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Creepypasta Extra: Umbra

Schatten einer Tragödie
von

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Die gestohlenen Unterlagen

Eine leise Stimme war es, die Anthony wieder zu Bewusstsein brachte und als er langsam die Augen öffnete, sah er sein Dienstmädchen Jenna neben sich knien. Viola und Vincent kamen gerade herein und eilten ebenfalls zu ihm. „Sir, geht es Ihnen gut? Sagen Sie doch etwas!“ Vorsichtig setzte er sich auf und fühlte den rasenden Kopfschmerz, der ihn beinahe wieder auf die Matte geschickt hätte. Verdammt noch mal, das war eine hinterhältige Falle gewesen. Diese Christine hatte seinen Verstand so stark überlastet, dass sich sein Bewusstsein einfach verabschiedet hatte. Aber wie zum Teufel hatte sie das bloß geschafft? Selbst Konstrukteure waren nicht fähig, ihresgleichen auf solche Weise lahmzulegen. Anthony konnte sich ja gegen so etwas schützen, aber Christine hatte diese „Sperre“ einfach umgangen und seinen Verstand mit einer Flut an Informationen überschüttet, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. Er sah sich um und stellte fest, dass sie nicht mehr hier war. „Helft mir mal hoch…“ Vincent und das Dienstmädchen zogen ihn vorsichtig hoch und etwas unbeholfen und taumelnd kam er wieder auf die Beine. Seltsam, warum nur hatte sie das getan? Hätte sie seine Antiquitäten stehlen wollen, dann hätte sie es doch nicht so umständlich gemacht. Dann hätte sie ihn einfach niedergeschlagen oder gleich umgebracht und Jenna gleich mit dazu. Nein, sie war nicht hinter den Antiquitäten her gewesen. Das stand schon mal glasklar fest. Sie musste etwas anderes gesucht haben. Aber was in seinem Hause könnte denn außer den Sammelstücken und Antiquitäten noch von Wert sein? Die Unterlagen, schoss es ihm in den Kopf und sofort machte er sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Die Forschungsunterlagen seines Halbbruders Hinrich, der damals die Dream Weaver Experimente geleitet hatte. Wenn Christine es auf diese abgesehen hatte, musste sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum amerikanischen Geheimdienst gehören. Hoffentlich hatte sie es nicht geschafft, seine Erinnerungen einzulesen und somit herausgefunden, wo er die Unterlagen versteckt hatte. Nicht auszudenken, wenn sie diese las und somit erfuhr, dass er mit Hinrich Helmstedter verwandt war und dass sein Vater ein Mitglied der Gestapo gewesen war. Das wäre eine Katastrophe. Zwar konnte ihm rein rechtlich nichts passieren, weil er ja nicht für die Fehler seiner Verwandtschaft verantwortlich war, aber in den Forschungsberichten waren Namen und Daten versehen. Man musste nicht einmal eins und eins zusammenzählen um dann zu wissen, dass er, Vincent und Mary Konstrukteure waren. Dann würden sie ins Visier der Regierung geraten und dann erneut für irgendwelche Versuche und Experimente missbraucht werden. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

Anthony eilte in sein Arbeitszimmer und fand alles durchsucht vor. Sämtliche Akten waren aus den Regalen genommen worden und Dokumente lagen verstreut herum. Christine hatte es also tatsächlich auf Hinrichs Forschungsunterlagen abgesehen. Vincent war beunruhigt, als er das Chaos sah und fragte, was das zu bedeuten habe, aber Anthony antwortete nicht. Er eilte zum Bücherregal, zog es von der Wand weg und offenbarte einen versteckten Wandtresor. Diesen öffnete er und stellte mit Entsetzen fest, dass er leer war. Alles Blut entwich seinem Kopf und fassungslos starrte er in die Leere hinein. „Sie sind weg“, murmelte er und sah seinen besten Freund mit einem Blick an, der nichts Gutes verhieß. „Die Forschungsunterlagen von Hinrich sind weg. Sie sind gestohlen worden.“

„Scheiße… und… was heißt das für uns?“

„Dass wir echt in Schwierigkeiten stecken, wenn diese Christine wirklich vom amerikanischen Geheimdienst ist. Sie werden wissen, dass wir noch am Leben sind und dass wir damals zum Projekt gehörten. Und wenn sie das wissen, werden sie uns wieder einsperren.“ Anthony schlug mit der Faust gegen die Wand, weil er sich so ärgerte, dass er die Unterlagen nicht besser woanders versteckt hätte. Vor allem aber war er wütend darüber, dass er sich so austricksen ließ und sowohl sich selbst als auch Vincent und vielleicht auch Viola in Gefahr gebracht hatte. Vincent, der ebenfalls besorgt über diese Entwicklung war, versuchte einen ruhigen Kopf zu bewahren und vernünftig mit seinem besten Freund zu sprechen. „Hör mal, noch sind wir nicht aufgeflogen. Außerdem sind wir hier in England und nicht in Amerika, die können uns nicht einfach festnehmen. Das wird man bei uns nicht zulassen.“

„Du stellst dir das vielleicht einfach vor, aber glaub mir, davon lassen sich die Amis auch nicht abschrecken. Entweder werden sie irgendwelche Dinger drehen und uns als flüchtige Kriminelle darstellen, die man ausliefern soll, oder aber der Geheimdienst kommt uns abholen. Verdammt, das ist genau die gleiche Situation wie mit Hannah damals und ich hatte gehofft, dass mir das nie wieder passieren wird.“

„Wer ist Hannah?“ Aber Anthony schüttelte nur den Kopf und schloss den Tresor wieder. Er sah mit einem Male viel älter aus, als wäre er in wenigen Sekunden um Jahrzehnte gealtert. Doch dann senkte er traurig den Blick und erklärte „Hannah war eine DDR-Flüchtige, die ich damals bei mir aufgenommen habe, als ich noch in der BRD gelebt habe. Die Sowjets haben ebenfalls Forschungen bezüglich des Dream Weavers betrieben, sie aber in ganz anderem Stil durchgeführt und Hannah war die Einzige, die das durchschaut hat. Ich hab versucht, sie zu verstecken, aber dann wurde sie von russischen Agenten geschnappt und zurück in die DDR gebracht. Kurz darauf habe ich von ihrem Tod erfahren.“ Nachdem Vincent das gehört hatte, verstand er sehr gut die für den sonst so besonnenen Anthony heftige Reaktion auf die verschwundenen Unterlagen. Aber leider war es nun mal nicht rückgängig zu machen und es galt deshalb zu überlegen, was man nun tun sollte. Wenn es wirklich die Regierung war, konnten sie nicht länger hier bleiben. „Und was schlägst du jetzt vor?“

„Am Besten unsere Spuren verwischen. Niemand darf von uns wissen und niemand darf erfahren, wer wir wirklich sind. Zum Glück weiß niemand, dass ihr bei mir wohnt. Also gut, ich schlage vor, ihr beide zieht erst einmal nach Winchester. Dort habe ich eine kleine Wohnung, die ich unter einem anderen Namen besitze. Fürs Erste solltet ihr dort sicher sein.“

„Und was ist mit dir? Kommst du nicht mit?“ fragte Viola ängstlich und klammerte sich an Vincents Arm fest, was sie häufig tat, wenn sie sich fürchtete. Anthony lächelte und streichelte ihr den Kopf. „Keine Sorge, ich komme bald nach. Ich muss nur ein paar Dinge klären. Es wird schon alles gut werden und Vincent ist ja bei dir.“ Sein bester Freund sah ihn trotzdem besorgt an. „Bist du dir sicher, dass du das alles alleine tun willst?“

„Ich will euch beide nicht in Gefahr bringen und jemand muss auf Viola aufpassen. Du hast die weitaus engere Beziehung zu ihr, also gehst du mit ihr mit.“ Vincent konnte nichts entgegnen. Sein treuer Freund hatte wie so viele Male Recht und er würde sich auch nicht überreden lassen, mit ihnen zu fliehen. Sein Entschluss, die beiden zu beschützen, stand fest und in dieser Hinsicht war er ein Sturkopf. Viola, die durch die ganze Aufregung sehr verängstigt war, wollte nicht alleine bleiben und so ging Vincent mit ihr und versuchte, sie durch kleine Spiele abzulenken. Er las ihr eine Geschichte vor und erzählte etwas von seiner langen Reise. Es wurde schließlich abends und Viola legte sich erschöpft ins Bett und schlief mit ihrem Lieblingskuscheltier im Arm ein. Vorsichtig und geräuschlos schloss Vincent die Tür und ging in den Wintergarten, wo Anthony mit einem sehr ernsten und nachdenklichen Gesichtsausdruck die letzten Strahlen der Abendsonne in der Ferne beobachtete. Die Sterne waren bereits am Himmel zu sehen und der Horizont in der Ferne war in ein träumerisches rot und lila gefärbt. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und murmelte „Und dabei hab ich mir schon vor zwanzig Jahren das Rauchen wieder abgewöhnt.“ Vincent sagte nichts dazu und setzte sich neben ihm. Anthony bedachte ihn mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln und erkundigte sich nach Viola. „Sie schläft jetzt. Ich hab ihr ein paar Geschichten vorgelesen und das hat sie beruhigt.“ „Tut mir wirklich Leid für die Kleine, dass sie das alles miterleben muss. Erst der Terror durch diesen Traumfresser, dann die traumatischen Erlebnisse in der Traumwelt und jetzt das.“

„Du kannst doch nichts dafür. Niemand konnte ahnen, dass man die Forschungsunterlagen von Dr. Helmstedter stehlen wollte und du hast sie gut versteckt.“

„Ich verstehe einfach nicht, wie diese Frau es schaffen konnte, meinen Verstand zu knacken. Dabei habe ich extra dafür gesorgt, dass man nicht an meine Erinnerungen kommen kann, selbst wenn ich ohnmächtig werde. Aber sie hat es trotzdem geschafft. Ich hab mich zu sicher gefühlt…“ In seiner Stimme lagen Vorwurf gegen sich selbst als auch Hoffnungslosigkeit. Vincent konnte nicht viel Aufmunterndes sagen, deshalb schwieg er genauso niedergeschlagen. Eine Zeit lang herrschte bedrückende Stille, dann seufzte Anthony und drückte seine Zigarette aus. „Und heute ist auch noch Hannahs Todestag. Dass ich das mal vergessen könnte.“

„Habt ihr euch nahe gestanden?“

„Es war eine einseitige Geschichte. Hannah war damals verlobt gewesen mit einem Kerl, dem ich schon von Anfang an misstraut habe. Er besaß einen so eiskalten Charakter, dass du ihm heißes Wasser in den Rachen schütten konntest und unten nur Eiswürfel rauskamen. Keine Ahnung, was sie an dem Kerl gefunden hat. Er war damals noch bei der Stasi tätig und hat sie über die Grenze gebracht. Hannah hat ihn abgöttisch geliebt und sogar schon Heiratspläne geschmiedet. So einen Kerl hatte sie nicht verdient. Er hat sie einfach sterben lassen und nichts unternommen, um sie zu retten.“

„Wie ist Hannah gestorben?“

„Sie wurde in ein Institut gebracht, wo man auch an Umbra geforscht hatte. Ich bin mit ihrem Verlobten ins Institut gegangen, um sie zu befreien und unterwegs haben wir uns getrennt. Während ich die anderen Gefangenen befreit habe, ist er losgegangen, um Hannah zu suchen. Er kam recht schnell wieder zurück und erklärte nur, sie habe es nicht geschafft. Er habe nur noch gesehen, wie sie von Umbra verschlungen wurde.“

„Aber dann konnte er doch nichts dafür!“

„Du hättest ihn erleben müssen, als er mir das erzählte. Er sagte es so ganz nebenbei und verzog nicht einmal die Miene. Nicht einmal eine Träne vergoss dieser Mistkerl. Dem war es völlig egal gewesen, dass seine Verlobte getötet wurde. Als ich ihn darauf ansprach, stieß er mich einfach beiseite und sagte mir wortwörtlich „Das ist nicht deine Angelegenheit. Sie ist tot, finde dich damit ab.“ Nenn mich ruhig verbohrt, aber das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich hab ihm eine reingehauen und ihm geschworen, dass ich ihn umbringen werde, wenn er mir noch mal unter die Augen kommt.“ Vincent schwieg dazu, weil er die näheren Umstände nicht kannte und deshalb kein Urteil bilden konnte, ob Anthony damals richtig gehandelt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so eiskalt sein konnte und den Menschen einfach sterben ließ, mit dem er sich verlobt hatte. Warum verlobte dieser Kerl sich dann überhaupt, wenn diese Hannah ihm sowieso egal war? Das wollte ihm nicht ganz klar werden. Aber er kannte auch Anthony und wusste, dass er niemals übertrieb oder Tatsachen falsch darstellte, um sich in ein besseres Licht zu rücken. Wenn er sagte, dieser Typ hätte so reagiert, dann stimmte das auch. Trotzdem konnte er sich das nicht vorstellen. Aber dass Anthony dieses Mädchen sehr geliebt hatte, das merkte er sofort. „Du hast Angst, es könnte sich wiederholen, nicht wahr?“

„Natürlich, ist das denn falsch? Ich weiß sehr wohl, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie nach Macht streben. Wir haben das damals mit Hitler erlebt, mit dem Kampf zwischen Sowjets und Amis und wir erleben es auch heute noch. Die ganze Welt ist so und wird sich in diese Richtung niemals ändern. Die Machthungrigen unterdrücken die Schwachen und beuten sie nach ihrem Vergnügen aus. Das hast du mit jeder Regierungsform so, nur bei den Demokraten lässt sich alles noch schön reden, sodass sich keiner beschwert und man lässt dem Hund genug Leine, damit er sich etwas frei bewegen kann. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er an der Leine hängt. Die Regierungsform bestimmt die Länge dieser Leine. Sei es die Diktatur, Demokratie, die Monarchie oder die Plutokratie. Die Tragödie besteht darin, dass man immer wieder etwas zu ändern versucht, aber die Wurzel des Übels nicht erkennt. Würden die Menschen nicht so sehr nach Macht über andere streben, dann hätte es so viele Schandflecke in der Geschichte nicht geben müssen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich lebe schon viel zu lange.“ „Du redest schon wie ein alter Mann“, bemerkte Vincent schmunzelnd und stieß seinem Freund in die Seite. Dieser lächelte nun ebenfalls. „Natürlich, wir sind alte Männer, die äußerlich jung geblieben sind. Überlege doch, wir sind über achtzig Jahre alt, Mary ist sogar noch etwas älter als wir. In so vielen Jahrzehnten erlebt man viel. Und die Zeit, in der wir aufgewachsen sind, war die erlebnisreichste von allen. Wenn auch im negativen Sinne.“ Nun schwanden auch die letzten abendlichen Sonnenstrahlen und es wurde allmählich kalt draußen. Zum Glück wurde der Wintergarten gut geheizt und sie hatten es sehr behaglich. Anthony ging schließlich zwei Flaschen Bier holen und reichte Vincent eines. „Manchmal ist es ein echter Fluch, in der Lage zu sein, sich an alles zu erinnern. Ein Wunder, dass ich noch kein Alkoholiker geworden bin, um das alles zu vergessen.“

„Jetzt sei mal nicht so pessimistisch und versuch das Positive zu sehen: Hättest du schon viel früher den Löffel abgegeben, hätten wir uns nicht mehr wiedergetroffen.“

„Das ist auch wahr. Darauf sollten wir anstoßen.“ Sie stießen darauf an und tranken das erfrischend kalte Bier. Es auf englische Weise zu trinken, daran hatten sie sich niemals gewöhnen können, selbst nach all der Zeit nicht. Mit dem Alkohol lockerte sich langsam aber sicher die Stimmung und sie begannen sich über angenehmere Themen zu unterhalten. Sie begannen Witze zu reißen und lachten über lustige Anekdoten, wurden dann aber von Viola unterbrochen, die leise schluchzend im Nachthemd hereinkam und den Stoffhasen an sich gepresst hielt. Vincent ging zu ihr hin, um sie zu trösten. „Hattest du einen Alptraum?“ Viola nickte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich hab von so einem unheimlichen Clown geträumt, der mich mit einem Hackebeil umbringen wollte. Er hatte ein ganz fieses Lachen gehabt….“

„Das kommt davon, wenn du dir heimlich Anthonys Horrorfilme ansiehst. Wie oft habe ich dir gesagt, so etwas ist nichts für kleine Kinder?“

„Aber das war kein Horrorfilm. Den hab ich im Regal gefunden.“ Anthony ahnte schon, was Viola für einen Film gefunden hatte und lächelte verzeihend. „Beim nächsten Mal fragst du mich vorher, bevor du wieder Alpträume kriegst.“ Vincent brachte Viola in den Salon, wo sie es sich auf der Couch gemütlich machte. Im Kamin glühte noch ein wenig Restglut und spendete noch ein wenig Licht. Schließlich kehrte er zu Vincent zurück und fragte, wovon Viola da eigentlich gesprochen hatte. „Ich habe da so ein kleines Hobby, man braucht ja so etwas, wenn man so lange lebt. Viola hat Amateuraufnahmen gefunden, die in Verbindung mit einem vertuschten Massaker stehen. Oh Mann, ich hab mich wohl immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt, dass jetzt ein Kind bei mir lebt. Meinst du, ich sollte die Erwachsenenfilme besser vor ihr verstecken?“

„Vielleicht wäre es besser so. Wer weiß, was sie als nächstes ausgräbt und dann wieder nachts nicht schlafen kann.“

„Dann verstecke ich die Schmuddelhefte besser gleich auch.“ Vincent sah seinen Freund ungläubig an, merkte dann aber, dass er gerade verarscht wurde und beide begannen daraufhin zu lachen. Nun hatte jeder sein zweites Bier angefangen und es war bereits dunkel geworden. Anthony legte seinen Kopf zurück und schloss die Augen, denn die Kopfschmerzen waren wieder zurückgekehrt. Vincent stellte sein Bier auf den Tisch und angelte sich ein Buch, welches etwas versteckt auf einem Stuhl lag. „Sag bloß, du liest jetzt auch Der lange Weg nach Hause?“

„Ist eben eine sehr gute Lektüre. Und wieso „auch“? Liest du das Buch ebenfalls?“

„Nö, aber dafür meine Kollegen an der Akademie. Hauptsächlich aus dem Grund, weil es von dem Typen geschrieben wurde, der mit dem Sally-Syndrom in Verbindung stand. Ich halte nicht sonderlich viel von Biografien. Es gibt viel zu viele, wenn du mich fragst.“

„Das ist ja auch keine Biografie in dem Sinne. Es geht um verschiedene Themen, wie zum Beispiel Mobbing und Ausgrenzung, Intoleranz, Selbstfindung, Vergebung und Familienzusammenführung. Ich bin zwar erst mit der Hälfte durch, aber dieses Buch hat mich mehr bewegt als Requiem für einen Traum und Schindlers Liste. Was der arme Junge durchleben musste, war fast genauso schlimm wie unsere Vergangenheit. Gleichzeitig ist es auch ein Trost, dass es anderen schlechter gehen kann und man eigentlich Glück hat mit seinem eigenen Leben.“ „Dem kann ich nur zustimmen. Aber ich glaube, solche Lektüren sind nichts für mich. Ich bin da eher für Komödien.“ Sie saßen noch bis spät in die Nacht im Wintergarten, dann ging Vincent in den Salon, um die tief und fest schlafende Viola ins Bett zu bringen. Anthony, der meist tagsüber schlief, legte etwas Holz in die Glut und las sein Buch weiter. Es war eine angenehm ruhige Nacht. Alles schlief und nichts und niemand würde diesen heiligen Frieden stören. Doch trotzdem fand er einfach nicht die Ruhe zum Lesen. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu den gestohlenen Dokumenten und die Angst ließ ihn nicht los. Was, wenn jedermann erfuhr, dass seine Familie aus Nazis bestand und er ein Konstrukteur war? Er musste irgendetwas tun und zwar bald. Aber wo sollte er diese Christine zuerst suchen und was war, wenn sie die Dokumente bereits nicht mehr besaß? Es half alles nichts, er fand einfach keine Ruhe und das Einzige, was er in solch einer Situation tun konnte, war ein kleiner Abendspaziergang. Ja, das war eine gute Idee. Ein kurzer Blick nach draußen verriet ihm, dass es kalt war und sich bereits Frost an den Scheiben bildete. Anthony zog seinen Mantel an, legte sich einen Schal um und öffnete die Haustür. Ein eisiger Wind wehte ihm entgegen, aber er war wohltuend und kühlend. Nachdem er auch Handschuhe angezogen hatte, ging er raus ins Freie. Er liebte die Nacht, es war die einzige Tageszeit, in der er problemlos ins Freie gehen konnte, ohne Schmerzen oder Angst zu haben. Und außerdem war alles ruhig und es gab keine Hektik. Anthony bog um die Ecke und ging in Richtung Park. Der Wind wehte nun etwas stärker und es fielen vereinzelt Schneeflocken. In der Ferne hörte er den Ruf einer Krähe und ihm überkam eine leichte Gänsehaut. In Gedanken begann er, Edgar Allan Poes Gedicht „Der Rabe“ aufzusagen und darüber nachzudenken. Dabei war es kein Rabe sondern eine Krähe. Und wenn ihn seine Kenntnisse nicht täuschten, musste es der Ruf einer Aaskrähe sein.



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