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Memory Hunt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Lieeebe _Natsumi_Ann_,

endlich geht es weiter! Ich bin richtig aufgeregt und hoffe, dass dir die Entwicklung des Paares zusagt. Ich muss gestehen, beim Schreiben hatte ich mich immer mehr in die beiden verliebt, deswegen ist die Länge auch so aus dem Ruder gelaufen :D Es gibt einfach so viel zu sagen über sie. Auf dieses Kapitel wird natürlich noch eines folgen, aber das ist dann wirklich das letzte :P
Also, tauch ein in die Welt der Todesser und Gerechtigkeitskämpfer und lass mir dein Feedback da ;) Ich hoffe sehr sehr, dass es dir bei diesem Kapitel immer noch Spaß macht zu lesen.

Viel Spaß,
Petulia Komplett anzeigen

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Schießen

Vor Mary ausgebreitet lagen vier Kleidungsstücke. Beinahe identische Blusen in unterschiedlichen Farben.

“Hm.”, machte sie unschlüssig.

“Sag mir, welche du bevorzugst.” Interessiert vorgelehnt hatte Mulciber seine Ellbogen auf den Beinen abgestützt.

“Blau und blond sind zu typisch.”, schloss sie die erste Bluse aus. “Gelb steht nur den wenigsten Menschen und mit der grünen Bluse verbinde ich eher schlechte Erfahrungen.”

“Schlechte Erfahrungen?”

“Die hatte ich am ersten Tag an, als ich gekotzt habe?” Als habe er und nicht sie das Gedächtnis verloren rollte sie ihm die Augen entgegen und griff nach der dunkelroten Bluse. “Also, die hier.”

Die Rädchen in seinem Kopf offensichtlich ratternd speicherte er ihre Wahl darin ab.
 

Mit einer großen Kanne Tee und den heiß begehrten Keksen bedacht, war diese Fragestunde nicht einmal allzu unangenehm. Ab und zu machte Mulciber Witze, über die sie tatsächlich lachen konnte. Zu Anfang hatte sie nur unfreiwillig geantwortet, doch schlussendlich war es gar nicht so übel. Sie stritten und triezten einander nicht und es tat ihr gut, eine Unterhaltung mit jemandem neben Mrs Mulciber zu führen. Dieser Mulciber schien so anders, als der aus dem Keller. Als habe man einen Knopf in seinem Gehirn gedrückt und die ganz schlimmen Attribute ausgeschaltet. Nur weshalb? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, riet sie sich selbst. Solange Mulciber sich zivilisiert verhielt, drohte keine Gefahr, solange sie auf der Hut blieb.
 

“Entscheide dich zwischen Tapferkeit und Mut, Listigkeit und Größe, Intelligenz oder Loyalität und Freundschaft.”

“Ähm. Warum hat eine der vier Möglichkeiten nur ein Attribut?”

Genervt stöhnte er auf. “Das spielt keine Rolle.”
“Okay, okay. Listigkeit und Größe kannst du ins Feuer schmeißen. Intelligenz... Hm. Ich sage Loyalität, denke ich. Wenn man guten Freunden gegenüber loyal ist, wird man automatisch mutig für sie. Ich muss meinen Freunden loyal gewesen sein, schließlich wäre ich für sie gestorben.”, mutmaßte Mary. Sein Ausdruck zeigte für einen flüchtigen Augenblick Verwirrung, dann ging es weiter mit der Fragerei.

“Was hast du als Kind gerne gespielt?”

“Fangen.”, antwortete sie ehrlich nach einem Moment der Überlegung.

“Erinnerst du dich an deine Eltern? Hast du ein Bild, Namen vor Augen?”

“Nein.”

“Was benutzen Zauberer, um zu kommunizieren?”

“Eulen, natürlich.” Sein Blick verriet, dass er eine andere Antwort erwartet hatte.
 

“Kennst du die Hauptzutat eines Ätz-Weg-Trankes?”

“Weißwurz.”, kam es wie aus der Pistole geschossen.

“Was ist dein Lieblingsfach?”

“Fach?”, hakte sie nach.

“Na, in der Schule. Verwandlung, Zaubertränke, Zauberkunst, Astronomie-”

“Uh, Astronomie klingt, als sei es richtig spannend!”, trällerte sie dazwischen. “Du hattest Astronomie in der Schule?”

“Du auch.”, bestätigte er leise und beäugte sie genau. “Ich glaube dir nicht, dass du dich nicht an Schulfächer erinnerst.”

“Doch!”, beteuerte sie. “Es macht irgendwo Sinn, die Zauber in Verwandeln, Verzaubern und so einzuteilen, aber ich dachte Astronomie wäre fortgeschrittener.”

“Erinnerst du dich denn an irgendwas astronomisches? Sternbilder?”

“Der kleine Wagen?” Ratlos zuckte sie mit den Schultern.
 

“Wie stellst du dir eine Zaubererschule vor?”

Nachdenklich legte sie den Kopf in den Nacken. Warum war ihm diese ganze Schulgeschichte nur so wichtig? “Von Durmstrang weiß natürlich keiner, wo es liegt und wie es aussieht, aber Beauxbatons stelle ich mir als richtige Akademie vor, denke ich.”

“An Hogwarts erinnerst du dich nicht?”

“Nur, weil du es das eine Mal im Keller erwähnt hast. Wie sieht es denn aus?” Die Neugierde über Informationen aus ihrem Leben stand ihr ins Gesicht geschrieben.

“Es ist ein Schloss oben in Schottland.”, antwortete er achselzuckend.

“Wirklich?” Träumerisch sah sie in Richtung der Decke. “Richtig schön majestätisch? Mit Kerkern, Turmzimmern, Seitenflügeln und Zinnen und so?”

“Ja, genau so.”

“Wow!”, hauchte sie bewundernd und wünschte sich, sie könnte dieses Schloss in ihrem Kopf sehen. “Als Kind wollte ich immer in einem Schloss leben.”
“Als Kind wolltest du wahrscheinlich immer nach Hogwarts gehen, aber das weißt du nicht mehr.”, korrigierte er.

“Schade. Es ist bestimmt prächtig dort.” Dann errötete sie. Er war immer noch da und beobachtete sie, während sie in ihre Fantasie abgedriftet war. Mit einem Kopfnicken forderte sie ihn auf, fort zu fahren.
 

“Zähl ein paar magische Kreaturen auf.”, forderte er.

“Drachen, Sphinxen, Gnome, Kobolde, Werwölfe -”

“Kennst du welche?”, unterbrach er erneut.

“Was, Werwölfe?” Überrascht sah sie ihn an.

“Ja, genau.” Daraufhin lachte sie.

“Natürlich nicht! Als Kinder wurden wir gewarnt, vor allem vor so einem, der Kinder entführt hat, aber ich kenne doch keinen! Werwölfe leben meist abgeschieden oder in Rudeln oder so.”

“Aha. Erinnerst du dich an den Namen des einen?”

“Nein.” Welch kuriose Frage.
 

“Denkst du manchmal an Kleidungsstücke, die du gerne tragen würdest?” Darauf hatte sie wiederum eine sehr klare Antwort.

“Oh ja! Wenn die Sonne scheint, wünsche ich mir, ich könnte mein weiß-rotes Sommerkleid tragen und selbst gemachte Limonade trinken und -” Sie verstummte. Einerseits, da ihr einfiel, dass sie das Haus niemals auch nur in den Garten verließ und andererseits, weil ein eigenartiger Ausdruck in sein Gesicht getreten war.

“Was denn?”, fragte sie.

“Ich kenne das Kleid.”, erklärte er nüchtern.

“Ach ja?” Herausforderung lag ihn ihrer Stimme.

“Ein klassisches Sommerkleid. Breite Träger, an der Naht zusammen gerafft. Das Oberteil reicht betonend bis zur Taille, darin dominiert der weiße Grundstoff. Der Rock fächert von da aus weiter raus. Fliegt schön hoch, wenn du dich drehst.” Seinen letzten Satz betonte er durch ein Zwinkern.

“Genau das Kleid.”, hauchte sie verwundert. “Warum kennst du es so genau?”

“Du hast es in der Schule oft am Wochenende getragen.”, erklärte er beiläufig. “Interessant, dass du dich daran erinnerst.”

“Warum?” Er zögerte, den Blick zu Boden gerichtet. Dann sah er ihr neutral in die Augen.

“Ave und ich haben dir einmal ziemlich übel mitgespielt. Deine Lily ist ziemlich drüber ausgerastet.” Immer noch stolz über seine Aktion kicherte er.

Sie war hin und her gerissen zwischen möglichen Erwiderungen. ‘Wenigstens weißt du, dass es falsch war.’ ‘Hast du damals also doch ein Auge auf mich geworfen?’
 

Schließlich sagte sie:

“Wir waren also auch dann schon Feinde.” Eine Feststellung. Das war gut. Doch er legte wage den Kopf schief.

“Aaaah, so würde ich das nicht sagen. Eine Art Hassliebe vielleicht.” Mary schnaubte.

“Ich habe es bestimmt geliebt, wenn ihr schwarzmagische Flüche an mir ausprobiert habt.”

“Du hast es geliebt, deswegen sauer zu sein. Uns an zu meckern und Beleidigungen an den Kopf zu werfen und dich lauthals mit Lily über unser schlechtes Benehmen aufzuregen. Hätten wir aufgehört, wäre dein Leben so trist gewesen, dass du wahrscheinlich selbst nach Ärger gesucht hattest.”

“Wohl kaum. Du solltest aus deiner Einbildung herausfinden und mir keine falschen Erinnerungen in den Kopf setzen.”

“Nein, ehrlich.”, beteuerte er schief grinsend. “Wir hätten gute Freunde sein können, wenn da nicht die anderen Häuser wären.”

“Andere Häuser, andere Seiten?”, erfragte sie.

“Vielleicht.”

“Dann wäre ich niemals in deinem Haus gewesen, niemals auf deiner Seite”, stellte sie klar.
 

“Was macht dich so sicher?”

“Du hast mich gefoltert.”, antwortete sie entgeistert.

“Weil du auf der anderen Seite bist.”

“Eben!” Sie starrte zu ihm auf, als sei es offensichtlich. “Ich würde niemals foltern und ich würde nicht mit solchen kämpfen wollen, die es tun.”

“Dort draußen herrscht Krieg, Macdonald!” Bedrohlich sah er auf sie hinab. “Zauberer tun Dinge, die sie sonst nicht täten.” Durch heftiges Kopfschütteln vertrat sie ihren Widerspruch.

“An mein Leben erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, wer ich bin! Mary Macdonald hätte sich niemals für die schlechte Seite entschieden.”

“Was sagt dir, das meine die schlechte Seite ist? Du weißt ja nicht einmal, worum es in diesem Kampf geht.” Da war er wieder, der Streit. Seine Beschreibung ihrer Schulzeit hatte so unschuldig geklungen. Wie hatte dies daraus wachsen können? Und wie konnte er sein Verhalten rechtfertigen?
 

“Deine Seite ergreift offensichtlich absolut unmenschliche Maßnahmen.”

“Es herrscht Krieg!”, wiederholte er dann aufbrausend eindringlich. Da, er konnte es ganz und gar nicht rechtfertigen.

“Das sagtest du bereits. Aber das war nicht dein Grund. Es hat dir Spaß gemacht.”, spuckte sie vorwurfsvoll. Sie sah, dass er widersprechen wollte. “Wir wissen beide, dass es wahr ist. Ich habe es in deinem Blick gesehen. Du hast doch eben selbst stolz verkündet, dass du und dein Kumpel Avery schon damals ein Faible für dunkle Zauber hattet.”

“Wie du gut weißt, ist er nicht mehr mein Kumpel. Deinetwegen.”

“Vielleicht wegen mir, aber nicht meinetwegen. Erwarte nicht, dass es mir leid tut.”

“Aber genau das hast du doch gesagt? Dass es dir leid tut.”

“Lenk nicht vom Thema ab.”, forderte sie barsch.

“Ich befolge nun einmal Befehle! Irgendwie musste ich doch versuchen, Informationen zu bekommen.” Wie konnte er nur so blind für sich selbst sein? Weshalb sah er die Paradoxen seines Handelns nicht?

“Schon mal was von Veritaserum gehört? Und so wie dein Anführer gesprochen hat, klang es so, als glaubte er genau das gleiche wie Avery! Warum widersetzt du dich also in dem einen Punkt?” Provozierend starrte sie ihn an.

“Sollte ich noch irgendwelche Informationen von dir bekommen, wird es ihm ganz schnell egal sein, ob ich mit dir im Bett war oder nicht. Aber, wenn es dir so wichtig ist -” Ein gefährliches Blitzen schoss jetzt durch seine Augen, “will ich dir das Vergnügen natürlich nicht vorenthalten.”
 

Mit einem Ruck war er aufgestanden, zu ihr getreten und hatte sie an den Armen gepackt und hochgezogen. Mit einer Hand fixierte er sie an der Schulter, die andere nutzte er, um ihren Kopf zur Seite zu biegen. Adrenalin hämmerte nun in ihrer Brust und sensibilisierte ihre Sinne, sodass es sie mit voller Wucht traf, als er seinen Mund auf ihre Kehle senkte. Ihr Körper glühte und sie nahm ganz genau wahr, wie er ihren Hals bearbeitete. Paralysiert wie sie war, riss sie sich nicht frei, doch trotz seiner mechanischen Vorgehensweise, spürte sie wie ihr Kopf gegen seine Hand sank und ihr Sichtfeld sich verschleierte. Nur bis seine Lippen ihre Haut entließen, dann fühlte sie ihre Beine wieder, die auf die plötzlich wahrgenommene Last nicht vorbereitet waren und sie zurück stolpern ließen. Als nächstes realisierte sie, dass Mulciber sie noch immer in den Händen hielt. Er musste ihren schweren Atem bemerken, jedoch erschien er selbst ein wenig neben der Spur. Sein wütender Blick schien auf ihr Schlüsselbein fokussiert. Mit einem Mal stieß er sie von sich, zurück in den Sessel.

“Hoffe du bist jetzt zufrieden, Macdonald.” Ohne einen weiteren Blick auf sie, marschierte er aus dem Zimmer.
 


 


 

Ganz und gar konfus hockte sie auf dem Fußboden in dem Versuch, das Geschehene zu verarbeiten. Bevor sie sich an ihre Gedanken wagte, wartete sie auf einen ruhigeren Atem, einen langsameren Puls. Noch immer pochte es in ihrem Hals und vorsichtig betastete sie ihre feuchte Haut. Mit einem Blick in die gläserne Tür bestätigte sich ihr Verdacht. Drei große, dunkle Flecken prangten auf ihrer Kehle, sichtbar für alle. Er lieferte den Beweis für ihre nicht existierende erotische Beziehung.

Seine Vorgehensweise war ihr wie eine Strafe erschienen, warum hatte es sich dann nicht wie eine angefühlt? Mühsam versuchte sie das Wirrwarr in ihrem Kopf zu entknoten. Eines nach dem anderen.

Mulciber hatte sie am Leben behalten unter dem geglaubten Vorwand, sie als Spielzeug zu gebrauchen. Dieses Gehabe schien sehr verbreitet unter seinesgleichen, wenn sie Avery betrachtete und die Selbstverständlichkeit, mit der der Dunkle Lord Mulcibers Bitte angenommen hatte. Avery wusste genau, was er mit ihr anstellen würde. Bei diesem Gedanken spürte sie Galle im Rachen. Angeblich hatte Avery schon in der Schulzeit ein Auge auf sie geworfen, denn sie war mit ihren besten Freunden, die nun beschützt werden mussten und ihren scheinbaren Feinden auf dieselbe Schule gegangen. Dort musste Avery und Mulciber sie getriezt haben. Hassliebe, hatte Mulciber es genannt. Tatsächlich konnte sie sich gut vorstellen leidenschaftlich wütend auf die damaligen Teenager gewesen zu sein. Laut Avery hatte auch Mulciber etwas Interesse an ihr gezeigt, doch laut ihm selbst, stimmte das nicht.
 

Erneut berührte sie ihren Hals. Sein Verhalten sprach mächtig dagegen. Erst zeigte er sich völlig distanziert, dann griff er sie beinahe an, um sie mit Knutschflecken zu verzieren. In dem Moment, hätte er weiter gehen können. Sie hatte keinen Widerstand gezeigt. Scham und Ekel durchfluteten sie, als sie diesen Teil ihrer Überlegungen erreichte.

Wie hatte sie dort stehen können? Wie hatte sie ihre Abwehr so leicht überwinden lassen können? Der Mann, den sie scheinbar ihr ganzes Leben gehasst hatte und der sie gefoltert hatte, hatte sie geküsst, grob noch dazu. Hätte sie sich nicht krümmen müssen vor Abscheu? Nun verabscheute sie nur sich selbst, denn ihr wurde bewusst, was für wenige Sekunden geschehen war. Es war keine Schreckstarre gewesen, die sie erfasst hatte. Nicht die ganze Zeit. Für einen Moment und Merlin bewahre, daran erinnerte sie sich genau, hatte sie sich fallen lassen. Fallen lassen in seine unheilvollen Hände, war aufgegangen in seiner Berührung, die sie hatte wütend machen sollen.

Haare raufend wanderte sie in dem Raum auf und ab, mehr und mehr empfand sie ihre eigene Person als widerlich. Denn mehr und mehr stellte sie die falschen Fragen. Weshalb hatte er so einfach von ihr ablassen können? War sie wirklich so unattraktiv für ihn?

“Nein, Mary, nein!”, verbat sie es sich selbst, sich von diesem Mann übersehen zu fühlen. Mit aller Macht kämpfte sie die verhassten Gedanken nieder. Es war nicht ihr Peiniger, den sie begehrte. Es war irgendein Mann. Die Einsamkeit hatte sie empfänglich gemacht. Schäm dich, Mary Macdonald, dachte sie voller Enttäuschung.
 


 


 

Wieder war Mulciber vom Erdboden verschluckt. So sehr sie auf ihn lauerte in der Küche oder am Badezimmer, ja sogar vor seiner Tür, er zeigte sich nie. Ihre Erinnerungen zurückzuholen, schien nicht mehr wichtig zu sein. Ihre Existenz schien nicht mehr von Interesse. Vielleicht gelang es ihr nicht ganz ihren Frust zu verbergen, denn beim Bereiten des Mittagessens hackte sie mit solcher Wucht auf eine Möhre ein, dass ein Stück quer durch die Küche schoss. Der wachsame Blick von Mrs Mulciber hob sich sekundengleich.

“Alles in Ordnung, Mary?” Peinlich berührt legt sie das Messer aufs Brett.

“Ja, entschuldigen Sie. Ich bin ein wenig fahrig heute.”

“Verstehe.” Woher nahm diese Frau nur die Wärme in ihren Augen? “Dem können wir entgegenwirken. Wie klingt eine Runde Schach nach dem Essen für dich?”

Schach! Über diese Art der Beschäftigung hatte sie gar nicht nach gedacht. Neugierig horchte sie in sich hinein, doch sie schien keine Meinung zu dem Spiel zu haben.

“Gerne.”, stimmte sie zu und Mulciber war beinahe aus ihrem Kopf geblasen. Beinahe.

“Wird Mul- er mit uns essen?” Eine ganz beiläufige Frage.

“Nein, leider hat er wieder keine Zeit. Hübsche Bluse übrigens.” Unbeirrt begann Mrs Mulciber das Gemüse zu braten, sodass Mary Zeit hatte, an sich hinunter zu sehen. Sie trug eine blass violette Bluse, an der nichts besonderes war, außer dass sie etwas betonter saß, als andere Kleidungsstücke. Hatte Mrs Mulciber etwas mit ihrem Kommentar beabsichtig? Kopfschüttelnd entschied Mary sich auf das bevorstehende Schachspiel zu konzentrieren.
 

Nervös setzte sie sich ihrer Gegnerin gegenüber und sah hinab auf die zweifarbigen Figuren, nachdem sie das gebrauchte Geschirr in der Küche abgestellt hatten. Hauselfen würden sich darum kümmern, wie sie es vermutete.

Das karierte Brett sagte ihr nicht viel. Sie wusste, was Schach war, doch in die Regeln musste sie sich noch einmal einweisen lassen. Mit aller Kraft den König beschützen, sagte sie sich selbst. Man hätte sie vor dem logischen Aufwand dieses Spiels warnen sollen! Zum Ende rauchte ihr der Kopf vor Anstrengung ihre Figuren zu bewachen und alle gegnerischen im Auge zu behalten. Nach und nach wurde Bauer um Bauer zertrümmert. Ihr Springer und ehe sie sich versah, verlor sie, ohne mehr als eine von Mrs Mulcibers Spielfiguren vom Feld geschlagen zu haben.

“Schach Matt.”, erklärte die ältere Frau mit leiser Genugtuung.

“Was?”, platzte es aus Mary hinaus und sie erkannte ihren Fehler. Dabei hatte sie so hart gekämpft! Mit einem ungewohnt kecken Zwinkern erhob die Gewinnerin sich.

“Warum übst du nicht ein bisschen und zeigst mir beim nächsten Mal, wie du dich verbessert hast?”

Mary ließ sich bestimmt nicht zweimal heraus fordern. “Auf jeden Fall!”
 

Nur wie bei Merlin sollte sie alleine lernen? Ratlos stöberte sie durch die kleine Bibliothek, bis sie dort auf ein lehrreiches Buch stieß. Ihr Kämpferwille war wieder entfacht! Der dicke schwarze Wälzer präsentierte ihr immer schwerer werdende Schachsituationen in denen sie mit einer limitierten Anzahl an Zügen den König besiegen musste. Da ihr Kämpferwille einmal entfacht war, nahm diese Aufgabe Besitz von ihr. Ganz und gar versunken arbeitete sie sich jeden Tag durch das Buch und präsentierte ihre Verbesserung in regelmäßigen Partien gegen Mrs Mulciber, die diese mit Lob quittierte.

“Schon wieder verloren.”, murrte Mary und beobachtete, wie sich die Schachfiguren erneut zusammenbauten.

“Aber nur ganz knapp.”, wurde sie aufgeheitert. “Noch eine Runde? Danach werde ich einkaufen gehen.” Neidisch sah Mary auf. Wie gerne würde sie das Haus verlassen.

“Warum nicht? Ich habe ja nicht viel anderes zu tun.” Sie versuchte es mit einem Lächeln, doch es täuschte Mrs Mulciber nicht.

“Wenn dir das viele Schachüben öde wird, dann -”

“Nein, nein. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es macht durchaus Spaß. Es lenkt ab.” Sorgsam ordneten sie ihre Figuren auf den gegenüber liegenden Brettseiten. Dann begann das Spiel.
 

“Mrs Mulciber,”, begann Mary zufrieden, als sie den Springer ihrer Gegnerin vom Feld räumte, “woher kommt eigentlich die Kleidung in meinem Kleiderschrank?” Die Frau schmunzelte wissend.

“Manches davon gehörte mir, als ich noch jünger war.” Verblüfft hielt Mary Inne. Sie trug die Kleidung seiner Mutter? “Die besten Stücke sind es, denn ich sehe sie nur ungern verstaubt. In meinem Alter bringt es nicht mehr so viel Freude nach Kleidung zu sehen, deshalb nehme ich es mir heraus, für dich einkaufen zu gehen.” Ein wenig wehmütig sah Mrs Mulciber auf ihre Hände.


“Vielen Dank.”, murmelte Mary aufrichtig. “Ich wertschätze Kleidung und sie gefällt mir sehr! Ohnehin weiß ich nicht, wie ich mich erkenntlich zeigen soll, für das Zimmer und das Essen -”

“Schon in Ordnung.”, unterbrach Mrs Mulciber sie. “Sorg dich nicht darum, schließlich hast du kaum eine Wahl.” Es war das erste Mal, dass Mary sie so etwas sagen hörte in ihrer Gegenwart. Etwas, das ausdrückte, dass seine Mutter vielleicht ein wenig auf ihrer Seite war. Die Stimme der Dame strahlte tiefstes Verständnis aus.

“Danke.”, wiederholte Mary, dann befahl sie ihrem Läufer drei Felder vorzurücken.
 

“Schach.”, stellte sie zufrieden fest. Beide starrten sie auf das Spielfeld, bis die Erkenntnis Mary durchzuckte. Freude und Stolz durchstoben sie. “Schach Matt!”, rief sie voller Begeisterung über die ungeplante Entdeckung.

Mit ihrem Freudentanz entlockte sie Mrs Mulciber sogar ein Lachen. Fröhlich, wie sie es lange nicht mehr gewesen war, tänzelte Mary durch das Wohnzimmer. Ihre harte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht. Sie hatte sich wirklich etwas beigebracht! Ihre Ekstase wurde unsanft gebremst, als sie eine Pirouette in einen unerwarteten Besucher vollführte. Mulciber war durch den Kamin getreten, genau in ihren Weg. Sie geriet heftig ins Straucheln und endete auf dem Hosenboden. Der ursprüngliche Schock verflog und sie strahlte hoch in sein verwirrtes Gesicht.

“Ich habe im Schach gewonnen.”, verkündete sie und richtete sie zu ihrer vollen Größe auf.

“Und?” Völlig unbeeindruckt starrte er immer noch auf sie hinab und sah dann zu seiner Mutter.

“Ich habe mir alles selbstbeigebracht?”, beleidigt angesichts seiner Ignoranz stemmte sie die Hände in die Hüfte.

“Beigebracht?”

Vielsagend deutete sie auf das dicke schwarze Buch und seine Mutter nickte zustimmend.

“Bei unserer ersten Partie war sie ein leichter Gegner, aber so hart sie gearbeitet hat, hat sie mich tatsächlich besiegt.” Langsam wandte er den Kopf zurück zu Mary und betrachtete sie wie ein schwer einschätzbares Alien. “Das musst du mir erst einmal beweisen, Macdonald.”

“Fein.”, stimmte sie schnippisch zu und begab sich zurück zum Schachbrett.
 

Mrs Mulciber hatte sich unbemerkt aus dem Raum entfernt, sodass ihr Sitz nun frei für Mulciber war. Dieser rollte seine Hemdsärmel hoch und wartete darauf, dass sie den ersten Zug machte. Es folgte ein anstrengendes Hin und Her, indem Mary verbissen war, ihr erworbenes Können zu beweisen. Schlussendlich tat er seinen letzten Zug. Mit lautem Klappern rammte sein Turm ihren König mit einem tödlichen Stoß. Mit enttäuschter Miene mied sie seinen Blick, bis sie die Verblüffung darin bemerkte.

“Du hast verloren.”, sagte er dann provokant zufrieden.

“Dann muss ich eben mehr üben.”, entschied sie. “Wo warst du?”

“Das geht-”

“Mich nichts an.”, führte sie leiernd seinen Satz zu Ende, dann plötzlich kroch dumpfes Unbehagen in ihre Magengrube. Die Flecken an ihrem Hals waren längst verblasst, dennoch hatten sie seit ihrem Entstehen kein Wort gewechselt. So sollte es auch bleiben, wie es ihr vorkam. Dem schönen Pullover, den sie trug, schenkte er keine Beachtung.
 

“Gut erkannt, Macdonald. Du weißt also nicht mehr, wie man Schach spielt?”

“Es hat mich noch nie interessiert.” Etwas an seinem Gesichtsausdruck war merkwürdig.

“Tut mir leid, dass dich in diesem Haus nichts interessiert.”, sagte er unehrlich. “Malst du gerne?”

“Eher nicht.”

“Gerne zu tanzen scheinst du aber.”, triezte er ihre Vorführung bei seinem Eintreffen. Augenblicklich wurden ihre Wangen heiß.

“Eigentlich tanze ich sehr gerne. Überhaupt mag ich Musik sehr gerne. Die gibt es in diesem trostlosen Haus aber nicht.”, fauchte sie, um ihre Scham zu überdecken. Um seine Mundwinkel herum zuckte es.

“Trostlos.”, wiederholte er trocken. “Ich habe in meinem Leben wahrscheinlich mehr gefeiert als du.”

“Mehr getrunken vielleicht.”, schnaubte sie.

“Ach?” Mit einem Ruck hörte er auf zu kippeln und bewegte den Stuhl wieder in eine waagerechte Haltung. “Du unterschätzt mich, Macdonald.”

“Das kommt dir so vor, weil du dich maßlos überschätzt.”
 

Ihre unerklärliche Freude über sein Wiedererscheinen war verflogen. An ihre Stelle trat der Frust und die Wut der letzten Tage, denen sie nun freien Lauf ließ. Ihm schien das gänzlich unbewusst zu sein, oder vielleicht ignorierte er auch nur das Offensichtliche. Jedenfalls lachte er unangenehm vergnügt.

“Ich würde dir meine Tanzkünste vorführen, aber ich habe Arbeit zu tun.”

“Stimmt, es muss harte Arbeit sein, das bessere Selbst zu spielen.”

“Soll heißen?” Den Blick scharf fixierte er sie.

“Große Sprüche, kein Können.” Sie schien einen Wunden Punkt getroffen zu haben - sein Ego.

“Davon musst du gerade sprechen. ‘Ich bin so gut im Schach, ich schlage alle.’”, imitierte er sie äußerst kläglich.

“Das habe ich nicht einmal gesagt.” Ihren Protest überging er mit einem Schulterzucken.

“Ich habe nie gesagt, ich könnte tanzen.”

“Aber du denkst es.”


“Macdonald!”, stöhnte er genervt. “Was ist dein Problem? Suchst du etwas, in dem du besser bist? Erinnerst du dich überhaupt daran, wie man tanzt?” Da war ihr wunder Punkt. Genau genommen hatte sie keine Ahnung, von welcher Art Tanz sie sprachen, geschweige denn, ob sie jedwedes Talent mit sich brachte. Auf ihr Schweigen hin schnaubte er und ließ sie allein vor den Schachtrümmern sitzen.

Er hätte die Steilvorlage nutzen und mit ihr tanzen können! Hätte ihr nah sein können, doch das war offensichtlich nicht das, was er wollte. Zerknirscht räumte sie auf und begab sich zurück in die Bibliothek, um ein neues Buch zu suchen. Vom Schach hatte sie vorerst genug gehabt.
 


 


 


 


 

Der Schlaf hatte gefallen am Versteckspielen gefunden. Seit mehreren Nächten brauchte es Gabriel Ewigkeiten, um die gewünschte Zuflucht zu finden. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Seine Untersuchungen führten ins Nichts, denn er hatte kaum die Zeit, sich in diese Arbeit zu stürzen, gab es auch noch andere Todesserdienste zu erfüllen. Er hätte niemals weich werden und sie hier behalten sollen. Nun stach ihm ihre Erscheinung Tag für Tag in die Augen, versprechend und doch nichtsbringend.

Weitere Befragungen hatten zu keinem Ergebnis geführt. Sie erinnerte sich an manche Speisen, an andere nicht. Konnte mit Anekdoten nichts anfangen, konnte keinen Hogwartsprofessor bennen. Nicht einmal an Schach erinnerte sie sich. Dabei war sie Vorsitzende des Schachclubs gewesen, schlichtweg weil sie jeden vom Feld geputzt hatte. Inwiefern hatte diese Qualität etwas mit dem Orden zu tun? Genau darüber sollte er sich das Gehirn zermartern. Stattdessen hallten ihre Worte in seinem Kopf wieder und er fühlte sich über alle Maße beleidigt. Trostlos. Wonach mehr, als nach einem solchen Haus, konnte ein Mädchen fragen? Ein schönes Zimmer, Kleidung, die seine Mutter in Massen anschaffte, so sehr er es ihr auszureden versuchte. Sogar mit seiner Mutter selbst kam Macdonald gut aus. Mit ihm doch auch, für den einen Moment. Ohne ihren über die Jahre eingetrichterten Hass, kam sie gut aus mit ihm, wenn ihr programmierter Trotz nicht Besitz von ihr ergriff. Alle sollten zufrieden sein.
 

Seiner Mutter zu Liebe hatte er sie überhaupt verschont. Zumindest sagte er sich das. Doch in seinen schwachen unbeobachteten Momenten, wusste er, wie ungern er sie sterben sehen würde. Dann in anderen Momenten war es Genugtuung, die ihn erfüllte, denn er und nicht Avery beherbergte den Preis, um den sie so oft gewetteifert hatten. Ihr Wetteifern, ein Gryffindormädchen für böse Jungs zu begeistern, so ausweglos und doch hatten sie stets mit Hypothesen und Ideen aufgewartet. Wer nahm schon gerne den einfachen Weg? Wo war der Reiz sich an dem zu bedienen, was sich präsentierte?Insgeheim hatte Mulciber es seinem Freund jedoch niemals gewünscht, das eine dieser Ideen Erfolg brachte. Besonders nicht jetzt, da er immer weniger seines Freundes in Avery wieder fand. Die kranken Vorschläge, die Max ihm entgegen brachte. Er war jener gewesen, der Mulciber in seinem Folterwahn bekräftigt hatte.

Folterwahn, Trance. Im Bett liegend presste er sich sein Kissen auf die Augen. Ihr krankhaftes Aussehen, eine komplette Mutation. Deswegen war er ihr aus dem Weg gegangen. Hatte das Wesen, welches seiner Taten entsprungen war, nicht sehen wollen. Doch selbst jetzt, da sie so viel gesünder und so viel mehr wie sie selbst aussah, spürte er Reue. Gequält stöhnend wälzte er sich auf den Bauch.
 

Nicht nur ihr Hass war fort, auch seiner war es. So sehr er sie damals begehrt hatte, so sehr hatte er sie gehasst für die Freundschaften, die sie pflegte, die Ansichten, die sie prägten. Mary Macdonald war sie ohne Frage. Hatte ihren neugierigen, oft aufmüpfigen Charakter. Aber sie wetterte nicht mehr gegen ihn wie früher. Sie gab ihm keinen Grund, sie verletzen zu wollen. Diese Frau im alten Schlafzimmer seiner Mutter war nicht mehr sein Feind.

Sie war nur noch der blasse Schimmer eines Informationenträgers. Sollte er nichts über den kuriosen Trank herausfinden, war sie gänzlich nutzlos. Aussetzen konnte er sie dennoch nicht, denn nun hatte sie Informationen über ihn. Bald würde man sie als Geisel brauchen. Das wollte er nicht. Etwas in ihm sträubte sich stark dagegen, ihr Schicksal in die Hände anderer zu legen.

Frustriert schleuderte er das verfluchte Kissen aus dem Bett. Trostlos. Von wegen. War es nur er, oder kleidete sie sich auch dezent anders? Mutiger? Er sollte seinen Fokus zurückgewinnen. Was kümmerte ihn ihre Kleidung? Diese war ohnehin schon ein viel zu wichtiges Thema im Haus geworden. Allein im Bett liegend mit seinen Gedanken hatte er das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Hastig strampelte er sich aus der Decke. Er musste etwas nützliches tun.
 


 


 


 


 

Dieses Mal blieb er nicht ganz so lang weg. Dennoch nervte es sie ungemein, dass er erneut verschwunden war. Wozu hatte sie überhaupt dieses enge, edel ausschauende Alltagskleid übergezogen, wenn sie genau so gut eine Mülltüte spazieren tragen konnte, ohne dass es jemanden kümmerte? Nicht einmal Schach bot Anreiz mehr, denn Mary schlug Mrs Mulciber in jeder Partie. Als neue Beschäftigung entwickelte sie eine Besessenheit für ihr Aussehen. Jeden Tag verwandte sie Stunden auf Frisur und Outfit, lediglich um die vielen Stunden des Tages tot zu schlagen.

Heute hatte sie mehrere Versuche benötigt, um einen spektakulären Flechtzopf zu kreieren. Die dadurch entstandenen Wellen band sie nun zu einem lockeren Knoten hoch, während eben jenes Kleid auf dem Badezimmerboden lag. Auf den Zehenspitzen hin und her wippend neigte sie den Kopf im Takt zur Seite und betrachtete sich im Spiegel. Ein kläglicher Versuch das Leben interessanter erscheinen zu lassen. Erst halb acht und sie trug schon ihre kurze Schlafhose. Sie hasste es nicht aus den Fenstern sehen zu können, die nur Licht und keine Sicht von außen herein ließen, Anhand des sich wärmenden Hauses konnte sie erkennen, dass es im Herbst noch einmal warm geworden war.
 

Unerklärlicherweise müde verließ sie das Bad und dachte angestrengt nach, wie sie den nächsten Tag verschwenden konnte. Vielleicht konnte sie das Zubettgehen mit einem Glas Wasser hinauszögern? Es war als sie in die Küche trottete, dass sie ihn sah. Mehr überrascht als über seine tatsächliche Anwesenheit war sie über seine baldige Rückkunft. Allerdings nur so lange, bis sie das Bild vor sich ganz aufgenommen hatte.

“Was ist passiert?” Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund. Sein Haar stand ungewohnt wild ab und sein Gesicht wies einige Kratzer auf. Mrs Mulciber kniete neben seinem Stuhl und widmete sich einer klaffenden Wunde an seinem Bein. Bis zum hohen Oberschenkel hatten sie seine Jeans abgeschnitten und so bot sich ihr der gesamte unschöne Anblick. Tuben und Tiegel umgaben die beiden. Gequält sah der Mann zu ihr auf und sein Blick wünschte sie deutlich weit, weit weg. Dieser Bitte konnte sie jedoch nicht nachkommen.
 

Versteinert starrte sie auf seine Wunde und auf die heilenden Hände seiner Mutter. Eine von ihnen tastete nach ihrem Zauberstab und so hechtete Mary vor, um ihn ihr zu reichen. Vorher traf sie jedoch ein Fuß heftig in die Magengegend, sodass sie vor Schmerzen gekrümmt auf dem Fußboden lag. Der Leid erfüllte Schrei, der die Küche erfüllte, kam jedoch nicht von ihr. Mulciber hatte sich in der Verteidigung des Stabes übernommen und sein verletztes Bein benutzt, welches nun unerträglich zu krampfen schien. Keuchend nutzte Mary den Augenblick und rollte den Zauberstab zu Mrs Mulciber, die verzweifelt mit ansah, wie all ihre bisherige Arbeit zunichte ging. Geduldig wartete Mary ein paar Minuten ab, bis das Schlimmste eingedämmt war. Dann bedachte sie Mulciber mit ihrem giftigsten Blick.

“Du bist wirklich einfach unmöglich und musst mich für sehr niederträchtig halten.”, beschwerte sie sich über seine Attacke auf ihren Bauch, der noch immer unwohl brummelte.

“Willst du wirklich jetzt streiten, Macdonald?”, brachte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

“Ich habe ja nicht angefangen!” Doch statt einer Antwort jaulte er voller Agonie, dass es ihr die Haare zu Berge stehen ließ und sie schwieg.
 

Eine talentierte Hexe wie sie war, hatte die ältere Frau ihren Sohn bald zusammengeflickt, ihn mit Salben betupft, ihm einen beruhigenden Trank eingeflößt. Erschöpft hing er mit halb geschlossenen Augen in dem Stuhl, während seine Mutter das Chaos auf dem Boden beseitigte.

“Das war ein ganz übler Fluch.”, stellte sie heiser fest. Die arme Frau war selbst ganz Blut beschmiert und schaute schrecklich schwach aus. Daher eilte Mary herbei, als die Mutter Mulciber stützen wollte.

“Mrs Mulciber, lassen Sie mich das machen.” Der Mann stöhnte Protest, doch Mrs Mulciber nickte dankbar und somit lud sich die Last des Körpers auf Marys Schultern. Mit großer Anstrengung brachte sie ihn dazu, sich fortzubewegen und es brauchte sie weit zu lange, bis sie das Sofa im Wohnzimmer erreicht hatten. Die Treppen hinauf würde er es niemals schaffen. So behutsam wie möglich legte sie ihn auf dem Polster ab, dann räusperte sie sich.

“Bist du in Ordnung?”

“Sorgst du dich etwa?”, krächzte er leise. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ sie den Anblick eines geschwächten, schmerzenden, gequälten Mulciber auf sich wirken, dann antwortete sie leise: “Ja.”

Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht, dass viel der beabsichtigten Häme verloren hatte.

“Ich habe dir etwas mitgebracht.” Überrascht sog sie die Luft ein.
 

Was in aller Welt konnte das sein? Die Aufhebung des Trankes? Wage deutete er auf einen Sack, der am Eingang zur Küche lag. Wenn er sich in diesem Zustand damit befasste, konnte es zumindest nichts belangloses sein.

Neugierig hob sie den Beutel auf und fand, dass er beinahe nichts wog. Unter seinem wachsamsten Auge schnürte sie ihn auf und griff hinein. Ihre Hand umschloss Stoff. Zaghaft brachte sie diesen zum Vorschein und ihr stockte der Atem. Creme-weiße Farbe und verspielt rotes Muster. Es war ihr Sommerkleid. Überwältigt von Emotionen ließ sie es durch ihre Finger gleiten.

“Du warst bei mir zu hause.”, wisperte sie. “Dort hat man dich angegriffen?” Tadelnd wiegte er den Kopf.

“Ich sage nichts dazu.” Beim letzten Wort versagte seine Stimme kurz und er schloss zur Konzentration die Augen. “Es gibt noch mehr... aber ich dachte, dass dieses... am ehesten Erinnerungen hervorruft.”, brachte er heraus, bevor der Trank seiner Mutter vollends wirkte und ihn ins Reich der Träume zog.

Stumm hockte sie eine Weile vor dem Sofa. Sie starrte auf das Kleid, versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Dann, kaum hörbar für sich selbst, flüsterte sie: “Danke.”
 


 


 

Äußerst kritisch betrachtete Mary sich im Spiegel. An ihr saß das neue alte Kleid, welches Mulciber ihr gestern erst gebracht hatte. Anders als früher passte es nun nicht mehr wie angegossen, sondern war an Stellen etwas weit. Vermutlich bemerkte man diesen Makel nicht einmal, würde man sich nicht so stark darauf konzentrieren. Auch der Ausschnitt erschien ihr weiter, als sie gedacht hatte. Dieses Kleid zu tragen fühlte sich definitiv vertraut an, jedoch kamen keine Erinnerungen hoch, die sie mit dem Kleidungsstück verbinden könnte. Das würde Mulciber wohl weniger gefallen.

Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, trat eben jener ein. Ein Schatten gemischter Gefühle huschte über sein Gesicht, als er sie in dem Kleid erblickte, doch er lehnte sich nur erwartungsvoll in den Türrahmen.

“Und?”, fragte er. Nicht einmal zu einer Begrüßung ließ er sich herab. Jedoch schien es ihm sehr viel besser zu gehen. Bei seinem Eintreten hatte Mary nur ein leichtes Humpeln erkennen können.

“Dir auch einen schönen guten Morgen. Dir geht’s besser?”, war ihre schnippische Reaktion.

“Klar.”, tat er ihre Sorge ab. “War ja kein großes Ding. Und?”

Seufzend sah sie wieder in den Spiegel. Schwupps hatte sich eine Stressfalte auf ihre Stirn geschlichen.

“Nichts.”

“Komm schon.”, drängte er sie. “Denk nach!”

“So geht das nicht!” Wie eine lästige Fliege scheuchte sie ihn fort, denn er war ermunternd hinter sie getreten. “Hast du dich je an etwas erinnert, nur weil du dich darauf konzentriert hast? Es ist ja wohl eher anders herum.”
 

Noch gab Mulciber nicht auf.

“Die andere Kleidung? Hast du da mal einen Blick drauf geworfen?” Suchend schweifte sein Blick durchs Zimmer. Jedoch entdeckte sie den Stapel Kleidung, den die Hauselfen fein säuberlich neben ihrem Schrank platziert hatten, als erstes. Unter Mulcibers akribischer Beobachtung entfaltete sie jedes Kleidungsstück und begutachtete es. Die meisten kam ihr bekannt vor, doch erneut brachten sie keine Bilder oder Gefühle in ihr hervor. Zur Indikation zuckte sie die Achsel und er stemmte entmutigt eine Faust gegen die Wand.

“All dieser Aufwand und das Risiko für nichts!”, brummelte er, sodass sie auflachte.

“Eben sagtest du noch, es wäre keine große Sache gewesen.”

“Ach was. War ja nicht ganz umsonst.” Verbittert nickte er zu ihr in dem Kleid herüber, während seine Stimme im Zynismus badete. “Das wichtigste ist doch, dass du zufrieden bist. Was immer die Dame wünscht.” Sein mieser Knicks vor ihr war nicht einmal mehr halbherzig, dennoch überraschte er sie.

“Was immer ich wünsche?”, neckte sie. Er zögerte, schließlich war er nicht davon ausgegangen, dass sie darauf eingehen würde.

“Von mir aus. Immerhin...” Kurz unterbrach er sich selbst und warf ihr einen knappen Blick zu. “Ist es dein Geburtstag.”

“Wirklich?” Entgeistert starrte sie ihn an. Ihr Geburtstag! Die Existenz eines solchen Tages hatte sie zwar nicht vergessen, aber dennoch keinen Platz in ihrem Kopf dafür gefunden. Dieses Kleid, dass sie vielleicht ganz fern verband, war also nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch ein Geschenk.

“Danke!”, jauchzte sie und fand sich beinahe mit beiden Armen um seinen Hals in einer stürmischen Umarmung, besann sich dann eines besseren und drehte eine schwankende Pirouette.
 

Sie wusste ganz genau, was sie sich zu ihrem Geburtstag wünschte. Der Hausherr eilte ihr verblüfft hinterher, wie sie in die Küche stürmte und dort außer Atem und verlegen vor Mrs Mulciber Halt machte.

“Ma’am, Guten Morgen.”, erinnerte Mary sich an ihre Manieren und schickte ein breites Lächeln hinterher.

“Guten Morgen, Mary und Gabriel.”, antwortete diese herzlich. Aufgeregt verwob Mary ihre Finger mit einander.

“Mrs Mulciber, ich habe mich gewundert...” Sie hielt Inne, sicher dass der Mann im Raum sie auslachen würde. “Könnten wir vielleicht Limonade machen heute?” In der Tat vernahm sich ein Glucksen hinter ihrer Schulter, doch ignorierte sie es.

“Aber sicher.”, stimmte die Frau zu und Mary freute sich wie ein Osterei. Wie vom Blitz getroffen wandte sie sich um, deutete auf ihren liebsten Feind und befahl: “Du hilfst!”

Selbstgefällig zog er seinen Zauberstab aus der Hosentasche, um damit die Zitronen zu pressen, doch erneut wedelte Mary mit dem Finger vor ihm.
“Ah, ah, ah! Ich denke heute, an diesem fabelhaften Tag, sind wir gleich berechtigt.” Für wenige Sekunden erstarrte er, dann ergab er sich der guten Laune der Frauen und entledigte die Zitrusfrüchte missmutig ihren Saftes. Mrs Mulciber kochte Pfefferminztee auf, den sie abkühlen ließen und mit den Zitronen, Wasser und etwas Honig mischten, bis es herrlich frisch in der Küche roch.
 

“Und jetzt?”, fragte Mulciber mit skeptischer Miene an den Thresen gelehnt.

“Schlage ich dich bei einem Glas Limonade im Schach natürlich.” Ungläubig lachte er kurz auf, nahm die Herausforderung jedoch an.

“Nun gut, wenn du meinst.” Mit siegessicherer Miene schnappte er das Brett vom Wohnzimmertisch, verließ den Raum jedoch, sodass eine verwunderte Mary mit dem Tablett folgte. Mulciber führte sie zu einer Tür, die sie noch nie gesehen hatte und erst als er diese aufzog, konnte Mary ihr Glück fassen.

Eine sanfte Herbstriese wehte ihr entgegen und trug den Geruch von Laub, frisch gemähten Gras und warmen Sonnenlicht. Der kleine Garten hinter dem Haus war von mannshohen, ungeschnittenen Hecken umrahmt. An einem großen Baum hingen zwei Stricke, die einmal zu einer längst verlebten Schaukel gehört haben musste. Unter diesen Baum in den Schatten rückte Mulciber einen runden Gartentisch und zwei Stühle, sodass sie Spiel und Getränk darauf absetzen konnten. Sobald ihre Hände frei waren ging sie auf eine kleine Erkundungstour. Neugierig berührte sie Blätter und Äste und sog tief die klare Luft in ihre Lungen. Die Sonne vergoldete ihre Sicht und Mary entdeckte sogar ein paar letzte Blumen.
 

“Komm, Macdonald, oder gibst du schon auf?” Fröhlich schlenderte sie zu ihm zurück und goss die kühle Limonade ein.

“Erhoff dir nicht zu viel. Ich mach dich kalt.”, versprach sie und so begann der Kampf. Ewigkeiten beäugten sie das Schachbrett, schlossen alle möglichen Züge ihres Gegners aus und kalkulierten absolut verpflichtend. So wie ihnen bald förmlich der Schweiß vor psychischer Anstrengung lief, war das erfrischende Getränk ein Segen.

“Schach.”, säuselte Mulciber voller Genugtuung zu wiederholtem Male. Ihre Gedanken wurden hektisch, doch sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. Es war noch nicht vorbei. Der letzte Schlag war noch nicht vollbracht, ihr König noch zu sichern. Sie konnte ihn fortbewegen, jedoch befanden sie sich dann in einem Kreis des Hin- und Herrückens ihrer Spielfiguren. Es musste einen anderen Weg geben, ihre wichtigste Spielfigur zu schützen. Akribisch suchten ihre Augen das karierte Feld ab, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Um sie Schach zu setzen, hatte er mit seinem Springer gezogen und voller Siegestrunk dessen vitale Rolle im Leben des weißen Königs übersehen. Plötzlich ihrerseits selbstsicher befahl Mary: “Dame auf E3. Schach Matt.”
 

Aus allen Wolken gefallen starrte Mulciber auf die schwarze Dame, wie sie unbeirrt auf seinen König zuhielt. Bevor jene ihn mit vernichtender Wucht treffen konnte, sauste Mulcibers Hand hervor, packte den König beim Kopf und sprang mit ihm auf. Ganz und gar ungläubig klappte Mary der Mund auf, als ihre Dame ins Leere schlug.

“Das kannst du nicht machen!”, brach es mit hoher Stimme aus ihr heraus, als sie sich ebenfalls erhob. “Ich habe gewonnen.” Mit festerem Ton trat sie um den Tisch herum, doch Mulciber macht einen Satz nach hinten. Seine Faust umfasste jetzt fest den König und sie sah den Schalk in seinen Augen blitzen. Solch ein Sturkopf! Fest entschlossen stampfte sie ihm nach und musste ihr Schritttempo seinem anpassen, während er immer schneller durch den Garten huschte. An Sträuchern vorbei, über einen umgekippten Stuhl, um den Baum herum. Ihre Füße fanden schlechteren Halt auf dem Gras, aber irgendwie musste sie ihm doch den Weg abschneiden können.

Sein breites neckisches Grinsen stachelte sie noch mehr zur Jagd an. Zugegebenermaßen huschte auch ihr des öfteren ein Lächeln über das Gesicht und endlich ergab sich die Gelegenheit, ihm in die Bahn zu springen, sodass Mary ein gelachtes “HA!” ausstieß. Beim Aufeinanderprall kam er gerade mal ins Wanken. Noch während sie fiel, streckte Mary die Finger nach der Spielfigur aus, doch Mulciber hielt seinen Arm hoch über den Kopf. Halb amüsiert halb genervt hüpfte Mary auf und ab, um ihn herum, während er sie triezte und neckte.

 

“Gib ihn her, Mulciber, ich habe gewonnen!”

“Ach was, Zwerg! Mein König lebt noch. Diese Festung ist uneinnehmbar.”, griente er, jedoch übersah er ihre Attacke. Mit aller Kraft warf sie sich auf ihn, stütze sich mit der linken Hand und den Füßen an ihm ab und schnappte nach seiner Faust. Zu fassen bekam sie nur das Handgelenk, doch es genügte, um den Arm und Mulciber hinunter zu zwingen.

“Das ist nicht sehr lady like!”, tadelte er, während er verzweifelt seinen König festhielt. Sich nun rangelnd auf dem Boden wälzend, griff sie zu ihrer letzten Reserve. Mit geschickten Fingern fand sie seine Taille und setzte darauf, dass er kitzelig war - und wie. Sofort brach er in schallendes Gelächter aus und versuchte sich ihrer quälenden Handarbeit zu entziehen. Die gute Laune übertrug sich rasch auf Mary, bis beide vor zuviel Gelächter keuchend auf dem Boden lagen. Arme, Haare, Beine, Kleidung, alles zerzaust und verwickelt, wobei sich Marys Finger noch immer um sein Handgelenk klammerten.

In diesem Moment verlor sie all ihre restliche Angst vor diesem Mann und instinktiv hob sie ihre Lippen an seine.
 


 


 

Sollte er sich schämen dafür, dass dies plötzlich alles war, was er gewollt hatte? Entgegen seinen Behauptungen und seines Entschlusses schien mit diesem Moment sein Ziel erreicht. Wer sie war, was seine Aufgabe war, es kroch in den Hintergrund. Mickrige, lästige Schatten, die vor einer viel strahlenderen, wichtigeren Gegebenheit wichen. Er spürte nur ihre Lippen, zu einem sanften Lächeln gekräuselt. Sah sie vor sich liegen, jenes Kleid verrutscht und mit Laub versetzt, sowie ihre blonde Mähne, in der sich nun seine Hand verwob.

Weshalb hatte es ihn solange gebraucht? Die Belohnung für all sein Leben lag vor ihm, bei ihm und warf sich an ihn, ohne dass er aktiv dafür gekämpft hatte. Ohne dass er sich bewusst gewesen war, dass er hätte kämpfen müssen, dass er in der Tat sein Leben dafür gekämpft hatte. War ihm doch alles egal. Seine Pflichten, ihr Status, ihre Vergangenheit, ihre Erinnerungen. Ihre Erinnerungen, in denen sie ihn hassten, in denen er ihr zuwider war, weil sie ihm nie eine Chance gegeben hätte. Weil sie verblendet gewesen war, gegenüber ihm und sich selbst. Zu stolz, um zuzugeben, was immer dort gewesen war.
 

Umso mehr musste er jetzt in ihrem Geruch versinken, ertrinken in diesem Gefühl, dass sie erweckte. Musste voll aufgehen in der Art und Weise, wie verzweifelt und suchend und zugleich zufrieden ihre Hand seine Schulter umfasste. Wie dieses Mädchen, diese Frau, sich offensichtlich nach ihm verzehrt hatte, unwissend wie er selbst, raubte ihm die Sinne.

Wie konnte ein Mann alle Unwahrscheinlichkeit der Welt, alles Glück der Welt, alle war gewordenen Wünsche in sich halten? Es war als müsse er zerbersten vor Genugtuung, Zufriedenheit, Stolz, Genuss und Unglaube. Stattdessen tauchte er tief ein in die schwere Stille des Wassers. Das Leben drang dumpf an seine Zellen, nur Mary war so klar, so fest und fühlbar, wie das Feuer. Als sei sie sein Rettungsring, hielt er sie fest, küsste sie, um nicht ohne Sauerstoff unterzugehen und dirigierte dennoch jede Bewegung genau, gezielt. So rasant sein Inneres sich fühlte, so lang und tief war ihr Kuss, mehr ausdrückend als sie es anderweitig hätten tun können.
 

Sein Gehirn schien nicht zu verstehen, wie etwas so falsches, vermeidbares, ihn so randvoll einnahm und konsumierte. Eine knappe Minute lang war der Kuss gewesen, doch als sein Verstand an die Oberfläche tauchte, musste er den englischen Kanal geschwommen sein, aus dem Bett eines Wasserfalls emporgestiegen sein. Bemüht nicht allzu hilflos zu wirken, beruhigte er rasch seinen Atem. Marys klare Augen ließen nicht von seinen ab und er versuchte darin zu lesen. Fühlte sich dies ebenso paradox für sie an? War ihr Körper wiederholter Weise ex- und implodiert wie seiner? Ihr Geist in der Strömung ihres Verlangens abhanden gekommen?

Sanft wie ihr Lächeln war, schien sie einem Engel vorm Einschlafen gleich. Unwissend was er tun sollte, richtete er sich auf. Taktlos vermutlich, ganz ohne Worte, dann bemerkte er die weiße Spielfigur, welche ein Muster in seine Handfläche gepresst hatte. Nachdenklich spazierte er hinüber zum Spieltisch. Hinter sich hörte er Mary ihm folgen. Er räusperte sich, kratzte sich am Kopf.

“Tja.”, sagte er und augenblicklich sauste ihre linke Augenbraue skeptisch empor. War es Absicht, dass sie diese herablassende Geste lasziv ausschauen ließ, oder war er den tiefen des vergangenen Kusses noch immer nicht entkommen?
 

“Erwartest du eine Entschuldigung?”, blaffte er in die Stille hinein. Nun gesellte sich die zweite Augenbraue zur ersten. Doch er hatte diesen Wahnsinn nicht begonnen!

“Eigentlich,”, mit ernster Miene trat er näher und schüttelte dabei den König, “solltest du dich entschuldigen, in Anbetracht der Tatsache, dass du mein gesamtes Nervensystem kurzgeschlossen hast.”

Amüsement mischte sich unter ihre Skepsis.

“Habe ich das? Ich hatte das Gefühl dein Nervensystem hat ganz gut funktioniert.” Abgelenkt von ihren Augen, die ihn in ihren Bann schlugen, antwortete er nicht. Wie oft hatte er von diesem Gesicht geträumt? Entgegen seinen Willen oder mit dessen Zustimmung, es spielte keine Rolle. Ihre Relevanz für ihn war nie gering gewesen. Deshalb hatte er sie gefasst und niemand anders. Weil er sie so viel besser kannte, als einer von ihnen zugeben wollte.

Ohne sich abzuwenden streckte er den Arm seitlich aus. Bei dem Splittern, das folgte, schrak Mary zusammen und wandte sich rasch dem Schachbrett zu. Dort hatte ihre Dame den zu seinem Urteil zurückgekehrten König unbarmherzig geköpft.

“Du hast gewonnen.”, murmelte Mulciber und es gelang ihm sehr gut jegliche Bitterkeit aus seiner Stimme fern zu halten, denn dort war keine. Vom Innern des Hauses drang das dumpfe Klingen der Großvateruhr zu ihnen durch.

“Zeit fürs Abendessen.”, stellte Mary fest, doch erst nach einer Sekunde des Zögern packten sie Geschirr und Spiel wieder zusammen und kehrten zurück.
 

Duftend und dampfend stand das Essen bereits auf dem Tisch und gerade als sie sich setzten, stieß auch seine Mutter zu ihnen. Prächtig wie der Braten war, musste sie Hilfe von den Hauselfen gehabt haben.

“Ich hoffe, du magst Braten?”, wurde Mary gefragt, die eifrig bestätigte und von ihrem Sieg im Schach berichtete. Ansonsten hielt es sich spärlich mit der Konversation. Gabriel vermutete, dass Mary sich unwohl bei dem Gedanken fühlte, dass seine Mutter wissen könnte, was draußen geschehen war. So wie sie beide aussahen war er sich sicher, dass sie zumindest eine Ahnung hatte. Unwillkürlich schmunzelte er beim Anblick eines Blattes, das unter Marys Haaren hervorlugte. Fragend hob sie eine Augenbraue, da sie seinen Blick bemerkt hatte und so senkte er belustigt den Blick auf sein köstliches Stück Braten, nur um Sekunden später wieder hoch zu blinzeln.

“Hattest du einen angenehmen Tag?”, erkundigte sich seine Mutter beim magischen Abräumen des Tisches.

“Oh ja, vielen, vielen Dank.”, versicherte Mary und gab ihr eine herzlichen Umarmung. Solche, die er seiner Mutter zu ihrem Leidwesen beinahe niemals zukommen ließ.
 

Sie sah so glücklich aus, wie lange nicht und er war sich nicht sicher, ob er beizeiten zugeben sollte, dass es nicht ihr Geburtstag war. Ohne Absprache zogen er und Mary sich höflich zurück in den Flur auf dem Weg zu ihren Zimmer. Beide schwiegen sie. Sie sah schön aus, ein wenig erschöpft von der ganzen Aufregung und der Tollerei. Auf halbem Wege die Treppe hinauf hielt er es jedoch nicht mehr aus.

Das Kleid und ihre kecke Eleganz waren schlichtweg nicht zu ertragen. Überwältigt von ihrer Nähe wandte er sich blitzschnell um und drängte sie mit Händen, Mund und Körper gegen die Wand. Zu seinem Glück machte sie keine Anstalten sich zu sträuben, sondern empfing seine Begierde mit offenen Armen. Dieser Kuss war stürmischer, als der im Garten. Dazu war es nicht nur einer und nicht nur ihre Lippen. Er schmeckte ihren Nacken, ihre Schlüsselbeine und Schultern, hörte ihr Seufzen und war sich sicher, dass dies seiner Mutter nicht verborgen blieb. Daher packte sie unterhalb ihres Gesäßes, hob sie auf seine Hüfte und ließ in keinem Moment von ihr ab. Die Beine um ihn geschlungen ließ sie sich in ihr Zimmer tragen, wo er die Tür verschloss und sie sturzfrei auf dem Bett absetzte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: irish_shamrock
2013-12-23T12:50:37+00:00 23.12.2013 13:50
Liebe Petulia,

wie du weißt, war ich etwas überrascht und ein wenig überrumpelt, dass du das zweite Kapitel präsentierst und nicht einmal Bescheid gesagt hast. :(
Nun ja, wie dem auch sei, einen Kommentar hast du dir auf jeden Fall verdient.

Mittels >Frage-Antwort-Spiel< zeigst du eine ganz andere Seite des Gabriel Mulciber, denn er scheint sich ernsthaft für Mary zu interessieren und hilft ihr dadurch, nicht nur einen Teil ihrer Erinnerungen widerzubeschafen, sondern er lernt sie auch noch besser kennen.
Die Idee mit dem Kleid ist bezaubernd, doch sein daraufflogendes Verhalten (der aufgezwungene, reviermarkierende Kuss) beweist, wie unsicher er sich dennoch fühlt. Wie üblich vertuscht er seine Gefühle mittels Arroganz und Überheblichkeit und versucht, Mary mit Worten (und Taten) zu verletzen und zu verwirren.

Ah, mein Lieblings(un)wort "Hassliebe". Neuerdings gibt es für mich keinen schlimmeren Begriff, der so abgewätzt ist. Sei mir nicht böse, aber im Laufe der vielen, gelesenen Geschichten, in denen es immer um "Hassliebe" geht, erlahmt dieser Ausdruck relativ schnell. Nun, dieses "Szenario" war so gewollt, also kannst du nichts dafür.
Ich würde es eher als "Zuckerbrot und Peitsche" beschreiben. Erst will er sie, dann stößt er sie fort. Er kommt ihr nah, dann distanziert er sich abermals. Ein Wirrwar, wie es in den besten Geschichten/Filmen/Gedichten/Liedern vorkommt.
Und die Leidtragene in diesem ganzen Stück mit Mary.
Dennoch überkommt auch das Mädchen ein Gefühl von Unsicherheit. Was will sie? Ihre Erinnerungen wieder zurück? Ja. Ihre Freiheit? Ja. Diesen Mann? Möglich.

Möglich... und ja. Denn es zeigt sich, dass sie rätselhafte Neigungen entwickelt, wie beispielsweise auf ihn zuwarten, ihm aufzulauern.
Ablenkung findet sie bei seiner Mutter. Sie hilft in der Küche (hat ihre gute Kinderstube nicht vergessen) und im Gegenzug erweist sich Mrs. Mulciber als Lehrmeisteren im Spielen von Schach. Die alte Dame scheint froh über Gesellschaft zu sein. Ihr Schicksal hätte anders aussehen können.
Sein Auftritt hingegen ist barsch wie immer und dämpft jegliche Freude ihrerseits vollkommen ein. Dennoch scheint er überrascht über ihr forsches Auftreten und ihren Mut und fordert Mary sogar zu einer Partie heraus. Welch Ironie.

Gewissensbisse plagen ihn. Armer Kerl. Er zeigt Reue? Ungewöhnlich.
Mary hingegen versucht ihn nun nicht länger mit simplem Schachspielen zu beeindrucken, nein, nun versucht sie, ihn mit ihren Reizen zu bezirzen. Kleidet sich edel, kümmert sich um ihr äußeres Erscheinungsbild.
Oh, du armer Tropf. Bist ganz verloren in ihrem Wesen. Begibst dich sogar in Gefahr, nur um ein Stück ihrer Erinnerung wiederzuholen. Eine nette, liebvolle Geste, die du mit Schmerzen zahlst. Ein erneutes Wortgefecht folgt, und eine ehrliche Antwort kommt zum Vorschein. Ebenso wie der Grund für sein erneutes Verschwinden und das Übel, welches mit seiner Heimkehr folgte.

Welch ein Geschenk. Und für wahr, für einen Geburtstag gab es wirklich keinen Platz, bis jetzt. Ein Schachspiel im Garten, Limonade und herbstlicher Sonnenschein. Seine Neckerei endet erfreulich, für beide. Zufrieden, verwirrt und erhitzt. Dennoch sollte man den anderen gedenken, die ihr Leben für einen Krieg riskieren, während beide in (verbotenen) Gefühlen schwelgen.

Nun, liebe Petulia,
ich erwarte mit Spannung den letzten Akt deiner Geschichte und verbleibe mit besten und lieben Grüßen,

irish C:
Von:  _Natsumi_Ann_
2013-12-19T14:15:57+00:00 19.12.2013 15:15
ich weiss gar nicht was ich sagen soll...

ausser toll, toll toll, ich bin wie immer begeistert!
Nur arme mama wenn die gerade mitbekommt wie die liebe Mary unter ihrem Sohn stöhnt xD wenn die da schon im flur loslegen xD geniale Szene :D

ich mag das paradoxe an mary dass sie sich zu ihrem peiniger hingezogen fühlt ^^

ich bin so gespannt wenns weiter geht und ob du die sexzene noch bisschen ausschreibst :P <3

du bist die beste danke !!!!!!


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