, seufzte sie und ließ sich auf das Sofa plumpsen, als müsse sie sich erstmal setzen nach dem Schock.

„Hast du dann auch die Kommentare gelesen?“, fragte er vorsichtig und zog ein paar Mappen näher zu sich heran.

Naomie nickte. „Ja, aber ich hab die Benachrichtigung deaktiviert. Das wurde mir zu dumm.“

Am liebsten hätte Seto gefragt, wie weit sie die Nachrichten gelesen hatte, aber er schwieg dazu.

„Ist auch besser so. Das willst du gar nicht alles lesen. Ich habe mir übrigens dein Profil angesehen…“

Sie sah Seto kurz an. „Du Stalker…“, kicherte sie.

„Du hast sehr schöne Fotos dort. Du hast auch als Model vor der Kamera gestanden. Die Bilder sind schön.“

„Danke. Aber zurück zum Thema…“ Sie deutete etwas unliebsam auf die Mappen und er nickte.

Sie hatte absolut Recht. Er ließ sich grade ablenken und das durfte nicht passieren. Nur weil sein Gewissen es jetzt endlich geschafft hatte ihn zu überzeugen, dass er sie doch mochte, durfte er es sich nicht anmerken lassen.

„Aufgrund dessen, dass meine Presseabteilung und die Personalabteilung den letzten Fotografen eingestellt hat und er sich nicht als zuverlässig erwiesen hat, wollte ich mich darum kümmern und…“

Ein lautes Knurren unterbrach ihn und er sah zu Naomie.

„Tschuldigung“, murmelte sie verlegen, während ihr Magen ein weiteres Rumoren von sich gab. Es klang tief und hohl, als käme das Geräusch aus einer Höhle.

Er warf ihrem Magen einen vernichtenden Blick zu.

„Ich muss nicht raten, um zu wissen, dass du wieder nicht gefrühstückt hast“, kommentierte Seto das erneute Magengrummeln.

„Du musstest mich ja aus der Pause holen!“, konterte sie verlegen und verschränkte die Arme, als könnte es helfen die Geräusche zu unterdrücken.

Tadelnd schnalzte Seto mit der Zunge. „Und ich habe dir schon mal gesagt, dass du morgens frühstücken sollst!“

„Ich komme halt nicht so gut aus dem Bett.“

„Stell dir den Wecker eher.“

„Tu ich schon!“

„Und dann drehst du dich noch mal um, was?“

„Genau. Es ist so warm unter der Decke und es kann nicht jeder Personal haben, wie du, die einem das Frühstück servieren.“ Ihr Gesicht bekam einen Ausdruck, den er nur zu gut von Mokuba kannte, wenn er noch morgens im Bett lag und nicht aufstehen wollte.

„Wenn du deinen Hintern eher aus den Federn kriegen würdest, hättest du auch Zeit dir was zu machen und nicht nur schnell ins Bad und aus dem Haus zu gehen.“

„Hei, mir geht’s doch gut und in der Pause esse ich doch auch was, wenn man nicht gerade raus pfeift.“

„Ja, immerhin etwas, aber auch erst seitdem Schröder dich einladet“, sagte er eisig.

„Klingt, als wärst du eifersüchtig“, lachte sie, „Und einladen tut er mich nicht immer. Oft genug zahle ich auch mein Essen selbst!“

„Ich und eifersüchtig auf die rosa Pest? Träum weiter. Von mir aus, kannst du dich ihm an den Hals werfen und wie ihr eurer Essen bezahlt, ist mir ziemlich egal.“

„Nein, danke, kein Interesse an ihm.“ Wieder war ein Brummen ihres Magens zu hören.

„So kann ja keiner Arbeiten…“, brummte Seto und erhob sich. Er lief zu seiner Schreibtischschublade. „Was willst du?“

„Wie was will ich?“ Verwirrt sah sie ihn an und ein leicht ängstlicher Ausdruck lag in ihren Augen.

„Thai, Indisch, Italienisch, Chinesisch, Europäisch…?“ Er machte eine ausladende Geste und zog ein paar Flyerkarten von Essenslieferanten aus der Schublade. Seto legte sie auf den Tisch vor sich.

„Such dir was aus und wir bestellen uns was. Geht auf Firmenkosten. Sonst muss ich mir noch Sorgen machen, dass das Rotkäppchen mich frisst!“

„Keine Sorge, habe ich nicht vor“, nuschelte sie verlegen und nahm eine Karte entgegen.

Da er selbst kaum Hunger hatte, wusste er recht schnell, was er essen wollte und als sich auch Naomie entschieden hatte, ging er kurz zu seiner Sekretärin, damit sie den Lieferservice beordern konnte.

„So und am morgen frühstückst du. Das ist jetzt eine offizielle Anweisung!“, sagte er strenger.

„Ab morgen bin ich eh auf der Messe“, erwiderte sie ruhig und klang, als hätte sie absolut keine Lust dieser Aufforderung nach zu kommen.

„Das entbindet dich nicht von der Anweisung und grade da solltest du gut frühstücken. Solche Messen können anstrengend sein.“

„Wie willst du das kontrollieren?“, fragte sie herausfordernd.

„Nun ich könnte dich jeden morgen anrufen und dich aus dem Bett klingeln“, erwiderte Seto trocken.

„Und wenn ich mein Telefon ausschalte?“

„Dann sehe ich das als Missachtung meiner Anweisung. Immerhin musst du auch immer erreichbar sein. Außerdem könnte ich im Hotel ordern, dass man dich weckt.“

„Sehr nett.“ Naomie verzog das Gesicht.

„Du bist ja auch witzig“, meldete sich sein Gewissen wieder, „Du hast hier grade sowas wie ein Date mit ihr und lässt den big Boss raushängen.“

Ein Date? Wie kam diese wahnwitzige Stimme auf so eine abstruse Idee? Das hier war Arbeit und dazu etwas Essen und kein Date!

„Mit Schröder isst sie auch zusammen und arbeitet auch mit ihm und du denkst, es ist ein Date. Schachmatt!“

Innerlich brummte er und sagte sich selbst wider, dass das kein Date war.

„Dann verrate mir, ein so etwas bei dir dann aussehen würde.“

Seto überlegte. Er hatte sich nie Gedanken gemacht, wie so eine Verabredung je aussehen würde, wenn er wirkliches Interesse an einer Frau hatte. Meist ergab sich so etwas bei einem Geschäftsessen mit der Hostess von sich und auch da war es kein richtiges Date, sondern war mit beruflichen Dingen verbunden.

Seto sah sie kurz an, wie sie zu einer Mappe griff und darin herumblätterte.

Wenn man die Dinge so betrachtete, gab es keine Definition, wie eine gute Verabredung aussehen sollte und die Arbeit war eigentlich eine gute Gelegenheit sich näher zu kommen.

Trotzdem verfluchte er noch seinen Hund, dass er sie angesprungen hatte.

„Kommen wir zur Arbeit“, fing er ruhig an und nahm sich ebenfalls eine Mappe. „Da sich ja nun schon herum gesprochen hast, dass hier Stellen zu vergeben sind, werde ich die jetzige Auswahl des Fototeams mit dir aussuchen.“

Naomie nickte. „Verstehe. Was genau muss ich tun?“

„Schau dir die Anschreiben an, die Werdegänge und Fortbildungen.“

„Was ist mit den Arbeitsmappen?“

„Wenn welche dabei sind, schau sie dir an und sortiere aus, welche am besten sind.“

„Verstehe und wenn keine dabei sind?“

„Dann leg die Leute zur Seite. Die kommen nicht ins nähere Auswahlverfahren.“

Sie nickte und biss sich etwas auf die Lippen. Naomie schaute in die Mappe und vertiefte sich darin. Er tat es ihr gleich und außer den Geräuschen vom Flur war nichts in dem Raum zu hören.

Wieder war da diese Stille, die Seto heute nervös machte.

Ihn ließ der Gedanke nicht los, dass ihre gemeinsame Zeit bald vorbei wäre und solche Momente, wie diese nicht mehr gäbe. Die Wortgefechte mit dem Köter waren andere als die, die er mit ihr führte. Diese hier machten ihm sogar Spaß und sein inneres zog sich zusammen, wenn er nur daran dachte, dass es bald vorbei sein würde.

Kurz ballte er seine Hand zur Faust und lockerte sie direkt wieder, ehe er das Papier beschädigen würde.

Ob der Lieferant noch lange brauchte?

Ihr Magen knurrte erneut. Sie sah ihn verlegen an und räusperte sich, um das Grummeln unter einem Husten zu tarnen. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die neue Mappe.

So deutlich wie jetzt, spürte er sein Herz selten in der Brust schlagen und es bestätigte nur, was sein Gewissen die ganze Zeit behauptet hatte. Er mochte sie. Doch wie es weiter gehen sollte, wusste er nicht.

Türchen 21 - Wintersonnenwende

Stickig und voll.

Mit anderen Worten konnte man die Hallen der Messe nicht beschreiben. Profi- und Hobbyfotografen, Models, Visagisten und Assistenten drängten sich durch die kleinen Wege und um die Stände. Es gab noch ein gutes durchkommen, aber viele Möglichkeiten gab es nicht mehr. Dabei war die Messe erst seit vier Stunden eröffnet und der Tag hatte erst angefangen.

Auch, wenn die Messe hauptsächlich für die Profifotografen interessant war, schienen sich auch andere auf den neuesten Stand der Technik bringen wollen, so dass es eben rundum gut besucht war.

Viele Fotostudios hatten ihre Leute mitgebracht und eine Art Ministudio errichtet, so wie ihr Chef es auf dem Weihnachtsmarkt getan hatte. Dazu gab es auch Visagisten, die sich schnell um ein gutes Make up kümmerten und man sich zu kleinen Preisen Fotos machen lassen konnte. Eine gute Webestrategie und es zeigte gleich, was das Studio zu bieten hatte. Es gab den Leuten direkt ein gutes Gefühl, dass man auf sie einging und sich um sie kümmerte. Zudem nutzten es auch viele, um noch ein gutes Foto zu bekommen, was sie an Weihnachten verschenken würden.

Auch der Stand vom Fotostudio ihres Chefes, der mit der Kaiba Corporation zusammen einen großen Stand betrieb, war gut besucht. Viele Visitenkarten und Flyer gingen über das aktuelle Jobangebot weg wie warme Semmel. Aber auch Visagisten und Profimodels erkundigten sich über eventuelle Arbeiten.

Ihr Chef war recht zufrieden und auch stolz über die Zusammenarbeit mit dem großen Konzern. Denn es bedeutete auch für ihn neue Kunden und Aufträge. Aber es war auch eine gute Gelegenheit neue Kontakte zu Fotografen und alten Freunden zu knüpfen, um sich gegenseitig auszutauschen und Empfehlungen zu geben.

Sehen und gesehen werden war das Motto.

Grade unterhielt er sich mit einem alten Fotografenfreund und sie diskutierten ausgiebig über ein neues Objektiv, was dieser sich geholt hatte. Naomie hatte auch Gesprächsfetzen gehört, was es noch für Zeiten waren, als sie noch mit einem Film gearbeitet hatten und die Fotos in einem Labor mit abgedunkelter Kammer entwickelt werden mussten. Sie konnten sich darüber stundenlang auslassen.

Es war ein buntes Treiben und Naomie steckte mitten drin.

Innerlich verfluchte sie Seto noch immer für die Idee und würde ihm am liebsten den Hals umdrehen, denn trotz dessen, dass die Feiertage kurz vor der Tür standen, waren die Halle rappelvoll.

Sie schwitzte ein wenig durch die vielen Lampen und den Leuten. Die Räume waren erfüllt von dem Geruch der Menschenmasse und sie verfluchte auch die Hallen dafür, dass man hier kein Fenster öffnen konnte.

Naomie strich sich ein paar Haare zur Seite und wischte sich damit unauffällig über die Schläfe und eine nervige Schweißperle ab.

Mehrere Kameras waren auf sie gerichtet und die warmen Scheinwerfer machten es nicht einfacher. Ihre Handinnenfläche schwitzte ein wenig, so dass sie immer wieder das Mikro in die andere Hand nehmen musste.

Hinter ihr war eine große Leinwand errichtet worden und ihr Bild wurde von den Kameras in Übergröße projiziert.

Es war ein merkwürdiges Gefühl sich selbst im Augenwinkel zu sehen und zu sehen, was man zeitgleich auf der Bühne tat.

Immer wieder warf es sie kurzzeitig aus der Bahn, so dass sie eine Pause machen musste.

Sie pustete sich kurz Luft zu und bemerkte in den hinteren Reihen eine Bewegung. Ihr Herz fing direkt an schneller zu pochen, aber es war nur eine junge Frau mit einem knalligen Outfit und lilafarbenem Haar.

Kurz suchten ihre Augen die Reihen ab, soweit es möglich war durch die helle Beleuchtung die Leute zu erkennen.

Doch sie konnte Seto nirgendwo sehen. Naomie konzentrierte sich wieder auf ihren Vortrag.

Irgendwo hoffte sie, dass er in der Reihe sitzen und ihrem Vortrag zuhören würde. Aber er hatte ihr bei dem Essen gestern auch gesagt, dass er wohl nicht vorbei schauen würde, da er noch so viel mit der Planung der Gala zu tun hatte. Dennoch war da die Hoffnung, dass er sich für sie Zeit nehmen würde.

Leider hatte sie auch keine Chance mehr gehabt mit Siegfried etwas Essen zu gehen, da sie gestern Abend schon zur Messe fahren musste. Naomie hatte ihm nur eine kurze SMS schreiben können, was los war. Zu mehr war sie nicht mehr in der Lage gewesen.

Als sie gestern Abend im Hotel angekommen war, war sie auch zu müde gewesen, um ihm noch ausführlicher zu schreiben.

Irgendwie hatte sie ja schon ein schlechtes Gewissen, aber ändern konnte sie die Dinge auch nicht. Vielleicht würde er sie ja besuchen, wenn sie ihn darum bat.

Denn das Hotel konnte noch so gemütlich und bequem sein und das Bett noch so groß, aber es brachte ihr eine Gesellschaft, um mal mit jemanden zu reden und die ganze Zeit an ihrem Chef hängen oder Kollegen wollte sie nicht. Ebenso wenig nur lesen, auch wenn sie sich ein Buch und eine Zeitschrift über die neuesten Fototipps und Tricks eingepackt hatte. Auf Dauer wurde das auch langweilig.

Sie konzentriert sich wieder auf den Vortrag und trat an den kleinen Tisch heran auf dem der Laptop stand.

„Wie Sie sehen, habe ich durch die Veränderung des Kamerawinkels ein vollkommen anderes Bild erzeugt“, erklärte sie und versuchte nicht zu schnell zu sprechen und nicht zu nuscheln. Ihre Stimme klang durch die Lautsprecher merkwürdig fremd.

Sie tippte kurz auf dem Laptop etwas ein und zog das Foto in das Bildbearbeitungsprogramm.

„Mit Hilfe des Programms kann ich auch ein paar Feinheiten an dem Foto bearbeiten“, erklärte sie und zeigte den Leuten Schritt für Schritt die wichtigsten Bearbeitungen. „Mit dem Pflaster kann ich kleine Hautunebenheiten retuschieren. Dazu klicke ich nur auf eine Hautstelle und kopiere sie dann auf die, die ich bearbeiten möchte. So sind Pickel oder Augenringe ganz schnell verschwunden.“

Geduldig und langsam erklärte sie auch, wie man die Lichtverhältnisse verbesserte und schaute auch kurz in die Menge, um zu sehen, ob die Leute mitkamen. Immer wieder wechselte sie das Mikro, weil es drohte ihr aus der Hand zu rutschen.

„Aber achten Sie auch auf Kleinigkeiten“, erklärte sie, „Hier sehen sie, dass ein Muttermal mit kopiert wurde. Das kann aber mit einem Klick sofort wieder verschwinden. Schauen Sie also immer gründlich nach, ob wirklich alles in dem Bild stimmt.“

Naomie spürte, wie die Leute ihr gebannt zuhören und an ihren Lippen hingen. Einige stellen kurze Fragen, wenn sie nicht mitkamen oder es nicht verstanden hatten von der Akustik.

Doch es lief alles gut und gegen jede Erwartung hagelte es keine Kritik, weil sie noch so jung war und das zum ersten Mal machte.

Aber Naomie war auch froh, wenn die Arbeit hier erledigt war. Sie wollte aus dem Scheinwerferlicht heraus und kurz frische Luft schnappen. Zudem spürte sie auch, dass sie dringend etwas trinken musste und eine Kleinigkeit essen.

Obwohl sie gefrühstückt hatte, knurrte ihr Magen leise vor sich hin. Das sie am Morgen auch beim Frühstücksbuffet dabei gewesen war, hatte sie Seto zu verdanken.

Er hatte nämlich seine Drohung wahr gemacht und sie tatsächlich aus dem Bett geklingelt. Zuerst war es nur eine SMS gewesen mit: „Morgen, Zeit zum aufstehen“. Doch schon fünf Minuten später war die zweite gefolgt. „Das Frühstück wartet unten. Beeil dich oder du musst hungrig zur Messe.“

Als sie auch darauf nicht reagiert hatte, hatte er sie solange angerufen bis sie an ihr Handy heran gegangen war. Seine Stimme hatte munter geklungen, als wäre er schon ewig wach und könnte sich ihren Anblick gut vorstellen, wie verschlafen sie gewesen war. Dabei war es halb sechs am Morgen gewesen und ihr Hirn hatte nur den Befehl zu Brummlauten gegeben, weshalb das Gespräch recht schnell beendet gewesen war. Kaiba hatte dennoch amüsiert geklungen und kurz hatte sie den Gedanken gehabt, dass er mal nicht ihr Chef war, sondern ihr Freund und sie deswegen weckte. Doch den hatte sie schnell zur Seite geschoben.

Müde hatte sie sich unter die Dusche gequält und war dann zum Frühstück gegangen. Naomie hatte sogar Zeit gehabt ihre Mails zu checken und hatte die Nachricht von Siegfried noch beantworten können, in dem er sie alles Mögliche fragte, was sie essen wollte und nicht mochte, damit seine Köche bescheid wussten.

Sie schloss das Programm auf dem Laptop und die Leinwand blieb weiß.

„Danke für Ihre Aufmerksamkeit!“, sagte sie freudig, „Der Workshop „Wie fotografiere ich ein Model perfekt“ findet in einer Stunde hier in Halle A statt. Zeitgleich findet „Bildbearbeitung für Fortgeschrittene“ in Halle D statt. Besuchen Sie auch unseren Stand hier in der Halle unter Abschnitt C. Wir arbeiten zusammen mit der Kaiba Corporation und aktuell finden Sie auch dort einige Flyer zu Jobangeboten. Vielen Dank!“

Die Leute erhoben sich und nahmen ihre Sachen mit. Einer nach dem anderen verließ den Platz.

Naomie übergab das Mikrofon einem der Techniker und verabschiedete sich. Sie brauchte dringend etwas zu trinken. Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie Schmirgelpapier zum Frühstück gehabt statt ein leckeres Rührei und Toast mit Marmelade.

„Nach dem langen Reden fühlt man sich immer ausgetrocknet, oder?“

Naomie fuhr herum und entdeckte Seto auf einem der Sitzplätze.

„Du hast mich erschreckt“, sagte sie mit einem Grinsen und ihr Herz hüpfte vor Freude, dass er doch noch gekommen war.

Seto saß auf einem der Stühle in der hinteren Reihe, gut versteckt, so dass sie ihn auf der Bühne nicht hatte sehen können. Auf seinem Schoß lag ein Programmheft.

Wie lange hatte er schon dort gesessen und ihrem Programm gelauscht?

Er stand auf und legte den Flyer auf den Sitzplatz zurück.

„Du sagst zu mir, dass du das noch nie gemacht hast, aber dafür war es gut“, sprach er sein Lob aus und sie tat es mit einem Schulterzucken ab.

„Ich war ziemlich nervös.“

„Habe ich dir angesehen.“

„Oh naja…“

„Aber mach dir keine Sorgen, die Leute haben es dir nicht angesehen. Sie haben an deinen Lippen gehangen und dir gelauscht.“

Seine Stimme klang kurz leise und sein Blick lag auf ihren Lippen, als würde er grade selbst den Gedanken haben, ihrem Mund nahe zu sein und sie zu küssen.

Naomie fiel auf, dass sie sich schon lange nicht mehr geküsst hatten. Ihr letzter Kuss war in seinem Schlafzimmer gewesen, nachdem sie von ihren Großeltern zurückgekommen war. Es schien ihr wie eine Ewigkeit her zu sein. Damals war sie sich so sicher gewesen nichts zu empfinden und jetzt wünschte sie sich, er würde ihre Abmachung vergessen und ihr wieder näher kommen.

Sie standen sich so nahe, dass sie sich nur nach vorn beugen musste und schon würden sie sich küssen. Kurz überlegte Naomie diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, doch das Kratzen in ihrem Hals, unterbrach sie, so dass sie sich abwandte und kurz hustete.

„Tschuldige…mein Hals fühlt sich total kratzig an.“

„Du solltest jetzt was trinken. Weiter vorn am Eingang ist ein kleiner Stand mit Getränken.“

Naomie nickte. „Ich sag eben nur meinem Chef Bescheid. Gehst du schon vor?“

Seto nickte und schnell drängte sie sich durch die Menge zum Stand.

Kurz teilte sie ihrem Chef und den Assistenten aus der Kaiba Corporation mit, dass sie in die Pause gehen würde. Sie bekam noch einen neckenden Spruch zu hören, wann sie und Kaiba endlich zusammen kämen, doch Naomie ignorierte es.

Schnell ging sie Richtung Ausgang.

Am Getränkestand wartete Seto. Er hatte schon einen Kaffee im Pappbecher in der Hand und sobald sie näher kam, reichte er ihr einen zweiten.

„Ich hab dir Tee bestellt“, erklärte er auf ihren fragenden Blick hin.

„Danke“, nuschelte sie und nahm den Becher entgegen. Er fühlte sich warm an und sie trank vorsichtig einen Schluck. Das heiße Getränk war eine Wohltat für ihren Hals und sie spürte kurzzeitig eine Linderung.

„Ich hoffe, meine Stimme bleibt mir erhalten“, sagte sie leise und räusperte sich und pustete sich etwas Luft zu. Es war absolut stickig hier und sie hatte das Gefühl zu ersticken.

Etwas angespannt bewegte sie auch den Kopf. Es war alles in allem anstrengender als sie gedacht hatte.

„Mit der Zeit wird dir das auch leichter fallen“, sagte Seto ruhig und trank einen Schluck. Sie konnte den Kaffee riechen.

„Ich hoffe es“, brachte sie raus und beobachtete, wie er etwas mehr Zucker in den Becher gab und verrührte. „Aber es freut mich, dass du es doch geschafft hast, her zukommen. Das ist toll!“

Fast wäre ihr rausgerutscht, dass sie ihn schon angefangen hatte zu vermissen, konnte es sich aber grade noch verkneifen.

„Sag mal, hast du Hunger?“, fragte sie und deutete zum Ausgang, „Ich hab jetzt eine Pause und würde gern was Essen gehen. Außerdem brauch ich frische Luft.“

„Hast du wieder nicht gefrühstückt?“, fragte er mit einem strengen und kühlen Blick.

„Doch, du hast mich ja immerhin schon um halb sechs aus den Federn geholt.“

„Es war nur zu deinem Besten.“

Naomie brummte und nahm den Becher mit, als sie nach draußen gingen. Außerdem konnte sie sich so ungestört unterhalten, ohne dass irgendwelche Leute ihn vielleicht sogar fotografieren wollten.

„Also? Hast du heute früh was gegessen?“, hakte er nach.

„Ja, habe ich.“

„Dann war es doch gut, dass ich dich geweckt habe.“

„Du bist aber nicht mein Weckdienst“, konterte sie und überlegte nach dem Essen einen kurzen Abstecher in die Stadt zu machen, um sich Halsbonbons zu holen. „Oder mein Freund, der für mein persönliches Wohl sorgen muss.“

Kurz warf sie ihm einen Seitenblick zu. Er ignorierte den Satz geschickt, erwiderte aber ihren Blick und tat es damit ab, dass er einen Schluck aus dem Kaffeebecher trank. Wieder musste sie sich Räuspern, um das Kratzen los zu werden.

„Ich glaube, morgen hab ich gar keine Stimme mehr. Hast du eine Idee, was mir helfen kann?“ Fragend sah Naomie den Firmenchef an. Wenn einer ihr einen guten Tipp geben konnte, dann vermutlich er. Er war es gewohnt Präsentationen zu halten und hatte dementsprechend trainierte Stimmbänder.

Ob vielleicht Halsbonbons helfen würden?

Eine Menschengruppe kam ihr entgegen und jemand rempelte sie an.

„So…oh Naomie“, sagte jemand und sie drehte sich um. Sie hatte auch schon zu einer Entschuldigung ansetzen wollen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Sie brachte lediglich ein heiseres röcheln raus.

„Wie geht es dir?“, fragte der junge Mann mit den rot-braunen Haaren.

„Ryuichi…ich…hi…“, stammelte sie und schluckte schwer, so dass sie die Schmerzen im Hals deutlicher spürte. Ihre Hand umklammerte den Becher fester, als er näher an sie heran trat.

„Was machst du hier?“

„Ich arbeite hier“, antwortete sie ruhig und trat einen Schritt zurück. Ihr Herz raste und viele Erinnerungen kamen ihr hoch, die nicht besonders angenehm waren.

Ihr Exfreund zwinkert ihr verschwörerisch und frech zu.

„Und jetzt machst du Pause?“

Sie nickte.

„Dann werde ich mal später nach dir Ausschau halten“, antwortete er etwas frecher. Sie kannte den Tonfall zu gut von früher. Damals hatte er es geschafft sie damit rum zu kriegen und sie einzulullen, dass sie ihm recht schnell verzieh. Auch nachdem er ihr Fremd gegangen war, hatte er es auf diese Art versucht. Aber da war sie standhaft geblieben.

„Tu das“, murmelte sie und biss sich kurz auf die Lippen. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter.

„Kommst du? Wir wollten doch was essen gehen.“ Seto drückte ihre Schulter ein wenig und zog sie an sich.

Ryuichi entging Seto nicht und unwillkürlich trat er zurück. „Wer ist das? Dein Freund?“

„Also…“ Was sollte sie sagen? Sie konnte die Frage schlecht bejahen.

„Wenn es so wäre, hättest du ein Problem damit?“, fragte Seto scharf und nahm ihr damit die Antwort ab.

Was tat er da? Gab er sich grade wirklich als ihr Freund aus? Das konnte nicht wahr sein!

Naomie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.

„Na dann viel Spaß euch beiden“, sagte ihr Exfreund und zwinkerte ihr zu. Er drehte sich um und Seto führte Naomie aus dem Eingangsbereich raus.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und trank erstmal den Tee weiter.

„Ich nehme an, es war dein Ex?“, fragte er leise und seine Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter. Naomie nickte.

Er brummte leise.

„Deiner Reaktion entnehme ich, dass du dich nicht so sehr über sein auftauchen freust, wie er sich über deines?“

Naomie seufzte. „Richtig…Was sollte das eigentlich grade? Jetzt denkt er, du und ich…“

Sie machte eine Bewegung mit der Hand, die zeigen sollte, dass sie beide zusammen wären.

„Spielt das eine Rolle? Hauptsache er lässt dich in Ruhe.“

„Und das ging nicht anders?“

„Nicht mit deiner Reaktion eines toten Goldfisches. Also wirklich…du hattest die Abwehrhaltung eines Guppys!“

„Ich bin kein Guppy!“

„Was dann? Ein toter Hamster?“

Als sie die Hallen verließen, zog Naomie die frische Luft ein. Es kam ihr vor, als würde sie aus einer anderen Welt wieder in die Realität eintauchen.

Es schneite dicke Flocken und hatte die Straßen wieder mit einer weißen Schicht überzogen. Dabei hatte es am Morgen noch nicht so ausgesehen und es hatte sogar ein wenig angefangen zu tauen.

Jetzt flogen ihr die Flocken ins Gesicht und der kalte Wind kühlte ihr Gesicht ab. Naomie zog den Schal etwas höher und hielt kurz inne, um sich einen Überblick über das Gelände zu verschaffen. Nun wo kleine Busse die Besucher brachten und viele interne Messewagen herum fuhren, dazu die vielen Leute, war es doch recht unübersichtlich.

„Sag mal, was ist noch zwischen dir und deinem Ex passiert?“, fragte Seto und holte sie aus ihren Gedanken.

„Wie meinst du das?“

„Ich hab den Eindruck, dass etwas passiert ist zwischen euch außer Sex mit dem Ex und dass er dir Fremd gegangen ist und frag nicht, ich sehe es dir an der Nasenspitze an.“

„Ich will nicht drüber reden“, sagte sie und umklammerte den Teebecher. Er wärmte ihre Finger und vielleicht sah Seto auch nicht, dass es ihr unangenehm war.

„Vielleicht solltest du das aber“, erwiderte er ruhig, „Immerhin scheint dich sein Anblick ziemlich aus der Bahn zu werfen.“

Naomie seufzte. Er konnte sie lesen wie ein offenes Buch. Wieso konnte er das? Aber das war eben auch ein Grund, wieso sie ihn mochte. Er konnte ihre Gefühle sehen, ohne dass sie etwas sagen musste.

„Okay…er hat mir einmal ziemlich weh getan, okay?“

„Er hat dich geschlagen?“ Setos Tonfall wirkte, als würde er gleich umkehren und ihn schlagen wollen.

„Nein, nein…es…also…“ Kurz sah sie sich um und senkte die Stimme. „Mir ist das echt unangenehm…bitte, sag es keinem! Es ist beim letzten Mal passiert als wir…naja…Sex hatten.“

„Soll heißen er hat an dir irgendwelche Sadomasosachen probiert?“ Diesmal klang der Tonfall als würde er ihn lieber foltern wollen.

„Mach ich nicht Lustig! Nein…es war…“ Sie hielt inne. Es war schwer es auszusprechen. Ein paar Flocken landeten auf ihrem Gesicht und sie spürte die Hitze auf ihren Wangen. „Also wir waren mitten drin und er hat mich von hinten genommen und….“ Sie zögerte. „Er ist rausgerutscht….“

Sie hörte ein Hüsteln von Seto, als würde er versuchen ein Lachen zu unterdrücken. Mahnend sah sie ihn an und er hob abwehren die Hände. „…und als er wieder in mir rein wollte ist er dabei…“

Naomie machte eine Geste mit der Hand.

„Was?“, hakte Seto nach und hob eine Augenbraue.

„Er hat dann anal…“, nuschelte sie leise.

„Oh. Verstehe.“

„Es tat ziemlich weh und ich hab ihn angefleht aufzuhören, aber er fand das so erregend, dass er mehrfach zugestoßen hat. Ich hab mich unter ihm weg gezogen und es tat einfach nur weh…Ich hab meine Sachen genommen, bin abgehauen. Später hab ich gemerkt, dass ich auch etwas geblutet habe…und mir ist das einfach nur peinlich, weißt du…“

Sie fuhr sich verlegen durch die feuchten Haare.

„Dein Ex ist Schuld, nicht du“, sagte Seto ruhig, „Außerdem sollte er sich schämen, dass er weiter gemacht hat, obwohl du Schmerzen gehabt hast. Wärst du meine Freundin, hätte ich das nicht gemacht.“

„Was aber nie sein wird…“, kommentierte sie ruhig.

„Sag niemals nie“, antwortete er mit einem frechen Grinsen und Naomie musste schmunzeln. Sie knuffte ihn in die Seite. „Lass uns endlich Essen gehen, du Idiot.“

„Gerne doch, du verrückte Alte.“

Naomie lachte ein wenig und ging die Treppe hinunter und über das Gelände. Ihr Hals schmerzte durch das Lachen ein wenig mehr.

„Okay…wo sollen wir Essen?“, fragte Naomie und deutete die Straße entlang. „Dort hinten ist ein Schnellimbiss und wenn wir etwas weiter gehen, kommen wir zur Innenstadt und dort sind Restaurants.“

Fragend sah sie zu Seto.

„Ich habe eine andere Idee. Komm mit“, sagte er und nahm ihre Hand und führte sie in die Seitenstraße.

Er ließ ihre Hand nicht los. War ihm eigentlich bewusst, dass sie grade sowas wie Händchen hielten und dass er sie damit völlig aus dem Konzept brachte und dass es ebenso gegen ihre Abmachung verstieß?

Ihre freie Hand schob sie in die Jackentasche und sah zu Boden. Was, wenn jemand sie so fotografierte? Hatte er überhaupt an die Möglichkeit gedacht?

„Sag mal, wie lange bist du hier?“, fragte sie und sah auf ihre verschlungenen Hände. Klopfte nur ihr Herz so oder seines vielleicht auch?

Naomie schluckte schwer und genoss das Gefühl.

„Ich bin nur heute da. Morgen muss ich wieder zu einigen Terminen“, antwortete er und zog sie in eine weitere Seitenstraße.

Den Trubel von der Messe bekam man hier schon gar nicht mehr mit.

Sie seufzte leise und hatte es sich schon fast gedacht, dass er nicht viel Zeit hier verbringen würde. Sie würde also diese kleine Geste genießen, wenn er ihr schon so entgegen kam.

Bedeutete das nicht auch, dass sie ihm wichtig war, wenn er sich extra die Zeit dafür nahm? Oder war es doch nur wegen des Standes seiner Firma? Aber da waren doch die Berichte seiner Assistenten.

Es war verwirrend und schlau aus ihm wurde Naomie auch nicht.

„Zurück zu deiner Frage von vorhin…“, fing er an.

„Welcher Frage?“

„Was helfen könnten.“

„Oh achso…“ Im ersten Moment vielen ihr viele Dinge ein, die helfen konnten, wie ihn zu küssen, mit der Zunge in seinen Mund zu gleiten und seinen Geschmack auskosten. Seine Lippen gierig küssen und an seiner Unterlippe zu knabbern, während seine Hände sich in ihre Haare vergruben.

Das würde schon mal helfen ihr Verlangen nach ihm zu stillen, aber das war es sicherlich nicht, worauf er hinaus wollte.

„Also ich kann dir den Rat geben, dass du dich entspannen solltest vor einer Präsentation. Du brauchst, wenn du ein Mikrofon hast, deine Stimme nicht anstrengend. Du kannst ganz normal reden, wie wir es grade tun. Versuch dir auch eine Trinkfalsche mit auf die Bühne zu nehmen, so dass du immer wieder einen Schluck trinken kannst. Glaub mir, die Leute nehmen es dir nicht übel, wenn du das tust. Im Gegenteil, du bist dann nicht jemand, der unerreichbar ist.“

Fragend sah Naomie ihn an.

„Ich versteh es auch nicht ganz, aber diese kleinen Dinge helfen den Menschen zu verstehen, dass du kein Übermensch bist, sondern so wie sie selbst. Es macht dich einfach menschlich und sympathisch.“

„Verstehe“, sagte sie ruhig und schluckte schwer, als hätte sie einen Knoten im Hals.

„Deine Pausen waren gut“, fuhr Kaiba fort, „Daran solltest du nichts verändern.“

„Ich hatte mir überlegt, dass ich mir gleich ein paar Bonbons hole.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte er nickend und drückte ihre Hand. Ihm war also bewusst, was sie hier taten und er tat es offenbar gerne.

Sie schluckte und sah mit gerötetem Gesicht zu Boden, während ihr der Wind ins Gesicht peitschte.

Es freute sie, dass er sich doch die Zeit nur für sie nahm. Mochte er sie vielleicht doch auch ein klein wenig.

Naomie scheute sich zu fragen. Was würde er von ihr denken, wenn sie jetzt damit um die Ecke kam, dass sie ihn doch mochte? Er würde sie doch glatt für sprunghaft halten.

Seufzend erwiderte sie den Druck ihrer Hände, genoss die Wärme seiner Haut und ließ zu, dass sie tatsächlich wie ein Pärchen durch die Straße liefen.

War das vielleicht eine Art Date?

Aber Seto Kaiba und ein Date? Niemals!

Naomie warf den leeren Teebecher in einen Mülleimer, der an einer Bushaltestelle angebracht war und sah auch einen kleinen Kiosk mit Brötchenverkauf.

„Du kennst dich hier aber gut aus“, fing sie an und Seto nickte.

„Ich war hier schön öfters auf einigen Messen und weiß daher, wo man gut Essen gehen kann und ich kann dir später auch sagen, wo du eine Apotheke findest.“

„Danke für deine Hilfe“, erwiderte sie ruhig und meinte es in diesem Moment auch so. In diesem Moment fühlte sie wirklich Dankbarkeit. Seto hatte ihr in vielen Situationen schon geholfen.

Er erwiderte nichts darauf und kurz vor dem Bistro ließ er ihre Hand los.

Es war ein merkwürdiges Gefühl nicht mehr seine warmen Finger zu fühlen und Naomie bewegte kurz ihre Hand ein wenig, als sie das kleine Café betraten.

Zielsicher steuerte Seto einen Tisch in einer Ecke an.

Sie hatten Glück und es war nicht zu voll, trotz dessen dass es grade Mittagszeit war und eine Messe am laufen. Liebevoll war der Laden weihnachtlich dekoriert worden. Ein kleiner Mistelzweig hing an der Tür und am Tresen war einen Stechpalmengirlande aufgehängt worden. Auf jedem Tisch stand ein kleiner Adventskranz und eine kleine weihnachtliche Spitzendecke lag darunter.

Alles in allem sehr niedlich und festlich, um in die passende Stimmung zu kommen.

Kurz sah Naomie zu Seto und schüttelte ein paar Schneeflocken aus den Haaren. Der Schneefall schien zuzunehmen.

„Wenn du willst, können wir auch woanders hingehen. Wir müssen nicht hier…“, fing sie leise an und konnte sich gut vorstellen, dass das für ihn eine kleine Weihnachtshölle war, wusste sie doch, wie sehr er das Fest nicht mochte.

„Nein, es ist schon in Ordnung“, sagte er und legte seinen Mantel ab.

Sofort tippelte einen Kellnerin heran und lächelte sie breit an. Eine kleine Spange in Stechpalmenform hing in ihrem roten Haar und auf ihrer Schürze pragte ein aufgestickter Weihnachtsmann mit Geschenkesack und bunten Päckchen.

„Hallo ihr zwei“, sagte sie fröhlich trällernd und reicht ihnen die Speiskarte. Sofort zückte die Block und Stift. „Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?“

„Für mich einen Minzetee bitte“, sagte sie ohne zu zögern, während sich Seto einen Kaffee orderte. Was auch sonst?

Die Bedienung nickte und tippelte wieder davon, um die nächsten Gäste zu bedienen.

„Weißt du schon, was du über die Festtage machst?“, fragte Seto plötzlich und blätterte in der Karte dabei.

„Ich werde so wie es aussieht verreisen. Wann genau weiß ich noch nicht, aber vermutlich direkt an Heilig abend. Was machst du mit Mokuba?“

„Mokuba wird mich zwingen an den drei Tagen nicht zu arbeiten und mit ihm und Shadow spazieren zu gehen. Vermutlich wird er auch auf einen Kurztrip bestehen. Er wird mich den ganzen Tag nerven, ob er schon seine Geschenke bekäme und sobald ich ihm zum ich weiß nicht wie vielten Mal die Weihnachtsgeschichte vorgelesen habe, wird er einschlafen. Am ersten Weihnachtstag wird er mich dann um sechs Uhr wecken und anbetteln, dass er seine Geschenke öffnen darf.“ Tief seufze Seto und sah sie mit gequältem Gesicht über den Rand der Karte an. „Ich soll dich eigentlich auch fragen, ob du mit uns feiern willst, aber wenn du verreist, hat sich das wohl erledigt.“

„Oh“, entfuhr es ihr und Naomie legte die Karte zur Seite. Sie hatte gefunden, was sie essen wollte. „Wenn ich das eher gewusst hätte…Das tut mir leid. Joey hatte mich auch schon eingeladen mit seinen Freunden zu feiern und ich habe abgesagt. Ich wollte eigentlich alleine feiern und hatte mich gestern dazu entschieden weg zu fahren. Ich bin schon dabei alles zu planen und…es tut mir wirklich leid.“

„Wenn ich das mit Mokubas Worten ausdrücken soll: Sag die Reise ab und feier mit uns.“

Sie kicherte. „Gut getroffen, aber es geht nicht.“

„Das wird ihm nicht gefallen und ich bin sicher, er wird dich auch noch mal selber anbetteln.“

„Kann gut sein, aber es ändert nichts.“

„Wenn es danach geht, würde ich dich auch nicht betteln. Du bist ein freier Mensch.“

„Naja um ehrlich zu sein, ich brauch von all dem hier eher Abstand. Normalerweise würde ich sofort zusagen, aber es ist so viel passiert, dass ich einfach etwas Ruhe brauche.“

„Du meinst wegen deiner Familie?“

Sie schüttelte den Kopf und ihre feuchten Haare fühlten sich schwer an. „Auch, aber auch das was am Anfang zwischen uns war und...“

„Du meinst, weil du verliebt bist und der Idiot es nicht erwidert?“

Schwach nickte sie.

„Weißt du es denn mit Sicherheit?“

„Wie meinst du das?“

„Nun, weißt du denn mit Sicherheit zu sagen, dass er dich nicht mag?“

„Ich denke schon.“

„Du denkst? Hast du es ihm gesagt?“

„So indirekt schon….“, gab sie verlegen zu und musste an die Szene in seinem Büro denken. Offenbar hatte er es immer noch nicht geschnallt. Ihr Herz schlug kräftiger. „Es war ein ziemlich großer Wink, den ich ihm gegeben habe und ich habe einfach das Gefühl mir wächst grade alles über den Kopf. Ich möchte einfach eine Auszeit und ein wenig in Ruhe nachdenken und im neuen Jahr ist auch noch genug Zeit, um mit ihm vielleicht zusammen zu kommen oder sowas.“

Seto brummte mit einem Nicken und er legte die Karte zur Seite. „Eine Auszeit kann manchmal nicht schaden, um mit sich selbst ins reine zu kommen und wieder produktiver zu werden. Aber ich habe deinen Wi…“

„Habt ihr schon gewählt?“, fragte die Kellnerin fröhlich und unterbrach Seto mitten im Satz. Fröhlich sah sie zwischen ihnen hin und her und war sich gar nicht bewusst, dass sie sie grade in einem wichtigen Moment unterbrochen hatte.

Die Frau gab ihr den Tee und Kaiba seinen Kaffee.

Der Geruch des warmen Getränks stieg in ihre Nase und war begeistert, als sie frische Minzblätter darin sehen konnte.

So etwas gab es selten und es war etwas Besonderes mal keinen Teebeutel zu bekommen.

Kurz gab sie der Frau ihre Bestellung und sie ging wieder.

Fragend sah sie zu Seto, während sie etwas Zucker in den Tee gab und ihn mit der Zitronenscheibe verrührte.

„Was wolltest du eben sagen?“, fragte Naomie, doch Seto schüttelte den Kopf.

„Schon gut. Ich war fertig“, erwiderte er und trank einen Schluck seines Kaffees.

Kurz runzelte Naomie die Stirn. Sie war sich sicher, dass er noch etwas hatte sagen wollen und es schien wichtig gewesen zu sein. Immerhin hatte er ruhig und leise gesprochen, fast schon aufgeregt. Aber wenn er es nun nicht mehr sagen wollte, konnte sie ihn schlecht dazu zwingen.

„Wie laufen denn die Bewerbungen?“, fragte Naomie und merkte den kleinen Stich in der Brust bei dem Gedanken irgendwie doch ersetzt zu werden. Es war ein ungeschickter Versuch das Thema zu wechseln. „Konnte ich dir ein wenig helfen?“

Seto nickte.

„Ja, deine Auswahl war gut. Ich lasse das Verfahren aber noch bis ins neue Jahr laufen. Oder willst du etwa die Stelle behalten?“

Die Frage traf sie direkt und unvorbereitet. Kurz schluckte sie schwer den Tee hinunter, dessen Hitze in ihrer Kehle brannte.

„Ist das dein Ernst?“

„Eigentlich war es ironisch gemeint, aber wenn wir einmal beim Thema sind“, sagte er ruhig, als wäre es das normalste der Welt, „Es würde mir eine Menge Bewerbungsmappen und unnütze Termine ersparen, wenn du fest ins Team einsteigst.“

„Ich dachte, es wäre nur Übergangsweise?“, fragte sie verwirrt und die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Es war auch so gedacht, aber du machst dich gut und die Aufnahmen auf der Firmenseite kommen auch bei den Leuten gut an. Für dich wäre es ein guter Schritt auf der Karriereleiter. Oder kann ich deiner Frage entnehmen, dass du eher froh bist, dass du bald aufhören kannst?“ Wie so oft, zog er eine Augenbraue fragend nach oben und musterte sie.

Naomie hatte das Gefühl, er konnte mit diesen Augen in ihre Seele blicken.

„Um ehrlich zu sein: Ja“, gab sie zu, „Ich hatte mich wirklich darauf gefreut wieder ins Studio zu können im neuen Jahr. Es macht mir einfach Spaß Portraitaufnahmen zu machen und richtige Fotoshootings zu machen.“

„Das könntest du in meinem Team auch. Nur, dass du damit mehr Geld verdienen kannst und es zur Werbung der neuen Kaiba Corp. Produkte genutzt wird.“

Naomie schüttelte den Kopf.

„Ich meine damit solche Shootings, wie auf Hochzeiten.“

„Tut mir leid, aber Hochzeitsspielzeug vermarkten wir nicht.“

„Das klang irgendwie zweideutig“, lachte sie und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Woran du wieder denkst!“

„Ich? Du redest hier doch von irgendwelchem Spielzeug!“ Sie lachte noch immer und aus irgendeinem Grund fiel es ihr auch schwer aufzuhören. Naomie wusste selbst nicht, wieso.

Was tat sie hier eigentlich? Das war keine normale Unterhaltung mehr! Sie flirtete mit ihm und offenbar tat er das auch, denn deutlich war ein Grinsen in seinem Gesicht zu sehen.

„Ich glaube, ich muss dir den Tee wegnehmen. Da scheint irgendwas drin zu sein, was dir nicht bekommt, dass du auf solche Gedanken kommst.“ Seto griff nach ihrem Teeglas und hielt es außerhalb ihrer Reichweite.

„Hei! Das ist meiner!“

„Nein, er bekommt dir nicht.“

Naomie streckte sich etwas über den Tisch, um an die Tasse heran zu kommen, doch Seto hatte viel zu lange Arme, als dass sie heran kommen würde.

„Ich brauch das!“

„Unsinn.“

„Doch, sonst hab ich gleich keine Stimme mehr!“

„Dann halt doch einfach die Klappe?“

„Geht schlecht, wenn du mich fragst, ob ich für dich arbeiten will.“

„Es gibt auch noch die Körpersprache.“

Nun war es an ihr eine Augenbraue hoch zu ziehen. Dennoch wich das Grinsen aus ihrem Gesicht nicht. „Und du fragst dich, wie ich auf nicht jugendfreie Gedanken komme?“

Seto grinste sie frech an. Er wusste genau, wie er sie ärgern konnte. Er stellte das Glas außerhalb ihrer Reichweite und griff in seine Manteltasche.

„Mach die Augen zu“, sagte er mit einem frechen und herausfordernden Blick.

„Wieso?“

„Vertrau mir einfach.“

Naomie seufzte und schloss die Augen. Sie wartete und hörte den Stoff rascheln. Etwas klapperte.

„Mach den Mund auf.“

„Was wird das denn für ein perverses Spielchen? Wir sind nicht bei Shit of Grey…“, murmelte sie und hörte wie Seto leise schnaubte.

„Es ist viel interessanter, dass du scheinbar den Inhalt dieses Schundromans kennst, als dass ich hier irgendwelche Spiele mit dir spiele. Jetzt Mund auf.“

Naomie tat wie geheißen und öffnete einen Spalt breit den Mund. Sie kam sich mehr als dämlich dabei vor. Ihr lag eine passende Erwiderung auf der Zunge, als sich etwas zwischen ihre Lippen schob und kurz spürte sie aus Setos Fingerspitzen auf ihren Lippen.

Kurz jagte ihr ein Schauer über den Rücken.

Das Etwas in ihrem Mund war hart, süß und schmeckte nach Kräutern.

Überrascht blinzelte sie Seto an und schob das Bonbon in eine Ecke ihres Mundes.

„Ich dachte mir fast, dass du heiser wirst, deshalb hab ich dir die besorgt“, erklärte er auf ihren verlegenen und verblüfften Blick hin. Die kleine runde Dose lag vor ihr auf dem Tisch.

Verlegen ließ sie sich auf ihren Sitz sinken und schob mit der Zunge das Halsbonbon in ihrem Mund hin und her. Die Hitze stieg ihr ins Gesicht und sie brachte nur mit Mühe ein „Danke“ raus.

Ihre Teetasse kam auch wieder zu ihr und in Setos Gesicht spiegelte sich Zufriedenheit. Wusste der Kerl eigentlich, was für einen halben Herzinfarkt sie grade mit der Nummer bekam? Ihr armes Herz!

Doch scheinbar hatte er noch nicht genug, denn er winkte sie zu sich und beugte sich über den Tisch.

Seto näherte sich ihrem Ohr. Sein warmer Atem kitzelte sie ein wenig und fast spürte sie die Bewegung seiner Lippen.

„Schau jetzt bloß nicht zur Tür“, flüsterte er leise, „Dort kommt nämlich grade dein Ex rein. Er lief auch eben auf der anderen Straßenseite lang. Lass dir also nichts anmerken und bleib ruhig. Wenn etwas passiert, bin ich da.“

Wieder raste ihr Herz und sie konnte nicht verhindern dass die Hitze weiter in ihr Gesicht stieg. Kurz erhaschte sie einen Blick auf Ryouichi, sah aber auf die Tischdeko und nickte leicht.

Hatte Kaiba das grade nur getan, um den Schein zu wahren oder war ihm ihr Ex egal dabei gewesen und er hatte es aus der Situation heraus getan?

Naomie konnte Kaiba in dieser Hinsicht nicht einschätzen.

„Versprich mir aber etwas“, flüsterte er weiter in Ohr.

„Was denn?“

„Überleg es dir mit der Anstellung. Das Angebot steht für dich. Es wäre eine Chane weiter zu kommen.“ Seine Stimme war sachlich und dennoch fehlte die Kälte darin. Es schien ihm fast wichtig zu sein, dass sie blieb.

„Ich…ich überleg es mir“, antwortete sie leise und hörte ihr Blut in den Ohren rauschen, während sein Atem noch immer über ihr Ohr streifte.

„Und noch etwas…“ Seine Stimme senkte sich noch etwas mehr. Der Geruch seines Parfüms drang zu ihr herüber. „Deinen Wink habe ich in meinem Büro durchaus verstanden.“

Naomie hatte das Gefühl, dass die Zeit für einen Moment stehen blieb. Das Rauschen verstärkte sich und am Nebentisch hörte sie eine Frau etwas über die Wintersonnenwende reden, die heute Nacht sei.

Türchen 22 - Mistelzweig

Dichter Schnee fiel am Abend des Balles im Kaiba Land.

Die Fahrgeschäfte waren hell beleuchtet und das kleine Schloss auf dem Freizeitparkgelände war weihnachtlich dekoriert. Musik und Stimmen drangen aus den warmen Räumlichkeiten und vor der Tür hatte sich die Presse versammelt, um alles mit Rang und Namen zu fotografieren und um am nächsten Tag in der Klatschpresse über die Abendgarderobe zu diskutieren.

Die Kinder des Waisenhauses bereiteten sich in einer der oberen Etagen auf ihre Auftritte vor und zogen sich die ihre Roben an, während im Hauptsaal alles fertig war.

Ein kleines Orchester sorgte für stimmungsvolle Musik und der Cateringservice lief zwischen den Gästen herum, um Drinks und kleine Snacks zu servieren, neben dem großen Buffet.

Der Raum füllte sich langsam und die ersten Schecks wurden bereits ausgestellt und in einen abgeschlossenen Spendenbehälter geworfen. Erst am Ende des Abends wurden die Beträge zusammen gerechnet.

Roland lief geschäftig umher und kontrollierte die Presseausweise, während Mokuba erneut seinen Hals reckte.

„Was meinst du, Seto, wo bleibt sie?“

„Wo bleibt wer, Mokuba?“, fragte Seto mit kühler Stimme und begrüßte eine junge Frau mit dunklen Locken und langem Cocktailkleid. Die Blitze der Kameras blendeten ihn kurz, als die Presse weitere Fotos von ihm schoss.

„Na du weißt schon!“

Fragend hob er eine Augenbraue.

„Stell dich nicht dümmer, als du bist, mein Freund“, mahnte seine Fistelstimme, „Deine Herzdame natürlich!“

„Naomie, wer sonst!“, antwortete Mokuba und zupfte an seinem Hemdkragen herum.

„Ich hoffe für sie, dass sie ihren Hintern rechtzeitig hierher gekriegt hat. Immerhin wird ihre Arbeit hier präsentiert“, sagte er so sachlich es ging und warf einen Blick nach draußen. Von seinem Assistenten hatte er gehört, dass sie schon am frühen Morgen aufgebrochen war von der Messe. Jedoch war es nicht gewiss, ob sie nicht doch im Stau den ganzen Tag stand.

Es war nun schon drei Tage her, dass er sie auf der Messe besucht hatte und seitdem hatte es kaum aufgehört zu schneien. Im Gegenteil. Es wurde sogar schlimmer und fast wäre er selbst nicht mal von dort weg gekommen, als er mit ihr zusammen Mittag gegessen hatte. Es würde ihn also nicht verwundern, wenn sie es gar nicht schaffte.

Leise seufzte Seto auf, als er an den Nachmittag dachte.

Sobald ihr Ex das Bistro betreten hatte, hatte sie nur noch wenig erzählt. Sie hatte sich versteift und die Röte war kaum noch aus ihrem Gesicht gewichen, was wohl auch daran gelegen hatte, dass er ihr deutlich gesagt, hatte, dass er wusste, was sie empfand.

„Ja, und du Esel hättest ruhig sagen, können, dass du sie magst! Das war der perfekte Augenblick!“, schimpfte die Gewissensstimme erneut. Seit dem Moment, wo er nichts weiter dazu gesagt hatte, machte sie ihm nun schon Vorhaltungen, wie dämlich er gewesen war.

Ja, vielleicht war es dämlich gewesen, aber er konnte doch nichts mit jemanden anfangen, der möglicherweise für ihn arbeiten würde!

„Doch und wie du das kannst! Du hättest sie küssen sollen, du Esel! Küssen! Weißt du überhaupt was das ist?“, schimpfte die Stimme wieder herum, „Achja ich vergaß, das hast du ja schon, aber das wäre perfekt geworden!“

Natürlich wäre es das und eine super Idee mit ihr rum zu machen, während man in der Nähe von tausenden Fotografen ist!

Die Zeitungen würden sich um die Bildrechte prügeln und tausende zahlen für so ein Bild, wenn er sie küssen würde! Seine Presseabteilung würde dann bestimmt vom Dach der KC springen oder einen Herzinfarkt erleiden.

„Aber Händchen halten!“, knurrte das Gewissen.

Seto brummte innerlich. Selbst da hatte er innerlich Sorge gehabt, dass es jemand sehen und fotografieren könnte.

„Aber du hast es getan!“

Himmel! Führte er jetzt schon einen Beziehungsstreit mit seinem Gewissen?

„Wieso sagst du es ihr dann und lässt es dann unter den Tisch fallen, um sie verwirrt zurück zu lassen, du Esel?“

Die Frage wusste Seto selbst nicht einmal richtig zu beantworten. Es war ihm einfach in den Sinn gekommen ihr das zu sagen. Natürlich hätte er dort sagen können, was er von ihr wollte, aber er hatte auch spüren können, wie nervös sie geworden war und um sie nicht weiter zu bedrängen, war er zurück zu dem Jobangebot gekommen.

„Du bist ein Idiot! Ich kann es nur wiederholen!“, sagte sein Gewissen brummend.

Es war ja nicht so, dass sie keine Chance gehabt hatte, das Thema aufzugreifen und ihn danach zu fragen, wie er die Sache sah oder etwas anderes zu tun in diese Richtung. Wenn sie diese Chance nicht ergriff, dann war es doch ihr Problem.

„Ja, aber auch deines, weil ihr dann nie vorankommt!“

Sollte das jetzt heißen, dass es nur an ihm scheiterte? Wo war die Emanzipation in solchen Augenblicken. Selbstbestimmung der Frau ja, aber bei der Beziehung soll der Mann den ersten Schritt machen? Wie widersprüchlich war das denn bitte?

„Das habe ich nicht gesagt“, verbesserte ihn sein Gewissen mit einer besserwisserischen Stimme, „Ich sage nur, dass es von euch beiden ausgehen sollte und du hältst dich schon viel zu sehr zurück. Also sei offener!“

Kaiba verdrehte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Er nahm sich ein Glas mit Wein von dem Tablett eines Kellners und trank einen kleinen Schluck.

War es wirklich schon so weit gekommen, dass sein Gewissen ihn verbesserte? Er musste wirklich am Rande des Wahnsinns stehen, wenn das nun schon passierte.

Mit ruhigen Augen beobachtete Seto, wie Mokuba Wheeler und Muto begrüßte. Von Naomie noch keine Spur. Aber vielleicht war es auch gut so, wenn sie nicht kam. Dann würde sie nicht mit Siegfried hingehen und die rosa Pest würde ohne Date dastehen.

„Du stehst auch ohne Date da.“

Aber gewollt.

„Ja, ja, ja….muss ich erst wieder Ausführungen machen, wieso du etwas tust?“, fragte sein Gewissen genervt und Seto seufzte.

Er konnte sich auch so schon gut vorstellen, worauf das wieder hinaus lief. Nämlich darauf, dass er ohne Date war, wegen Naomie.

„GENAU!“, rief die Stimme ironisch, „Aber statt sie zu fragen, schweigst du lieber und nun geht sie vermutlich mit Schröder, wie er angedeutet hatte.“

Seto schnaubte abfällig.

Er hatte absolut keine Lust mit seinem Gewissen weiter darüber zu diskutieren und zog stattdessen sein Handy aus der Tasche. Mit flinken Fingern öffnete er das Chatfenster und schrieb Naomie an.

Das hatten sie die Messetage über auch getan.

Morgens schickte er ihr eine SMS, das sie aufstehen sollte. Reagierte sie nicht, rief er sie an, damit sie ihren Hintern aus den Federn kriegte. In ihren Pausen schrieb sie ihm, wie der Tag bisher verlief und er erinnerte sie daran, dass sie genug Essen und Trinken sollte. Erst recht, wenn sie ein paar Workshops gab.

Sie schrieben auch über belangloses, wie der Tag des anderen war, ob auch in der Stadt Schnee war, wie seine Termine waren und sie hatte ihm von einem Fotoshooting im Schnee erzählt, was sie selbst gemacht hatte und bei dem sie auch Model gewesen war.

Er sah noch einmal kurz das Foto von ihr in dem blauen Kleid und dem Make up mit den kleinen Kunstschneeflocken an, die an ihrer Haut klebten als Dekoration.

Das Foto wirkte weich und kalt, obwohl es gleichzeitig eine wunderbare Wärme ausstrahlte.

Es war einfach ein schönes Bild von ihr mit dem zaghaften Lachen und den leicht geöffneten Lippen.

„Fang jetzt nur nicht an zu seufzen und das Bild anzuschmachten“, fuhr sein Gewissen dazwischen und holte ihn aus der Erinnerung.

Als ob er das vorgehabt hätte.

Ihre letzte Nachricht war am Morgen gewesen und das sie auf dem Weg zurück in die Stadt sei. Seit dem hatte sie nichts mehr von sich hören lassen.

„Wo steckst du?“, schrieb er mit schnellen Fingern.

Er sah, dass sie die Nachricht gelesen hatte und schrieb schon zurück.

„Ich bin auf dem Weg.“

„Mokuba fragt schon, wo du bist.“

„Nur Mokuba?“ Dazu ein zwinkernder Smiley.

„Es ist deine Arbeit, die hier präsentiert wird. Daher wäre es gut, wenn du auch da bist, um dich der Presse zu stellen.“

„Keine Sorge, ich bin auf dem Weg. Vielleicht eine halbe Stunde. Der Wagen muss langsam fahren wegen dem Wetter.“

„Gut, ich warte hier auf dich. Gleich singt der erste Kinderchor.“

„Ist schon viel los?“

„Es kommen noch immer Gäste an und die Presse schlägt sich um die besten Positionen für Fotos. Es wurden auch schon erste Spendenschecks ausgestellt.“

„Dann bin ich ja noch gut in der Zeit.“

„Ja, aber dennoch zu spät.“

„Wegen Wetter!“

„Gib zu, deine Frisur wollte nicht sitzen oder du hast deine Ohrringe nicht gefunden oder dein Make up war an einer Stelle verschmiert.“

„Gar nicht wahr! Ich hab extra meine Haare und Make up von einer Visagistin machen lassen!“

Seto musste schmunzeln. Jedoch nur kurz, damit es niemand sah.

„Dann hoffe ich, dass sich die Warterei lohnt“, schrieb er noch zurück, „Beeil dich einfach.“

Damit schob er sein Handy zurück in die Tasche.

In seinem Kopf fragte er sich, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie sich extra helfen ließ.

„Bestimmt umwerfend!“, sagte sein Gewissen seufzend und nun war es an diesem zu seufzen und zu schmachten.

Aber Seto musste zugeben, dass er schon ein wenig neugierig war. Immerhin hatte sie ihm auf die Frage per Mail nur geschrieben, dass sie es noch nicht wissen würde, was sie anziehen sollte. Aber danach gefragt, was er ihr raten würde, hatte sie ebenso wenig. Also war es auch für ihn ein Rätsel.

Seto beobachtete, wie Roland umher lief und das Sicherheitspersonal in die richtigen Ecken dirigierte.

Der Straßenköter machte sich schon über das Buffet her und der erste Kinderchor trat auf die Bühne. Danach würde er die Rede halten müssen, um alle zu begrüßen und das Fest offiziell zu eröffnen.

Wie er es hasste vor der Presse reden zu müssen!

Das war alles andere als angenehm und kurz sah er nach draußen, wie weiter Schnee fiel und er wollte sich am liebsten zum Eingang gesellen und warten bis sie da wäre.

Leise seufzte er und verzog sich in eine ruhige Ecke des Raumes, um sich von dem halb schief singenden Chor beschallen zu lassen.

Seto schloss die Augen und merkte den Wein in seinem Blutkreislauf zirkulieren. Der Alkohol erwärmte ihn von innen.

Tief atmete er die Luft ein, die erfüllt war von Aftershaves und Parfüms.

Er öffnete wieder die Augen und sah zur Tür.

Eine Bewegung und ein paar Presseleute drehten sich um, um Bilder von den Neuankömmlingen zu machen.

Seto streckte automatisch den Hals, als er etwas Blondes sah, doch ein grauhaariger Mann von der Presse schob sich in sein Blickfeld und verdeckte ihm die Sicht, während es nur so blitzte. Einmal vor der Bühne und dann am Eingang.

Sein Herz schlug vor Aufregung kräftiger. So schnell, dass er es selbst gar nicht für möglich gehalten hätte und es war das einzige verräterische Anzeichen, was sein Körper Preis gab. Der Rest blieb kalt und unergründlich.

Er sah etwas Rotes aufblitzen und dann schob sich endlich der Fotograf zur Seite.

Sein Blick fiel auf Naomie.

Sein Herz stockte für einen klitzekleinen Augenblick, ehe es schneller pumpte.

Er starrte sie einfach nur an und ihr Lächeln war einfach nur wie ein Magnet. Er konnte nur auf ihre vollen, roten Lippen starren, die zu einem Lächeln verzogen waren.

Mit der spitzenbehandschuhten Hand schob sie sich eine kleine lockere Haarsträhne zur Seite und prüfte ihre Haarnadeln, ob diese noch ihre hochgesteckten Haare hielten. Ihr Hals wirkte dadurch zierlicher und länger.

Ihre Schultern lagen frei und ihre Brüste kamen durch das schwarze Korsett mit den roten Blumenstickereien deutlich zur Geltung, ehe es in einen langen seidigen Stoff überging und durch rot bestickte Spitze betont wurde.

Das ganze schrie nur danach, dass man sie ansah und sie sah wundervoll aus.

Heiß, begehrenswert, süß und viele andere Dinge, die er kaum in Worte fassen konnte.

Sie hob den Stoff des eng anliegenden Kleides an, um nicht über den Saum zu stolpern.

So elegant und verführerisch kannte er sie nur von den Fotos, die er von ihr gesehen hatte.

Real war es eine ganz andere Nummer und traf ihn viel zu unvorbereitet. Er hatte mit vielem Gerechnet, aber nicht damit!

Wäre er sich nicht schon sicher, sie zu lieben und haben zu wollen, wäre er es jetzt mit Sicherheit.

Noch nie war das Gefühl so stark gewesen sie einfach nur zu packen und zu küssen. Er wollte sie an sich pressen, seine Zunge in ihren Mund stoßen und besitzen.

Er wollte sie haben.

Er wollte ihr die Nadeln aus den Haaren nehmen und seine Finger in ihre blonden Strähnen vergraben, sie nicht mehr los lassen und sie Schnürung des Korsetts lösen.

Verdammt! Er musste aufhören in die Richtung zu denken, doch er konnte den Blick nicht von ihr nehmen und sein Herz klopfte auch viel zu stark. Sein Kopf ging einen ganz eigenen Weg.

Er wollte sie nackt in seinem Bett, ihren Kopf in seinem Kissen unter sich, ihren Körper in den Satinlaken haben. Er wollte sie in seinem Schlafzimmer haben, wo es nur sie beide gab und sie alleine wären und er wollte ihre Hüfte an seinem Körper spüren, während seine Zunge in ihrem Mund war, ihren Geschmack auskostete und ihre Nägel sich in seinen Rücken gruben bis sie beide so heftig kamen, um schwarze Punkte vor dem inneren Auge sehen zu können.

Er wollte ihr beim Einschlafen zusehen und wie sie am Morgen aufwachte. Ihren Körper streicheln und sie einfach nur an sich drücken. Die Zeit mit ihr teilen, die er hatte.

All das schoss ihm durch den Kopf, während sie in die Kamera lächelte und sich durch den Raum bewegte und ihn noch nicht entdeckt hatte.

Seto fluchte innerlich über sich selbst.

So etwas sollte er nicht denken. Nicht hier und nicht jetzt!

Wenn sie auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, was grade in seinem Kopf vorging, was er am liebsten mit ihrem Körper anstellen wollte, würde sie ihm eine knallen und sich in den Toiletten einschließen und nie wieder heraus kommen.

Sie würde vermutlich verschwinden und sich auch nie wieder blicken lassen.

„Oder aber sie reißt dir die Kleider mit vom Leib und lässt sich auf harten Sex in deinem Büro hier mit dir ein und dann treibt ihr es wild auf dem Schreibtisch und dem Teppich“, wisperte sein kleines Stimmchen gehässig ins Ohr.

Seto zog bei diesen Worten scharf die Luft ein und wandte den Blick auf den Boden. Unruhig fuhr er sich durch die Haare und atmete mehrfach tief ein und aus, um ruhig zu bleiben.

Er zwang sich, sich umzudrehen und den Blick von ihr abzuwenden. Seine Augen huschten durch den Raum, fixierten die kitschige Weihnachtsbaumdekoration und die Spiegelungen darin. Seto griff nach einem Sektglas von einem der Tabletts, die die Kellner unter die Gäste verteilten.

Schnell stürzte er das Glas hinunter und merkte das Prickeln der Kohlensäure im Magen. Sofort wärmte es sein Blut und er musste kurz die Augen schließen, um die Gedanken und Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben.

Das Bild von ihr, wie sie den Kopf in den Satinlaken gebettet unter ihm lag, ging ihm nicht aus dem Kopf. Unweigerlich musste er auch an das Foto im Schnee denken, was sie ihm geschickt hatte.

Nur langsam wagte er einen Blick über die Schulter und die Fotografen lichteten sich. Alle wandten sich wieder der Bühne zu.

Der Kinderchor war fertig und Roland hatte die Führung wieder übernommen. Ein Beamer projizierte auf einer großen Leinwand Bilder von dem abgebrannten Haus und er berichtete über das Alter des Hauses, seine Funktion, die Anzahl der Kinder, wie viel der Staat dafür monatlich ausgab und seit wann die KC sich für solche Projekte einsetzte und wie viel über die Jahre gespendet wurde.

Zahlen, Daten, Fakten…alles Dinge, um den Leuten die Sache noch näher zu bringen, das Herz zu erweichen für die armen Kinder und weiter das Sparkonto zu plündern. Ein Blick auf den Spendenkorb verriet ihm, dass selbst sein kleiner Bruder grade einen Scheck hineinwarf. Leider konnte er nicht erkennen, welche Summe darauf eingetragen war. Aber ein schwaches Schmunzeln huschte über seine Lippen.

Ronald wechselte grade das Bild zeigte grade Bilder von spielenden Kindern und den Anschaffungen von den letzten Jahren, die mit Hilfe der KC gekauft worden waren. Dann startete er einen kurzen Film mit einem Interview und einer Minireportage über ein Waisenhaus und wie die Zustände dort waren.

Das verschaffte ihm noch genug Zeit, um seine Gedanken zu ordnen und wieder sachliche Bahnen einzuschlagen, anstatt, dass er nur an sie dachte.

Sein Blick ging unweigerlich wieder zu ihr und sie entdeckte Siegfried an ihrer Seite. Die rosa Pest!

Schwer schluckte er und jegliches Gefühl verschwand mit einem Schlag, als hätte man ihm eiskaltes Wasser übergekippt. Seine Hand ballte sich zur Faust und er unterdrückte einen Fluch.

Also hatte die rosa Pest sie wirklich eingeladen ihn zu begleiten und das Kleid gekauft. Seto schnaufte bei dem Gedanken wie ein Stier und der Blick war eisig, den er Siegfried zuwarf. Dann sah er wieder zu Naomie, die grade den Köter zur Begrüßung umarmte und seinen kleinen Bruder.

Hatte sie diese Geste von Siegfried so einfach hingenommen?

Das war irgendwie der erschreckendste Gedanke.

Bisher hatte er sie für jemanden gehalten, der solche Dinge nicht so leicht annahm und keine Hilfe wollte. Daher fiel es ihm schwer den Gedanken, dass er ihr das geschenkt hatte mit ihr unter einem Hut zu bringen.

Oder Siegfried hatte es ihr aufgedrängt und keine Wahl gelassen?

Am liebsten würde er zu den beiden rüber stapfen und Siegfried einen Kinnhaken verpassen, ihn anschreien und Naomie in seine Arme ziehen, sie für sich zu beanspruchen und klar zu machen, zu wem sie gehörte.

Gott, er führte sich schon auf wie ein Hund, der sein Revier verteidigen wollte.

Wieder musste Seto tief durchatmen und schielte zu ihnen herüber. Siegfried begrüßte grade einen anderen Geschäftsmann, während Naomie sich mit Joey und seinem Bruder unterhielt.

Sie nickte grade und Blicke auf.

Mokuba deutete direkt auf ihn und ihre Blicke kreuzten sich.

Zuerst war ihr Blick fragend und als sie ihn entdeckte, strahlte sie über das ganze Gesicht und sie winkte ihm zu.

Kurz war Seto überlegt ebenfalls zu winken, aber das wäre absolut untypisch für ihn, so beschränkte er sich auf das Nicken und ansehen. Naomie wandte sich von ihm ab und wieder Siegfried zu, was nur logisch war, wenn sie sein Date war. Ihre Hand in den schwarzen Handschuhen aus Satin berührten Siegfried an der Schulter, so dass er sich zu ihr wenden musste.

Leise sprach sie mit ihm und deutete auf ihn herüber.

Die Geste zwischen ihnen wirkte so vertraut, dass sich Seto am liebsten auf die Zunge gebissen hätte.

„Tja, du hättest sie eben fragen sollen. Ich will ja nicht sagen, ich hab es dir gesagt, aber….ich hab es dir gesagt“, sagte die Fistelstimme in seinem Kopf.

Leise murrte er und wandte sich von ihr ab, um Richtung Bühne zu gehen.

„Hei, läufst du vor mir weg oder was ist los?“, fragte ihre Stimme und hielt ihn damit auf seinen Weg zu gehen.

Seto wandte sich um und konnte sie nun ausgiebiger mustern.

Sie strahlte.

Nicht wie ein Engel. So etwas Kitschiges käme ihm nie in den Sinn.

Aber sie strahlte einfach vor Freude und ihr Grinsen war gar nicht mehr aus dem Gesicht zu kriegen, wie bei einem Honigkuchenpferd.

Ein zarter Duft von Rosemarin, Nelken, Zimt und Rosen drang in seine Nase und er wusste, dass es ihr Parfüm war, was er da riechen konnte.

Er atmete ihn tief ein und musterte sie ausgiebig. Von nahem sah das Kleid an ihr noch besser aus. Das Warten hatte sich wirklich gelohnt. Sie sah hinreißend aus. Perfekt gestylt für diesen Abend!

„Da drüben ist ein Mistelzweig! Wenn du willst, kannst du sie ja da küssen!“, schlug sein Gewissen gehässig vor und er konnte das Bild in seinem Kopf, wie er seine Hände in ihren freien Nacken legte und ihr durch die Haare fuhr, die Spangen löste und sie an sich zog nicht verhindern.

Aber statt sich von dieser Stimme ablenken zu lassen, verzog er keine Miene.

„Du siehst gut aus“, sagte er anerkennend.

„Danke. Du aber auch. Tut mir leid, wenn es länger gedauert hat, aber durch den Schnee sind wir nur langsam voran gekommen.“ Sie strich sich eine kleine Strähne hinters Ohr.

„Bist du mit Siegfried zusammen gekommen?“, fragte er und merkte erst, als er es ausgesprochen hat, wie zweideutig die Frage doch geklungen hatte.

„Was? Nein…also doch ja…“, murmelte sie vor sich hin, „Also wir sind kein Paar, wenn du das wissen willst und ja, er ist mit mir zusammen hierher gekommen. Er hat mich um ein Date gebeten und mir gestern das Kleid ins Hotel schicken lassen, als ich auf der Messe war. Ich hatte also kaum eine Chance, um abzulehnen.“

„Verstehe“, sagte er ausweichend und etwas kühler als beabsichtigt.

„Das Warten hat sich doch gelohnt, oder?“, fragte sie grinsend und fuhr mit den Fingern immer wieder durch die Falten des Kleides.

Seto gab ein brummen von sich. „Wenn du das sagst.“

„Ach komm. Jetzt sei mal ehrlich! Du bist ganz rot, also muss es gut aussehen!“, sagte sie triumphierend und grinste. Naomie trat etwas auf ihn zu und er konnte nun den feinen Hauch Rouge erkennen, der ihre Wangen zierte.

„Denk, was du willst“, murmelte er und wandte den Blick ab.

„Das tu ich sowieso!“

„Freust du dich schon auf die Reise? Wo fliegst du hin? Mokuba hatte gemeint, dass wir ja auch zu dritt verreisen könnten. Wir haben ein Ferienhaus in den Bergen und verschiedene Häuser im Ausland…“ Seto räusperte sich und sah zur Bühne.

„Ich fliege nach England“, antwortete sie und blickte ihn direkt an. In ihrem Blick lag etwas Trauriges. „Ich glaube kaum, dass…nun ja, es gut wäre, wenn du und Siegfried unter einem Dach wärt.“

„Wie bitte?“

„Siegfried“, wiederholte sie, „Er hat mich zu sich nach England in sein Anwesen eingeladen und ich werde nach Mokubas Aufführung abreisen und erst im neuen Jahr wieder kommen.“

Es war ein Schlag in die Magengrube!

Nicht die Tatsache, dass sie verreiste, das hatte sie ihm beim Mittagessen ja offenbart, aber die Tatsache mit WEM sie verreiste, war ein Schlag ins Gesicht.

Seto konnte fühlen, wie seine Eigenweide sich zusammen zogen und auch seine Fistelstimme im Kopf blieb stumm wegen dieser Offenbarung.

Es fühlte sich an wie ein schwarzes Loch, was sich unter ihm auftat.

„Wieso…?“, presste er zwischen den Zähnen raus.

„Das hab ich dir doch gesagt! Ich halte das nicht mehr aus!“

„Aber…“

„Nichts aber! Ich kann das Spiel nicht länger so weiter spielen!“, sagte sie und der freudestrahlende Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand. Stattdessen wirkte sie verzweifelt.

„Welches Spiel?“ Wovon zum Teufel sprach sie?

„Das weißt du genau!“, fuhr sie ihn an und Seto musste kurz zu den Gästen schauen, ob einer von ihnen die Unterhaltung mitbekam.

Roland stand kurz vor dem Ende seiner Präsentation und kurzer Hand fasste Seto einen Beschluss.

„Komm mit!“, sagte er und griff nach ihrer Hand. Sanft zog er an ihr und führte sie mit schnellen Schritten aus dem Saal. Im Hintergrund hörte er den Beifall und wie sein Name durch die Lautsprecher wieder gegeben wurde.

„Wo willst du hin? Du musst auf die Bühne!“, protestierte sie.

„Das ist jetzt nicht wichtig!“

„Wow…solche Worte aus deinem Mund?“, fragte die Stimme mit ironischem Unterton. Ja, diese Worte waren wirklich aus seinem Mund gekommen und er meinte es auch so. Es war wirklich nicht wichtig, dass er jetzt den Platz auf der Bühne einnehmen sollte. Er wollte die Sache klären. Jetzt und sofort!

Er öffnete eine Tür und zog sie mit hinein, schloss sie hinter ihr und drückte sie gegen die Wand.

„Das tat weh!“, nuschelte sie und sah ihn finster an.

„Von welchem Spiel redest du und wieso willst du mit Siegfried verreisen?“, fragte er wütend und konnte seine Eifersucht kaum verbergen.

„Dieses hin und her von dir!“, antwortete sie und sah ihm fest in die Augen, „Zuerst küsst du mich, dann bist du wieder eiskalt, dann näherst du dich wieder und dann stößt du mich von dir und willst, dass wir uns Siezen und ein Arbeitsverhältnis haben! Das ergibt keinen Sinn! Dann besuchst du mich auf der Messe und hältst mit mir Händchen und schreibst mit mir, als gäbe es mehr und sagst mir auch noch, dass du…dass du es weißt, aber mehr kommt nicht! Ich kann das nicht mehr! Entweder oder, Seto, aber das raubt mir alle Nerven und deswegen flieg ich weg. Deswegen reise ich mit Siegfried nach England, weil er kapiert, wie Scheiße es mir damit geht, was du hier abziehst!“

In ihren Augen konnte er Tränen sehen und er wusste, er hatte sich nicht grade fair ihr gegenüber verhalten. Er hatte nicht geahnt, wie sehr sie unter seinem inneren Kampf gegen die Gefühlte litt und hatte sich darüber auch keinen Kopf gemacht, wie es wohl für sie aussah.

Er wollte nur sie haben, seinen Ruf unbeschadet lassen, sie aus der Öffentlichkeit raus halten und vor Pegasus und Siegfried schützen.

„Du solltest dich nicht mit ihm einlassen. Er ist nicht gut für dich…“, sagte er langsam.

„Aber du für mich?“, fauchte sie wütend.

Seto schüttelte den Kopf.

„Nein, so wie es scheint, bin auch ich nicht gut für dich“, gestand er langsam und seine Wut über die Situation flaute mit einem Schlag ab. Er hatte ihr nicht weh tun wollen.

„Eine gute Erkenntnis“, sagte sie trocken.

„Aber ich will nicht, dass du mit ihm verreist.“

„Dafür ist es zu spät. Es ist alles vorbereitet und meine Taschen sind gepackt.“

„Du solltest auch nicht mit ihm hier sein“, sagte er weiter und überging ihren Kommentar. Seto hob die Hand und fuhr mit den Fingern durch ihre Haarsträhnen, die aus der Frisur herunter fielen. Er wickelte eine Strähne um seine Finger.

„Du hättest mich eben eher Fragen sollen, ob ich mit dir hierher komme oder mit euch feiern will. Ich hätte nicht nein gesagt.“

„Vermutlich hast du Recht.“ Das Eingeständnis fiel ihm nicht leicht. ER war es nicht gewohnt so offen zu sein und seine Gefühle zu offenbaren, aber wenn er sie nicht verlieren wollte, musste er es tun. Entweder das oder Siegfried würde sie in der Zeit rumkriegen und ihre Schwäche für sich ausnutzen.

Ändern, dass sie mit ihm flog, konnte er es nicht, aber vielleicht konnte er noch etwas retten. Wenn es denn noch etwas zu retten gab...

Oder hatte er es nun endgültig vergeigt und sie warf das Handtuch?

Was sollte er jetzt machen?

„Wir sollten zurück in den Saal. Du wirst bestimmt schon vermisst“, sagte sie ruhiger und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie weiterhin fest und schüttelte nur stumm den Kopf.

Eine Entschuldigung kam ihm nicht über die Lippen.

„Ich würde gern zurück gehen. Siegfried wartet auf mich. Immerhin bin mit ihm hier.“

Autsch…das war eindeutig.

„Ich kann dich nicht gehen lassen“, murmelte er, wobei Seto nicht wusste, ob zu sich selbst oder zu ihr.

„Dann tu etwas, damit ich nicht gehe“, gab sie als Antwort zurück, „Aber von mir ist alles gesagt worden. Ich fliege bis zum neuen Jahr nach England und danach arbeite ich wieder im Studio.“

Auch das war eine klare Ansage.

Sie entglitt ihm immer weiter.

„Bereust du es, dass du hier gearbeitet hast und die Zeit…?“ …mit mir? Er konnte es nicht zu Ende sprechen.

Sie schüttelte den Kopf und die kleinen Haarsträhnen flogen wild hin und her.

„Nein, ich bereue es nicht. Es hat mir Spaß gemacht, auch wenn manche Dinge nicht geplant waren.“

„Ja, es war nicht geplant, dass…“

„Dass ich Gefühle für dich entwickel. Sprich es ruhig aus. Ich weiß, dass du nicht so fühlst und das für dich vielleicht nur Spaß war. Mach dir also keinen Kopf. Ich komme klar.“

„Nein, du verstehst es falsch…“ Himmel, wie sollte er ihr das erklären?

„Ich liebe dich, wäre die einfachste Lösung“, mischte sich die Stimme wieder ein. Doch er konnte es nicht aussprechen.

„Was versteh ich falsch? Du benimmst dich, als wäre ich dein Eigentum und du könntest mit mir tun, was du willst. Dieses hin und her kann ich nicht mehr mitmachen! Ich muss mein Leben leben! Mein Ex hat mich betrogen und noch mal lass ich nicht zu, dass mir das passiert und mich jemand hintergeht und mit mir spielt.“

„Naomie….“

Sie wandte ein Stück den Kopf und er konnte die Tränen in ihren Augen sehen. Sie sollte nicht weinen. Es wäre zu schade um ihr hübsches Aussehen gewesen. Aber am wenigsten wollte er, dass sie seinetwegen weinte.

Mit den Fingern griff er zu ihrem Kinn, streichelte über ihre Wange und schob die Hände in ihren Nacken.

„Wein nicht, bitte“, flüsterte er und beugte sich etwas zu ihr, um sie zu küssen.

Grade als seine Lippen sie berühren wollten, wandte sie den Kopf zur Seite und blickte starr zu Boden. Doch er zog sie zu sich, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Beschützend und liebevoll hielt er sie im Arm, wie er es sonst nur bei Mokuba tat.

Stille.

Es war so angenehm und er konnte spüren, wie entspannt sie war. Sie atmete ruhig und er hörte, wie sie aufseufzte. Es tat so gut, sie so nah bei sich zu spüren und er hatte das Gefühl sie kam zurück.

Wieder hauchte er ihr einen Kuss auf den Kopf und strich über ihren freien Rücken. Stillschweigend und einfach nur eng aneinander geschmiegt standen sie in dem kleinen Büro.

„Es ist okay für mich. Ich weiß, was du fühlst und du kannst es nicht leugnen. Du kannst nicht so tun, als würdest du nichts fühlen. Es würde dich kaputt machen.“

„Aber du kannst es, ja?“, fragte sie forsch und sah ihn wieder wütend an. Sofort löste sie sich aus seinen Armen und trat zurück.

Verdammter Mist! Die absolut falsche Wortwahl!

Scheiße!

„Du kannst deine Gefühle an und ausschalten? Aber ich darf es nicht? Ich bin nicht dein Eigentum, Seto Kaiba, was du herum kommandieren kannst!“

„Naomie, warte!“

Ihre Hand lag auf dem Türgriff. Er wollte nicht, dass sie ging.

„Nein! Denn weißt du, du magst recht damit haben, dass es mich kaputt macht nichts für dich zu empfinden, aber es macht mich noch viel mehr fertig, wenn ich mich weiter auf dieses Spiel einlasse.“

Sie sah ihn kühl an und er wusste, dass sie mit Siegfried gesprochen haben musst und dass er ihr geraten hatte, dass sie das Handtuch warf.

Wut kochte in ihm hoch und am liebsten würde er die rosa Pest eigenhändig erwürgen!

„Ich liebe dich, aber ich weiß auch, wann es keinen Zweck mehr hat zu kämpfen. Außerdem bin ich kein Masochist und lasse mir gern weh tun.“ Traurig sah sie ihn an und er konnte in ihrem Blick sehen, wie weh es ihr tat die Worte auszusprechen, ihn aufzugeben damit.

Sie wandte sich ab und ging hinaus auf den Flur.

„Warte doch!“, rief er ihr nach, doch er hörte, wie ihre Absätze auf dem Flur schnell klackerten und leiser wurden, als sie verschwand.

Ein Murren, gepaart mit einem Seufzen entfuhr ihm.

„Ich liebe dich doch auch“, murmelte er in den leisen Raum hinein.

Wunderbar! Mit seinem Verhalten hatte er alles kaputt gemacht und sie würde sich jetzt Siegfried in die Arme werfen, dort Trost finden und er würde sie bereitwillig akzeptieren.

„Ich liebe dich doch auch“, flüsterte er zum wiederholten Mal, als könnte sie ihn noch hören und die Worte erreichen.

„Verdammte Scheiße….aber ich hab dir gesagt, du stehst auf sie! Ich hab es dir gesagt! Ich hab dir auch gesagt, was du tun sollst! Du hast nicht auf mich gehört! Jetzt ist es zu spät!“, wehrte sein Gewissen lautstark ab und gleichzeitig voller Vorwurf.

Er brauchte nicht mal ein Gewissen oder eine bizarre Stimme in seinem Kopf, um zu wissen, dass er die Nummer mit ihr total vergeigt hatte. So fühlte sich als ein gebrochenes Herz an.

Wunderbar.

Auf die Erfahrung hätte er auch gut verzichten können.

Weihnachten machte einen doch sentimentaler und gefühlsduseliger als man glaubte und scheinbar blieb nicht mal er, Seto Kaiba, davon verschont.

Seine blauen Augen öffneten sich und seine Lider fühlten schwer an. Unter den Wimpern blinzelte er hervor und starrte auf den Mistelzweig über der Tür.

Er hätte sie küssen sollen. Er hätte es ihr sagen sollten. Das wäre das richtige gewesen.

Aber was brachte nun noch ein hätte, wäre, könnte? Nichts.

„Es ist zu spät…“, antwortete er zu sich selbst.

Türchen 23 – Der Nussknacker Teil 1

Die Schläge hallten laut in der Trainingshalle des Hauses wieder, als er immer wieder und wieder darauf einschlug, als würde es um sein Leben gehen.

Wieder holte er mit der Faust aus und schlug dem Sandsack mit aller Kraft genau dahin, wo bei einem Menschen – in dem Fall in seiner Vorstellungskraft Siegfried – die Nase wäre. Seine Muskeln im Arm spannten sich an und die Vene an seinem Hals trat vor Anstrengung hervor, als er erneut ausholte und mit der Linken zuschlug.

Der schwere Sack schlug nach hinten und taumelte zurück, ehe ihm sofort ein neuer Schlag versetzt wurde, der ihn zum Pendeln brachte.

Er hatte es sowas von vergeigt und vermasselt bei ihr!

Dass hatte sie ihm gestern Abend deutlich zu verstehen gegeben und auch nach ihrer kleinen Konfrontation, war es nicht besser geworden. Die Presse belagerte ihn, Siegfried Naomie und sie ignorierte ihn, schaute nur ab und zu ihm, sprach aber kein Wort mehr mit ihm. Nur das Nötigste, wenn sie zusammen etwas der Presse sagen mussten, aber ansonsten gingen sie sich aus dem Weg.

Es war die pure Hölle und es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Schlachtmesser immer wieder in eine offene Wunde herum stochern. Es tat einfach nur weh und die Vorstellung sie heute Abend bei Mokubas Aufführung wieder zu sehen, versetzte ihm einen weiteren Stich.

Wieder ein Faustschlag und die Sehnen und Muskeln seines Rückens spannten sich an, als er wieder ausholte. Die Muskeln im Arm und seine Fingerknöchel schmerzten bereits, aber all das, war nichts im Vergleich zu den seelischen Schmerzen. Sie würde gehen und ihn nie wieder sehen.

Seine Faust traf den Sack und seine Fingerknöchel brüllten vor Schmerz, während dicke Schweißperlen über seine angespannten Rückenmuskeln liefen. Sein Haar klebte vor Feuchtigkeit und sein Shirt hatte er schon längt auf den Boden geworfen, weil es nur noch unangenehm auf der Haut klebte.

Wie lange schlug er schon auf den Sack ein? Eine Stunde? Zwei?

Seto hatte die Uhrzeit komplett aus den Augen vergessen. Direkt nach dem Aufstehen, war er ins Bad gegangen und hatte sich eine Kopfschmerztablette einverleibt. Er hatte gestern Abend eindeutig zu viel getrunken gehabt.

Frust, Schmerz und Verzweiflung.

Dabei war er nie der große Trinker und hatte bestimmt nicht vor damit anzufangen, aber gestern war er dann doch übermütig geworden, weshalb ein leichter Kater nach seinem Aufwachen auf ihn gewartet hatte.

Inzwischen ging es ihm besser, aber sein Magen verlangte nach Nahrung. Das Frühstück hatte er ausgesetzt und das Mittagessen war auch verstrichen. Kein Wunder, wenn sein Magen zusätzlich lautstark protestierte und knurrte.

Aber er brachte einfach keinen Bissen runter und würde er nicht so viel Wut in sich haben über Siegfried und über sich selbst, würde er den Tag auch im Bett verbringen und vor sich hin vegetieren. Aber das war auch nicht sein Stil.

Da verdrosch er lieber stundenlang den Sandsack.

Mit einem Seufzen fing Seto ihn wieder auf und hielt ihn an, ehe er sich abwandte und mit dem Shirt die verschwitzte Stirn abwischte. Vom Boden hob er die Wasserflasche auf und trank gierig in großen Schlucken, um seinen ausgetrockneten Mund zu befeuchten.

Am liebsten würde er weiter machen, aber der Schmerz in den Muskeln war inzwischen unerträglich und sein Magen gab auch keine Ruhe.

Mit einem Seufzer dachte er wieder an den vergangenen Abend und was sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Sie war nicht sein Eigentum.

Das stimmte sogar und in diesem Augenblick fragte er sich, ob er sie wirklich liebte oder ob sie nicht eine weitere Errungenschaft seines Besitzes wäre.

Ein ansehnliches Ding, das sich nur für ihn hübsch machte, heraus putze, der er Schmuck, teure Kleider und alles, was ihr Herz begehrte, geben könnte. Aber liebte er sie? Oder wollte er sie nur besitzen, so wie er Shadow besaß oder die teure Porzellanvase im Foyer?

Seto starrte auf den noch immer leicht pendelnden Sandsack.

Was bedeutete es schon reich zu sein?

Als Kind hatte er die Armut gehasst und hatte nach der Adoption alles dran gesetzt, um so viel Geld wie möglich zu besitzen, die Armut aus seinem Leben zu vertreiben und in dem Augenblick wusste er, dass es ihm immer noch nicht reichte.

All die Besitztümer reichten nicht aus, um die Leere zu füllen. Ein oberflächlicher Glanz unter dem noch immer das arme Waisenkind von früher steckte und in dem Augenblick wollte Seto zum ersten Mal nicht reich sein und kein Milliardär.

Zwar wollte er auch nicht am Hungertod nagen, aber wenn er kein Milliardär wäre, hätte er vermutlich mehr Chancen bei Naomie. Ob sie ihn dann nehmen würde? Oder lag es nicht an seinem Geld?

Aber sie als sein Eigentum betrachten? An eine Leine legen wie Shadow? Nein, das konnte er nicht. Dazu war sie zu Eigen, genau wie er. Was ihm deutlich gegen den Strich ging, war die Tatsache, dass Siegfried so gut mit ihr klar kam und sie mit ihm. Er bandelte mit ihr an und hatte sie auch noch nach England eingeladen.

Dort würde er sie wohl gänzlich für sich gewinnen können, damit sie sich von ihm abwandte. Dann würde er nichts mehr von ihr hören und er konnte nichts dagegen tun. Er konnte genauso wenig sie für Aufträge buchen oder täglich den Laden besuchen. Ein Stalker wollte er bestimmt nicht werden.

Seto Kaiba, der Stalker. Wie bescheuert klang das denn bitte und sein PR-Manager würde sich vermutlich vom Dach der KC stürzen.

Gott, wieso musste sein Leben grade so verdammt Scheiße laufen?

Verdammt!

Vor lauter Wut drückte er die Wasserflasche zu und der Inhalt ergoss sich über seine Hand und auf den Boden. Er hätte sie küssen sollen. Er hätte es ihr sagen sollen.

Wieder und wieder hallte der Vorwurf in seinem Kopf nach.

Er war so ein Idiot!

Drei Worte! Drei einfache, beschissene Worte!

Und er war nicht mal in der Lage sie auszusprechen!

War das Feige? War das Jämmerlich? Wie hätte er die Situation ändern können? Gab es überhaupt die Möglichkeit, dass er es hätte schaffen können?

Ihm gingen so viele Fragen durch den Kopf und keine konnte er beantworten.

Es war so merkwürdig.

Sie hatten das Wochenende über geschrieben, als wäre alles in Ordnung und als wäre da wieder dieses „mehr“ zwischen ihnen. Sie schien sich auch gefreut zu haben ihn zu sehen, genauso wie sie seine Reaktion über ihr Outfit hatte sehen wollen.

Aber wieso war sie so abweisend? Was hatte er gesagt, dass sie so reagierte? Musste sie sich das vor Augen führen? Immer und immer wieder, um es nicht zu vergessen? Kann es sein, dass sie es über die Tage hinweg, während sie einfach nur schrieben, vergessen hatte? Musste er erst vor ihr stehen, damit der Gedanke wieder in ihr Bewusstsein kam?

Kurz schaute er zu seinem Handy auf der Seite und stellte die zerknitterte Wasserflasche ab.

Nichts.

Sie hatte ihm seit gestern Abend auch nicht geschrieben und Seto hatte nur gesehen, dass sie sich prächtig amüsiert hatte. Mit Siegfried, Wheeler und Mokuba. Ihre Wangen erhitzt vom Lachen, dem Alkohol und der warmen Luft im Raum und irgendwann war sie weg gewesen.

Ohne Gruß. Ohne Abschied. Sie war gegangen und Siegfried war auch fort.

Allein der Gedanke trieb die kochende Eifersucht wieder unter seine Haut, so dass er zurück zum Sandsack musste, um erneut drauf einzuschlagen.

Die Vorstellung….Er wagte kaum den Gedanken in seinen Kopf zu lassen, so weh tat dieser in seiner Brust.

Sie…mit Siegfried…angeheitert und berauscht von der heiteren Stimmung und dem Alkohol…

Der Sandsack pendelte zurück und wieder schlug er drauf ein, egal wie weh seine Faust tat. Wild pendelnd flog er zurück.

…und wie sie zusammen gingen, im Auto saßen und sich noch unterhielten…

Die Angeln der Halterung quietschten gefährlich, als er neuerlich drauf eindrosch.

…und wie Siegfried ganz Gentlemen-Like, der ihr seine Jacke um die Schultern legte, um sie zu wärmen….

Die Halterung wackelte bedrohlich mit, als der Sandsack wieder hin und her pendelte. Er kam noch nicht mal ganz zurück, als er schon die nächsten Schläge kassierte.

…sie beide zusammen im Hotelzimmer, damit sie nicht alleine nach Hause musste bei dem vielen Schnee und weil sie eh schon angetrunken war. Dazu nur das große Doppelbett und wie Siegfried die Arme um sie legte, um sie zu trösten und sie sich an ihn schmiegte…

Der Sack schwang zurück, Seto wich ihm aus und schlug ihn in eine andere Pendelrichtung.

…wie sich ihre Lippen im schwachen Licht des Raumes berührten und sie die Wärme und Liebe bei ihm fand, die er ihr verweigert hatte…

Seto musste die Augen fest zusammen kneifen, um das Bild aus seinem Kopf und von seinem geistigen Auge zu bekommen. Es war nur eine Fantasie. Nicht mehr und nicht weniger! So hoffte er tief in seinem inneren!

Sie würde sich doch nicht einfach so in die Arme eines anderen werfen, um den Frust los zu werden. Oder doch?

Nein, er musste darauf vertrauen, dass sie nicht so war.

…der raschelnde Stoff, als er das Korsett öffnete und ihr das Kleid auszog und ihr die Haarnadeln aus der Frisur löste, ehe er ihren Kopf sanft auf das Kissen bettete und sie die Arme um ihn schlang…

Ein tiefes Knurren entwich seiner Kehle bei dem Gedanken, wie Siegfrieds Mund über ihren Körper küsste. Allein die Vorstellung brannte in seinem Herzen.

Der Sack fiel polternd auf den Boden als die Halterung das Gewicht nicht mehr halten konnte. Die Halterung war aus den Angeln gebrochen.

Keuchend blickte Seto auf das Stück Stoff. So viel Wut hatte er noch nie in sich verspürt gehabt und er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.

Sich einfach auf den Boden setzen und Trübsal blasen war nicht seine Art. Er musste etwas tun! Irgendwas! Er spürte den Drang sich zu bewegen.

Am liebsten sogar zu ihr nach Hause, um ihr klar zu machen, sie gehörte ihm! Er überließ sie bestimmt nicht der rosa Pest!

Aber was sollte er machen?

Wieder schaute er zu seinem Handy und überlegte, ob er sie anrufen sollte. Andererseits hatte sie ihm klipp und klar gesagt, was sie von ihm hielt.

„Nicht grade viel, mein Lieber!“, meldete sich endlich seine Fistelstimme zu Wort und klang ziemlich angetrunken. War das wirklich möglich, dass so etwas betrunken klingen konnte?

Aber ob betrunken oder nicht, diese nervige Stimme hatte recht. Vermutlich würde er sich jetzt total zum Affen machen, wenn er sie jetzt anrief oder ihr schrieb. Oder sie würde ihn für einen Stalker halten, aber einfach so ohne etwas zu tun, konnte er auch nicht leben.

Aber was war das Richtige?

Sollte er ihr vielleicht eine Reise schenken nach Schottland? Dann könnte sie die Wahl treffen, ob sie alleine sein wollte oder nicht. Für ihn wäre es kein Problem so schnell noch ein Flugticket und eine Unterkunft zu bekommen.

Oder sollte er sie nur um ein Gespräch bitten?

Kurz entschlossen griff er zum Handy und seine Finger schwebten für einen Moment über der Taste, ehe er den grünen Hörer drückte und ihre Nummer anwählte. Ein Freizeichen ertönte und er biss sich auf die Lippen. Was sollte er sagen? Er hatte ausnahmsweise gar keinen Plan in seinem Kopf, was ziemlich untypisch für ihn war.

„Hallo?“, fragte plötzliche ihre Stimme. Sie klang müde und verschlafen. Ein inzwischen recht vertrauter Ton von der Messe her, wenn er sie morgens geweckt hatte, damit sie frühstückte und aus den Federn stieg. Es war ein süßer, verschlafener Ton, der an sein Ohr drang, gepaart mit einem müden brummen.

Wie konnte sie nur so lange schlafen?

Es war fast eins durch!

Aber kurz schloss er bei dieser ruhigen Stimme die Augen und atmete tief durch. Er konnte sich fast bildlich vorstellen, wie sie im Bett lag, eingekuschelt und das Haar noch total verstrubbelt.

„Hallo?“, fragte sie erneut und er konnte Stoff rascheln hören, als sie sich bewegte, „Ich kann dich atmen hören. Ich weiß, dass da jemand ist.“

Seto schluckte und seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Leise tapsende Schritte waren zu hören.

„Seto?“, fragte sie verwirrt und sein Herz setzte aus.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch kein Ton kam über seine Lippen.

„Ich weiß, dass du es bist. Dein Name steht im Display!“, sagte sie und ihre Stimme klang nicht mehr so ruhig und verschlafen wie bis vor ein paar Minuten noch. Sie war hellwach und ein scharfer Unterton lag darin, mit einem feinen Hauch von Schmerz.

Naomie entglitt am anderen Ende der Leitung ein Seufzen.

„Wenn du nichts sagst, leg ich jetzt auf!“, sagte sie und kurz zögerte er.

„Warte!“, brachte er schließlich hervor.

„Geht doch!“

Mist! Sie hatte ihn reingelegt!

„Also, was möchtest du? Ich hab dir doch gestern Abend gesagt, dass…dass es einfach keinen Sinn mehr hat und keine Lust mehr auf das Spiel habe.“

„Das ist kein Spiel“, sagte er sofort, „War es nie und ist es nicht!“

„Was dann?“, fragte sie erschöpft und er konnte fast sehen, wie sie sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, wie so oft, wenn sie nachdachte und die Lage über ihren Kopf hinaus wuchs.

„Ich meine es ernst“, presste er heraus und seine Hand zitterte.

Stille und er konnte diesmal sie atmen hören.

„Naomie…ich…“ Seto hörte sie atmen und er schluckte schwer. Er musste es tun. Es war der einzig richtige Weg. Erst recht, wenn er sie nicht an Siegfried verlieren wollte. „Es tut mir leid, was ich getan habe. Ich wollte dir nie weh tun. Wirklich.“

„Warum sagst du mir das jetzt?“ Sie klang als würde sie versuchen nicht zu schluchzen und ihre Stimme klang kratzig und heiser mit einem Mal.

„Weil ich dich nur vor Siegfried beschützen wollte und weil…“ Gott, drei Worte! Das konnte doch nicht so schwer sein!

„Sag das nicht, bitte!“, brachte sie raus, „Du hast dich wie ein Idiot benommen und ich will das nicht mehr! Also sag das nicht!“

Ihr Tonfall hörte sich so an, als würde er ihr gleich das Herz in tausend Scherben zerspringen lassen. Aber für ihn fühlte es sich genauso an. Er wusste, er tat ihr damit weh, rüttelte an ihrer Entscheidung und versuchte alles auf eine Karte zu setzen. Aber wenn sie weinte und vor seinen Worten Angst hatte, schien sie immer noch Hoffnung zu haben und sich selbst nur einzureden, dass sie ihn nicht mehr lieben konnte, oder?

Ergab das, was er dachte überhaupt einen Sinn?

„Naomie, ich weiß, was du fühlst und was ich gestern Abend sagen wollte und eigentlich schon auf der Messe…ich...es ist in Ordnung. Bitte geh nicht weg und bleib hier. Ich würde mich freuen und ich will auch, dass du hier bleibst. Bei mir und mit mir die Festtage verbringst. Der Gedanke, dass du mit Siegfried wegfliegst, macht mir ziemlich zu schaffen, weißt du das? Ich…es tut mir leid, wenn ich gestern deswegen so sauer war.“

„Du bist eifersüchtig, oder?“, fragte sie und er konnte sie schniefen hören und wie sie schluchzte. Zu gern würde er sie jetzt in den Arm nehmen und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchen.

Statt eines klaren „Ja“s zur Antwort, konnte er nur zustimmend brummen.

„So ziemlich…“, nuschelte er und fuhr sich durch den verschwitzten Nacken.

Wieder konnte er sie schluchzen hören und einen erstickten Laut, der wie ein Schluckauf klang. Sie schnappte nach Luft und Seto hatte fast vor Augen, wie durchnässt das Kissen sein musste, was sie grade an ihre Brust drückte.

„Wieso sagst du es mir jetzt?“, fragte sie und schniefte in den Hörer, „Wieso nicht gestern abend? Wieso nicht als wir zusammen gegessen haben oder in deinem Büro? Du nimmst doch sonst keine Rücksicht auf Verluste! Wieso kannst du mir das nicht direkt sagen?“

Das war eine gute Frage, die er nicht mal selbst beantworten konnte. Zumindest konnte er es nur erahnen.

„Weil ich nicht wollte, dass du denkst, ich spiele mit dir und damit du nicht ins Visier von meinen Feinden kommst oder der Presse. Ich wollte dich da nicht mit rein ziehen. Es reicht, wenn Mokuba mehr entführt wird, als ich Urlaubstage im Jahr habe.“

Leise hörte er sie amüsiert schnauben. Es klang, als müsste sie sich ein Lachen verkneifen und unwillkürlich musste er mitschmunzeln.

„Es tut mir leid, ehrlich“, fügte er hinzu und wurde wieder ernst.

Naomie brummte.

„Aber es ändert nichts daran, dass ich mit Siegfried befreundet bin…“

„Das dachte ich mir.“

„Und jetzt?“, fragte sie leise.

„Ich weiß es um ehrlich zu sein nicht.“

„Okay“, nuschelte sie.

„Kann ich vorbei kommen oder du kommst hierher, damit wir reden können?“, fragte er und sein Herz klopfte bei diesen Worten wieder stärker in seiner Brust.

„Tut mir leid, aber ich muss noch ein paar Sachen vorbereiten.“

„Du fliegst also trotzdem?“

„Ja, ich meine….also, egal, wie das jetzt weiter geht, er hat jetzt alles vorbereitet und ich denke immer noch, dass ein wenig Abstand gut für uns beide ist. Es wäre einfach unhöflich vor allem.“

„Ja…natürlich…“ Seto musste sich beherrschen, um nicht wieder der Eifersucht die Oberhand über seinen Verstand zu geben. „Aber würdest du…“

„Die Festtage mit euch verbringen?“ Stille, dann: „Du weißt, dass ich heute fliegen werde. Du hättest mich früher fragen können, aber…“

„Ja?“ Klang er grade hoffnungsvoll? Himmel, er machte sich grade wirklich zum Idioten!

„Vielleicht kann ich es ja einrichten, dass ich nur eine Woche bleibe und zu Silvester hier bin…“, schlug sie versöhnlich vor, „Dann hat Mokuba auch etwas davon und wir können nachfeiern.“

„Das wäre wirklich schön. Was hältst du davon, wenn wir dich von England abholen und zu unserem Ferienhaus nach Schottland fahren? Mokuba wollte da unbedingt hin nach den ersten beiden Festtagen.“

„Ich schau mal, was ich tun kann. Mach di…Mokuba also keine falschen Hoffnungen. Ich muss das erst mit Siegfried klären!“

„Tu das, aber es wird ihn freuen zu hören“, sagte Seto und musste schmunzeln. Es war ihnen beiden klar, dass Mokuba eher außen vor stand und es um sie beide ging, als um den kleinen Kaiba.

Und bei Seto keimte dennoch Hoffnung auf. Zwar war es noch nicht das Ziel, aber er war dem wieder näher gekommen! Jetzt durfte nur nichts mehr schief laufen.

„Aber ich glaube dennoch nicht, dass es mit uns was wird“, fügte sie hinzu.

Das war ein Rückschlag und ein schmerzhafter dazu, so dass sein Herz für einen kurzen Moment sogar ins Stocken geriet und aussetzte.

„Was?“, fragte er nur perplex.

„Ich habe es dir doch gesagt. Ich kann das nicht und außerdem würde es doch eh nicht gut gehen. Wir sind einfach zu unterschiedlich und wir kommen aus unterschiedlichen Schichten. Es wird nicht gut gehen.“

Es war schwer zu fassen, was sie da sagte und er konnte spüren, wie sein Muskel in der Brust sich zusammen krampfte vor Schmerz. Es fühlte sich an, als würde ihm die Luft abgeschnürt werden. Das konnte sie doch nicht ernst meinen. Oder doch?

„Also gibst du wirklich auf?“

Schweigen.

„Ich verstehe…Ich hab es vermasselt, was?“

„Nein, ich…es ist nur ein Fehler gewesen meinerseits. Ich hätte es dir nicht sagen sollen, dann wäre es bei dem geschäftlichen geblieben, wie du es wohl lieber gehabt hättest.“

„Sag das nicht! Ich sehe es nicht als Fehler!“ Seine Stimme war sachlich geworden, obwohl es ihm schwer fiel zu sprechen. Aber sie riss ihm grade das Herz aus dem Leib. Der Schmerz drohte sich immer weiter auszubreiten und die Wut kochte unter seiner Haut. Was sollte er tun? Scheinbar war es egal.

„Oder lass mich raten, du hast meine Bekanntheit genutzt, um selbst ein paar Sprossen auf der Karriereleiter hoch zu klettern!“

„Nein, so ist das nicht!“

„Ach ja?“

„Ja…ich…“

„Was?“, fauchte er wütend, „Dir ist es scheinbar nicht genug, dass ich dir nach laufe. Was willst du noch, damit du endlich kapierst, dass du mir wichtig geworden bist?“

Schweigen. Was sonst?

„Falls es du es noch immer nicht kapiert hast: Ich fühle genauso wie du! Ich hab dieses hin und her zwischen uns genauso satt wie du und ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass du hier bleiben sollst, weil ich dich verdammt noch mal liebe!“

Sein Atem ging schwer.

Gut, so hatte er es sich eigentlich nicht vorgestellt, es ihr zu sagen. Erst recht nicht vor Wut und halb an den Kopf geknallt, als wäre es ein Vorwurf. Immerhin hatte er sich versöhnen wollen, vielleicht auch endlich zu einem Happy End kommen wollen und nicht wieder zwanzig Schritte zurück zu gehen.

Er lauschte ihrem Atem und schluckte schwer.

Konnte sie nicht endlich etwas sagen?

Dieses Schweigen war schlimmer als alles andere, was sie bisher gesagt hatte.

Oder hatte sie genau darauf gewartet und würde ihn nun damit erpressen, drohen an die Öffentlichkeit zu gehen?

Er musste sich auf die Unterlippe beißen, um die Worte herunter zu schlucken.

„Naomie…?“, fragte er vorsichtig und ruhiger, „Bist du…noch da?“

Schweigen.

„Hast du gehört was ich gesagt habe?“ Natürlich hatte sie das! Sie war ja gewiss nicht taub! „Ich hab gesagt, dass ich dich auch…“

Dann war die Leitung tot.

„…liebe…“ Sie hatte aufgelegt und es fühlte sie wie eine verbale Ohrfeige an.

Scheiße!

Scheiße!

Scheiße!

Das war absolut nicht gut! Er hatte sie wieder und dann war sie ihm zwischen seinen Fingern wieder entronnen, nur weil er seine Klappe nicht hatte zügeln können.

„Du bist ein Trampeltier, Seto Kaiba!“, fauchte ihn sein Gewissen an und das zu recht, „Du hast das Einfühlungsvermögen einer Schrotflinte!“

Auch das stimmte.

Er war nun mal nicht der einfühlsame Romantiker. Er nahm kein Blatt vor den Mund und das hatte Naomie gut aufgefasst. Er war immer direkt gewesen und jetzt so auch zu ihr und das schien nun das endgültige Aus zu sein.

Aber was konnte oder musste er noch tun, damit sie endlich zu ihm fand. Wie kompliziert konnte es denn noch werden?

Sie liebte ihn, er liebte sie. Gab es dann nicht auch ein Happy End? Lief das nicht normalerweise so ab. Wieso also wich sie vor ihm zurück, nun wo er es endlich gesagt hatte? Das ergab absolut keinen Sinn. Vor allem, wenn sie Herzschmerzen hatte oder Liebeskummer oder wie man das auch nennen konnte.

Sie hatte geweint, seinetwegen und es war klar, dass er das definitiv nicht zulassen wollte, dass sie litt!

Mit seinen Fingern tippte er schnell etwas in das Handy ein und schickte es an Naomie ab. So schnell gab sich ein Kaiba doch nicht geschlagen!

„Ich meine es wirklich ernst, Naomie. Ich liebe dich!“, schrieb er ihr über das Handy, „Tut mir leid, wenn ich damit erst jetzt raus rücke. Komm bitte vorbei und lass uns reden. Ich möchte noch mal mit dir reden, ehe du weg fliegst. Ich schicke dir auch einen Wagen.“

Seto blieb einen Moment sitzen und starrte auf das Display.

Die Nachricht wurde gelesen, doch es kam keine Antwort. Immer wieder öffnete er das Fenster und schaute nach, ob er etwas verpasst hatte, aber nichts. Dabei wusste er, dass sein Handy einen Ton von sich geben würde, wenn eine Nachricht einging.

Mit einem tiefen Seufzen erhob er sich und griff sich die Wasserflasche und das Shirt, ehe er den Raum verließ. Die Wasserpfütze und den Sandsack würde das Personal schon weg räumen.

Die Tür zum Trainingsraum schlug er zu und als er den Flur betrat, lief Shadow ihm entgegen, die Rute unruhig am Wendeln und er gab ein fiepen von sich.

„Was ist los?“, fragte Seto seinen Hund und kniete sich zu ihm, um ihn zu streicheln, doch sein Rüde entzog sich ihm und leckte über seine Hand, als wollte er ihm Trost spenden und wüsste genau, dass es ihm schlecht ginge.

Wenigstens war er bei ihm und verließ ihn nicht. Es war merkwürdig.

Wenn er Shadow so betrachtete, war er im Grunde Schuld daran, dass er nun in dieser Situation steckte. Ohne seinen aufgeweckten grauen Labrador, der so gerne im Schnee herum tollte, als gäbe es nichts besseres, wäre er ihr nie begegnet. Dieser eine Morgen vor wenigen Tagen mit dem frisch gefallenen Schnee hatte alles in seinem Leben verändert.

Dabei hatte er nur mit ihm Gassi gehen wollen.

Aber irgendwie hatte sich alles verändert und selbst der weihnachtliche Dekofirlefanz störte nur noch halb so sehr, wie zu Beginn der Festtage. Oder der Schnee.

Wenn er jetzt nach draußen sah in die winterliche Kulisse mit den dicken Schneeflocken hatte er noch immer den Park vor Augen und wie sie mit dem roten Mantel und der schwarzen Mütze da gestanden hatte, während Shadow sie beschnüffelt und abgeleckt hatte.

Nie hätte er sich gedacht, dass diese lebensfrohe Blondine mit der Kamera und dem breiten Lächeln ein Teil von seinem Leben sein würde. Er hatte gedacht, sie wäre nur eine flüchtige Begegnung und er hatte nicht geglaubt, dass er sie je so nahe an sich heran lassen würde.

Sein erster Gedanke war, dass er sie wegen dieses Lächelns nicht leiden konnte, aber inzwischen vermisste er es. Wann hatte sie aufgehört so breit zu grinsen und pure Lebensfreude auszustrahlen?

Sie hatte gebacken, Zeit mit Mokuba und ihm verbracht, mit Shadow und irgendwann hatte sie aufgehört so munter zu sein.

Wie hatte er damals so über sie denken können, dass sie nervte und ihr unter allen Umständen aus dem Weg gehen zu wollen? Wie hatte er das tun können? Inzwischen konnte er sich kaum vorstellen, wie es war, wenn sie nicht da war und sein Magen krampfte bei der Vorstellung zusammen.

Aber konnte er sich so schnell verändert haben?

Konnte es sein, dass sich seine Einstellung innerhalb dieser Zeit, vielleicht schon bei ihrer ersten Begegnung, verändert hatte?

Kurz schmunzelte er bei der Erinnerung auf dem Weihnachtsmarkt, wie sie in dem roten Kleid und Korsett mit der Weihnachtsmannmütze begrüßt hatte, sie die Fotos gemacht hatte und mit ihm und Mokuba geredet hatte. Dazu die geteilte Tasse mit Glühwein, wobei er das meiste davon getrunken hatte.

Mokuba schien so viel Spaß mit ihr gehabt zu haben, auch als er nach Hause gekommen war und der Geruch von frischem Gebäck in der Luft gewesen war. Dazu auch ihre Neckereien unter einander.

Es war herrlich gewesen, wirklich weihnachtlich, so wie Mokuba es sich immer gewünscht hatte und er war das Riesentrampeltier, was alles verdorben hatte. Das leichte Grinsen, was sie bei der Erinnerung auf seine Lippen gestohlen hatte, verschwand schlagartig wieder.

Ihm fiel die Nacht ein und wie er sie dort das erste Ma geküsst hatte.

Genau dort hatte sie aufgehört so zu lächeln.

Nein. Davor schon.

Schon nach dem Fast-Kuss auf dem Markt. Sie hatte so verwirrt gewirkt in seinem Büro, so hilflos und ihm wurde bewusst, dass dieser eine Moment an Nikolaus sie aus der Bahn geworfen hatte. Damit hatte es angefangen, dass er sich ihr genähert hatte. Hatte er also Schuld daran, dass sie so ein Hin und Her miteinander hatten und sie nun in dieser Lage waren? Oder war es ihre Schuld, weil sie meinen musste, ihm diese konservierte Schneeflocke zu schenken, die ihn so aus der Bahn gebracht hatte, dass er sie irgendwie hatte küssen müssen?

Aber es war wunderbar gewesen und wäre sie nicht eingeschlafen, wusste er, dass er auch mehr mit ihr angestellt hätte. Aber ihm fiel deutlich auf, dass sich seitdem alles verändert hatte.

Und Mokuba verlor obendrein, wegen seiner mangelnden sozialen Kompetenz eine neu gewonnene Freundin! Großartig. Merry Christmas!

Was konnte es für den Kleinen denn für ein besseres Geschenk geben als eine verlorene Freundin?

Ihm stieg die Magensäure hinauf und langsam er hob sich Seto. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass noch immer keine Antwort gekommen war von ihr und er sollte sich langsam auch duschen gehen und etwas Essen. Bald würde Mokubas Aufführung sein und wenn er die verpasst, würde sein kleiner Bruder ihm die Hölle heiß machen.

Obwohl ihm bei dem Gedanken daran Naomie am Abend zu sehen ganz flau im Magen wurde. Würde sie ihm aus dem Weg gehen oder gar nicht erst kommen, obwohl sein kleiner Bruder ihr extra eine Karte geschenkt hatte. Immerhin hatte sie ihm auch die Fotos zugesagt.

Das Versprechen würde sie doch nicht brechen, oder?

Mit Shadow an seiner Seite ging er die Treppe aus dem Keller nach oben zu den Schlafräumen. Dort konnte er schon die Musik vom „Nussknacker“ hören, die seit Tagen schon in dem Haus rauf und runter gespielt wurde.

Wäre es das komplette Stück, wäre es eine Sache, aber es war immer nur ein und dieselbe Stelle. Immer wieder und wieder, wie bei einer kaputten Schallplatte. Schon die ganze Zeit tanzte er durch das Haus, übte seine Schritte und hatte ein quietschbuntes Ganzkörperkostüm in Zuckerstangenfarbe bekommen. So abstrus Seto das alles fand, war Mokuba umso mehr begeistert und er brachte es nicht über sich darüber abfällig zu werden oder sowas.

Er würde dieses Ballettstück vom „Nussknacker“ fortan mit ganz anderen Augen sehen und immer seinen Bruder vor Augen haben, wenn der Name fiel.

Leise ging er die Treppe hoch und ließ seinen Bruder aber in Ruhe das Stück weiter üben, während er in sein Zimmer ging. Shadow folgte ihm noch immer, obwohl der Hund normalerweise im Haus nicht so anhänglich war und grade jetzt, wo es wieder schneite, lieber draußen herum turnte. So ruhig kannte er Shadow kaum und es war, als würde sich das Tier wirklich Sorgen um sein Herrchen machen, so dass selbst das weiße Zeug vom Himmel uninteressant war.

Langsam begann sich Seto ernsthaft zu fragen, ob sein Zustand wirklich so schlimm war oder ob Shadow krank war. Eines vom beidem stimmte ganz bestimmt nicht.

Ein weiterer Blick auf sein Handy und eigentlich sollte er heute in der Firma sein, die Spendengelder zählen und noch die restlichen Sachen vor den Festtagen erledigen, ehe er auch mit Mokuba nach Schottland fliegen würde.

Auch eine recht spontane Entscheidung und Seto musste sich eingestehen, dass er das nur getan hatte, um nicht nur Mokuba eine Freude zu machen, sondern um ihr auch irgendwie nah sein zu können. Diese tausend Flugmeilen zwischen ihnen bereiteten ihm ziemliche Magenschmerzen.

Aber die Arbeit würde er vermutlich eh nicht mehr fertig kriegen und sie von Roland erledigen lassen.

Zum einen war es schon später Nachmittag, sein Kopf war absolut nicht bei der Arbeit und später war schon die Aufführung.

Die Nacht wäre noch eine Option und morgen würde er absolutes Arbeitsverbot von Mokuba haben.

Also blieb ihm nicht mehr viel Zeit, aber er würde sich hüten in die Firma zu fahren.

Denn es war ein Tag vor Weihnachten und die Geschenke seiner Fangirls würden schlimmer werden als an Nikolaus. Er wollte sich gar nicht die Massen ansehen, die er geschenkt bekommen hatte. Davor fürchtete er sich irgendwie und er war froh heute nicht in die Firma zu müssen.

Kurz klingelte sein Handy und sofort zog er es aus der Tasche und öffnete mit zittrigen Fingern die Nachricht, ohne wirklich hinzusehen, wer ihm geschrieben hatte.

„Oh man“, seufzte er und drückte die Nachricht weg. Eigentlich ein Grund zum freuen. Immerhin hatte Roland ihm grade den aktuellen Stand der Spendengala von gestern geschickt und wie viel zusammen gekommen war, aber nicht einmal dieser Erfolg heiterte seine Stimmung auf.

Inzwischen war ihm die Summe fast egal. Jetzt so kurz vor Weihnachten wurde es eh nicht mehr übergeben. Erst nach den Festtagen. Vorher konnte das auch nicht beglaubigt werden und der Scheck geschrieben werden.

Bis vor ein paar Tagen war es ihm auch egal gewesen, ob dort ein Festtag wäre oder nicht, aber inzwischen, seit er Naomie kannte, hatte es sich geändert und er wollte sie an diesen Tagen bei sich haben!

Seto hatte das Gefühl wieder die Tage kurz nach Nikolaus zu erleben, als er auf Nachricht von ihr gewartet und gehofft hatte, sich Sorgen gemacht hatte und sie nicht erreichbar gewesen war. Er hatte gehofft, nie wieder in so einer Situation mit ihr zu geraten. Aber so konnte man sich irren.

Diesmal blieb jedoch sein Gewissen stumm. Scheinbar hatte es auch keinen Ratschlag mehr für ihn.

Umso besser, dann war er wenigstens wieder allein in seinem Kopf, aber andererseits fehlte ihm irgendwie dieser Konflikt und die Diskussion mit der Stimme. Wie konnte etwas so nerviges nur so eine Lücke hinterlassen?

Aber das selbe galt für Naomie.

Als sie fort war für ein paar Tage, hatte er sie auch vermisst und sich Sorgen gemacht. Es ging verdammt schnell, wie sehr man sich an etwas gewöhnen konnte. Aber eine Frage kreiste immer wieder in seinem Kopf herum: Wie konnte er die Lage retten?

Grade als er in sein Zimmer gehen wollte, piepte sein Handy erneut und er konnte mit klopfendem Herzen sehen, dass sie endlich geantwortet hatte. Doch die Nachricht ließ ihm das Herz in der Brust erstarren.

„Nicht nötig, mach dir keine Gedanken! Mir geht es gut und wir belassen es einfach dabei, so wie es grade ist! Es würde eh nicht mit uns funktionieren! Mach dir also keine Sorgen um mich! Ich hab nicht mal Liebeskummer oder sowas. Also kein Problem! Frohe Weihnachten!“ Dazu noch ein breiter lächelnder Smily und einer mit Weihnachtsmütze, der breit grinste.

Irgendwie passte diese Nachricht nicht mit dem zusammen, was grade am Telefon passiert war.

Türchen 23 – Der Nussknacker Teil 2

Türchen 23 – Der Nussknacker Teil 2
 

Schlaf war nach diesem Abend etwas Seliges. Niemals hätte sich Naomie gedacht, dass so ein Gala abend, an dem man nur hübsch in der Gegend herum stand, sich unterhielt, lachte und ein paar Gläser Sekt trank so anstrengend sein konnte.

Sie wusste nicht, wie viele Hände sie geschüttelt hatte, in wie viele Kameras sie geblickt hatte und wie oft sie neben Siegfried posiert hatte. Eines war aber sicher, dass sie nämlich einen kleinen Muskelkater in den Gesichtsmuskeln hatte vom vielen Lächeln. Das war wirklich anstrengend.

Aber der Abend war…

Nun, wie war der Abend eigentlich im gesamten?

Es gab schöne Momente, lustige Momente, aber irgendwie hatte sich Naomie es doch anders vorgestellt. Grade in diesem umwerfenden Kleid mit dem Tüll und dem Korsett, dieser wunderbaren Hochsteckfrisur und dem Make-up bei dem sie sich wie eine Prinzessin gefühlt hatte, hatte sie doch irgendwie mehr erwartet.

Nicht, dass sie geglaubt hatte, dass Seto Kaiba sie direkt in die Arme schließen oder sie vor allen Reportern küssen würde, aber sie hatte doch irgendwie erwartet, dass er mehr als nur diese kurze Bemerkung von sich geben würde.

Klar, war sie extra mit Siegfried zur Gala gegangen, um seine Eifersucht ein wenig anzustacheln und ihn aus der Reserve zu locken. Grade nach dem Gespräch beim Mittagessen, bei dem er ihr ziemlich deutlich gesagt hatte, was er wusste, aber das Thema dann hatte fallen lassen.

Grade nach diesem Gespräch wollte sie wissen, wie es um sie beide stand und da er nicht aus dem Pott kam, nahm sie die Sache selbst in die Hand.

Naomie hatte zwar damit gerechnet, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn sie mit Siegfried dort auftauchen würde, aber dass er so sauer sein würde vor Eifersucht überraschte selbst sie. Mit einer so heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet.

Gott, es war ihr so schwer gefallen ihm zu beichten, dass sie Siegfried begleiten würde, aber ihn anlügen oder es verschweigen konnte sie nicht. Das hielt sie irgendwie für unfair. Ihr Bauchgefühl hatte ihr gesagt, dass es so besser war und vor allem Dingen sollte er sich im klaren sein, dass sie nicht ewig warten würde. Sie würde ihm nicht nach rennen und darauf hoffen irgendeine zärtliche Geste von ihm zu bekommen.

Aber ganz aufgeben wollte sie nicht auch nicht.

Dennoch machte sie sich immer wieder klar vor Augen, dass es sein konnte, dass nichts aus ihnen wurde und es vielleicht sogar besser war. So gut sie sich auch mit ihm verstand, so war es von Anfang nicht so rund gelaufen. Es hatte schon jetzt so viel zwischen ihnen gegeben und doch konnte weder sie die Hände von ihm lassen noch er von ihr.

Sie hatten inzwischen weitaus mehr miteinander als ein Angestellten-Chef-Beziehung. Aber es war auch keine Beziehung zwischen Mann und Frau oder reine Freundschaft, was sie miteinander teilten. Es war alles verwischt.

Inzwischen ging ihr das auch ziemlich auf die Nerven!

Daher war es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn sie etwas Abstand zwischen sich und ihm brachte und diese tausenden von Flugmeilen wären ideal.

Leise seufzend drehte sie sich im Bett herum und versuchte die müden Gedanken an Seto abzuschütteln, wie er sie am Abend zuvor gegen die Tür gepresst hatte.

Er war ihr so nahe gewesen und im ersten Moment hatte sie in seinen Augen ein wildes Funkeln gesehen, wie von einem Raubtier. Kurz hatte sie gedacht, er hatte sie küssen wollen, seine Beherrschung ablegen wollen, aber er war nur eifersüchtig gewesen, wütend und sie hatte sich von diesem enttäuschen Moment und seiner Wut mitreißen lassen.

Es tat ihr leid, dass sie ihn so angefahren hatte. Dabei hatte sie sich gefreut ihn zu sehen und dann musste es so mies enden.

Bei dem Gedanken rollte sie sich unter der warmen Decke zusammen und versuchte wieder etwas Schlaf zu bekommen. Siegfried hatte ihr geraten so viel Schlaf wie möglich zu bekommen, um den Zeitunterschied auszugleichen. Immerhin war der Flug vierzehn Stunden lang und der Abend war auch noch lang gewesen.

Aber sie hätte dabei gern Zeit mit Seto verbracht, aber nach dem Streit undenkbar.

Himmel, wie sehr hatte sie ihn in diesem Moment gewollt, als sie alleine waren? Fast war es so, als könnte sie noch seine Arme um ihren Leib spüren, als er sie an sich drückte und sie schallte sich innerlich selbst darüber, dass sie den Kuss nicht zugelassen hatte.

Sie war so eine Idiotin!

Aber sie hatte nun mal auch so eine Sehnsucht nach ihm, dass es schon wieder schmerzlich war.

Kein Wunder, wenn sie im Moment kaum was runter brachte und ihre Weihnachtsstimmung im Eimer war. Leise seufzte sie, zog die Decke höher, umschlang wärmesuchend das Seitenschläferkissen und versuchte wieder zu schlafen, als das Handy neben ihrem Kopf vibrierte. Müde drehte sie sich herum und wollte schon weg drücken, als ihr einfiel, dass sie sich ja keinen Wecker gestellt hatte.

Vielleicht war es ja Siegfried und er wollte ihr etwas wichtiges mitteilen wegen dem Flug. Bei dem Schneefall wäre es keine Überraschung, wenn sich der Flug verschieben würde oder er früher fliegen wollte.

Es wäre dann nur Schade, um Mokubas Schulaufführung.

Die Karte lag bereits in ihrer Tasche und sie hatte ihm versprochen Fotos zu machen. Es wäre traurig, wenn sie ihn enttäuschen müssten.

„Hallo?“, fragte sie leise und wusste, dass sie alles andere als wach und munter klang. Aber es war ihr recht egal. Nach gestern Abend fühlte sich alles ziemlich egal an, trostlos und einfach nur grau und trüb. Daher war es ihr auch egal, dass sie ziemlich fertig klang. Der Abend war zudem auch lang genug.

Naomie strich sich ein paar dicke, blonde Strähnen nach hinten und sah auf den Wecker. Es war kurz nach eins am Nachmittag und sie stieß leise die Luft aus.

Am anderen Ende der Leitung hörte sie tiefe Atemnzüge, schwer und dunkel, als wäre derjenige gerannt oder hätte sich körperlich ziemlich verausgabt. Es war aber auch eindeutig männliche Atemzüge, die da an ihr Ohr drangen.

Es klang auch nicht wie ein perverser Anruf oder dergleichen, sondern nur nach schweren Atemzügen.

„Hallo?“, fragte Naomie wieder und sie klang diesmal wacher, wie sie fand oder versuchte es zumindest. Sie drehte sich im Bett in eine angenehme Lage und richtete sich halb auf, indem sie das Kissen unter ihren Rücken stopfte. „Ich kann dich atmen hören. Ich weiß, dass da jemand ist.“

Sie hob beim sprechen ein wenig die Augenbraue und lauschte gespannt, ob mehr zu hören war als nur laute Atemzüge. Doch nichts. Sie konnte hören, wie jemand kräftig schluckte, als würde die Person am anderen Ende der Leitung versuchen leise zu sein, was gänzlich misslang.

Naomie beschlich langsam dann doch ungutes Gefühl.

Wer war da in der Leitung?

Ihr Herz klopfte und sie fühlte sich mit einem Mal auch nicht mehr ganz so sicher, weshalb sie aus der bequemen Sitzposition aufstand und auf nackten Sohlen leise durch das Zimmert tigerte, bereit die Person zur Schnecke zu machen, ihr mit der Polizei zu drohen oder sonstigen.

Nur kurz löste sie das Handy von ihrem Ohr, um die Hand zu wechseln und sie konnte gleichzeitig einen Blick auf das Display werfen.

„Seto?“, fragte sie verwirrt und runzelte die Stirn, als sie seinen Namen deutlich lesbar auf dem Handydisplay erkannt hatte. Warum sagte er denn nichts?

„Ich weiß, dass du es bist. Dein Name steht im Display!“, sagte sie und sie versuchte schärfer zu klingen, fordernder und nicht eingeschüchtert oder verletzt, wie sie sich eigentlich fühlte. Ob ihr das in dem Augenblick gelang, wusste sie nicht genau zu sagen.

Aber es kam wieder keine Reaktion und sie seufzte lautstark. Warum mussten sie auch immer diese Spiele spielen? Himmel Herrgott noch mal, sie waren erwachsen und das ging langsam wirklich zu weit!

„Wenn du nichts sagst, leg ich jetzt auf!“, sagte streng und hoffte, dass das ziehen würde, damit er endlich einen Ton von sich gab. Drei, zwei…

„Warte!“, konnte sie grade so noch hören, als sie das Handy schon von ihrem Ohr hielt und den Daumen auf die Taste zum auflegen legte.

„Geht doch!“, erwiderte sie und verdrehte kopfschüttelnd die Augen. Wie ein kleines Kind! Aber wenn er dachte, er könnte sie um den Finger wickeln und versuchen an ihrer Entscheidung zu rütteln hatte er sich geschnitten. Aber es würde nicht einfach werden standhaft zu bleiben. Immerhin sehnte sie sich so ziemlich nach ihm, aber sie wollte aufhören. Aufhören nach seinen Regeln zu tanzen und aufhören ihm nach zu rennen in der Hoffnung mehr zu kriegen als mal einen Kuss, wenn ihm danach war. „Also, was möchtest du? Ich hab dir doch gestern Abend gesagt, dass…dass es einfach keinen Sinn mehr hat und keine Lust mehr auf das Spiel habe.“

Verdammt! Sie wollte doch sicherer klingen dabei! So zeigte ihr kurzes zögern doch nur, dass sie sich selbst nicht sicher war und er Chancen hatte.

Verflucht!

Leise stampfte sie frustriert mit dem Fuß auf und verzog das Gesicht, während sie innerlich einige Flüche nach dem anderen ausstieß.

„Das ist kein Spiel“, unterbrach er ihre Gedanken. Seine Stimme klang ausgesprochen ruhig, aber irgendwie auch eine Spur panisch, als hätte er Angst, sie würde jeden Moment von der Klippe springen. „War es nie und ist es nicht!“

Müde seufzte sie wieder und leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Naomie fuhr sich durch die Haare und öffnete die Vorhänge ein Stück, um nach draußen zu sehen. Licht fiel in das Zimmer und sie sah tanzende Schneeflocken am Fenster vorbei ziehen, während sie kurz über ihre Antwort nachdachte.

„Was dann?“, fragte sie und verbarg diesmal nicht, dass sie das Thema ziemlich erschöpfte. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich meine es ernst“, kam es durch die Leitung und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er meinte es ernst? Sie etwa nicht? Sie meinte es genauso ernst, aber was sollte sie tun? Naomie konnte ihm doch schlecht nachlaufen wie ein Hund, der um Aufmerksamkeit bettelte!

Sie wollte schon zu einer passenden Antwort ansetzen, als er weiter sprach und Naomie schloss den Mund wieder ohne etwas gesagt zu haben. Ihr Herz klopfte in ihrer Brust und sie setzte sich aufs Sofa im Wohnzimmer. Schnell goss sie sich einen Schluck Limo ins Glas von gestern abend und trank es. Ihr Mund fühlte sich so ausgedorrt an.

„Naomie…ich…“ Sie wartete gespannt mit dem Glas in der Hand, ob er weiter sprechen würde und stellte es zur Sicherheit wieder auf den Tisch, ehe sie sich wieder erhob und unruhig herum tigerte. Sie öffnete das Fenster ein Stück und ließ frische Luft herein.

Seto schluckte schwer währenddessen am anderen Ende der Leitung.

„Es tut mir leid, was ich getan habe. Ich wollte dir nie weh tun. Wirklich.“

Naomie schluckte nun ihrerseits schwer und setzte sich auf das Sofa zurück. Gut, sie hatte damit gerechnet, dass er irgendwas sagen würde, aber nicht so direkt. Eher auf seine kühle, distanzierte Art, wie es die ganze Zeit schon der Fall war.

„Warum sagst du mir das jetzt?“ Naomie wusste, dass ihre Stimme bebte und sie wieder kurz davor stand in Tränen auszubrechen und zu schluchzen. Sie weinte in letzter Zeit eindeutig zu viel!

„Weil ich dich nur vor Siegfried beschützen wollte und weil…“

Was hatte er vor?

Ihr Herz machte mehrere Sprünge und blieb fast stehen. Er würde doch wohl nicht…?

„Sag das nicht, bitte!“, brachte sie raus und versuchte so viel Kraft in die Worte zu legen, wie ihre Stimme zu ließ, „Du hast dich wie ein Idiot benommen und ich will das nicht mehr! Also sag das nicht!“

Statt stark zu klingen, war es wie eine letzte Verzweiflungstat, als würde sie ihn davon abhalten wollen über eine Klippe zu springen. So viel dazu standhaft zu bleiben. Das war ja eine großartige Leistung und Naomie war sauer auf sich selbst, dass sie sich so leicht um den Fingern wickeln ließ.

Aber obwohl diese drei Worte alles waren, was sie eigentlich die ganze Zeit hatte hören wollen, hatte sie nun Angst davor. Sie sollte auflegen. Das Gespräch beenden und die drei Worte gar nicht erst aus seinem Mund heraus kommen lassen, anstatt sich weich quatschen zu lassen.

„Naomie, ich weiß, was du fühlst und was ich gestern Abend sagen wollte und eigentlich schon auf der Messe…ich...es ist in Ordnung. Bitte geh nicht weg und bleib hier. Ich würde mich freuen und ich will auch, dass du hier bleibst. Bei mir und mit mir die Festtage verbringst. Der Gedanke, dass du mit Siegfried wegfliegst, macht mir ziemlich zu schaffen, weißt du das? Ich…es tut mir leid, wenn ich gestern deswegen so sauer war.“

Doch nicht die drei Worte?

Das war doch überraschend und ließ sie inne halten. Kurz atmete Naomie durch. Sie konnte jedoch ein Schniefen nicht verstecken. Heiße Tränen rannen ihr über die Wange und sie schluchzte leise.

„Du bist eifersüchtig, oder?“, fragte sie und versuchte so ruhig wie möglich zu klingen.

Sie hörte ihn brummen, was sie mal als Zustimmung deutete und es überraschte sie ziemlich, dass er so offen war und zugab, dass er hochgradig eifersüchtig war.

„So ziemlich…“, nuschelte Seto und irgendwie fiel ihr ein kleiner Stein vom Herzen. Sie wollte ruhiger atmen und stattdessen hickste sie unschön ins Telefon. Naomie hielt die Luft kurz an und stieß sie nach zehn Sekunden wieder aus. Noch immer brannten heiße Tränen auf ihrem Gesicht und sie wischte sich mit dem Ärmel des Shirts über die Augen.

„Wieso sagst du es mir jetzt?“, fragte sie und schniefte in den Hörer, „Wieso nicht gestern abend? Wieso nicht als wir zusammen gegessen haben oder in deinem Büro? Du nimmst doch sonst keine Rücksicht auf Verluste! Wieso kannst du mir das nicht direkt sagen?“

„Weil ich nicht wollte, dass du denkst, ich spiele mit dir und damit du nicht ins Visier von meinen Feinden kommst oder der Presse. Ich wollte dich da nicht mit rein ziehen. Es reicht, wenn Mokuba mehr entführt wird, als ich Urlaubstage im Jahr habe.“

Naomie konnte nicht verhindern, dass sie belustigt auflachte. Sie versuchte es zu unterdrücken, aber es war ein kläglicher Versuch und sie hasste und liebte ihn gleichzeitig dafür, dass sie selbst in so einer Lage noch zum Lachen bringen konnte, wenn auch unwissentlich.

„Es tut mir leid, ehrlich“, fügte er hinzu und Naomie brummte.

„Aber es ändert nichts daran, dass ich mit Siegfried befreundet bin…“

„Das dachte ich mir.“

Stille.

„Und jetzt?“, fragte sie leise.

„Ich weiß es um ehrlich zu sein nicht.“

„Okay“, nuschelte sie.

„Kann ich vorbei kommen oder du kommst hierher, damit wir reden können?“, fragte er leise und die Worte schienen ihn fiel abzuringen.

„Tut mir leid, aber ich muss noch ein paar Sachen vorbereiten.“

„Du fliegst also trotzdem?“

„Ja, ich meine….also, egal, wie das jetzt weiter geht, er hat jetzt alles vorbereitet und ich denke immer noch, dass ein wenig Abstand gut für uns beide ist. Es wäre einfach unhöflich vor allem.“

„Ja…natürlich…“ Seine Stimme klang irgendwie gepresst. Aber irgendwo konnte sie ihn auch verstehen. An seiner Stelle hätte sie kaum anders reagiert. „Aber würdest du…“

„Die Festtage mit euch verbringen?“, beendete sie seinen Satz und blieb für einen Moment still. Kurz spielte sie wirklich mit dem Gedanken zuzusagen, aber sie wollte Siegfried gegenüber auch nicht unhöflich sein. „Du weißt, dass ich heute fliegen werde. Du hättest mich früher fragen können, aber…“

„Ja?“

„Vielleicht kann ich es ja einrichten, dass ich nur eine Woche bleibe und zu Silvester hier bin…“, schlug sie versöhnlich vor und schüttelte leicht mit dem Kopf. Sie ließ sich ziemlich einwickeln. Verdammt! Das musste aufhören! „Dann hat Mokuba auch etwas davon und wir können nachfeiern.“

„Das wäre wirklich schön. Was hältst du davon, wenn wir dich von England abholen und zu unserem Ferienhaus nach Schottland fahren? Mokuba wollte da unbedingt hin nach den ersten beiden Festtagen.“

„Ich schau mal, was ich tun kann. Mach di…“ Mist! „…Mokuba also keine falschen Hoffnungen. Ich muss das erst mit Siegfried klären!“

„Tu das, aber es wird ihn freuen zu hören“, antwortete er und seine Stimme klang besser als vorhin. Ob er ihren Versprecher gehört hatte? Bestimmt, er war doch kein Idiot!

Naomie lief ein wenig rot an und zum Glück stand Seto grade nicht vor ihr, um die Schamesröte zu sehen.

„Aber ich glaube dennoch nicht, dass es mit uns was wird“, fügte sie schnell hinzu, ehe er sich in der Hoffnung wälzte, dass da doch noch etwas war. Es war ein verlorener Posten und auch jetzt merkte sie wieder wie unterschiedlich sie waren.

Sie war schon eifersüchtig auf das Fangirl gewesen, was sollte sie machen, wenn er ständig Liebesbriefchen kriegte? Oder auch jetzt? Er war eifersüchtig, weil sie mit einem Konkurrenten befreundet war. Sie waren nicht mal zusammen und stritten schon wie ein altes Ehepaar.

Nein, es war besser, wenn sie getrennte Wege gingen. So schmerzhaft es auch war für sie beide.

„Was?“, fragte er nur perplex.

„Ich habe es dir doch gesagt. Ich kann das nicht und außerdem würde es doch eh nicht gut gehen. Wir sind einfach zu unterschiedlich und wir kommen aus unterschiedlichen Schichten. Es wird nicht gut gehen.“ Genau. Sie musste nur standhaft bleiben, schon würde alles gut gehen und sie konnten beide friedlich weiter leben. Wenn sie es sich auch oft genug sagte, vielleicht entliebte sie sich ja auch? Auch, wenn das vielleicht eher unwahrscheinlich war.

„Also gibst du wirklich auf?“

Schweigen.

Was sollte sie darauf antworten? Sie wollte nicht aufgeben, aber sie wollte sich auch nicht weiter verletzten lassen.

„Ich verstehe…Ich hab es vermasselt, was?“

„Nein, ich…“ Naomie seufzte kurz und fuhr sich wieder durch die Haare. „Es ist nur ein Fehler gewesen meinerseits. Ich hätte es dir nicht sagen sollen, dann wäre es bei dem geschäftlichen geblieben, wie du es wohl lieber gehabt hättest.“

„Sag das nicht! Ich sehe es nicht als Fehler!“ Kurz hörte sie ihn durchatmen, als müsste er das gesagte erneut verdauen, ehe er wieder zu Wort kam. „Oder lass mich raten, du hast meine Bekanntheit genutzt, um selbst ein paar Sprossen auf der Karriereleiter hoch zu klettern!“

„Nein, so ist das nicht!“ Wie kam er denn bitte jetzt auf diese Scheiße? Das war ja die absolute Höhe! Sie hatte bestimmt nicht vorgehabt ihn in irgendeiner Weise auszunutzen! Außerdem hatte er sie doch angeworben! Als ob sie darum gebeten hätte von Shadow angesprungen zu werden, nur um ihn zu begegnen.

Er hatte sie angestellt!

„Ach ja?“ Setos Stimme klang kälter und Naomie fragte sich, wie sie jetzt wieder in diese Lage gekommen war. Wo bitte hatte sie den Knopf für den eiskalten Arschlochmodus gedrückt? Wieso grade sie? Warum musste sie sich grade in so einen gefühlsinkompetenten Idioten verlieben?

„Ja…ich…“ Sie zögerte. Was konnte sie noch sagen, um die Lage nicht schlimmer zu machen?

„Was?“, fauchte er wütend, „Dir ist es scheinbar nicht genug, dass ich dir nach laufe. Was willst du noch, damit du endlich kapierst, dass du mir wichtig geworden bist?“

Autsch. Das war hart und so hatte sich Naomie nicht gedacht, dass er ihr das sagen würde. Jetzt war er sauer und sie schloss die Augen, um die Tirade abzuwarten, die nun folgen würde. Aufhalten konnte sie ihn jetzt eh nicht mehr. Er war wie eine Axt im Wald und egal, was sie sagen würde, es würde seine Wut nicht mildern.

Tief durch atmen war angesagt.

„Falls es du es noch immer nicht kapiert hast: Ich fühle genauso wie du! Ich hab dieses hin und her zwischen uns genauso satt wie du und ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass du hier bleiben sollst, weil ich dich verdammt noch mal liebe!“, fauchte er sie an und sein Atem ging schwer.

Was….?

Oh Himmel….!

Nein, das hatte er nicht….doch er hatte…nein, sie träumte nur! Aber…

Naomie presste das Telefon auf das Sofa und griff zu einem Kissen, biss hinein und stieß einen lauten Schrei mit einem Schluchzer aus. Das Kissen dämpfte das Geräusch, während ihr die Tränen wütend über das Gesicht liefen.

Er war so ein Scheißkerl!

Die ganze Zeit hatte sie darauf gewartet! Die ganze Zeit hatte es genug Augenblicke gegeben und er schaffte es nur ihr das an den Kopf zu werfen, wenn er wütend war!

Wie viel wert hatten bitte diese Worte, wenn er sauer dabei war?

Sie presste ihr Gesicht in das Kissen, um den nächsten lauten Schluchzer mit dem Schrei zu unterdrücken. Naomie hatte das Gefühl keine Luft zu kriegen und schnappte viel zu schnell danach, was wie ein röcheln klang.

Verfluchte Scheiße!

„Ich dich auch…“, murmelte sie tonlos, „Ich liebe dich auch…“

Aber wie viel wert hatten diese Worte noch?

Es war doch so offensichtlich, dass das hier zum Scheitern verurteilt war.

Warum musste er ihr das antun? Warum musste er ihr diese Worte doch noch sagen? Konnte er ihre Entscheidung nicht akzeptieren?

Wieder gab sie ein quietschenden, hilflosen Laut von sich, der vom Kissen gedämpft wurde. Irgendwann musste sie etwas sagen, aber was?

Seto war auch recht still geworden und ihr Herz drohte aus der Brust zu hüpfen.

Noch ein paar Mal atmete sie tief durch und nahm dann wieder das Telefon ans Ohr. Nichts war zu hören, außer sein Atem.

„Naomie…?“, hörte sie ihn vorsichtig und ruhig fragen, „Bist du…noch da?“

Schweigen.

Ihre Zunge fühlte sich an wie verknotet.

„Hast du gehört was ich gesagt habe?“

Taub war sie bestimmt nicht, aber den Kommentar verkniff sie sich.

„Ich hab gesagt, dass ich dich auch…“

Nein, nicht noch einmal und ehe sie etwas sagen konnte, drückte sie ihn weg und die Leitung war tot.

So ein verdammter Mist!

Das war nicht gut! Das war alles andere als gut, wenn Kaiba jetzt Gefühle zeigte! Es würde ihr die Sache nicht einfacher machen.

Wieso grade jetzt? Wieso jetzt, wo sie sich halbwegs sicher fühlte.

Nun kam sie sich vor, als hätte sie sich nur etwas vorgemacht. Ziemlich erbärmlich.

Naomie rollte sich auf dem Sofa zusammen und drückte das Telefon fest an ihre Brust, wo ihr Herz lautstark schlug. Würde er noch in der Leitung sein, würde er es bestimmt hören können.

Aber vielleicht hatte sie sich auch einfach nur verhört?

Genau…er hatte sich bestimmt versprochen und irgendwas anderes sagen wollen. Sie halluzinierte mit Sicherheit. Vermutlich meinte er, dass Mokuba sie lieb hatte.

Naomie legte eine Hand auf ihre Stirn.

Hatte sie Fieber?

Ihre Stirn fühlte sich normal an oder war sie doch warm und bekam jetzt genau zu Weihnachten eine Erkältung mit hohem Fieber?

Ja, das musste es sein.

Ein Fiebertraum. Mehr nicht.

Gut, nachdem das geklärt war, erhob sie sich und legte das Handy auf den Tisch. Noch mal wischte sie sich über die Augen und versuchte zu Lächeln.

Siegfried würde es bestimmt nicht gefallen zu hören, dass sie wieder wegen Kaiba geheult hatte. Außerdem hatte sie sich eh geirrt, also gab es keinen Grund mehr…

Das Klingeln ihres Handy ließ sie inne halten und sie nahm es schnell in die Hand. Eine Nachricht von Kaiba.

Verflucht!

Öffnen oder nicht öffnen?

Das war hier die Frage.

Kurz entschlossen öffnete sie diese und ihre Augen huschten nur über die Nachricht, ehe sie diese doch direkt löschte. Unwiderruflich. Fort. Weg. Ablag P in den Weiten des Datennetzes.

Tief atmete sie ein und aus und legte das Handy zurück, ehe sie zurück ins Schlafzimmer ging und die Vorhänge aufzog und lüftete. Kurz fröstelte Naomie und zog sich den Pulli vom Vorabend über, der auf dem Boden lag.

Sie stellte die Musikanlage an und ließ Frank Sinatra mit seinen Weihnachtsliedern laufen. Ruhig, romantisch und schön ertönte die Musik und seine tiefe, samtige Stimme. Es wiegte sie in eine entspannte Stimmung.

Keine Hast und kein Gedanke an Kaiba.

Entschlossen hob sie ihren Koffer, der fast gepackt war aufs Bett und öffnete ihn, um die restlichen Sachen darin einzupacken.

Vor ihrem geistigen Auge schwebte noch immer ein Wort aus der SMS: Liebe.

Sie musste es vergessen. Ganz einfach.

Entschlossen warf sie einen weißen Pulli in den Koffer, gefolgt von einem langen Rock. Bestimmt würde Siegfried mit ihr auch mal ausgehen, da brauchte sie auch ein paar etwas elegantere Sachen.

Ihr Blick schweifte zu dem Kleid, was er ihr gekauft hatte.

Der Abend gestern war wirklich anders verlaufen als gedacht. Sie hatte gehoffte mit Seto auch tanzen zu können oder mit ihm zu lachen, anzustoßen auf den Erfolg, aber stattdessen hatten sie gestritten.

„Frosted windowpanes, candles gleaming inside, painted candy canes on the tree, Santa's on his way, he's filled his sleigh with things, things for you and me, it's that time of year, when the world falls in love, ev'ry song you hear seems to say: "Merry Christmas, may your New Year dreams come true", erklang die Stimme samtig und lud dazu nur ein miteinander zu tanzen. Eng aneinander geschmiegt, langsam und die Welt vergessend.

Sehnsüchtig seufzte sie be idem Wunschgedanken und schob ihn direkt wieder fort, während sie ein paar Sachen aus dem Schrank zog und das Kleid ordentlich in den Karton packte und in den Schrank zurück legte. Schnell landeten die andere Sachen auch im Koffer und sie ging ins Bad, um von dort ihre Kosmetiktasche zu holen.

Das schlechte Gewissen piekte sie immer wieder dabei und flüsterte ihr zu, dass es falsch gewesen war seine SMS zu löschen.

Neugierig war sie ja schon, was er noch geschrieben hatte, aber wenn sie von ihm loskommen wollte, musste sie aus diesem Teufelskreis ausbrechen.

Andererseits empfand sie es als ziemlich unhöflich nicht irgendwie eine Reaktion von sich zu geben.

Ihr Blick fiel zu dem kleinen Gerät und sie zwang sich dazu sich wieder auf die Musik zu konzentrieren, weiter den Koffer zu packen und an alles wichtige zu denken, wie die Kamera, den Akku, die verschiedenen Objektive, Pullover, Blusen, Hosen...

Alles, was sie in den zwei Wochen gebrauchen würde.

Wieder klingelte ihr Handy und sofort schnappte sie es sich, um die Nachricht zu lesen.

Enttäuscht seufzte sie, als sie nur den Namen ihres Bruders sah, der sie fragte, ob alles soweit in Ordnung sei und der sie auf den neuesten Stand der Dinge brachte mit ihrem Großvater.

Auch hier meldete sich wieder das schlechte Gewissen bei ihr, dass sie mit einer Notlüge von ihrer Familie abgereist war und sich seitdem auf einer Gala, einer Messe und bei Kaiba rumgetrieben hatte, obwohl alles für die Arbeit war. Sie fühlte sich noch immer schlecht, aber Naomie wusste auch, dass ihr Nervenkostüm so dünn wie Pergamentpapier war und sie es nicht lange dort aushalten würde.

Daher hatte sie ihrem Bruder die Lage erklärt und er war zumindest etwas zugänglicher als der Rest ihrer Familie, so dass er den anderen erklärte, wieso sie Weihnachten nicht mit ihnen bei ihrer Oma feiern würden.

Ein Problem zumindest weniger.

Aber das schlechte Gewissen blieb und die Nachricht ihres Bruders versetzte ihr mitunter einen weiteren Stich ins Herz, als er ihr schrieb, dass die Gala gestern sogar Live übertragen worden war im TV und alle zugesehen hatten.

Scherzhaft fragte er, ob sie sich jetzt statt Kaiba einen neuen Lover gesucht hatte.

Autsch.

Auch, wenn es nicht böse gemeint war und er nicht die Details kannte, saß der Scherz ziemlich tief.

Dennoch zwang sie sich zu einer Antwort.

„Es läuft alles gut! Es freut mich, dass ihr zugesehen habt! Ich hoffe, ihr habt auch gespendet?! Und im Gegensatz zu dir, hab ich wenigstens einen Lover, Bruderherz!“, schrieb sie zurück und setzte einen frech aussehen Smily dazu ein, auch wenn ihr nicht nach Lachen zumute war. Aber ohne Konter würde er sich denken können, dass etwas nicht stimmte und Lust auf irgendwelche Predigten hatte sie auch nicht.

So hatte sie sich die Vorfeiertage nicht vorgestellt. Erst recht nicht so Tränenreich und wieder entwich ihr ein tiefer Seufzer.

Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie bald duschen gehen musste und sich fertig machen sollte für Mokubas Aufführung. Immerhin hatte der kleine Kaiba ihr eine Eintrittskarte geschenkt und auch, wenn sie sicherlich auf Seto treffen würde, wollte sie sich das nicht entgehen lassen.

Der Akku von der Kamera war schnell eingestöpselt und sie packte die Geschenktüten noch fertig für die beiden.

Auch, wenn sie einen Schlussstrich setzte, wollte sie dennoch die geplanten Geschenke überreichen. Vor allem, da Pegasus ihr ein ziemlich teures für Kaiba gegeben hatte.

Die Karten in der Box waren ziemlich wertvoll. Naomie verstand zwar nicht viel von dem Spiel, aber so viel sie gelesen hatte, waren sie auch selten und mächtig in dem Spiel, so dass Seto bestimmt etwas damit anfangen konnte.

Sie konnte gar nicht aus ihren Leben gehen, ohne die Geschenke zu überreichen. Das war ihr wider die Natur.

Es war auch verdammt verzwickt alles. Naomie hatte das Gefühl gar nicht mehr aus der Nummer raus zu kommen und kurz setzte sie sich auf das noch ungemachte Bett. Ihre Haare fielen unordentlich in ihr Gesicht und sie strich sie nach hinten, damit sie sofort wieder in ihr Gesicht fielen.

Ihr Handy hielt sie fest in der Hand und öffnete das Fenster für eine SMS an Kaiba.

Gut, irgendwas musste sie schreiben, sonst würde er sich auf den Schlips getreten fühlen oder sie würden bis in alle Ewigkeiten streiten.

Zu dumm, dass sie keine Ahnung hatte, was er geschrieben hatte.

„Mist!“, fluchte sie leise und tippte etwas ins Handy ein. Sie musste es irgendwie schaffen, dass es so klang, als hätte sie die Nachricht wirklich gelesen, was gar nicht so leicht war und es musste ihr Seto vom Leib halten.

Hochkonzentriert sah sie auf ihr Display.

Was stand noch mal darin?

Irgendwas von Liebe und dass er ihr den Wagen schicken wollte?

Gut, daraus konnte sie etwas basteln.

„Nicht nötig, mach dir keine Gedanken! Mir geht es gut und wir belassen es einfach dabei, so wie es grade ist! Es würde eh nicht mit uns funktionieren! Mach dir also keine Sorgen um mich! Ich hab nicht mal Liebeskummer oder sowas. Also kein Problem! Frohe Weihnachten!“ Dazu noch ein breiter lächelnder Smily und einer mit Weihnachtsmütze, der breit grinste.

Wieder und wieder las sie über die Zeilen und kam zu dem Schluss, dass es so am besten wäre. Sofort drückte sie auf Senden und erhob sich dann.

Von dem Kleiderstapel nahm sie sich den rot-grün karierten Wollrock, eine dicke Stumpfhose in schwarz und ein schwarzer Pulli.

Damit ging sie ins Bad. Der Koffer war auch gleich fertig gepackt. Es fehlten nur noch die Kamera und der Akku, sowie das Kabel von ihrem Handy.

Alles andere war schon fertig und stand im Flur.
 

Fertig gestylt und mit der Kamera um den Hals betrat Naomie das Schulgebäude. Immer wieder sah sie sich nach Seto um. Sie wollte noch nicht auf Konfrontationskurs gehen. Solange wie möglich wollte sie die Begegnung hinaus zögern.

Siegfried wartete im Wagen, wo auch ihr Koffer und ihre Tasche bereits verstaut waren. Er wollte Kaiba nicht jetzt unter die Augen treten. Was vielleicht auch gut so war, weshalb sie nur ihre kleine Handtasche dabei hatte, die Geschenke und die Kamera.

Sie war nervös und ihre Hände zitterten. Etwas, was sie grade gar nicht gebrauchen konnte und Naomie drückte sich im Schatten der dunklen Aula ganz am Ende herum, um unentdeckt zu bleiben.

Außerdem hatte sie hier die beste Chance im Mittelgang die Fotos zu machen und gut heran zu zoomen an Mokuba.

Sie hoffte nur Kaiba würde sie nicht sehen. Ihre Augen huschten durch die Dunkelheit auf der Suche nach einem langen Mantel und einer überragenden Gestalt. Doch nichts. Vielleicht saß er schon irgendwo in den Reihen und sah zu, wartete auf den Anfang, genau wie sie.

Kurz warf sie einen Blick auf ihre Platznummer und suchte die Reihe ab.

Da! Da war er. Ihr Sitzplatz und genau neben einem braunem Haarschopf.

„Scheiße!“, murmelte sie und drückte sich halb in einen Vorhang hinein. Neben Seto würde sie nicht sitzen können. Dann konnte Mokuba die Fotos vergessen!

Scheinbar hatte Seto einen ähnlichen Gedanken, denn er drehte sich herum, spähte zum Eingang und versuchte sie zu entdecken.

Im selben Moment ging sie in die Hocke und tat so, als müsste sie sich ihre Strumpfhose und die Schnürstiefel richten. Nur keinen Blickkontakt.

Es war absolut kindisch und Naomies Wangen brannten auch vor Scham, aber sie wollte nicht gesehen werden. Noch nicht. Vielleicht sogar gar nicht von Seto, wenn sie es schaffte.

Mokuba abfangen, Geschenk überreichen, verabschieden und ins Auto verschwinden. Perfekt!

Der Plan musste nur passen, das Timing perfekt sein und sie irgendwie zu Mokuba kommen, ohne von Seto gesehen zu werden.

Kurz spähte sie hoch. Kaiba hatte seine Aufmerksamkeit der Bühne wieder zugerichtet und sah nur auf den leeren Platz nebens ich, wo sie sitzen sollte.

Es tat ihr leid ihn da so alleine zu sehen, aber es war besser so. Abstand. Abstand war alles, was sie brauchte. So schwer es auch war die Füße nicht zu bewegen.

Kamera…Sie musste sich jetzt auf die Kamera und die Einstellung dazu konzentrieren. Das würde ihr helfen und schnell machte sie die ersten Schnappschüsse, stellte den Blitz und die Blende ein.

Ihr Blick schweifte wieder zu Seto und er blickte fast schon hoffnungsvoll auf, als eine blonde Frau sich neben ihn setzte. Scheinbar waren doch mehr gekommen als Sitzplätze da waren und sie hatte sich ihren gekrallt.

Seto fing sofort zu diskutieren an, auch wenn sie kein Wort verstehen konnte. Sie sah es deutlich am Schatten seiner Mimik, dass er ihr den Platz frei halten wollte.

Gott, war das süß!

Aber die Dame ließ sich nicht beirren, deutete auf die Uhr und dann auf die Bühne und machte scheinbar einen Kompromiss mit ihm oder er gab es auf. Genau sagen konnte Naomie es nicht.

Seto rutschte nur ein Stück von ihr fort und verschränkte die Arme. Seine Körperhaltung spannte sich enorm an, als würde er gleich aufspringen wollen.

Irgendwie kam sie sich auch schäbig vor sich so zu verstecken und Naomie spielte mit dem Gedanken sich neben ihn zu setzen. Aber sie würden nicht umhin kommen zu reden und das während der kleine Kaiba seinen Auftritt hatte, war nicht fair.

Sie war hin und her gerissen zwischen sich verstecken und sich absolut kindisch und feige benehmen und sich hinsetzen und die nächsten zwei Stunden das Gefühl haben auf glühenden Kohlen zu sitzen.

Er bräuchte sich zudem nur umzudrehen, um sie zu sehen. Der Blitz ihrer Kamera würde sie zusätzlich verraten. Kurzerhand steckte sie ihn ab und setzte eine neue Einstellung ohne Blitz ein.

So war es doch viel unauffälliger.

Naomie schluckte schwer und drehte sich weg, als er sich wieder umsah und versuchte sie in der Dunkelheit zu entdecken. Ihr Herz setzte aus und sie fühlte sich stocksteif, wie festgefroren.

Leise seufzte sie, als er sich wieder umdrehte und sie konzentrierte sich auf die Bühne. Ein Schulsprecher trat vor und las mit einem kleinen Reim das erste Programm vor.

Naomie schoss die ersten Fotos und warf auch einen kleinen Blick auf das Programmheft. Mokuba kam erst spät an die Reihe. Viel Zeit, um sich zu verstecken, den Plan auszutüfteln und vielleicht näher an die Bühne zu schleichen, ohne gesehen zu werden. Sie hockte sie ein wenig hin und schlich näher heran. Weitere Fotos wurden gemacht.

Naomie sah grade auf das letzte Bild und blickte auf den Programmpunkt.

Wieder einmal der Chor, der zum mit singen animierte, was sie bestimmt nicht tun würde.

Leise räusperte sie sich und zog ihr Handy raus, um Siegfried auf dem neuesten Stand zu halten. In gehockter Haltung saß sie auf dem Boden, tippte die Nachricht schnell auf dem Handy ein.

Sie würde drei Kreuze machen, wenn das hier vorbei war. Irgendwie hatte sie auch den Abend anders geplant gehabt. Nicht grade versteckt zwischen den Beinen und Stiefeln der Besuchern.

Vielleicht hätte sie sich doch zu Seto setzen sollen, anstatt auf dem Boden herum zu kriechen. Sie konnte fast schon seine Stimme hören und wie er ihr einen Kommentar rein drückte.

Ihr Blick wanderte wieder zur Bühne und sie entdeckte Mokuba am Rand der Bühne in dem übergroßen Zuckerstangenkostüm. Er grinste bis über beide Ohren und winkte in ihre Richtung, obwohl es auch genauso gut Seto sein konnte.

Anstandshalber winkte sie zurück und lächelte ihn an.

Sie hoffte inständig die Bilder würden im gefallen und sobald die ersten Klänge des Stückes ertönten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Hauptteil der Bühne.

Die Schüler tanzten so gut es ging zu der Musik und es war deutlich zu sehen, dass sie viel geschnitten hatten, um es für das Programm anzupassen. Aber die Eltern hatten trotzdem Spaß und Naomie versuchte den Blitzen der Handykameras abzuwarten damit sie in Ruhe das Bild machen konnte.

Gar nicht so einfach und es entlockte ihr ein schmunzeln, als Mokuba in dem Kostüm auf die Bühne getänzelt kam. Zusammen mit fünf anderen Schülern in ähnlichen Kostümen.

Wild tänzelten sie im Kreis, um die Zuckerfee und den Prinzen.

Leise kicherte sie.

„Das ist so süß!“, murmelte sie kichernd und erhob sich schwerfällig vom Boden. Sie wollte zurück in den Schatten, um noch weitere Aufnahmen zu machen, als sie jemand am Rockzipfel fest hielt.

Erschrocken drehte sie sich um und sah in Setos kühle, blaue Augen.

Scheiße!

„Hi…“, nuschelte sie verlegen.

„Wenn du dich vor mir verstecken willst, dann such dir ein besseres Versteck als den Boden aus. Wir sind nicht mehr im Kindergarten“, sagte er ruhig und blickte sie durchdringend an, dass es sie am ganzen Körper schüttelte.

„Ich hab mich nicht versteckt“, murmelte sie und Naomie merkte, wie ihre Wangen glühten.

Seto schnaubte und sah kurz wieder zur Bühne. Kurz klatschte er in die Hände, als das Stück endete und erhob sich dann.

„Wenn du mich nicht mehr sehen willst, dann kannst du es auch sagen. Ich werde dich bestimmt nicht verfolgen. Stalken ist nicht mein Stil“, sprach er kühl und lässig. Seine Hände gruben sich tief in seine Manteltaschen und Naomie konnte die Anspannung seines Körpers fühlen.

„Ach und was war nach Nikolaus?“, fragte sie mit einem unsicheren Lachen und versuchte sich die Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ihr Herz pochte schmerzhaft bis zum Hals und sie war sich sicher, dass er es sogar sehen konnte.

„Das war etwas anderes. Da ging es um etwas Geschäftliches“, antwortete er kühl und sie fragte sich, ob sie sich irrte oder ob wirklich einen leicht traurigen Blick in seinen Augen sah, als er sie ansah.

„Ich verstehe“, sagte sie, „Dafür klang es aber auch, als ob du dir tierische Sorgen gemacht hättest.“

„Hab ich auch und du weißt jetzt auch, wieso“, konterte er schulterzuckend und Naomie warf einen kurzen Blick auf die Frau, die ihnen beiden aus dem Augenwinkel zusah und interessiert musterte.

Auch Seto sah kurz zu ihr und erhob sich dann. Er ließ ihren Rock los und Naomie machte direkt einige Schritte nach hinten zur Wand, wo sie ihre Sachen geparkt hatte.

Seto folgte ihr stillschweigend und blieb direkt vor ihr stehen.

Naomie presste die Lippen fest aufeinander und drückte sich an ihm vorbei, um weitere Fotos zu machen und sich nicht beirren zu lassen in der Arbeit.

Das Klicken des Auslösers war alles, was zwischen ihnen die Stille fühlte. Das und die Musik von dem Ballettstück.

„Also?“, fragte Seto ruhig und leise nach einigen Momenten des Stillschweigens. Naomie wusste genau, dass seine Aufmerksamkeit auf ihr lag und nicht auf seinen kleinen Bruder.

„Also was?“, fragte sie so ahnungslos wie möglich und warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu.

„Ich warte.“

„Auf den Weihnachtsmann? Der kommt erst morgen Nacht“, sagte sie scherzend und grinste ihn an. Innerlich fluchte sie über sich selbst, dass sie wieder dabei sich fallen zu lassen, sich zu entspannen und mit ihm herum zu witzeln.

„Deinen Humor hast du scheinbar nicht im Bett gelassen oder auf der Feier gestern Abend. Das ist schön zu hören und ich denke, du weißt genau, worauf ich warte.“

„Dann hilf mir auf die Sprünge. Denn ich weiß es nicht.“

„Du versteckst dich vor mir. Heißt das, dass du mich nicht mehr sehen willst und solche Angst vor mir hast, dass ich dir an die Wäsche gehe? Keine Sorge, so viel Selbstbeherrschung hab ich noch.“

Naomie schluckte und machte erstmal ein paar weitere Fotos. Sie dachte genau über die Antwort nach. Zum Glück war es in diesem hinteren Teil recht dunkel, so dass er nicht sah, wie ihre Wangen nicht nur vom Rouge gerötet waren, sondern auch vor Verlegenheit.

Es war ja nicht so, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte, aber ihn immer wieder und wieder zu sehen, würde es für ihre Gefühlswelt nicht besser machen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie zögerlich und erhob sich. Sie sah Seto diesmal direkt an und versuchte auch nicht seinen Blick auszuweichen, was gar nicht so einfach war bei den blauen Augen. „Ich will den Kontakt nur ungern verlieren, aber wir zwei sind zu unterschiedlich. Du bist aus einer ganz anderen Schicht als ich.“

„Das hat dich auch nicht daran gehindert sich in mich zu verlieben.“

Das saß! Schachmatt!

„Nunja…es würde trotzdem nicht gut gehen. Du würdest viel arbeiten müssen und….“

„Das hat dich bisher auch nicht interessiert und Zeit für dich hatte ich trotzdem und für ein paar Küsse!“ Seto verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie weiterhin durchdringend an. „Also wenn du nicht bald mit einem guten Argument raus rückst, wieso das nicht gehen sollte zwischen uns, werde ich nicht locker lassen.“

„Das heißt, du willst mich belästigen?“, fragte sie skeptisch und trat zurück, um die Kamera zurück in die Tasche einzuräumen. Mokubas Auftritt war zu Ende und Seto raubte ihr alle Konzentration, die sie hatte, so dass an die Arbeit nicht zu denken war. Aber ein paar gute Aufnahmen hatte sie trotzdem machen können.

Seine Aussage hinterließ einen bitteren Beigeschmack in ihrem Mund. Genauso wie seine Worte heute Nachmittag.

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, stand er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt vor ihr. Naomie zuckte leicht zusammen und drückte sich an die Wand hinter sich. Sie spürte den abgegriffenen Samtstoff, der als Vorhang diente und wie schwer er wog.

Sie saß genau in der Falle.

„Ich habe es nicht nötig, dich zu belästigen, aber wenn deine Sturheit dafür sorgt, dass du den Kopf in den Sand steckst, gebe ich bestimmt nicht so schnell auf. Es sei denn, du sagst mir hier und jetzt, dass du mich nicht mehr sehen oder hören willst oder bringst ein anständiges Argument zustande, warum wir nicht zusammen sein sollten! Denn aufgeben tu ich nicht!“

Wieder biss sie sich auf die Lippen und fühlte sich wie ein Kaninchen in der Falle und er war der Jäger.

So ein Mist!

Er sagte genau das, worauf sie gewartet hatte. Die ganze Zeit hatte sie genau auf diese Worte sehnsüchtig gewartet und jetzt?

Wie sollte sie ihm vernünftig sagen, dass er ihr wichtig war, sie ihn nicht verlieren wollte, aber durch dieses hin und her so sehr verletzt war, dass sie Angst hatte sich darauf einzulassen. Sie hatten immerhin schon gestritten und er hatte ihr vorgeworfen, das nur zu tun und sich darauf einzulassen, um die Leiter auf der Karriere besser erklimmen zu können.

Das hatte schon ziemlich weh getan. Was würde er ihr vorwerfen, wenn sie richtig zusammen wären?

Fieberhaft suchte sie nach einem guten Argument, ohne großartig einen Seelenstriptease hinlegen zu müssen.

Weil er zu viel arbeitete? Versucht und gescheitert.

Weil sie aus unterschiedlichen Schichten kamen? Versucht und gescheitert.

Wegen der Hostess? Weil er sich mit ihnen bisher auf Festen und dergleichen rumtrieb und vielleicht auch das Bett geteilt hatte? Das wäre absolut unter der Gürtellinie und nicht fair. Sie erinnerte sich immerhin noch an das Gespräch, dass er nie eine von ihnen angerührt hatte und wenn er mit ihr zusammen wäre, wäre sie die Begleitung an seiner linken Seite.

Nein, das konnte sie nicht sagen. Das war nicht richtig.

„Ich will schon“, sagte sie, „Aber…ich kann es nicht. Wir haben doch jetzt schon Zankereien hinter uns! Wie soll das erst weiter gehen?“

Gut, dann eben doch die offene Art.

„Das nennst du Zankereien?“, fragte er skeptisch, „Also ich weiß nicht, was dein Ex bisher getan hat, aber das ist rein gar nichts.“

„Und gestern Abend?“

„Ich habe mich entschuldigt und ein Streit war das gewiss auch nicht.“

„Sondern?“

„Eine Meinungsverschiedenheit“, sagte Seto achselzuckend, „Außerdem muss ich doch eifersüchtig werden, wenn…“

„Sag das nicht!“, unterbrach sie ihn trotzig und wollte nicht noch mehr hören. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihre Worte kamen eine Spur zu scharf und sie atmete tief ein und aus.

Kurz warf Naomie einen Blick auf die Eltern und Verwandten, die dort in den Reihen saßen. Doch sie bekamen von all dem hier nichts mit.

Was wohl auch besser so war, sonst würden die Kameras nicht mehr auf den Kindern ruhen, sondern auf ihnen beiden und einige von den Leuten würden über Nacht fast reich werden an dem Geld, was die Presse zahlen würde für diese Fotos.

Seto trat näher an sie heran und streckte die Hand nach ihr aus.

Naomie zuckte zusammen und alles an ihr versteifte sich.

So sehr sie sich auch nach einem Kuss sehnte, wollte sie nicht. Sie wollte standhaft bleiben.

Seto strich ihr nur eine Haarsträhne aus dem Gesicht und über ihren Kopf, ehe er sich zurück zog und sie mitleidig ansah.

„Ich hab es vermasselt, oder?“, fragte er leise.

„Nein, hast du nicht“, antwortete Naomie sofort.

„Nein?“

„Nein, aber ich kann nun mal nicht bleiben. Der Abstand wird gut tun und wie ich zum wiederholten Mal sage, wir passen nicht zusammen. Unsere sozialen Schichten sind so unterschiedlich wie eine Birne und ein Apfel!“

„Sind beides Baumgewächse. Gar nicht so unterschiedlich also“, konterte er grinsend und brachte sie dazu ebenfalls zu schmunzeln, „Außerdem bin ich auch nicht reich geboren worden.“

„Wie?“, fragte sie perplex.

„Was denkst du, wieso ich mich so für Waisenkinder engagiere. Bestimmt nicht nur wegen der guten Presse und ich sagte dir auch zum wiederholten Mal, dass mich das nicht interessiert, was auf deinem Konto ist!“

„Oh….“, brachte Naomie nur raus, als ihr ein Licht aufging und die Erklärung für das Projekt direkt auf dem Silbertablett lag. Sie schluckte und wollte in dem Augenblick auch nicht nachbohren. Denn hier ging es nicht um seine Vergangenheit, aber nun konnte sie diese Ausrede auch nicht mehr benutzen, wenn er auch in eine normale Familie geboren worden war, wie sie auch.

So ein Mist!

„Also?“, fragte er wieder, aber ehe sie antworten konnte, hörte sie den Applaus der Eltern und Mokubas Stimme, als er auf sie zukam.

„Naomie, du bist ja wirklich gekommen! Seto sagte, du würdest wegfliegen und bei dem Schnee war ich nicht sicher, ob du nicht schon eher weggeflogen bist!“, sprach der Kleine und umarmte sie wild. Sein Kopf gab ihr einen Stoß in den Magen, der sie zum aufkeuchen brachte.

„Du bist ganz schön wild“, sagte sie grinsend und drückte den kleinen Kaiba. Naomie ließ sich nichts anmerken, dass sie grade mit Seto über Gefühle und Beziehungen sprach.

„Willst du dich nicht umziehen?“, fragte Seto und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Doch klar, aber ich weiß ja nicht, wie lange Naomie noch bleibt und ich wollte ihr schnell ihr Geschenk geben von uns!“

„Ich hab hier auch eure Geschenke!“, sagte sie grinsend und reichte Mokuba die Tüte, „Aber erst Weihnachten aufmachen!“

Sie zwinkerte ihnen zu und nahm dankend die Tüte entgegen. Herzlich drückte sie Mokuba und hielt bei Seto aber inne.

„Danke!“, sagte sie nur und versuchte fröhlich zu klingen.

„Gern und du kannst wirklich nicht bleiben?“, fragte Mokuba hoffnungsvoll und sah sie aus großen Augen an. Es wirkte mit dem Kostüm ziemlich merkwürdig, so dass sie kichern musste. Er beugte sich ein Stück zu ihr und senkte die Stimme.

„Außerdem wird Seto über die Tage wieder anfangen zu kochen, wenn du weg bist. Dann gibt es nur gesundes Zeug und ich muss Brokkoli und sowas essen! Das ist total widerlich und er kocht nur, wenn ihn etwas beschäftigt und er sich Sorgen macht.“

„Das habe ich gehört, Mokuba!“, sagte Seto etwas schärfer und musterte seinen Bruder mahnend. „Geh dich lieber umziehen. Wir müssen noch durch den Verkehr nach Hause. Ich will hier auch nicht eingesperrt werden.“

Er nickte Richtung Bühne.

Viele Eltern nahmen bereits ihre Kinder entgegen, lobten sie und nahmen sie bei der Hand, während sie sich noch mit anderen Eltern unterhielten. Andere rauschten bereits in die Ferien ab.

Mokuba nickte.

„Na gut, aber Naomie warte noch! Ich will mich noch richtig verabschieden!“, sagte er und rannte zurück, um das sperrige Kostüm los zu werden.

„Danke schon mal für das Geschenk“, sagte sie zu Seto, „Ich hoffe, du freust dich auch über deines.“

„Das werde ich ja dann sehen. Meinst du, du kannst deine Neugier zügeln?“

„Ich versuche es. Aber vermutlich nicht.“

Er nickte und schwieg, genauso wie sie.

„Also…ähm…ich müsste dann los. Dein Geschenk darfst du natürlich gerne schon aufmachen. Mokuba auch. Aber ich muss jetzt los.“ Naomie warf einen Blick auf ihr Handy. Eine Nachricht. „Siegfried wartet draußen schon die ganze Zeit und wir müssen los, ehe der Schnee zu viel wird.“

Seto brummte missmutig, um sein Missfallen auszudrücken.

„Was ist mit Mokuba? Er wollte sich noch verabschieden.“

„Es tut mir leid. Aber ich muss wirklich weg. Sag ihm bitte, dass es mir leid tut und dass wir uns bestimmt im neuen Jahr sehen.“

„Sag mir nur noch eins: Sehen wir uns auch im neuen Jahr?“, fragte er.

„Ich denke schon. Aber ich weiß es nicht mit Gewissheit.“

„Ich habe es wirklich vermasselt, was?“ Seto fuhr sich unruhig durch die Haare und Naomie schüttelte den Kopf, während sie ihre Kameratasche nahm und die Geschenktüte, die voll mit Süßigkeiten war und einem schmalen Geschenk mit gold-rotem Papier.

„Nein, ich weiß nur nicht, wer der echte Seto ist. Der, der so kühl zu mir ist und am liebsten wollte, dass ich ihm nie begegnet wäre und nur seine Angestellte bin oder der Seto, der mich an Nikolaus so wahnsinnig gut geküsst und verführt hat.“

„Es tut mir leid, wenn ich dir weh getan habe.“

„Schon gut, aber ich muss jetzt trotzdem gehen.“ Naomie beugte sich kurz zu ihm und küsste seinen Mundwinkel. Es war nicht ganz seine Lippen, aber auch nicht die Wange. Irgendwie ein Zwischending. Genau wie ihre Beziehung irgendwo zwischen Freundschaft und Liebe stand.

Sie löste sich direkt wieder von ihm und drehte sich um, um zu gehen. Nur kurz sah sie sich um und es tat ihr Leid, dass sie Mokuba nicht mehr sehen konnte. Zu gern wüsste sie, was die beiden von ihren Geschenken hielten. Aber umso neugieriger, was die zwei für sie hatten, war sie auch. Aber das würde sie sich erst im Flieger ansehen können.

Naomie hob ein letztes Mal die Hand zum Gruß, ehe sie hinaus in den Schnee trat und mit schnellen Schritten zur Limousine ging.

Ihr Herz lag schwer in der Brust und sie fragte sich, ob sie wirklich fliegen sollte. Denn mit einem Mal war sie sich nicht mehr sicher.

Türchen 24 – Heilig Abend

Der Morgen kam langsam und schleichend und doch genauso schnell, wie Naomie gestern aus der Schule verschwunden war. Der Gedanke schlich sich auch sofort in Setos Kopf, als der Schlaf ihn verließ und er langsam wach wurde.

Sie war gegangen. Sie hatte nicht auf Mokuba gewartet oder sich noch ein weiteres Mal umgedreht. Sie war einfach...weg. Er hatte es nicht geschafft sie umzustimmen und Seto hätte auch nicht gedacht, dass der Gedanke so schwer sein würde. Aber am meisten nahm er ihr doch übel, dass sie sich zum einen halb vor ihm versteckt hatte und zum anderen, dass sie Mokuba nicht richtig verabschiedet hatte.

Wenigstens auf seinen kleinen Bruder hätte sie warten können, anstatt die Geschenke zu überreichen und sich aus dem Staub zu machen. Das machte ihn noch immer ziemlich wütend und am liebsten wäre er ihr nach gefahren, aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen und er würde ihr nicht nach laufen. Auch wenn sein Gewissen sich wieder meldete und ihm anderes zuflüsterte, ihn anfeuerte und ihn anstachelte sich ins Auto zu setzen und persönlich nach England zu Siegfried zu fliegen, um sie zurück zu holen.

So traurig hatte er Mokuba ewig nicht gesehen. Als wäre Shadow von einem Laster überfahren worden.

Wenn er sie wieder sah, würde er ihr ordentlich was erzählen! Da konnte ihr Geschenk noch so gut sein! Egal, was sie da verpackt hatte.

Seto blinzelte müde und seufzte schwer. Verschlafen drehte er sich zur Seite und blinzelte gegen die Helligkeit von draußen an. Es war noch dunkel und die Lichterkette am Fenster war das einzige Licht, was das Zimmer ein wenig erhellte.

Heute war Heilig Abend und mit Sicherheit würde Mokuba gleich hier herein stürmen und auf das Bett springen, ihn wecken und anbetteln aufzustehen, zu frühstücken und dann endlich die Geschenke aufmachen zu dürfen.

Sechs Uhr. Wie jedes Jahr. Da brauchte er gar keinen Wecker.

Seto sah kurz auf die Uhr des Digitalweckers und stöhnte. Halb sechs. Gut, dann konnte er ja noch mal die Augen schließen und etwas Schlaf holen, ehe der Wirbelwind herein kam.

Aber an Schlaf war nicht zu denken. Nein, das wäre ja auch zu schön gewesen um wahr zu sein. Nach langer Stille meldete sich sein Gewissen wieder.

„Du solltest ihr nach reisen. Wenn du jetzt fliegst, dann wärst du zwar Mittags da, aber du wärst Heilig Abend in dieser Zeitzone zurück und ihr könntet zusammen Essen. Mokuba würde sich so freuen“, flüsterte sein Stimmchen wieder und ging ihm wieder auf den Geist. Wie war das noch mal, dass er es vermisst hatte? Er nahm alles zurück! Sofort!

Mürrisch brummte Seto.

Sein Hirn fing bei den Worten auch direkt an zu rechnen, wie schnell er zurück sein könnte, doch das Problem war die Zeitzonenrechnung. Irgendwie wollte das grade nicht von seinem Hirn verarbeitet werden. Daher brummte er erneut.

„Spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Du hast sie. Es fehlt nur der richtige Anstoß!“

Mit dem Arm umschloss er sein Kissen und ignorierte den Gedanken. Es war einer seiner wenigen freien Tage und jetzt wurde er um seinen Schlaf geraubt!

„Stell dir doch mal vor, dass wäre jetzt nicht dein Kissen, sondern Naomie! Du könntest sie so schön im Arm halten, sie küssen, sie anlächeln und mit ihr Lachen vor Glück! Wäre das nicht herrlich? Und obendrein auch ganz andere Dinge tun, wie die, die dir bei der Gala durch den Kopf gingen…Na, wie wäre das?“

Absolut kitschig!

Wie kam sein Hirn bitte auf so einen Gedanken, dass er schon vom zuhören Karies bekam?

Er zog die Decke höher und zuckte zusammen, als er im Flur Geräusche hörte. Seto rechnete fest damit, dass Mokuba kommen und sich auf das Bett stürzen würde, wie er es später auch bei den Geschenken tun würde, aber nichts passierte. Seine Anspannung fiel nur langsam von ihm und Seto versuchte wieder einzuschlafen.

Jedoch blieb ein Gedanke hängen, nämlich der, dass das Kissen Naomie wäre und er sie im Arm halten könnte.

Als er wieder die Augen öffnete, war es bereit hell draußen und obwohl alles wolkenverhangen war und ausnahmsweise mal nicht schneite, konnte er sehen, dass es deutlich später als sechs Uhr war.

Seto streckte sich ausgiebig und sein Rücken gab ein Knacken von sich, aber es tat gut endlich mal solange geschlafen zu haben, frische Energie zu tanken und sich auszuruhen.

Kein Telefon, was klingelt. Keine Nachrichten, kein Mokuba, der Geschenke auspacken wollte und keine Nachrichten von Naomie…

„Naomie…Mokuba…“, murmelte er und war sofort hellwach. Seto schnappte sich sein Handy und blickte auf die Nachrichten aus dem Chat mit ihr. Keine Reaktion. Sie hatte noch immer nicht geschrieben oder gar geantwortet auf seine Frage, ob sie gut angekommen wäre und ob es ihr gut ginge mit Siegfried.

Nicht mal gelesen hatte sie es.

„Scheiße…“, murmelte er und fuhr sich unruhig durch die Haare. Er hatte es verbockt, ut, das war ihm klar, aber sie musste doch schon längst angekommen sein! Auch, wenn es in England grade mal elf Uhr abends war und noch immer ein Tag vor Heilig Abend. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Gut, es wäre auch möglich, dass sie schlief und noch gar keine Chance hatte auf ihr Handy zu sehen oder…

„Oder sie ist mit Siegfried zugange und knutscht wild mit ihm herum!“, kicherte sein Gewissen und versetzte ihm damit einen ziemlichen Stich ins Herz.

„Halt die Klappe!“, murmelte er laut zu der Stimme seines Gewissens und er verdrängte die Sorge und sein zusammengekrampftes Herz bei dem Gedanken an sie und die Möglichkeit, dass sie einen Absturz gehabt haben können. Blanke Horrorszenarien schlichen sich schon in seinen Kopf. Von einem verführerischen Siegfried, der es wild mit ihr im Bett trieb bis hin zu einer Entführung und einem Flugzeugunglück.

Aber ehe er seinen wilden und verrückten Gedanken nach ging und nach Flugzeugabstürzen suchen würde im Internet oder sie anrief bis sie abhob, was sie wohl als ziemliches stalken empfinden könnte, widmete er sich sofort etwas anderem.

Der nächste Punkt war Mokuba.

Wo war er und wieso hatte er ihn ausnahmsweise mal schlafen lassen? Das war sonst nicht seine Art und es schien auch nicht so, als wollte er heute damit aufhören. Sofort sprang Seto aus dem Bett und zog sich eine lockere Hose und Shirt an, ehe sein Dienstmädchen vor Schreck umkippte, weil er nur in Boxershorts aus seinem Zimmer gestürmt kam.

Mit schnellen Schritten lief er über den Teppich und zum Zimmer seines Bruders.

Die Tür stand offen und das Zimmermädchen lüftete grade, ordnete die Kissen und Bettdecke und räumte die Kleidung vom Boden auf.

Als Seto im Türrahmen stehen blieb, blickte sie um und nickte leicht mit einem Lächeln.

„Guten Morgen, Herr Kaiba, Ihr Bruder ist unten in der Küche beim Frühstück“, beantwortete sie seine stumme und unausgesprochene Frage und ohne ihr auch nur einen Morgengruß zu schenken, lief er nach unten.

Im Flur wurde er direkt von Shadow kläffend begrüßt. Er sprang auf die Hinterbeine und bettelte um seine Aufmerksamkeit, damit jemand mit ihm spielte. Aber Seto ging zielstrebig weiter und tätschelte Shadow nur leicht den Kopf.

Als er in die Küche kam, saß Mokuba am Tresen und stocherte lustlos in seiner Schale mit Müsli herum. Seine Cornflakes waren schon ganz matschig. Er nahm einen Löffel auf und ließ die Pampe lustlos zurück in die Schale klatschen, was ein schmatzendes Geräusch verursachte.

Wortlos beobachtete Seto seinen Bruder, wie er im Müsli rührte und keinen Bissen runter kriegte. Mokuba steckte auch noch immer in seinem Pyjama. Seine Füße baumelten lustlos hin und her.

„Morgen, Mokuba“, sagte Seto nach einer Weile und trat in die Küche ein. Er ging sofort zur Kaffeemaschine und nahm eine Tasse aus dem Schrank. An der Maschine drückte er auf doppelten Espresso und wartete bis der Kaffee frisch und heiß in der Tasse war. Etwas Milch und Zucker dazu, fertig.

„Morgen, Seto“, murmelte Mokuba und schob die Schale weg.

„Kein „Fröhliche Weihnachten“ oder sowas?“, hakte er nach, „Kein Betteln, damit du die Geschenke öffnen darfst?“

„Geschenke sind doch erst morgen dran!“, erwiderte er prompt und wich damit der anderen Frage von ihm aus.

„Stimmt. Aber das hat dich all die Jahre auch nicht aufgehalten mich um sechs zu wecken und mich zu fragen, ob du schon mal eines auspacken darfst. Was ist also los?“

„Nichts.“

„Deswegen stocherst du in deinem Müsli herum?“ Seto nahm die Schale von der Anrichte und kippte das Zeug in den Müllschlucker, ehe er sie in die Spülmaschine stellte. „Na komm, ich mach dir ein richtiges Frühstück und du erzählst mir, was los ist und dann öffnen wir beide zusammen Naomies Geschenk. Ausnahmsweise, ok?“

Seine Stimme war fürsorglich geworden und er lächelte seinen Bruder zaghaft an. Kurz strich er ihm auch über den Kopf.

„Ich mach dir einen Obstsalat und Kakao. Was hältst du davon?“

Mokuba nickte abwesend und Seto nahm frische Milch aus dem Kühlschrank und mixte seinem Bruder im Handumdrehen einen warmen Kakao.

Sofort nippte sein Bruder davon. Wenigstens etwas. Seto zig währenddessen frisches Obst aus dem Kühlschrank und aus der Obstschale, zuckte ein Messer und fing an die Sachen zu schneiden.

„Ich finde das nicht fair!“

„Was?“, fragte er und blickte über die Schulter.

„Das Naomie einfach so abgehauen ist! Sie hat gesagt, sie wartete noch bis ich fertig bin!“

Seto seufzte leise und schnitt den Apfel fertig klein. Damit hatte er fast gerechnet.

„Sie musste den Flug kriegen, sonst wäre sie nicht weggekommen. Ich hab gestern Abend noch gehört, dass die Flughäfen danach gesperrt waren.“

„Dann hätte sie halt hier gefeiert!“

„Ich weiß und ich hätte auch nichts dagegen gehabt. Aber sie wollte eben.“

Mokuba gab ein brummen von sich und Seto Köpfte grade eine Kiwi, eher sie schälte und klein schnitt.

„Sie ist ja bald wieder da. Also mach dir keinen Kopf. Ich hab sie gebeten auf dich zu warten, aber sie musste wirklich los und es tat ihr auch leid. Sie hat es nicht böse gemeint. Sie mag dich wirklich“, versuchte Seto es weiter und widmete sich als nächstes den Äpfeln.

Aus dem Kühlschrank entnahm er Butter, Käse, Wurst zwei gekochte Eier aus der Verpackung. Im Brotkasten lag noch frisches Schwarzbrot.

„Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen, wenn sie ihr Geschenk aufmacht“, murmelte er und trank einen großen Schluck von dem warmen, süßen Getränk. Seto sah kurz über die Schulter und trank ebenfalls etwas von seinem Kaffee.

„Ich auch, aber ich bin sicher, sie lässt uns irgendwie dran teil haben.“

„Aber das ist nicht das gleiche!“

Was sollte er machen? Er konnte sie doch schlecht einsperren und dass er sie bevormunden und über sie bestimmen würde, hatte sie ihm auch schon vorgeworfen. Wenn er ihr auch noch verbieten würde mit Siegfried mit zu fliegen, wären seine Chance direkt unter Null. Es würde genauso weit unten liegen, wie die Chance, dass Wheeler jemals an einer Uni studieren würde bei seinen Noten.

Als Seto fertig war, stellte er den Obstsalat vor seinen Bruder.

„Iss einfach ein bisschen und dann werden wir uns einen schönen Tag machen und übermorgen fliegen wir nach Schottland zu unserem Ferienhaus“, sagte er tröstend und machte direkt weiter, seinem Bruder die gekochten Eier zu pellen und die Brote zu schmieren.

„Hast du von ihr schon was gehört, ob sie wenigstens gut angekommen ist?“, fragte Mokuba und löffelte etwas von dem Salat in seinen Mund.

„Nein, leider nicht. Aber ich bin sicher, sie wird sich melden, wenn sie angekommen ist. Vergiss nicht: Dort ist es grade mal halb zwölf Nachts. Ich glaube, sie wird todmüde sein und noch schlafen.“

Mokuba nickte und Seto schob ihm den Teller mit den fertigen Broten zu.

„Iss jetzt dein Frühstück. Ich bin mal oben im Arbeitszimmer und schau mal, was ich tun kann.“ Seto lächelte Mokuba aufmunternd zu. „Geh nachher mal mit Shadow raus. Ich glaube, er braucht einen Spielgefährten und das bringt dich auf andere Gedanken. Der Schnee im Garten ist auch noch unberührt.“

Das entlockte seinem Bruder doch endlich ein kleines Lächeln und Seto fiel ein Stein vom Herzen, das wenigstens etwas wieder bergauf ging. Zufrieden seufzte er und nahm sich seine Kaffeetasse mit.

Kurz machte Seto auch einen Abstecher ins Wohnzimmer. Unter dem geschmückten Baumlagen nur die beiden Geschenke, die Naomie ihnen gegeben hatte und Seto nahm sich seines darunter hervor und ging damit nach oben in sein Arbeitszimmer.

Es wurmte ihn so ziemlich, dass Mokuba dieses Jahr Weihnachten wohl nicht so glücklich verbringen würde, wie die Jahre davor und das nur, weil er alles verbocken musste. Seto war froh, dass Mokuba davon nichts ahnte oder ihm zumindest keinen Vorwurf machte, aber dennoch würde er nicht zulassen, dass er Trübsal blieb.

Ihm musste etwas einfallen!

Aber erstmal würde er duschen gehen und vielleicht hatte Naomie in der Zeit auch geantwortet, dann würde er ihr Geschenk öffnen…obwohl, das konnte er auch direkt tun.

In seinem Schlafzimmer angekommen, setzte Seto sich auf das Bett und öffnete die Schleife der Schachtel.

Er konnte wirklich nicht sagen, was dort drin sein würde. Es war eine ganz normale eckige Box. Es klang jedoch metallisch und sie fühlte sich schwer an.

Langsam öffnete er das Papier und sah eine verzierte Dose mit Duell Monsters Figuren darauf. Hauptsächlich waren es Drachen. Sogar sein geleibter Weißer war mit abgebildet.

Seto schluckte.

Wie war sie daran gekommen?

Diese Box gab es noch gar nicht auf dem Markt! Dafür lief grade mal die Werbung und sie sollten erst nach Weihnachten raus kommen!

Wie hatte Naomie das gemacht?

„Oh mein Gott…“, flüsterte er leise und öffnete die Dose, um sich die Karten anzusehen. Es war ja schon unfassbar, dass sie an Karten kam, die noch nicht mal auf dem Markt waren, aber dann auch noch an die Kartenbox mit Rare-Karte und Ultra-Rare-Karte war einfach unglaublich. Ihm blieb fast die Luft weg, als er die Hologrammdrucke sah. Einige dieser Karten würden nach Veröffentlichung über Tausende von Dollar wert sein!

Niemals hatte sie so viel Geld. Nicht mal mit dem Extra-Bonus, den seine Firma ihr zahlte und der war schon großzügig und im fünfstelligen Bereich, wo sie sicher auch noch aus den Socken fallen würde, aber das spielte hier nichts zu Sache.

Seto besah sich vorsichtig die Drachenkarten mit den möglichen neuen Kombinationen im Duell. Die Zauber- und Fallenkarten waren alle neu und rochen nach frischer Druckerfarbe.

Sie würden sein Deck erheblich verstärken und aufpolieren. Der Wert dieses Geschenks war für ihn nicht nur materiell, sondern auch emotional unglaublich wertvoll. Er könnte ihr gar nicht genug danken dafür!

So musste er sich nicht auch noch auf die Suche nach diesen speziellen Sonderkarten machen und Millionen dafür ausgeben. Aber wie…?

„Wie hat sie das geschafft?“, flüsterte sein Stimmchen genauso fassungslos und vor seinem Auge tauchte ein Bild der Erinnerung auf.

Sie stand in seinem Vorzimmer und wartete darauf, dass er Zeit für sie hätte. Pegasus, der auf sie einredete und ihr eine schwarze Box überreicht hatte. Genau die Box, die er jetzt in den Händen hielt.

Das komplette Set mit allen Sondereditionen und seltensten Karten.

Schwer schluckte er und legte die Karten zurück, ehe er eine Hand auf seinen Mund presste. Sie hatte es also von Pegasus bekommen und vermutlich hatte sie sich vorher auch ziemliche Gedanken gemacht, ehe der alte Sack es ihr angedreht hatte.

Aber dass sie es ihm überhaupt einfach so schenkte, anstatt es zu verkaufen und sich eine goldene Nase zu verdienen, war einfach nur süß.

Allein das zeigte ihm, wie viel er ihr bedeute.

„Und du hast dich, wie der letzte Idiot verhalten!“, warf ihm sein Gewissen vor und Seto sprang vom Bett auf. Die Box schloss er direkt in seinen Aktenkoffer ein, dann ging er zum Schrank und zog einen frischen Pullover und eine Hose aus dem Schrank.

Nein, das konnte er bis Neujahr nicht so stehen lassen!

Mokuba, gut, das konnte er hinbiegen und warten bis sie zurück kam, aber dieses Geschenk und sein mieses Gewissen, konnte er nicht beruhigen. Allein die Vorstellung, wie mies er sich benommen hatte in den letzten Tagen und sich auch noch mit ihr gestritten hatte und dann dazu das Geschenk…nein, da konnte er nicht mal schlafen und allein bei dem Gedanken in Kombination mit Mokuba wurde ihm schlecht.

„Und was willst du tun?“

Was wohl? Er würde duschen und sich direkt danach auf den Weg zum Flughafen machen, um nach England zu fliegen mit seinem Privatjet!

„Du überraschst mich grade, Seto. Scheinbar lernst du doch noch dazu!“, kommentierte sein Fistelstimmchen die Sache und er könnte innerlich sehen, wie zufrieden es doch grinste.

Es stand ja wohl außer Frage, dass er ihr jetzt folgen würde, um sie zu sich zu holen und ihr alles zu sagen, was ihm auf der Seele brannte.

Mit dem internen Haustelefon rief er Roland an und teilte ihm mit, dass er in einer Stunde den Jet bräuchte und gleich den Wagen.

Dann verschwand er ins Badezimmer, um sich schnell fertig zu machen.
 

Naomie fühlte sich total schläfrig, obwohl sie den halben Flug über geschlafen hatte. Aber obwohl der Sitz bequem gewesen war und Siegfried ihr auch eine Decke übergelegt hatte, fühlte sie sich steif und unausgeschlafen.

Siegfried war sogar so lieb gewesen und hatte ihr den Sitz zurück gestellt, damit sie richtig liegen konnte wie in einem Bett. Der Sitz war auch breit genug dafür, um als kleines Bett durchzugehen. Das war schon ein ziemlicher Vorteil, wenn man ein Privat-Flugzeug hatte. Es war groß und geräumig.

Aber all das änderte nichts an der Tatsache, dass sie fror und sich total eklig vorkam in den Sachen geschlafen zu haben, die sie am Vorabend bei der Schulaufführung getragen hatte. Ihre Bluse war zerknittert und der Rock lag total unordentlich und hatte sich halb in ihren Beinen verheddert.

Verschlafen drehte sie sich zur Seite und richtete sich etwas auf.

„Morgen…“, nuschelte sie zu Siegfried, der von seinem Laptop aufsah und sie direkt mit einem warmen Lächeln begrüßte.

„Du meinst wohl: Guten Abend?“, fragte er grinsend.

„Sind wir schon da?“, nuschelte sie und richtete sich etwas auf. Sofort zog sie die Decke wieder halb über sich.

„Fast. Wir sind grade über London. Es ist nicht mehr weit. Etwa zehn Minuten noch. Du hast den ganzen Flug über geschlafen.“ Er grinste sie an und winkte den Stewardess herbei, damit er ihr etwas zu trinken geben konnte. „Egal, was du gegen deine Flugangst genommen hast, es hat dich ziemlich ausgeknockt.“

Er ließ ein Kichern hören und klappte den Laptop zu, während er sich frischen Kaffee nachschenken ließ.

„Tut mir leid. Ich weiß nicht mal mehr, dass ich eingeschlafen bin.“

„Schon gut. Du sahst nach der Schulaufführung ziemlich fertig aus. Du hast die Ruhe gebraucht und dafür bist du auch hier. Ich hoffe nur, du kannst nachher noch schlafen? Hier ist es grade mitten in der Nacht.“ Siegfried nippte von seinem Glas, während sie sich streckte und von dem Wasser trank.

„Ich denke schon. Wirklich ausgeruht bin ich nicht. Tut mir trotzdem leid. Wir waren mitten im Gespräch!“ Verlegen sah sie über den Rand ihres Wasserglases zu Siegfried und stellte den Sitz wieder normal ein, damit sie nicht wieder einschlief, auch wenn sie grade nichts anderes lieber getan hätte.

„Wir haben uns über die Aufführung unterhalten und was wir die nächsten Tage unternehmen werden. Du bist wirklich eingeschlafen und hast mir sogar noch geantwortet!“, lachte er und Naomie lief hochrot an.

„Oh Gott! Ich will, glaub ich, nicht wissen, was ich gesagt habe!“ Sie trank das Glas leer und sah aus dem Fenster. Zu Hause würde es schon Heilig Abend sein und sie fragte sich, wie es Seto und Mokuba wohl ging. Es fühlte sich komisch an so weit weg von zu Hause zu sein.

„Du hast nur irgendwas wegen Kaiba gesagt. Er scheint dir zu fehlen und ich will wohl nicht wissen, was passiert ist, dass du gestern mit einem ziemlich trüben Gesicht da raus gekommen bist.“ Siegfried verzog ein wenig das Gesicht und blickte sie mitleidig an, während sie nach draußen sah und die Lichter von London beobachtete.

Auch hier war alles weiß und sah verschneit aus. Einfach wunderschön.

„Er hat mir gestern gesagt, dass er mich liebt“, murmelte sie leise und ihr warmer Atem beschlug das Glasfenster des Fliegers.

„Er hat…was?“ Siegfried klang ziemlich überrascht.

„Er hat gesagt, dass er mich liebt.“

„Und warum guckst so, als wäre das etwas total schreckliches? Ich dachte, du liebst ihn auch?“

„Tu ich auch, aber es war mitten im Streit. Wir hatten uns darüber gestritten, dass du mich zur Gala eingeladen hast und eins führte zum anderen und er fauchte mich an und meinte dann, dass er mich liebt…“

„Verstehe. Kaiba war ja noch nie dafür bekannt subtil zu sein oder einfühlsam. Tut mir leid zu hören, ich wollte dir auch keinen Ärger machen.“

„Dafür kannst du ja nichts, wenn er eifersüchtig wird.“

Siegfried brummte.

„Aber dafür bin ich ja extra hier bei dir, damit ich mich ablenken kann und er kann sich in der Zeit beruhigen.“

„Stimmt genau! Übrigens hat dein Handy vorhin mehrfach geklingelt. Ich hab nur den Ton ausgemacht und gesehen, dass es Kaiba war. Ich hab es also nicht gelesen.“

„Bestimmt will er wissen, ob ich gut angekommen bin…“, murmelte sie und las kurz die Nachrichten. Da der Empfang jedoch grade ziemlich schlecht war, würde sie erst später darauf antworten, wenn sie bei Siegfried angekommen wären.

„Herr Schröder, bitte schnallen Sie sich und Ihr Gast bitte gut an. Wir landen jetzt!“, sagte der Pilot über die Freisprechanlage und Naomie schnallte sich sofort an. Der Stewardess räumte die Getränke noch schnell weg.

Siegfried sah sie durchdringend an, während er ebenfalls den Sicherheitsgurt anlegte.

„Kannst du dich eigentlich entspannen, wenn er dir die ganze Zeit über schreibt?“, fragte er besorgt und sah ebenfalls kurz nach draußen.

„Ich wird einfach nicht reagieren. Ich schreibe ihm, dass ich gut angekommen bin, aber damit hat es sich dann auch getan. Er weiß, wieso ich nicht geblieben bin, obwohl er mich mehrfach darum gebeten hat.“

„Kaiba hat dich gebeten zu bleiben?“

Naomie nickte.

„Hätte ich bleiben sollen?“, fragte sie ein wenig besorgt und ihr Herz machte einen Satz. War es falsch gewesen? War Siegfried auch der Meinung, sie wäre dort besser aufgehoben? Tat sie ihm leid? Was, wenn er das nur aus Mitleid tat?

„Das läge bei dir. Ich hätte dich nicht gedrängt mit mir zu kommen. Es ist nur ungewöhnlich, dass Kaiba soweit über seinen Schatten springt. Du musst ihm wirklich was bedeuten, sonst würde er das nicht tun. Er ist nicht so der Gefühlsmensch.“

„Das habe ich gemerkt“, brummte sie und lehnte sich im Sitz zurück. Sie gähnte und sah nach draußen. In ihrem Kopf war sie bei Seto und Mokuba.

Sie hätte mit ihnen beiden feiern können, sie hätte bei Seto schlafen können, dann ein gemeinsames Frühstück, den Tag gemeinsam verbringen, um das Warten auf die Geschenke zu verkürzen und am Abend würden sie zusammen Essen. Vermutlich würde es ein riesiges Festessen sein.

Sehnsüchtig seufzte sie bei dem Gedanken und ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Ihre Selbstzweifel riefen ihr zu, dass sie umkehren sollte, um bei ihnen zu sein. Erst recht, weil sie nicht auf Mokuba gewartet hatte. Der Kleine tat ihr Leid für diese miese Nummer. Aber noch eine Sekunde länger bei Seto und sie hätte sich wirklich von ihm küssen lassen und ob sie dann noch so standhaft gewesen wäre, wäre fraglich gewesen. Immerhin wollte Naomie auch nicht Siegfried hängen lassen.

Dieser verdammte Zwiespalt machte ihr zu schaffen und ihr war einfach nur zum heulen, wie sie diesen verdammten Firmenchef mit seinen blauen Augen so verfallen war!

Um die Tränen zu verstecken, schloss sie kurz die Augen.

„Mach dir keine Sorgen, kleine Prinzessin, hier kannst du dich ein wenig ausruhen und in Ruhe über alles nachdenken. Ich hab dir doch von dem großen Spa-Bereich erzählt. Du kannst es jederzeit nutzen. In deinem Zimmer ist auch ein großes Bad mit Badewanne und Dusche. Wenn dir also danach ist, lass dir ruhig ein Schaumbad ein und lehn dich zurück. Mein Personal steht dir…“ Siegfried unterbrach sich und Naomie fragte sich, wieso. Sie war doch noch wach und hörte zu, auch wenn ihre Lider sich schwer anfühlte.

„…zur Verfügung“, beendete Siegfried den Satz und sie hörte, wie er ein Lachen unterdrückte, „Du bist die Zeitzonenverschiebung wirklich nicht gewohnt. Dann schlaf mal weiter und wir sehen uns morgen früh in aller frische, Prinzessin.“

Naomie spürte, wie er ihr durch die Haare strich. Zärtlich und liebevoll und für einen Moment stellte sie sich vor, Seto wäre da und würde das selbige tun und sie küssen.

Doch sie wusste, nichts dergleichen würde passieren und ihr Herz wurde schwer bei dem Gedanken. Eine dicke Träne stahl sich unter ihren Lidern hervor und lief ihr über die Wange, wo Siegfried sie auffing.

„Kaiba weiß dich wirklich nicht zu schätzen“, murmelte er leise und sie konnte es aber hören.

„Mag sein, aber ich mag ihn“, antwortete sie und zwang sich ein weiteres Mal die Augen zu öffnen.

„Tut mir leid. Ich dachte, du bist wieder eingeschlafen.“ Er sah sie versöhnlich an.

„Wäre ich auch fast. Aber wir landen gleich und ich will nicht, dass du mich tragen musst oder sowas.“

„Das würde mich nicht stören.“

„Es muss aber nicht sein und ein bisschen Bewegung und frische Luft tut mir bestimmt gut.“

Ein Ruck ging durch die Maschine, als die Räder langsam den Boden berührten und die Maschine auf der Landebahn ausrollte. Sie konnte jetzt nicht mehr die Lichter der Stadt sehen, sondern nur noch die Dunkelheit und die schwachen Lichter der Bahn.

„Gut, aber wenn du wirklich nicht mehr kannst, dann schlaf wieder und ich regel alles.“

Naomie nickte und blickte auf die kleine Tüte von Seto und Mokuba, die unangetastet auf dem Boden stand. Sie war ziemlich neugierig, was da drin war und was sich die beiden wohl überlegt hatten.

Selbst ihre Müdigkeit verflog bei dem Gedanken, was sich wohl darin befinden musste. Aber erst stand noch eine halbe Stunde Autofahrt durch ein Waldgebiet an, ehe sie bei Siegfrieds Anwesen sein würde.

Sobald die Maschine hielt, schnallte sie sich ab und stand auf. Genüsslich streckte sie ihre Glieder und bewegte sich ein wenig, um die Rückengelenke nach dem langen Sitzen zu entspannen.

„Morgen abend gibt es übrigens ein riesigen Essen in der Halle mit dem gesamten Personal und mein kleiner Bruder wird auch da sein“, sagte Siegfried und nahm seinen Mantel vom Haken, ehe er ihn überzog.

„Das klingt gut. Aber wieso mit dem Personal?“ Leicht fragend legte sie den Kopf schief.

„Das ist Tradition bei uns und es ist sozusagen die Weihnachtsfeier für das Hauspersonal.“

„Oh verstehe. Das ist echt eine schöne Tradition.“ Naomie nahm ihre Sachen und folgte ihm aus dem Flieger, während sie die Tüte fest mit den Fingern umklammerte, um sie nicht zu verlieren.

„Ich hoffe nur Leon kommt bei dem Wetter zurück und hängt nicht am Flughafen fest“, gab Siegfried leicht zu bedenken und es war an ihm einen besorgten Seufzer auszustoßen.

„Ansonsten bin ich ja da und du bist dann nicht alleine!“

Naomie grinste ihn an und als die kalte Nachtluft sie begrüßte, atmete sie diese tief ein. Es tat so gut die Beine wieder zu bewegen und wieder streckte sie sich. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und auch wenn die kalte Luft ziemlich schnell unter ihre Kleidung kroch, tat es gut die Kälte zu spüren. Es machte sie direkt wacher und trug die warme, kuschlige Müdigkeit von der Heizung und des Schlafes mit fort.

„Wenn wir zu Hause sind, kannst du auch endlich dein Geschenk von Kaiba öffnen“, sagte sie Siegfried über die Schulter hinweg und reichte ihr die Hand, als er unten war.

„Wie kommst du darauf, dass ich es wissen will?“, fragte sie leicht peinlich verlegen und nahm seine Hand an.

„Ich sehe doch, wie du sie sehnsüchtig ansiehst.“ Er grinste sie an und führte sie direkt zu dem Wagen, der schon bereit stand. Sie mussten nur noch auf das Gepäck warten, dann konnte die Autofahrt auch schon los gehen.

„Oh…naja ich bin halt neugierig.“

„Kann ich verstehen.“

„Ich frag mich auch, ob er meines schon aufgemacht hat.“

„Das kann ich dir nicht sagen, aber du bist ja auch hier, um dich von Kaiba abzulenken und nicht um weiter über ihn zu reden.“

„Oh sorry…ich…“

„Du vermisst ihn einfach. Schon klar, meine Liebe!“ Er küsste galant ihren Handrücken und sah ihr verzeihend in die Augen. „Ich bin trotzdem froh, dass du mitgekommen bist.“

„Ich hätte es einfach falsch gefunden abzusagen.“

„Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, hier zu sein.“ Siegfried sah sie besorgt an und zögerte einen Moment die Autotür zu öffnen, um sie einsteigen zu lassen. Er blickte zu dem Flugzeug und sie folgte seinem Blick zu Flieger.

Er würde sie sofort zurück schicken, wenn sie es wollte. Das würde er sofort tun. Hier und jetzt! Sie musste es nur sagen und Naomies Herz machte einen kleinen Sprung vor Freunde bei dem Gedanken zurück zu fliegen. Aber…

Ihr Blick ging wieder zu Siegfried. Er hatte sich so viel Mühe gegeben und sie konnte ihm einfach nicht absagen.

„Ich fühle mich nicht verpflichtet“, antwortete sie langsam, „Ich halte es grade nur für vernünftiger hier zu sein und du hast mich eben zuerst gefragt. Du bist kein Ersatz für Kaiba oder sowas. Das will ich damit nicht sagen.“

„Ich verstehe schon“, sagte er und öffnete endlich die Tür, „Aber wenn etwas ist, dann sprich mit mir, okay?“

„Ja, tu ich.“ Sie setzte sich in das Auto und schnallte sich sofort an. Siegfried stieg von der anderen Seite dazu und sie sah ihn an. „Tut mir leid, wenn ich dich vielleicht nerve mit meinem Liebeskummer.“

„Mir war bewusst, worauf ich mich einlasse“, gab er zurück, „Ich mache mir eben auch Sorgen um dich, weißt du.“

Naomie nickte und sah auf ihren Schoß. Ihr Herz fühlte sich verdammt schwer und in ihrem Magen lag ein dicker schwerer Stein, der ihr zu schaffen machte.

Dennoch war das Wissen, dass sie jederzeit zurück konnte, wenn sie es nicht mehr aushilft, tröstlich und machte es ihr einfacher nicht sofort einzuknicken. Naomie schlang während der Fahrt die Arme um sich.

Zum einen, weil ihr trotz der Heizung Kalt war und zum anderen hatte es irgendwie was Tröstendes in diesem Augenblick.

Die Fahrt verlief schweigend zum Anwesen von Schröder und der Weg war ziemlich holprig und uneben. Das Auto konnte auch nur langsam voran fahren, weshalb sich die Fahrt auch noch ein wenig in die Länge zog, aber als sie endlich da waren, konnte sie kaum den Mund vor lauter Staunen schließen.

Das Anwesen entsprang direkt einem Disney-Märchenschloss!

Das war keine Villa, sondern ein halber Palast!

Dagegen wirkte Setos Villa klein. Das hier war riesig. Eine weitläufige Parkanlage, ein riesiges Anwesen und unglaublich viele bunter Lichter. Im dem Vorgarten stand ein großer, geschmückter Weihnachtsbaum mit bunten Lichtern.

Es war ein wunderschöner Anblick und sie kam sich grade wie Cinderella vor, nur dass das hier nicht ihr Märchenschloss und der Besitzer auch nicht ihr Prinz.

Aber es war einfach nur unglaublich schön und wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie direkt die Kamera gezückt, um den Anblick auf Bild fest zu halten.

Morgen abend würde sie ein Foto davon machen. Aber für heute Nacht würde sie Ruhe brauchen. Andererseits war ihre Neugier auf das Anwesen ziemlich groß, so dass es ihr praktisch in den Fingern kribbelte die Kamera zu ziehen.

Aber nein, dafür hatte sie noch Zeit genug.

„Willkommen!“, begrüßte ein Angestellter sie, während ein zweiter die Koffer auspackte. Siegfried überreichte ihm direkt seinen Aktenkoffer und er wartete, ob sie auch ihm ihre Tasche geben würde, aber die behielt sie und er führte sie wortlos die Auffahrt und Treppe zum Eingang herein.

„Willkommen zurück!“, begrüßte ein Dienstmädchen die beiden und nahm ihnen sofort die Mäntel und Schals ab. Die Frau lächelte breit und strahlend.

Naomie sah sich neugierig in dem Vorzimmer um. Es roch nach Orangen und Nelken und einem Hauch von Zimt. Überall sah sie bunte Lichter, Kerzen und Tannenzweige mit bunten Kugeln.

Es war einfach herrlich geschmückt.

Weihnachtlich, aber auch nicht zu kitschig und auch nicht dezent. Genau die perfekte Mischung.

Um das Treppengeländer schlang sich eine goldene Kette mit Rentieranhängern, Engeln und Trompeten. Es war total süß und niedlich. Selbst in der Eingangshalle stand ein kleiner Tannenbaum. Siegfried schien deutlich mehr von Weihnachtsdekoration zu halten als Seto, denn sie konnte die winterliche Atmosphäre fühlen.

„Soll ich dir das Anwesen zeigen oder willst du erst etwas Essen und dich ausruhen?“, fragte Siegfried und grinste sie an, während sie das Foyer bestaunte, in dem allein schon ein ganzes Fest abgehalten werden konnte.

„Etwas Essen klingt gut und ich würd gern duschen“, sagte sie.

„Gut, worauf hast du Lust?“, fragte er, „Du kannst dir alles bringen lassen, was du willst.“

„Ein Sandwich würde reichen und dazu Tee.“

„Sehr gern! Ich bringe es Ihnen auf Ihr Zimmer!“, sagte das Dienstmädchen mit einem knicks und verschwand sofort.

Naomie sah ihr kurz hinterher, wie sie davon eilte.

„Komm mit. Ich zeig dir mal, wo die Zimmer sind. Morgen zeig ich dir das Anwesen, wenn du magst. Ich war übrigens so frei und hab dir noch ein paar Sachen besorgt. Wir werden bestimmt auch mal ausgehen und ich hab mir erlaubt dir für die Anlässe ein paar Kleider zu kaufen.“

„Oh…ähm okay“, murmelte sie verlegen und blickte sich noch mal um, während Siegfried sie die große Wendeltreppe nach oben führte und in einen Gang abbog. Naomie hoffte sich den Weg merken zu können. Denn das Anwesen war von drinnen noch größer, als es von außen aussehen mochte und es gab unzählige Türen und Nebengänge.

Irgendwie fühlte sie sich immer mehr in die Rolle von Julia Roberts in „Pretty Woman“ versetzt. Eine Mischung aus Prinzessin und Cinderella. So viel Luxus und dann kaufte er ihr auch noch Kleider, wo sie jetzt schon wusste, dass sie besser nicht nach dem Preis fragte.

Ihr Herz klopfte unruhig in der Brust und irgendwie kam sie nicht umhin Siegfried mit Seto zu vergleichen und kurz fragte sie sich auch, warum sie Siegfried nicht eher begegnet war. Er war um so vieles aufmerksamer und offener als Seto. Obendrein las er ihr jeden Wunsch von den Augen ab und sorgte dafür, dass sie sich rundum wohl fühlte.

Aber sie hatte ihr Herz nun mal an den gefühlskälteren verlieren müssen und wenn sie Siegfried ansah, dann konnte sie dort nichts Tieferes empfinden, als das, was sie auch für Takuya – ihrem Bruder – empfand.

Egal, wie fürsorglich oder liebevoll er zu ihr war. Sie würde ihn auch immer mit Seto vergleichen müssen. Sie waren sich beide zu ähnlich und doch auch grundverschieden. Es war auch schon merkwürdig gewesen, dass Siegfried ihr das superteure Kleid gekauft hatte für die Gala, was er ihr ausgesucht hatte.

In dem Moment hatte sie sich noch nie so attraktiv gefühlt und es war mehr als Schade, dass Seto sich mit ihr gestritten hatte. Aber sein Blick hatte für sich gesprochen.

Bei dem Gedanken musste sie grinsen und gleichzeitig kam eine schwere Wehmut über sie.

Naomie wusste auch nicht genau, was sie erwartete hatte von ihm, wenn er sie sehen würde. Zumindest keinen Streit. Aber irgendwie hatte sie schon was erwartet.

„Hier ist dein Zimmer“, sagte Siegfried und zog sie aus ihren Gedanken.

Mist!

Jetzt hatte sie total verpennt zu gucken, wo genau ihr Zimmer lag und ihm gar nicht zugehört!

„Danke.“

„Morgen zeig ich dir den Rest“, sagte er und öffnete die Doppeltür, um sie in das Zimmer zu lassen, „Wenn du etwas brauchst, zieh einfach an dem roten Strick. Dann kommt jemand von dem Personal.“

Er deutete auf das Seil, was direkt neben dem Bett hing und es erinnerte sie sofort an das alte viktorianische Zeitalter. Vorsichtig betrat sie das Zimmer und sie sah sich um.

Selbst eine kleine Tanne stand in der Ecke, es gab einen Kamin, sowie eine moderne Heizung, ein großes Doppelhimmelbett und ein großer antik aussehender Kleiderschrank. Dazu ein Tisch und ein kleines Sofa.

Im Kamin brannte bereits ein Feuer, was den Raum eine angenehme Note verlieh und kuschlig warm hielt.

„Ich hoffe, es gefällt dir?“, fragte Siegfried und musterte sie aufmerksam, während sie sich genau im Zimmer umsah.

Naomie nickte und trat an das große Fenster, um nach draußen zu sehen.

Es war stockfinster und sie sah nur den Schnee auf dem Balkon und die Lichter in Schneeflockenform.

Sie wandte sich davon ab und legte ihre Tasche auf das Bett ab. Es fühlte sich jetzt schon kuschlig weich an und sie kam sich unweigerlich vor, als wäre sie im teuersten Luxushotel der Welt.

Auf dem Bett lagen drei Kartonschachteln und Naomie wusste, dass darin die Kleider waren, von denen er gesprochen hatte.

„Danke. Es ist alles wunderbar!“

„Das freut mich zu hören. Soll ich dann hier bleiben und dir noch Gesellschaft leisten oder dich allein lassen?“, fragte er, doch noch ehe sie antworten konnte, klingelte sein Handy und er sah sie entschuldigend an.

Naomie musste schmunzeln. Es war wie bei Seto. Immer wollte jemand was.

„Ja…gut….warten Sie…“, sagte Siegfried und blickte sie besorgt an, „Entschuldige, ich muss telefonieren, aber wenn etwas ist, mein Zimmer ist direkt drei Türen weiter. Dein Bad ist direkt hier nebenan. Deine Koffer werden gleich hoch gebracht und das Essen und der Tee auch. Ich wünsch dir schon mal eine gute Nacht.“

Siegfried trat kurz auf sie zu und küsste ihre Stirn, ehe er hinaus ging. Sie konnte noch hören wie er sagte: „Stellen Sie durch.“

Dann hörte sie nichts mehr und sie war allein in dem riesigen Zimmer.

Im Kamin knackte das Holz und sie atmete erstmal durch, ehe sie ihren Sachen sortierte und es sich versuchte gemütlich zu machen.

Die Kleidung in den Boxen würde sie sich später ansehen, erstmal huschte sie schnell unter die Dusche, um die Müdigkeit fort zu waschen und das merkwürdige Gefühl noch immer auf Reisen zu sein.

Mit einer Dusche würde sie sich wesentlich besser konzentrieren können und auch länger wach bleiben können. Sie hatte Urlaub und sie würde ausschlafen können. Daher war es egal, wann sie ins Bett ging und wie es nun genau mit der Zeitverschiebung war.

Als Naomie im Badezimmer fertig war, standen ihre Koffer am Fußende des Bettes und auf dem Tisch stand eine Tasse Tee und ein Teller mit zwei Gurkensandwiches.

Daran könnte man sich doch glatt gewöhnen!

Schnell schickte sie auch eine Nachricht an Seto, dass sie gut angekommen sei. Fast hätte sie seine Nachricht auch vergessen. Eigentlich wollte sie sich auch gar nicht bei ihm melden, aber wenn er schon besorgt nachfragte, dann wollte sie nicht so ungerecht sein und sich gar nicht melden, wie es ihr nach dem Flug ging. Aber mehr würde sie bestimmt nicht schreiben!

Nachdem die Antwort auch abgeschickt war, legte sie das Handy zur Seite und stellte es auf stumm. Sie wickelte sich den Bademantel enger um und nahm die Geschenktüte von Mokuba und Seto mit auf das Sofa, um endlich zu sehen, was die zwei ihr geschenkt hatten.

Neugierig zog sie die zwei Geschenke heraus und betrachtete die teure Schokolade, die dort mit drin war.

Sie wollte nicht wissen, aus welchen teurem Patisseriegeschäft das war. Edel sah sie in jedem Fall aus!

Doch ihre Aufmerksamkeit galt eher den zwei Schachteln.

Zuerst öffnete sie die Größere der beiden und zum Vorschein kam eine Hülle mit CD darin. Auf einem handgeschriebenen Zettel stand die Anweisung, dass sie es in ihren Laptop oder PC einlegen sollte.

Naomie nahm sich eines der Sandwiches vom Teller und stand auf, um den Laptop aus der Tasche zu holen. Kauend, zog sie Kabel und die kleine Maus mit heraus, baute alles schnell auf und fuhr das Gerät hoch. Währenddessen hatte sie das erste Sandwich verdrückt und als der Laptop startklar war, legte sie die CD ein.

Sie wusste nicht, was genau passierte, aber scheinbar installierte ihr Laptop grade etwas von der CD. Irgendein Programm wurde dort grade drauf gespielt und Naomie runzelte fragend die Stirn. Auf der Hülle stand auch nichts. Sie war weiß und gab ihr auch keine Informationen.

Aber da es noch dauern würde, nahm sie sich das zweite Geschenk vor. Das war eine kleide Schachtel und als sie diese öffnete, wäre sie fast am Bissen erstickt.

„Scheiße…“, murmelte sie und legte das angebissene zweite Sandwich auf den Teller und putzte sich die Finger an der Serviette ab, ehe sie die Kette aus der Schachtel nahm und den kleinen Herzanhänger in Silber betrachtete.

Das war doch eindeutig Setos Mist!

Ihre Augen betrachteten unablässig die feine Silberkette und wie der Anhänger zwischen ihren Fingern hin und her pendelte.

„Du Idiot….“, murmelte sie leise und obwohl die Kette fein und leicht war, hatte sie das Gefühl, sie wog Tonnen in ihrer Hand.

Nein, das konnte sie nicht annehmen! Sie konnte sie nicht tragen!

Niemals!

Hatte er gehofft, sie so zurück zu kriegen? Mit Schmuck oder was sollte das bedeuten?

Naomie biss sich auf die Lippen und packte die Kette zurück in die Schachtel und schob sie außerhalb ihres Blickfeldes, während sich in ihren Augen bereits Tränen gesammelt hatten.

Dieses Geschenk war….nun, damit gerechnet hatte sie einfach nicht!

Schniefend wischte sie sich über die Augenwinkel und nahm einen Schluck von dem Tee. Er beruhigte sie sofort und die warme Flüssigkeit brannte ihr in der Kehle.

Dennoch entwich ihr immer wieder und wieder ein schniefen.

Sie vermisste ihn so unglaublich sehr und diese unnötigen Diskussionen und Missverstände zwischen ihnen machte es nicht einfacher! Nur weil sie aneinander vorbeiredeten und er besser gesagt so wie nie darüber, was in ihm vor ging.

Ihr Blick ging zu dem Laptop, der das Programm fertig herunter geladen hatte und sie öffnete den neuen Button auf ihrem Desktop in Form eines Hundes, der Shadow irgendwie ähnlich sah.

Das Programm öffnete sich und zum Vorschein kam ein Photoshopprogramm mit winterlichem Design. In der Ecke saß ein kleiner Hund und ein Chibi von…von ihr selbst.

„Was zum…?“ Naomie beugte sich näher und betrachtete die Mini-Form von sich und Shadow und las die kleine Sprechblase zur Begrüßung und Einführung des Programms. Neugierig wie sie war, lies die die Einführung zu und schluckte schwer, als ein Video sich öffnete mit den Grundfunktionen von Photoshop. Genau das, was sie auf der Messe als Kurs gegeben hatte, wurde dort wiedergespielt als Video. Irgendwer hatte sie dort aufgenommen.

„Scheiße…“, murmelte sie und klickte weiter. Scheinbar hatte Kaiba seine eigene Version von Photoshop für sie entworfen. Ihr Logo war hinterlegt, Grundeinstellungen, die sie bei jedem Foto verwendete gab es als Tastenkürzel eingespeichert, Lernvideos waren mit eingetragen und sogar ein Zugriff auf ihre Playlist und dem Radio der Umgebung, wo sie grade war, so dass sie es sogar in diesem Programm abspielen konnte und nicht erst den Musikplayer mit öffnen musste.

Der kleine Chibi in der Ecke gab Kommentare ab, was man an dem Bild verbessern sollte oder ob ein Lernvideo gespielt werden soll oder welche abgespeicherte Favoritenbearbeitung man gerne nutzen wollte.

Das Programm war einfach zu bedienen, dem originalen Photoshop so ähnlich und doch ganz anders mit erweiterten Funktionen und Nutzungsmöglichkeiten.

Es war sogar mit ihrem Mail-Postfach verknüpft, um bearbeitete Fotos direkt zu verschicken. Selbst das Design ließ sich nach belieben verändern und persönlich anpassen.

Seto hatte all ihre Funktionen irgendwie gespeichert und umgeschrieben, um ihr eine verbesserte Version von Photoshop zu schenken.

Er war doch absolut verrückt!

Als etwas feuchtes von ihrem Kinn tropfte, merkte sie, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen und sie wischte sie unruhig fort. Sofort bildeten sich neue und sie hasste und liebte ihn gleichermaßen dafür, dass er so aufmerksam war und das Programm geschaffen hatte.

Laut schniefte sie und rollte sich zusammen.

Ihr Herz schlug so kräftig und war gespalten mit mehreren Gefühlen. Wut, Verzweiflung, Sehnsucht, Liebe…und viele andere Dinge, die ihr Verstand kaum fassen wollten. Sie vergrub das Gesicht in den Händen, während die heißen Tränen über ihr Gesicht liefen.

„Hei, was ist los?“, fragte Siegfried plötzlich neben sie und Naomie zuckte zusammen, während ihr ein kläglicher Laut entwich. „Es tut mir so leid, meine Liebe!“

„Er ist doch ein Idiot…“, schniefte sie und ließ sich an Siegfrieds Schulter ziehen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er herein gekommen war. Das war so peinlich! Dabei wollte sie ihn damit nicht so stark belasten.

„Es tut mir so leid, was passiert ist. Ich kann verstehen, wenn du jetzt zurück willst“, murmelte er in ihr Haar und strich tröstend über ihren Kopf und Rücken.

„Was…wieso?“, fragte sie schniefend und ließ zu, dass neue Tränen flossen. Jetzt wollte Siegfried sie scheinbar auch schon los werden und vermutlich bereute er es, so ein Häufchen Elend mitgenommen zu haben. „Bestimmt nicht wegen zwei Geschenke!“

„Geschenke?“, fragte er verwirrt und folgten ihrem Deut zu dem Programm und der Kette in der Schachtel. „Oh…ich dachte….“

„Was? Was ist denn los?“, fragte sie und wischte sich wieder über die Augen.

„Nunja…ich dachte, du hättest es vielleicht selbst gehört…“ Siegfried sah sie besorgt an und biss sich auf die Lippe.

„Was denn?“

„Kaiba…“

„Was ist mit ihm?“

„Scheinbar wollte er dir doch nach fliegen. Er war auf dem Weg zum Flughafen ohne Mokuba und da ist ein Transporter in seinen Wagen gefahren. Sein Auto ist wohl total hinüber und sein Fahrer liegt im Krankenhaus mit mehreren Brüchen. Ich weiß nur nicht, wie es um ihn steht. Der Unfall ist wohl schlimm gewesen, wegen der glatten Fahrbahn…“

„Was willst du damit sagen?“, fragte sie und leichte Panik beschlich sie.

„Ich weiß nicht, wie schlecht oder gut es um ihn steht…Mokuba rief mich nur an und sagte, sein Bruder sei im Krankenhaus und ich soll dich informieren.“

Naomie hatte das Gefühl ihr Herz hörte auf zu schlagen. Die Sekunden zogen sich dahin, als wären es Jahre und sie konnte Siegfried nur ansehen, ehe sie sich zusammen rollte und die Hände über den Kopf legte.

Kein Ton kam ihr über die Lippen und sie hatte das Gefühl zu ersticken.

„Komm her, komm her…“, sagte Siegfried sofort und zog sie an sich, „Schau mich an, Naomie…atme tief ein, komm atme…ein und aus…so ist gut…“

Sie hatte das Gefühl noch immer zu ersticken, obwohl sie genau tat, was er sagte und wieder neue Tränen über ihr Gesicht liefen.

„Es wird alles gut…“, flüsterte er, „Alles ist gut…Willst du zu ihm? Ich kann dich zurück bringen, wenn du willst und dann kannst du bei ihm sein…“

Naomie brachte zur Antwort nur ein Schluchzen zustande, während sie sich an ihren Gastgeber drückte und sich von ihm in den Arm nehmen ließ.

„Naomie?“, fragte Siegfried, „Willst du zurück und zu Kaiba?“

Wieder sagte sie nicht und sie brauchte einen Moment, um sich ein wenig zu fassen, ehe sie den Kopf schüttelte.

Türchen 25 – Ein Licht in der Dunkelheit

Türchen 25 – Ein Licht in der Dunkelheit
 

Der nächste Morgen brach für Seto mit Kopfschmerzen an, die ihn aufstöhnen ließen. Selbst das Licht der Laternen und der Beleuchtung im Garten, was durch den winzigen Spalt seiner Vorhänge fiel, war zu grell und zu kräftig.

Jeder Muskel tat weh und er fühlte sich leicht benommen von den Schmerzmitteln aus der Klinik. Er war froh, dass er nur mit ein paar Kratzern, Schrammen, ein paar Nähten an der Stirn und einem verstauchten Finger davon gekommen war. Nichts bedrohliches und nichts, was nicht sein eigener Hausarzt regeln konnte. Er musste nicht wegen einer Platzwunde und drei Stichen dort bleiben und Seto war froh, dass er hatte gehen können. Denn Lust seinen nackten Hintern der Belegschaft in den dünnen Krankenhaushemden zu präsentieren, hatte er nicht. Vor allem wollte er nicht wissen, wie viele Schwestern dann sabbernd hinter ihm her gaffen würden oder ob nicht doch heimlich ein Foto seiner Rückseite auf irgendeinem Handy und in der Presse landete.

Es gab wenige Menschen, die seinen nackten Hintern je gesehen hatten. Seine Eltern, Mokuba, andere Kinder früher. Mehr nicht und er hatte bestimmt nicht vor das zu ändern.

Doch ihm ging es zum Glück soweit gut – abgesehen von den leichten Schmerzen und der Benebelung - , ganz anders als sein Fahrer, der auf der Notfallstation lag und mit einer Notoperation behandelt werden musste.

Die Wut ihn ihm ließ seinen Kopf wieder schmerzen und er musste sich mit einem tiefen Brummen beruhigen.

Jetzt war Heilig Abend vorbei, er hatte Mokuba den größten Schreck seines Lebens verpasst und den halben Abend im Krankenhaus zugebracht, während Naomie sicherlich die besten Weihnachtstage ihres Lebens mit Siegfried hatte, wenn er es nicht sogar schon geschafft hatte sich richtig an sie ran zu werfen.

Er legte seinen Arm über seine Augen und schloss diese, um für einen Moment ruhe zu haben und sich zu schonen.

Vermasselt. Er hatte es einfach nur vermasselt.

Naomie überreden wieder hierher zu kommen, war ein absoluter reinfall gewesen und er hatte gehofft, dass er Mokuba damit auch aufheitern konnte und damit auch sein Gewissen beruhigen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Es klang so simpel. Schnell hinfliegen, sie sich schnappen, reden und mit ihr zurück und vielleicht sogar mit einem persönlichen Happy End.

Aber nein, da musste ihm so ein bescheuerter Idiot seinen Lieblingswagen ruinieren und für einen Krankenhausaufenthalt sorgen.

War das der sogenannte Wink vom Schicksal? Seto glaubte kaum, dass er das Wort gedanklich wirklich aussprach…

Aber scheinbar sollte es einfach nicht sein, dass er ihr nach lief, wie ein räudiger Köter. Dabei war die Rolle doch eindeutig Wheeler vorbehalten.

Es sollte wohl nicht sein und vielleicht war es wirklich besser, sie gingen sich nun aus dem Weg. Sie waren einfach nicht füreinander geschaffen und Seto wusste, dass er auch nicht immer ein einfacher Mensch war. Aber das hier war doch einfach nur Scheiße!

Anders konnte man es auch nicht mehr nennen.

Da verliebte er sich wirklich mal in jemanden – ja, er konnte es grade wirklich unter dem Einfluss dieser Medikamente aussprechen – und dieses Mädchen musste er auch noch vergraulen.

Er war ein Idiot.

In seinem Kopf gab sein Stimmchen zumindest nur noch gequälte Laute von sich und das war schon das einzig Positive, was dieser Unfall mit sich gebracht hatte.

Langsam nahm er den Arm herunter und ignorierte den zusätzlichen Schmerz in der Brust, der eindeutig von einem gebrochenem Herzen stammte und nicht von geprellten Rippen. Aber zugeben, dass er Liebeskummer hatte, würde er nicht mal unter Folter! Sobald er wieder auf der Höhe war, würde er sich in einen Berg von Arbeit vergraben, um aus der Nummer wieder raus zu kommen.

Er musste sie einfach vergessen und aufhören sich Gedanken um sie zu machen. Es war vorbei und er hatte mal wieder verloren.

Vielleicht war es auch gut sie ziehen zu lassen, damit sie glücklich wurde.

Hieß es das nicht immer in irgendwelchen schnulzigen Songs oder Filmen, dass man denjenigen, den man liebt gehen lassen musste, damit er oder sie glücklich war und diese Person würde von alleine zurück kommen?

Na großartig. Hieß das also, dass er zum nichts tun verdammt war? Es war ja schon schlimm genug, dass er im Bett bleiben musste für die nächsten Tage!

Vermutlich würde er sich damit beschäftigen sich mit der Presseabteilung in Verbindung zu setzen und zu sehen, was es schon für Gerüchte über ihn gab. Selbst jetzt, obwohl ihm die Augen weh taten und sein Schädel brummte, wollte er wissen, wie groß der Schaden war und wie sehr es sich auf seinen Aktienkurs auswirkte.

Ein halbtoter Seto Kaiba….das wäre doch ein gefundenes Fressen!

Vor allem aber würde es Mokuba treffen. Denn das hieß auch, dass ihr gemeinsamer Ausflug ins Wasser fiel.

Na da hatte sein kleiner Bruder ja großartige Ferien!

Seto wollte auch gar nicht wissen, wie besorgt Mokuba gewesen sein musste und war froh, dass er das alles im Delirium verbracht hatte. Er konnte sich nicht mal richtig an den Heimweg erinnern oder daran, wie lange er geschlafen hatte.

Seto rollte sich im Bett herum und tastete nach seinem Telefon.

Zumindest das konnte er tun.

Verschlafen sah er auf die Uhrzeit. Es war gegen halb fünf am Morgen und noch stockfinster. Auf seinem Handy fand er mehrere Nachrichten von Naomie, verpasste Anrufe und sein Postfach quoll schon jetzt über von Beglückwünschungen zur baldigen Genesung.

Doch er schob alles auf den Touch-Screen zur Seite, stöpselte das Gerät ans Ladekabel an und las erstmal die Nachrichten von Naomie durch.

Erleichterung machte sich ihn ihm breit, als er las, dass sie gut angekommen war. Knapp formuliert und ziemlich distanziert. Seufzend sah er weiter auf die späteren Nachrichten, die sie geschrieben hatte und die er gar nicht mitbekommen hatte.

Sie hatte scheinbar auch von dem Unfall gehört und ihre Nachricht las sich eindeutig besorgter, so wie sie ihn fragte, ob alles gut war und ob es wirklich so schlimm um ihn stand. Die nächste war nur eine Stunde später gekommen und sie bat ihn durch zu halten und es durch zu stehen. Sie machte ihn Mut und wollte scheinbar trotz der Distanz sich um ihn sorgen.

Leicht schmunzelte er.

Hopfen und Malz waren wohl doch nicht verloren, so verzweifelt und besorgt, wie die Nachrichten waren.

Die Letzte erfreute ihn persönlich doch am meisten.

„Da du noch immer nicht geantwortet hast, scheint es ja doch richtig schlimm zu sein und da Mokuba bestimmt Gesellschaft braucht, mach ich mich auf den Rückweg zu euch!“

Sie war auf dem Weg hierher und er konnte es kaum fassen.

Offenbar hatte es nur ein wenig Dramatik gebraucht und die Erkenntnis, dass er in Gefahr war, damit sie ihre Meinung änderte. Aber jedes Mal konnte er das auch nicht machen, damit sie wieder zu ihm zurück fand.

Er hing doch an seinem Leben.

Er wollte auch lieber nicht wissen, ob die Nachrichten die Sache nicht nur aufbauschten oder derjenige, der sie informiert hatte.

Vielleicht hatte Mokuba auch maßlos übertrieben in der Hoffnung, dass sie nicht widerstehen konnte.

Perfide und nicht grade fair, aber es erzielte einen Erfolg. Seto musste jetzt nur noch warten bis sie zurück kam und bei ihm vor der Tür stand.

Aber wie sollte er sich entschuldigen? Wie sollte er ihr sagen, dass er sie hier haben wollte und es ihm Leid tat, was passiert war?

Sie sollte ja nicht herkommen, ihn sehen und wieder direkt verduften.

Mit zusammen gekniffenen Augen suchte er die neuesten Schlagzeilen über sein Handy raus und überflog diese. Dass er nicht schon Tod und seine Beerdigung und Mokubas Übernahme der Firma geplant war, war auch alles.

Kein Wunder, wenn Naomie ihren Hintern hierher bewegte.

Doch scheinbar hatte es der Gegenfahrer nicht geschafft. Sein Fahrer lag noch immer laut der Presste auf der Notfallstation und wurde operiert.

Immerhin hatte er nicht ins Gras gebissen. Das war schon mal eine gute Nachricht. Die andere war, dass er sich sicher war, dass sein Haus von der Presse umlagert war und das würde es Naomie unmöglich machen ungesehen herein zu kommen, ohne dass es direkt die ersten Gerüchte gab.

Seufzend stand er langsam auf.

Sein Kopf drehte sich, aber er brauchte dringend etwas zu trinken und Lust einen Wirbel mit seinem Personal zu machen, hatte er keine. Seto wusste, dass auf dem Tisch immer etwas stand.

Langsam und am Bett entlang tastend, ging er vorwärts.

„Au…“, murmelte er, als er mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß. Was stand den da nun wieder rum? Etwa seine Koffer von der Schottlandreise?

Er brummte leise vor sich hin und tastete sich weiter voran bis er zum Sofa angelangt war. In der Dunkelheit tastete er nach der Flasche mit Wasser und trank direkt aus der Flasche, statt noch nach einem Glas zu suchen.

Gierig trank er das Wasser halb leer, was n der Flasche war und nahm den Rest mit zum Bett zurück.

Nur kurz hielt er inne, als er etwas Rascheln hörte und blieb regungslos stehen.

Wer oder was war hier?

„Shadow?“, fragte er leise, doch nichts passierte. Sein Hund hätte schon irgendeinen Laut von sich gegeben. „Mokuba?“, fragte er weiter, doch nichts und es blieb wieder still. Nur leise hörte er von irgendwo Musik und es klang wie aus weiter Ferne. Es hätte auch aus der Küche stammen können.

Seto ging wieder zum Bett und ließ sich darauf sinken. Wer auch immer auf die Idee kam ihn in einen Seidenpyjama zu stecken, hatte nicht mitgedacht, wie warm so ein Teil war. Er zog sich das Hemd und die Hose aus, so dass er nur noch Boxershorts trug. Die kühle Luft ließ ihn kurz aufseufzen und er ging noch mal zur Heizung, um sie runter zu drehen, damit es nicht mehr ganz so warm war.

Erst dann ließ er sich wieder ins Bett fallen und trank etwas von dem Wasser. Er wollte sich wieder einrollen und schlafen.

Sein Kopf brummte und das Aufstehen war wirklich keine gute Idee gewesen. Vielleicht hätte er doch das Personal rufen sollen. Andererseits hatte er keine Lust sich übermäßig bemuttern zu lassen und wenn erstmal das Licht an war, dann würde er erst recht nicht mehr einschlafen können.

Seto drehte sich auf die Seite und schloss die Augen, um endlich wieder schlafen zu können, als er wieder aufschreckte.

Etwas bewegte sich auf seinem Bett und er bildete es sich nicht ein!

Seine Hand tastete über die Laken und Kissen.

Warmer Atem streifte seine Hand und als er weiter tastete, spürte er weichen Stoff. Warme Wolle mit einem Strickmuster.

Seto runzelte die Stirn und wirbelte herum, um das Licht anzustellen.

Sein Kopf dröhnte und das Licht blendete ihn. Kurz stöhnte er und die Person neben ihm gab ebenfalls einen missmutigen Laut von sich.

Okay, wer war da?

Seto musste kurz warten bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf verschwand und sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, ehe er sich umdrehte. Vor Überraschung keuchte er auf.

„Scheiße…“, flüsterte er, als er die Blondine neben sich liegen sah. Sie lag eingekuschelt in ihrer Strickjacke dort. Noch immer hatte sie Jeans und Schuhe an, die halb aus dem Bett hingen. In ihrer Hand hielt Naomie ihren MP fest und hörte beim Schlafen leise Musik.

Seto schluckte und berührte vorsichtig ihre Hand, als könnte sie eine Illusion sein. Doch ihre Haut war warm und fühlte sich auch echt an.

„Naomie?“, fragte er vorsichtig und fragte sich auch, wie lange sie dort schon so unbequem lag und auf ihn aufpasste. Ihre letzte Nachricht war doch gar nicht solange her, oder? War sie direkt nach ihrer Ankunft dort zurück gekommen?

Anders konnte er es sich nicht erklären, wie sie so schnell hergekommen war. Kein Wunder, wenn sie so tief und fest schlief mit den Kopfhörer im Ohr. Sicherlich hatte sie auch versucht wach zu bleiben, wenn er die Dose mit Energydrink musterte.

„Du bist doch….“ Zaghaft öffnete er ihre Hand und nahm ihr den Player ab. Langsam nahm er ihr die Ohrstöpsel aus den Ohren, schaltete das Gerät aus und legte es auf den Tisch. „Du solltest schlafen.“

Sie brummte zur Antwort und er nahm ihr Bein und zog ihr den ersten Schuh aus, ehe der zweite folgte. Dann legte er sich richtig ins Bett, deckte sie sogar zu und legte sich dann selbst erst wieder hin.

Er musterte mit leichtem Grinsend ihr schlafendes Gesicht. Sie hatte scheinbar wirklich viel Schlaf nötig. Ihm fiel auf, dass sie seine Kette trug. Er grinste breiter und zufriedener.

Seine Finger berührten das Metall, was auf dem Kissen lag und strich die Glieder entlang zu ihrem Hals und zu ihrer Wange hoch.

Er konnte ihren Puls unter seinen Fingern spüren und wie sie ein und aus atmete. Ihr Gesicht war warm und er spürte die getrocknete Salzschicht auf ihren Wangen vom Weinen.

Leise seufzte er, um sie nicht zu wecken und zog ihr eine Decke über den Körper.

„Du bist irre“, murmelte er und küsste ihre Stirn, ehe er ihr über den Kopf strich und leicht an sich drückte. Als er sich umsah, entdeckte ihre Koffer am Fußende über die er gestolpert war. Wie lange war sie wohl schon da?

Wie lange schlief sie hier schon, ohne dass er es wusste? Sie musste doch krank vor Sorge sein und eine andere Frage war, wie war sie herein gekommen, ohne gesehen zu werden?

Aber er konnte nicht anders als Erleichterung zu fühlen.

Erleichterung darüber, dass sie extra gekommen war, um ihn zu sehen und dass sie wohl doch noch immer so viel für ihn empfand, obwohl er alles vermasselt hatte.

Langsam löste er sich wieder von ihr und sah sie stumm an.

Seine Augen brannte und er spürte wieder eine Welle von Schmerz in seinen Muskeln. Eine Runde Schlaf, ehe er sich an die Arbeit mit der Presseabteilung konnte nicht Schaden und Naomie schlief ebenfalls friedlich.

Seto wollte sich grade umdrehen, als sie anfing sich zu bewegen und ihre Augen öffneten sich.

„Seto?“, fragte sie müde und rieb sich den Sand aus den Augen, „Seto!“

Er wollte grade den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, als sie ihn schon um den Hals fiel und an sich drückte.

„Oh mein Gott. Es geht dir gut!“, würgte sie raus und er musste nach Luft schnappen. Sie war verdammt warm, stellte er fest, als er die Umarmung zaghaft erwiderte. „Es geht dir gut…ich hab mir solche Sorgen gemacht.“

Ihre Stimme klang brüchig und so, als ob sie gleich wieder weinen würde. Er strich ihr über den Rücken.

„Und es geht dir gut! Verdammt!“, fluchte sie an seinem Ohr.

„Es ist alles gut. Ich bin noch mit heiler Haut davon gekommen“, sagte er und zog sie etwas von sich. Er strich mit dem Daumen vorsichtig die ersten Tränen von ihrem Augenwinkel.

„Es geht dir gut“, sagte sie bestätigend, als wäre das so unnatürlich und umfasste sein Gesicht mit den Händen. Sie küsste ihn und er sah sie überrascht an.

Es war der erste Kuss, der von ihr aus ging.

„Es tut mir so leid“, murmelte sie und küsste ihn wieder. Seto hatte grade so die Chance, die Arme um sie zu legen und sie an sich zu drücken.

„Schon gut“, flüsterte er und genoss es, dass sie ihn wieder und wieder küsste, „Ich hab auch Schuld.“

„Ich hätte nicht gehen sollen“, sagte Naomie und küsste ihn wieder, „Es war dumm von mir. Ich liebe dich.“

„Ja, war es“, sagte er strenger und schaute ihr kurz in die Augen, ehe er schmunzelte, „Aber ist schon gut. Du bist hier und mir geht es gut und ich bin froh, dass du da bist.“

„Los jetzt sag es schon!“, drängte die kleine Gewissensstimme ihn voran, doch er ließ sich Zeit und sie ein wenig zappeln. Nach allem, was war, hatte sie es verdient.

Aber vor allem war es wichtiger, dass sie aufhörte zu weinen und es war viel zu gut, dass sie endlich die Initiative ergriff. Er genoss es einfach nur, wie sich ihre Lippen anfühlten und ihre Hände, die unruhig von seinem Hals, seinem Gesicht und zurück wanderten, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie ihm Ruhe geben sollte oder ob sie ihn an sich drücken solle bis er keine Luft mehr kriegte.

„Es tut mir so leid….nachdem Siegfried mir erzählt hatte….“

„Siegfried?“, unterbrach er sie und sie nickte. Sie wischte sich kurz über die Augen.

„Ja, er sagte Mokuba hat ihn angerufen und ihm das mit dem Unfall erzählt und er meinte, es wäre besser, wenn ich zu dir gehe und nachsehe, ob alles ok ist.“

„Verstehe“, sagte er und konnte sich nur mit Mühe ein wissendes Grinsen verkneifen. Sein Bruder war ein kleiner Teufel, aber ein Genie.

„Denkst du, Mokuba hat mit Absicht…?“, fragte sie und er zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Aber spielt das eine Rolle, wenn du dafür hier bist?“

Sie schüttelte den Kopf und er strich ihr ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht.

„Siehst du. Komm her“, sagte er und drückte sie an sich. Er küsste ihre Stirn. „Mir tut es auch leid, was passiert ist.“

Naomie erwiderte seine Umarmung und lehnte sich an ihn heran. „Ich liebe dich wirklich. Ich hätte das nicht tun sollen. Es tut mir leid.“

„Schon gut, schon gut“, sagte er, „Vergessen wir es einfach. Wir sind beide dumm gewesen.“

„Warum wolltest du mir eigentlich nach kommen?“, fragte sie plötzlich.

Seto musste grinsen.

„Kannst du es dir nicht denken?“, fragte er und musste bei ihrem Gesichtsausdruck lachen, „Ich konnte doch Mokuba seinen Wichelelf nicht nehmen. Er hat dich echt vermisst und ich wollte ihm eine Überraschung machen.“

„Nur deswegen?“

„Was willst du denn noch hören?“

„Das weißt du genau!“

Er grinste frech und herausfordernd.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Du bist so fies!“, sagte sie schmollend und zog ihn wieder zu sich, um ihn zu küssen. Diesmal intensiver und gieriger.

Ihre Zunge drang ungeniert in seinen Mund und strich herausfordernd und spielerisch über seine Zunge. Er hörte sie seufzen und stöhnte genussvoll in den Kuss.

Er leckte über das warme, feuchte Fleisch in seinem Mund und stellte fest, dass sie das Gummibärchen schmeckte. Vermutlich von dem Energydrink.

Sie rutschte auf seinen Schoß und er zog ihr die Strickjacke aus, während er neckisch über ihre Lippen leckte und an ihrer Unterlippe knabberte.

„Ich liebe dich“, flüsterte sie wieder und unterbrach den Kuss, um ihn anzusehen.

„Ich liebe dich auch“, sagte er endlich und ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass er es endlich los geworden war. Er konnte es auch in ihren Augen sehen. „Aber erwarte grade nicht so viel von mir. Ich habe immer noch Kopfschmerzen und einige andere Wunden.“

Er sah sie entschuldigend an. Der Kuss war schon ein Versprechen von mehr gewesen, aber nicht jetzt. Vor allem hörte er bereits die tapsigen Schritte von Shadow und wie er im Flur entlang tigerte. Er scharrte mit der Pfote schon an der Tür und mit Sicherheit würde Mokuba auch noch bald rein platzen.

Da wollte er ihm in jedem Fall den Anblick ersparen.

„Schon okay. Ich hab mich drauf eingestellt dich pflegen zu müssen“, sagte sie frech und warf die warme Strickjacke auf den Boden, so dass sie nur mit Shirt auf seiner Hüfte hockte.

Seto sah zu ihr hoch.

„Ich bin nur angeschlagen, nicht todkrank“, korrigierte er sie und zog sie zu sich runter. Er küsste sie kurz und rollte sich mit ihr auf die Seite.

„Das ist doch egal. Als deine offizielle Freundin ab heute, ist es meine Pflicht mich um dich zu kümmern.“

„Gut, dann lass mich jetzt schlafen und sei still.“

„Willst du mich ärgern?“

„Ein bisschen.“

„Gut…“

„Aber schlafen wäre trotzdem gut. Ich bin sicher, du bist auch müde?“

Naomie gähnte, was seine Aussage nur bestätigte. Seto grinste wissend.

„Ist wohl doch nicht so einfach das fliegen, was, Darling?“

„Nicht wirklich, Schatz!“

Sie grinsten einander an und kicherte leise, ehe er sie zu sich zog und fest im Arm hielt. „Lass uns wirklich schlafen. Wir brauchen beide grade Ruhe und Mokuba wird uns früh genug wecken.“ Er gähnte und griff zur Decke, um sie einzukuscheln. „Ich liebe dich und es freut mich, dass dir die Kette gefällt. Dein Geschenk war auch wunderbar. Danke. Ich hoffe, das Programm hilft dir bei deiner Arbeit weiter?“, raunte er ihr wieder ins Ohr und schmunzelte, als sie sich bei ihm einigelte. Sie nickte dabei.

„Ja, vielen Dank. Es ist wunderbar.“ Sie küsste seine nackte Brust und ließ ihn erschaudern.

Das konnte ja jetzt was werden.

Seine erste Beziehung. Seto hoffte, dass Naomie wusste, worauf sie sich einließ. Er wusste es nämlich nicht.

Da hatte seine Presseabteilung gleich die nächste Arbeit und konnte über ihn fluchen.

Doch wenn es eines gab, was die Presse liebte, dann Klatsch und Tratsch über Beziehungen. Seto konnte also keinerlei Nachteile für seinen Ruf sehen. Im Gegenteil, es würde sein Ansehen und das der Firma noch mehr in den Vordergrund rücken. Doch das war nur einer der vielen Vorteile, die diese Beziehung mit sich bringen würde. Der wichtigste jedoch war, dass er sie so oft er wollte im Arm halten konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (31)
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Von:  KiraNear
2016-02-28T23:05:55+00:00 29.02.2016 00:05
Seto in so einem Patientenoutfit - das wäre echt ein herrlicher Anblick gewesen XDD
Aber schön zu sehen, dass er es überlebt hat. 
 
Aww, das ist echt ein süßes Ende :3
Eine tolle FF, hat mir von Anfang bis Ende sehr gut gefallen^^
Von:  KiraNear
2016-02-09T22:11:31+00:00 09.02.2016 23:11
Dass Siegfried mit seinen Angestellten feiert, überrascht mich doch ein wenig, aber ich find es klasse :-)
Seto könnte das auch mal machen XD
 
Das mit dem Programm ist echt cool, das bekommt man auch nicht alle Tage geschenkt O_O
 
Shit, da hat es ihn ja echt sowas von schlimm erwischt - hoffe, er ist noch mit dem Leben davon gekommen!
Von:  KiraNear
2016-01-17T15:31:30+00:00 17.01.2016 16:31
Argh, dass das so kompliziert zwischen den beiden sein muss - aber gut, die beiden sind auch nicht so ganz unschuldig daran X_X
Uff, hoffe, sie raufen sich nochmal zusammen, ich meine, sie beiden wollen es ja, sie müssen es nur noch richtig umsetzen. Schade, dass sie Setos SMS gelöscht hat, so werden sie und wir (Leser) nie erfahren, was darin stand D:
Freue mich schon aufs nächste Kapitel, ob sie nun fliegen wird oder nicht.
Von:  KiraNear
2015-12-05T20:53:29+00:00 05.12.2015 21:53
Ich kann Setos Gefühle verstehen, aber er sollte sich trotzdem nicht am Boxsack kaputt machen. Das bringt doch keinem etwas :/
 
Ha, da hat sie ihn ja wirklich reingelegt. Aber immerhin hat sie ihn zum Sprechen gebracht, also ist es jetzt nicht ganz so fies. Von sich aus hätte er bestimmt den Mund nicht aufbekommen.
 
Ja, Mokuba wird wirklich oft entführt :D
Bestimmt kann er längst unerfahrenen Entführern sagen, was sie richtig machen und was nicht. Oder er nutzt ihre Unwissen aus und bestellt mit ihnen zusammen eine Pizza XDD
 
Aww, er hat es gesagt :33
Hoffe, sie glaub es auch und nimmt es an ... argh, sie glaubt ihm nicht >_<
 
Nein, das passt ganz und gar nicht zusammen. Ich glaube, nein, ich weiß, dass sie versucht alles zu verdrängen. Ich kenne das, da ich ein solches Verhalten ebenfalls ganz selten an den Tag lege.
 
Ui, da bin ich mal auf das nächste Kapitel gespannt^^
Von:  KiraNear
2015-10-11T08:00:14+00:00 11.10.2015 10:00
Ersteinmal: Yay, ein neues Türchen :3
Freu mich schon darauf, es zu lesen.
 
Ja, das mit den Klatschblättern und dem anschließenden Geläster kenn ich aus denen von Mama. Da wird dann scharf beurteilt, wer gut herumlief und wer nicht. Und wehe, zwei Leute hatten das Gleiche an. Da hab ich mich jedes Mal gefragt: Ist es nicht egal, wer was anhat O_o
Klatschblätterleute sind irgendwie seltsam XD
Glaube aber nicht, dass sie sich trauen werden, irgendwas über Seto selbst in der Richtung zu machen.
 
Tja, Mokuba kann die Situation wohl viel besser einschätzen als du, Seto.
 
Seto, das kommt mir jetzt doch nicht wirklich wie ein Hinderungsgrund vor. Vllt läuft damit die Zusammenarbeit zwischen den beiden besser, weil keine unausgesprochenen Gefühle mehr zwischen ihnen stehen.
 
Ich glaube, seine Presseabteilung bekommt dann keine Suizidgelüste, ich denke eher, dass sie darüber froh wären. Dann hätten sie einen Anhaltspunkt, um ihm ein freundlicheres, besseres Image verpassen zu können.
 
Tja, Seto, so einfach macht es dir dein Gewissen bestimmt nicht. Und ja, er sollte wirklich etwas offener sein, nicht immer so geschäftsmäßig mit ihr umgehen. Ich wäre an ihrer Stelle auch total verwirrt.
 
Offenbar gefällt ihm, was er da sieht ;-)
Und ja, er ist selbst schuld, wenn er sie nicht frägt.
 
Ja, das ist doch ziemlich hart für den armen Seto. Wehe, er kommt auf die Idee, ihr da hinterher zu spionieren. Also entweder kommt er dafür selbst auf die Idee, sein kleiner Bruder bringt ihn dazu oder er schickt jemanden hin. Oder er entführt sie einfach vom Flughafen XD
 
Sieht so aus, als bekäme er nun die Rechnung für sein Hip-Hop Verhalten. Sowas macht man auch einfach nicht und ich wäre ebenfalls total angepisst, wenn man das mit mir machen würde. Da hat Naomi schon recht, er hätte sich mal entscheiden müssen.
 
Ach, Menno >_<
Aber ich glaube nicht, dass es zu spät ist, bzw ich hoffe es. Ich will es einfach nicht glauben, dass es bereits zu spät ist.
 
Freue mich, dass du an der FF weitermachst^^
Hab auch gesehen, dass es noch ein neues Kapitel gibt, hoffe, ich komme bald dazu, es zu lesen. Die Spannung hält man ja nicht aus!
 
Für mehr Kommentare auf Animexx
Von:  KiraNear
2015-04-14T21:00:22+00:00 14.04.2015 23:00
Aww, und ich kam erst jetzt dazu, das Kapitel zu lesen. Hoffentlich geht sie auf sein Angebot ein, das ist mehr als super. Und schön, dass er sich für sie eingesetzt hat gegenüber ihrem Ex. Ich hab zwar keinen Ex, aber ich kann mir trotzdem irgendwie vorstellen, wie sich fühlt. Tolles Kapitel :-)
Von:  KiraNear
2015-02-09T15:08:18+00:00 09.02.2015 16:08
Klasse Anspielung auf Sailor Moon XDD
Aber das Wortgefecht zwischen den Beiden ist auch nicht von schlechten Eltern.
Von:  KiraNear
2015-02-09T13:22:35+00:00 09.02.2015 14:22
Oh Mann, Joey >_<
Eigentlich müsste er sie doch besser kennen, um zu wissen, dass sie wirklich nicht so eine ist. Ob er das ernst meint so, oder ob da einfach nur die Eifersucht aus ihm spricht?

Hm, Seto sollte aber weiterdenken - ein Pin-up Kalender mit ihm gehen bestimmt weg wie die warmen Semmeln XD
Von:  KiraNear
2015-01-27T19:33:22+00:00 27.01.2015 20:33
Naja, irgendwo hat sein Gewissen recht: Seine Eifersucht ist gerade dabei, alles kaputt zu machen. 
Go, Gewissen, go! Ich steh da voll hinter dir XD

Mann, Mann, er ist aber auch nicht gerade die hellste Birne im Schrank, wenn es darum geht^^°
Aber wenigstens ein Teil von ihm merkt es - bin mal gespannt, wie er jetzt darauf reagieren wird.
Von:  KiraNear
2015-01-27T18:35:55+00:00 27.01.2015 19:35
Ich würd nur zu gern Setos Gesicht sehen, wenn er erfährt, dass die beiden beim Shoppen waren XD
Oh, ich werde es schneller erfahren als gedacht, das ist aber auch wirklich ein zu blöder Zufall, dass die genau in dem gleichen Laden einkaufen gehen.

Aww, das ist schön ... würde ich gerne sagen, aber wenn Seto so weitermacht, verkrault er sie nur und erreicht garantiert nicht das, was er innerlich gerne hätte.


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