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Darkwood Circus

~Wenn du nicht weißt, wer du bist~
von

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Prolog

Mit leerem Blick und noch immer am ganzen Leib zitternd wankte Kathrin den von Dornensträuchen gesäumten Trampelpfad durch den Wald entlang. Ihr Haar war vollkommen zerzaust und schmutzig. Es starrte geradezu vor einer Mischung aus Schlamm, Staub und Blut, die langsam in ihren Haare trocknete, in denen sich schon zahllose kleine Äste verfangen hatten. Es schien, als wollte der Wald sie festhalten und nicht gehen lassen, aber sie wusste, dass sie zurück ins Dorf musste. Sie musste! Die anderen Dorfbewohner mussten erfahren, was passiert war. Was sie und die anderen getan hatten. Das Grauen hielt sie noch gepackt und ihr ganzer Körper bebte noch immer vor Erregung und Angst zu gleichen Teilen. Dass ihre Gliedmaßen sich überhaupt in Bewegung gesetzt hatten grenzte bereits an ein Wunder und Kate wusste ganz genau, dass es keine Wunder gab. Vielleicht gab es einen Gott, an den sie glauben konnte, aber wenn es ihn gab, dann war er ihr heute keine große Hilfe gewesen, obwohl sie gebetet hatte wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Getauft war sie auch, also sollte dieser angeblich liebende Vater bloß nicht mit der Ausrede kommen, dass sie gar nicht zu seinen Schäfchen gehörte! Heute hätte sie ihn und seine Unterstützung mehr als alles andere gebraucht, doch er hatte sie alle im Stich gelassen. Sie, Caleb, Michael, Jonathan und Rayne haben ihn um Hilfe angefleht und er schwieg. Er sah nur zu und tat nichts dagegen, dass 4 unschuldige junge Männer ermordet wurden! Sie mochten alle ihre Fehler gehabt haben, aber niemals hätten sie diesen Tod verdient. Aber nicht nur der Gott, zu dem sie seit dem Kindergarten beteten, hatte sie heute im Stich gelassen. Wo war die Polizei, die sie gerufen hatten? Wieso waren keine Streifenwagen oder wenigstens der Sheriff alleine gekommen? Alles, woran sie geglaubt und worin sie vertraut hatte war zerfallen und es gab nichts mehr, woran sie sich festhalten konnte. Sie war allein! Das leise Kichern in den Gebüschen links von ihr ließen sie aufhorchen und ihr Herz begann sofort wieder um ihr junges Leben zu pumpen als könnte es dadurch etwas an der vorhandenen Bedrohung ändern. Doch insgeheim wussten sie doch alle, dass sie nichts tun konnte. Sie und diese Monster! Was sollte ein dummer kleiner Mensch denn auch gegen diese Wesen ausrichten? Sie spielten mit ihr Katz und Maus und Kathrin befand sich in der unbequemen Position des Mäuschens, das von der grausamen Katze am Schwanz gepackt gehalten wurde und doch noch nicht gefressen wurde. Aber warum? Warum hatte man sie aus der Villa fliehen lassen, obwohl sie leichte Beute wäre? Ein verschwindend kleiner Teil von ihr hoffte, dass sie sie nicht töten würden, weil sie sich schon an ihren Freunden satt gefressen hatten, doch eigentlich wusste sie, dass die Jungs nur die Vorspeise waren. Sie hatte deutlich gehört, wie vom Dorf gesprochen wurde, und dass es eins der ersten Ziele sein würde, also schwebte auch jeder andere Mensch aus Darkwoods River in großer Gefahr. Und doch spürte Kathrin deutlich, dass diese Kreaturen ihr folgten und im Wald um sie herum lauerten. Sie hatte sie kichern gehört und sie spürte ihre Blicke deutlich auf sich. Sie war ein kleiner Snack für zwischen drin und es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie packen und verschlingen würde. Und schon begannen die Sirenen in ihrem Kopf erneut zu heulen. Immer und immer wieder hatte ihr Verstand sie in dieser Nacht schon gewarnt und ihr gesagt, dass es vorbei war, aber zu ihrem eigenen Erstaunen und entgegen jeder Hoffnung lebte sie noch immer. Die Krallenspuren auf ihrem Rücken bluteten kaum noch, brannten aber ziemlich stark, ebenso wie der Biss an ihrer rechten Schulter, wo sich der Stoff ihrer weißen Bluse bereits komplett mit ihrem Blut vollgesogen hatte und zu einer roten Rose erblüht war. Da der dünne Baumwollstoff an ihrem Rücken aufgerissen worden war, bekam er wenigstens dort keine Blutflecken ab, wie ihr gerade durch den Kopf ging. Langsam drosselte sie ihr Tempo und ihre Sicht verschwamm. Sie spürte die Hitze in ihrem Gesicht und das warme Salzwasser in ihren Augen. Sie spürte bloß noch die Leere in ihrer Brust, denn alles war zerbrochen. Ihr fröhliches Gemüt hatte sich bereits in die Grube gelegt und es wartete darauf, dass sich auch der fleischliche Rest zu ihm in das feuchte Grab aus Lehm und Erde legen würde. Langsam und noch immer zitternd sank sie in die Hocke, schlang die Arme um ihre Beine und legte ihre Stirn an die Knie. Es war zu viel, sie konnte nicht mehr. Nur 5 Minuten Pause um sich zu beruhigen. Mehr wollte sie nicht, auch wenn sie wusste, dass sie diese Pause mit Sicherheit nicht bekommen würde. Irgendwann wurde auch dem ausdauerndsten und verspieltesten Jäger langweilig und dann riss er seine Beute, um sich nach dem Essen ein neues Spielzeug auszuwählen. Das wusste Kate ganz genau. Sie hatte sich so lange wie es ihr möglich war zusammengenommen und hatte alles gegeben, aber allmählich gingen ihre Kräfte zur Neige und sie wollte einfach nur noch nach Hause. Sie wollte geweckt werden um zur Schule zu gehen und dabei merken, dass alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen war. Sie wollte auf dem Schulhof wieder mit ihren Freunden zusammen sein und sie wollte mit ihnen reden. Sie umarmen, mit ihnen herum albern und wieder mit ihnen die dümmsten Aktionen abziehen, einfach weil es ihnen Spaß machte und niemandem schadete. Sie wollte leben! Wieder heiseres Kichern aus trockener Höllenkehle in den Sträuchern und es hallte von allen Steinhängen wieder. Sie konnte nicht sagen, von wo diese Laute kamen, doch sie wusste, dass es nicht wichtig für sie war. Sie konnte sowieso nicht entkommen und gerade war auch ihr Wille zu fliehen nicht mehr stark genug um sie wieder aufzurichten. Langsam begann es ihren Körper zu schütteln als sie zu schluchzen begann und die Augen schloss. Ihre überspannten Nerven drohten endgültig zu reißen und sie wusste nicht, was sie dagegen tun sollte. Sie hatte sich noch für so vieles entschuldigen wollen und eine eigene Familie gründen wollen, doch das war nun vorbei. Sie hatte kein Interesse mehr an Vergebung und auch nicht an Nachwuchs. Nein, sie wollte einfach nur lebendig hier heraus kommen und alle im Dorf davor warnen, was auf sie zu kam. Niemand sollte mehr sterben müssen, nur weil sie Mist gebaut hatte. Es war allein ihre Schuld was heute Nacht geschehen war und sie würde es noch mit ihrem letzten Atemzug bereuen. Egal, ob sie heute unter diesem Sternenhimmel im Wald sterben und den Boden mit ihrem Blut tränken würde, oder ob sie in hohem Alter einfach friedlich einschlafen würde. Ihr trockenes Schluchzen musste schnell durch die Tränenströme auf ihren Wangen weichen, durch die das alles beinahe schon klang, als würde sie ersticken. Sie spürte einen unerträglichen Druck in ihrem Kopf und der hatte nichts mit ihren Verfolgern zu tun. Schon die ganze Nacht über hatte sie diese Kopfschmerzen immer wieder bekommen und sie wäre wirklich dankbar, wenn jetzt irgendwo ein Päckchen Aspirin im Mondschein glänzen würde, das ein Wanderer verloren haben könnte. Natürlich wusste sie, dass man nicht einfach irgendwelche herum liegenden Tabletten schlucken durfte, aber wenn es Drogen wären, wäre es ihr auch egal. Beides würde sie freier machen und ihr helfen, das alles zu überstehen, denn sie fand einfach kein Ende und keinen Ausweg. Kathrin hatte kein Gefühl dafür, wie viel Zeit verstrich und wie lange sie dort weinend und zitternd im Wald hockte. Waren es Sekunden, Minuten, eine Stunde? Ihr Zeitgefühl war vollkommen aus den Fugen geraten, genau wie ihr ganzes Weltbild. Kein Gott half ihr und auch sonst war niemand da um ihr zu helfen. Sie war aufgeschmissen. Ihr Zustand war beinahe schon tranceartig, doch sie schreckte hoch, als sie Schritte vor sich im Kies hörte. Ruckartig hob sie den Kopf, doch das bereute sie sofort, denn ihr wurde schwindelig. Das gleiche Prinzip wie wenn man zu schnell aufstand zeigte sich auch hier und sie musste kurz die Augen zukneifen, weil ihr Kopf wieder von einer Welle des Schmerzes überrollt wurde. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie alleine. Niemand stand vor ihr und es gab auch keine kleinen Gruben im Kies, die darauf hindeuten würden, dass dort jemand gestanden hatte, obwohl Kathrin ganz genau wusste, dass dort jemand gewesen war. Eine von ihnen! „Das Spiel wird langsam langweilig, Kleine. Wie wäre es, wenn wir dich jetzt holen? Klingt das nicht gut? Wir werden dich fangen und noch während du lebst... Während du warm und frisch bist werden wir dir Stück für Stück das Fleisch von den Knochen fressen!“, hörte sie eine dieser verdammten Frauen aus einem Versteck kichern, in das Kate nicht hinein sehen konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich und drehten sich doch nur im Kreis während sie langsam und wachsam auf die Beine kam. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als wenigstens eine Waffe zu haben, doch sie war unbewaffnet, verletzt, alleine und einfach nur am Ende. Aber wollte sie wirklich hier sterben? Wollte sie als Mitternachts-Snack für irgendwelche Weiber her halten, die sie selbst dummerweise befreit hatte? Wollte sie das? Sofort schossen ihr wieder die Bilder der Leichen ihrer Freunde durch den Kopf und wie sie sich in dieser Villa ihren Spaß daraus gemacht hatten, Jonathan zu ärgern. Er war so schön schreckhaft gewesen, dass es wirklich zu verlockend gewesen war, auch wenn sie Freunde waren. Natürlich machten Freunde untereinander auch Späße, aber manche der Scherze in dieser Nacht waren wirklich makaber gewesen und teilweise auch sehr geschmacklos, wie Kathrin zugeben musste. Auch dafür würde sie sich gerne entschuldigen, aber das war unmöglich. Er war tot und sie würde den blonden Sonnenschein nie wieder sehen. Sie würde keinen ihrer Freunde je wieder sehen! War es dann richtig, sich einfach kampflos zu ergeben, weil man verletzt und erschöpft war? Sollte man nicht wenigstens versuchen, sich zu wehren und seine Freunde zu rächen, nachdem sie auf so grausame Art und Weise den Tod finden mussten? Jonathan wäre in drei Tagen achtzehn geworden und nur wegen ihr würde er das nun niemals erleben. Seine kleine Schwester war nun mit ihrer Mutter vollkommen alleine. Stumm wischte sich Kathrin die letzten Tränen aus dem Gesicht und sah auf den Boden vor ihren Füßen, um nicht in die schier endlose Schwärze blicken zu müssen, in die der Kiesweg führte, doch sie hatte die Ohren gespitzt und lauschte nach ihren Verfolgern. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“, kicherte eine andere Frau. Scheinbar war sie schräg hinter Kathrin, der langsam heiß wurde. Was war nur mit ihr los? Sie verstand sich selbst nicht mehr. Eben noch hatte sie vollkommen apathisch auf dem Weg gehockt und geheult, davor war sie in der Villa völlig hysterisch geworden und fast ausgeflippt und jetzt das. Kamen die Wechseljahre etwa schlagartig über einen, wenn man am selben Tag noch sterben würde? Nein, das war es ganz sicher nicht, da war sich Kathrin sicher. Was es war, wusste sie auch nicht, aber es war ihr auch egal. Lieber Hitze als diese Kälte, die sie bis eben noch umklammert gehalten hatte. Langsam hob sie den Kopf und blickte kalt zu ihrer Rechten, von wo die Frau mit ihr gesprochen hatte, die ihr schilderte, wie sie Kathrin verschlingen wollten. Sie sah und hörte von dort nichts außer dem Rascheln der Blätter im lauen Wind, doch sie wusste ganz genau, dass sie dort war. Dort in der Dunkelheit stand sie, ebenso wie ihre Schwestern, Freundinnen oder was auch immer. Sie standen dort und beobachteten ihre Beute. „Kommt und holt mich, Schlampen!“ Kathrin wusste gar nicht, wie sie dazu kam, solche Worte auszuspucken, nachdem sie schon so deutlich merken durfte, dass sie unterlegen war, aber es war einem wachsenden Teil von ihr egal. Die Hitze in ihrem Körper stieg stetig und sie war sich sicher, dass diese Hyänen das auch spürten. Sie mussten einfach merken, dass sich irgendwas verändert hatte und das bezog sich nicht nur auf den Gemütszustand der Teenagerin in ihren zerrissenen Kleidern. Die plötzliche Stille zeigte Kathrin sehr deutlich, dass sie Eindruck hinterlassen hatte. Kein Wind wehte mehr, kein Vogel wagte es sich zu rühren oder einen Laut von sich zu geben und der Wald erschien plötzlich, als habe jemand den Ton ausgeschaltet. Es war zu still! Aus dem Augenwinkel heraus entdeckte Kathrin einen langen Ast,von der dicke eines trainierten Männerarms. Als Waffe bestens geeignet! Aber würde sie ihn auch zu packen bekommen? Auch ihre Verfolger wussten ohne jeden Zweifel, dass dieser Ast dort lag, doch die Frage war, ob sie sich ihre Beute noch ein wenig länger als Spielzeug erhalten wollten, oder ob sie nun endgültig genug hatten und Kate sich keine Waffe nehmen lassen würden. Tief durchatmend machte sie sich bereit um sich auf den Ast zu werfen, auch wenn das mit Pech ihre letzte mutige Handlung sein würde. Und zwar für immer wenn sie nicht aufpasste. „KOMM SCHON!“, brüllte sie sich selbst in Gedanken an. Ihre Lungen füllten sich mit frischem Sauerstoff, ihr Herz begann erneut um ihr Leben zu pumpen und sie sprang auf den Ast zu; mit dem stummen Flehen, dass sie ihn doch bitte erreichen möge, auf ihren blutigen Lippen.

~Lasset die Spiele beginnen~

Draußen zogen die grauen Wolken träge wie eine Schar schlachtreifer Schafe am Himmel entlang und hatten jeden einzelnen Sonnenstrahl verschluckt. Das gelbliche Licht, das sie hindurch ließen, drückte die sowieso schon schlechte Laune im Dorf letztlich auf den Tiefpunkt herunter. Der Wind fegte in rauen Böen über das karge Land und der Regen schlug wie Millionen winziger Bomben auf die Fensterscheiben der traurigen Häuser ein. Die gräulichen Hauswände aus Lehm, Backsteinen und Rauputz hielten den Regen ab, doch so manches schiefergedecktes Dach war nicht dicht und es tropfte herein. Das war kein Normalzustand, doch vor ein paar Tagen erst war ein heftiger Sturm über das Dorf hinweg gefegt und hatte einige Schäden hinter sich zurück gelassen. Glücklicherweise waren es nur kleine Dinge wie eben fehlende Schieferplatten auf dem Dach, wodurch die Glaswolle ungeschützt war und Regen rein kommen konnte, doch das war auch schon schlimm genug. Dämmfolien verwendeten nur die wenigsten Menschen in Darkwoods River und die, die es taten, waren jung. Die älteren Semester wollten voll all diesen Neuerungen nichts hören und blieben bei ihren altbewährten Methoden, um Haus, Hof und Familie zu schützen und letzterer ein Dach über dem Kopf zu bieten. Kontakte in die Städte oder weiter entfernte Dörfer hatten hier nur die aller wenigsten Menschen, da das Dorf von einem dichten Wald umgeben war. Einerseits hielt der Wald mit seinem breiten Fluss, der voller Stromschnellen war, Eindringlinge draußen, doch auf der anderen Seite war es auch schwer, vom Dorf aus in die Stadt zu kommen. Während sich die alten Bewohner über diese natürliche Blockade freuten, sehnten sich die jüngeren Einwohner nach einem schnellen und einfachen Weg in die Stadt. Es gab keine Straßen und ein Auto besaß hier auch niemand. Wieso denn auch, wenn das Dorf doch so klein war? Dafür hatte fast jeder Dorfbewohner ein Fahrrad für jedes Mitglied der jeweiligen Familie in seinem Schuppen stehen, damit man vom einen Ende des Dorfes schnell an das andere kommen konnte und im Fahrradkorb konnte man zum Beispiel vom Bäcker seine Einkäufe transportieren. Viel gab es hier sowieso nicht zu sehen. Ein paar kleine Läden mit Kleidung, die selber produzierten, eine recht große Bäckerei, die an allen Tagen in der Woche geöffnet hatte, zwei Läden für übrige Lebensmittel und Getränke und natürlich auch Gaststätten für die arbeitenden Männer. Kathrin bevorzugte es, diese Gaststätten schlicht Kneipen zu nennen, denn gegessen wurde dort selten, dafür aber umso mehr Alkohol konsumiert. Dieser Dorf ödete sie an! Außer den im Dorf versprengten Geschäften gab es hier nichts. Nur Äcker, kleine private Obst- und Gemüsegärten und natürlich den Wald. Wald, wohin auch immer das Auge blickt! Beim Blick durch die trübe Fensterscheibe der Schule zu ihrer Linken fiel Kathrin wieder ein, was ein guter Freund von ihr gerne sagte. „Hier gibt es nichts. Aber davon jede Menge“, pflegte er immer zu sagen wenn er sich mal wieder ganz besonders langweilte und sein Wunsch, in die Stadt zu gehen, wieder sehr stark war. Sein Name war Rayne und er galt als Exot in diesem eher monotonen Dorf. Mit seinen roten Haaren wurde er vom Pfaffen des Dorfes bereits der Kirche verwiesen und als er sich auch noch erdreistete, sich drei silberfarbene Strähnchen zu färben, war die Empörung gewaltig. Die meisten mieden und ächteten ihn, doch nicht Kathrin Taylor. Seine grün-blauen Augen hatten sie längst gefesselt und es war ihr egal, dass dieser Dorf-Rebell ein Jahr älter war als sie und somit volljährig. Sie war erst 17, doch ihr 18. Geburtstag nahte bereits heran und sie fieberte diesem Tag schon entgegen. Rayne hatte ihr hoch und heilig versprochen, dass er was mit ihr trinken gehen würde wenn sie erst mal volljährig sein würde und sie freute sich jetzt schon wahnsinnig darauf. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde ihre Vorfreude größer und größer, doch Regenwetter wie heute trübte ihr Gemüt dann doch wieder. Besonders viel Wert legte sie nicht auf ihr zugegebenermaßen ziemlich gutes Aussehen, aber sie hasste es trotzdem, wenn sie in den Regen kam, denn ihre langes, welliges braunes Haar begann sich sofort zu kräuseln wenn es nass wurde und das sah einfach nur furchtbar aus wie sie fand. Als sei sie gerade dem Teufel persönlich von der Mistgabel gesprungen. So gelangweilt und geistesabwesend wie sie nun aus dem Fenster starrte, bekam sie gar nicht mit, dass ihre Klassenlehrerin sie bereits zweimal angesprochen hatte. Eigentlich sollte sie sich auf ihre Mathematikarbeit konzentrieren, die vor ihr auf dem Tisch lag, doch ihre Gedanken schweiften mal wieder ab. In 3 Tagen würde sie endlich 18 werden und sie hatte andere Dinge im Kopf, als irgendwelche blöden Formeln. Sie ging in die 10. Klasse, wie die meisten hier. Während Stadtkinder in der Regel mit 6 in die Grundschule kamen, wurde man hier erst mit etwa 7 Jahren eingeschult und dadurch resultierte es, dass die meisten Schulabgänger schon 17 waren wenn sie ihr Abschlusszeugnis in die Hand bekamen. Normalerweise war Kathrin eine gute Schülerin und schrieb mitunter permanent die besten Noten ihres Jahrgangs, doch es gab Tage wie heute, wo sie ihre blauen Augen überall hin wandern ließ, bloß nicht auf die wichtige Schulaufgabe, die sie schreiben musste. „Kate!“, flüsterte jemand hinter ihr. Erst jetzt hob sie langsam den Kopf und fühlte sich auch angesprochen. Kate nannten sie nur ihre Freunde Caleb, Michael, Jonathan und Rayne. Ihr Freundeskreis bestand beinahe zu 100% aus männlichen Mitschülern, wobei Rayne die Ausnahme bildete was das schulische an betraf. Jemanden wie ihn würde man in einer großen Stadt wohl hochbegabt nennen. Er wurde mit fünf Jahren eingeschult, besuchte mit acht Jahren die 10. Klasse und hatte mit 14 sein Abschlusszeugnis in der Hand. Er war ein Überflieger, doch in diesem Dorf glaubte man nicht an Hochbegabung. Nein, hier hatte man eine simple Erklärung für ihn gefunden. Er war von Gott gesegnet und hatte einen Auftrag! Schön, wenn andere daran glaubten, aber Rayne selbst wusste, dass seine Intelligenz rein gar nichts mit Gott zu tun hatte, dem er eher weniger nah stand. Nicht selten verwünschte er dieses Dorf und warf seinen Eltern an den Kopf, dass sie doch zur Hölle fahren und auf des Satans Bratenspieß gehängt werden sollten. Für seine streng katholischen Eltern ein Schock bei jedem Mal und noch dazu brach es ihnen das Herz, da auch sie glaubten, dass ihm die Begabung von Gott geschenkt sei und er irgendeinen Auftrag hatte. Doch Rayne war nun mal nicht mehr an dieser Schule und konnte Kathrin somit auch nicht darauf hinweisen, dass Frau Wegener drauf und dran war, ihr ihr Lehrbuch vom Pult aus an den Kopf zu werfen. Diese bösartige alte Ziege, wie man sie hier meistens nannte, hatte schon erste graue Strähnen in ihrer braunen Dauerwelle und der blaue Lidschatten verriet schon, dass sie ein älteres Semester war und durch die kräftigen Farben oben im Gesicht von den Falten der unteren Gesichtspartien ablenken wollte, was nur von mäßigem Erfolg gekrönt war. Ihre strengen grünen Augen mit dem gräulichen Stich konnten einem wirklich Angst machen, denn sie besaß wahrlich die Fähigkeit einem Unschuldigen das Gefühl zu geben, dass er etwas furchtbares verbrochen hatte, indem sie ihm einfach nur einige Sekunden lang in die Augen blickte. „Kate!“ Wieder flüsterte jemand ihr Namenskürzel und langsam kam Kathrin wieder aus ihrer gelangweilten Traumwelt zurück in das trübe Klassenzimmer mit der grünen Tafel und den unbequemen Holzstühlen. In ihre Tagträume versunken hatte sie sich federleicht und entspannt gefühlt, doch plötzlich wurde ihr wieder sehr bewusst, dass sie hier nicht in ihrem Zimmer war. Sie spürte wieder den unbequemen und teils splittrigen Holzstuhl unter sich, von dem sich ihr schon seit längerem eine herausragende Schraubenspitze in die Hüfte bohrte und unangenehm durch den Stoff ihrer dunklen Jeans piekste. Und immer noch war auf ihrem weißen Pullover auf Brusthöhe der kleine rötliche Fleck zu sehen, der von ihrem morgendlichen Tomatensaft-Unfall herrührte. Langsam sah sie über die Schulter nach hinten und erblickte Caleb Matthews, der sie die beiden Male angesprochen hatte. Seine schulterlangen schwarzen Haare waren mal wieder ein wenig zerzaust und wie sie ihn kannte hatte er auch gar nicht versucht, etwas daran zu ändern. Wie auch Rayne hatte er faszinierende grüne Augen, die aber nicht an die des Rotschopfes heran reichten wie Kathrin fand. Wenn man sie fragte, ob sie in Rayne verliebt sei, stritt sie immer sofort alles ab, doch sie wusste tief in ihrem Herzen, dass sie mehr waren als nur gute Freunde. Zumindest wünschte sie sich, dass sie mehr waren und er genauso empfand wie sie. Viele Mädchen waren hin und weg von diesem selbstbewussten jungen Mann, aber er schenkte den Damen meistens keine Beachtung. Wieso denn auch? Er wusste, dass sie nur auf seinen Körper heiß waren und seine Art „cool“ fanden, doch mit echter Liebe hatte das nichts zu tun. Vielleicht war es kitschig und für einen Jungen in der heutigen Zeit peinlich, doch er wollte nichts weiter, als eine Frau, die ihn liebt, und mit der er seine eigene kleine Familie gründen konnte. Was hatte er denn davon, wenn er hier jedes Mädchen für eine Nacht nahm? Im Gegensatz zu vielen anderen hatte er begriffen, dass das hier ein kleines Dorf war und nicht der Großstadtdschungel. Ob man in Berlin jede Nacht die Frau wechselte, oder in einem Dorf mit knapp 200 Einwohnern, machte doch einen großen Unterschied. Die Dame nach der gemeinsamen Liebesnacht nie wieder zu sehen funktionierte hier ganz einfach nicht. Und schon wieder hatte Kate zugelassen, dass ihre Gedanken zu Rayne abdrifteten! Himmel, sie konnte einem leid tun. Erst Tagträume im Regen, dann grüßte ihr verliebtes Herz mal wieder mit Gedanken an ihren Schwarm zum falschen Zeitpunkt. „Was ist denn, Caleb?“, flüsterte sie nun leicht angenervt zurück, woraufhin er knapp nach vorne nickte in Richtung von Frau Wegener. Bei den Gedanken an den Dorf-Rebell hatte ihr Herz noch kräftig gepumpt, doch nun sank es ihr mit einem Mal in die Hose. Sie wusste, was Caleb meinte, und es war keine gute Nachricht. Sie musste schon wieder überhört haben, dass die garstige Gewitterziege am Lehrerpult mit ihr gesprochen hatte und schon beim letzten Mal gab es dafür furchtbaren Ärger. „Wie schön. Du bist also wieder bei uns, Kathrin.“, hörte sie es auch schon mit ungesund liebenswürdiger Stimme von vorne aus. Das war die Ruhe vor dem Sturm und Kathrin wusste das ganz genau. Langsam wand sie sich zu Frau Wegener nach vorne um und lächelte sie leicht an. „Ähm... Ja. Tut mir Leid, Frau Wegener. Ich war kurz...“, begann sie sich zu entschuldigen, aber man ließ sie gar nicht erst zum Ende kommen. „Das ist schon das dritte Mal diese Woche, dass dich unser junger Mister Matthews aus deinen Tagträumen rütteln muss, damit du mir zuhörst! Du wirst heute NACHSITZEN!“

Die übrigen Unterrichtsstunden verliefen relativ ereignislos, wenn man davon absah, dass die liebe Frau Wegener Kathrin nun offenbar auf dem Kieker hatte. Jedes Mal, wenn eine wirklich schwere Aufgabe an die Tafel geschrieben wurde, wurde Kathrin nach vorne gerufen und musste versuchen, sie zu lösen. Sie war was Sprachen anging wirklich begabt, doch Mathematik war nicht unbedingt das Fach, mit dem sie glänzen konnte. Nur mit größer Mühe und einigen Korrekturen seitens der Lehrerin bekam sie die Augen letztlich gelöst und setzte sich mit hochrotem Kopf anschließend wieder auf ihren Platz zurück. Es war einfach nur peinlich und ausgesprochen belastend für die sonst so gute Schülerin, doch dann war der Unterricht endlich vorbei und sie konnte aufatmen. Zwar würde sie geschlagene 2 Stunden nachsitzen müssen und somit waren ihre eigentlichen Pläne für heute zerstört, doch das war ihr lieber, als auch nur eine Minute länger so vorgeführt zu werden. Ihre Klassenkameraden strömten in großen Trauben aus der Schule und sammelten sich in kleinen Grüppchen auf dem Schulhof, um sich kurz noch über die Pläne für den Nachmittag zu unterhalten, dann stoben sie in alle Richtungen auseinander und der Schulhof leerte sich zu einer Geisterstadt. Zuletzt war nur noch Caleb übrig, der sich neben Kathrins Tisch stellte, sich mit beiden Händen darauf abstützte und sie ansah. „Lass dich nicht fertig machen, ja? Ich sage den anderen Bescheid, dass es heute nicht klappt, und wir holen es morgen nach. Der olle Manson-Kasten läuft uns ja nicht weg.“, sagte er bemüht darum, sie ein wenig zu beruhigen und aufzumuntern, doch eigentlich wusste er, dass sie sowieso nicht aufzumuntern war, wenn es etwas Schulisches war. Sie war eine echte Streberin mit Leib und Seele, doch sie hatte trotz dessen Anschluss bei einer kleinen Gruppe von ziemlich überdrehten und wagemutigen Jungs in ihrem Alter gefunden, da sie in ihrer Freizeit vollkommen anders war. Wenn sie frei hatte, wurde sie plötzlich... fröhlich. Sie legte ihre eigene Strenge ab, hörte auf, irgendwie spießig zu sein und genoss einfach nur das Leben in vollen Zügen. Heute war das Wetter leider zum Mäusemelken und entsprechend gering waren ihre Ambitionen, überhaupt vor die Tür zu gehen. Draußen begann es leise zu grummeln und sie konnte bereits erste kleine Blitze am Himmel zucken sehen, was sie leise seufzen ließ. Niemand sollte bei diesem Regenwetter, das sich gerade zu einem dicken Gewitter entwickeln wollte, auf der Straße sein müssen, doch es ließ sich eben nicht vermeiden, wenn man heute noch nach Hause kommen wollte. Es sah jedenfalls nicht besonders stark danach aus, dass der Regen heute aufhören würde. Leise seufzend hob sie den Blick in Calebs grüne Augen und nickte leicht. „Alles klar. Jetzt geh lieber, bevor sie dich auch noch hier behält.“ Sie war sich bei dieser Lehrerin nie sicher, wo sie ihre Prioritäten setzte, denn jedes Mal bestrafte sie die gleichen Fälle vollkommen anders als zuvor. Mal viel härter, dann viel lascher und manchmal einfach gar nicht. Irgendwas schien nicht mit ihr zu stimmen, wie Kate fand, doch sie konnte nicht benennen, was sie eigentlich genau an dieser Frau störte. Ihre Ungerechtigkeit oder ihre Strenge? Eigentlich war es auch egal, denn Fakt war, dass sie heute zum ersten Mal für ganze zwei Stunden mit ihr alleine sein würde und darauf freute sie sich nicht gerade. Kurz warf Caleb einen blick nach vorne zum Pult, wo Frau Wegener noch die letzten Klassenarbeiten von heute ordnete, dann vergrub er eine Hand in Kathrins nach Apfelshampoo duftenden Haaren und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Bis morgen.“, verabschiedete er sich noch von ihr, ehe er dann auch den Weg nach Hause einschlug. Ein wenig seufzend sah sie ihm nach und strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, wo er sie geküsst hatte, widmete sich dann allerdings lieber dem Pult, wo sie es knarren und schleifen hörte, als der alte Boden aus Holzdielen unter dem Stuhl von Frau Wegener erneut gefoltert wurde, weil sie grob und ruckartig wie immer ihren Stuhl darauf nach hinten rückte, um aufstehen zu können. Dort, wo sie saß, sah man immer die tiefen Furchen von Stuhlbeinen im Boden, weshalb man bereits des öfteren die Dielen am Lehrerpult hatte austauschen müssen. „Zu niedlich. Lass dich sich aber besser nicht im Unterricht von deinen Träumereien bezüglich des werten Herrn Matthews ablenken, sonst wirst du noch häufiger nachsitzen müssen.“, säuselte sie ihr schließlich mit ihrer gewohnten gespielt freundlichen Stimme entgegen. Sofort bekam Kathrin eine Gänsehaut und ihr Magen ballte sich zu einer steinernen Faust zusammen. War das etwa Angst? Wahrscheinlich, aber wo kam sie her? Nachsitzen hatte bislang doch wirklich noch niemanden umgebracht, oder? Doch irgendetwas war da einfach! Diese Augen waren zu stechend und zu glänzend, um normal zu sein. ~Nicht menschlich. Diese Augen sind nicht menschlich!~, ging es ihr plötzlich durch den Kopf, weshalb sie mit Mühe unterdrücken musste, laut los zu lachen. Sie war erst eine Minute mit ihrer Lehrerin alleine und schon verursachte der Staub in der Luft bei ihr Halluzinationen. Christel Wegener war nun wirklich nicht mehr die Jüngste und hieß es nicht immer, dass nur Menschen und Tiere altern, jedoch Geister, Vampire und das ganze Kroppszeug nicht? ~Krieg dich ein, Kleines. Du warst immer schon zu empfindlich. Wenn du nicht willst, dass du durchdrehst, hör auf, dir solchen Mist einzureden und dir Gedanken zu machen!~ Da hatte ihr Verstand völlig Recht und der Blick dieser alten Hexe verriet ihr sowieso, dass sie schon viel zu lange schwieg und wohl recht ausdruckslos drein blickte. „Ich habe nicht von Calebt geträumt. Ich war lediglich... in Gedanken versunken.“, verteidigte sie sich schließlich... und bereute es sofort. Da blitzte etwas in den Augen dieser Lehrerin auf und es gefiel ihr gar nicht. Es wirkte bedrohlich und unnatürlich. Abgesehen davon kam ihr Christel gerade mindestens 5 Jahre jünger vor, als noch vor einer Minute, und das war vollkommen unmöglich! Kurz schloss sie ihre blauen Augen, atmete tief durch und zwang sich ein Lächeln auf, ehe sie Frau Wegener wieder ansah. Zum ersten Mal wurde ihr eins mit aller Deutlichkeit bewusst. Sie hasste diese Frau! Oh, und wie sie sie hasste. Sie ertrug ihren Anblick nicht und dieser widerwärtige Geruch, den diese Dame wohl als ein „wohlriechendes Parfum“ bezeichnete, beleidigte ihre Nase. Sie konnte nicht umhin festzustellen, dass dieser Geruch sie unweigerlich an einen Friedhof denken ließ und eigentlich sollte das nicht die erste Assoziation sein, auf die man kam, wenn man eine Lehrerin vor sich hatte, oder? Noch dazu wirkte Christel Wegener wie ein Raubtier. Die spitz gefeilten Fingernägel waren Klauen, ihre Zähne waren viel zu weiß, doch legte sie Wert darauf, immer wieder zu betonen, dass sie echt waren. Nicht, dass Kathrin an der Zahnhygiene ihrer Lehrerin mit dem Pfefferminzatem zweifeln würde, doch sie wusste, dass Frau Wegener eine starke Raucherin war und dass sie sich hauptsächlich von Kaffee zu ernähren schien. Beides färbte Zähne mit den Jahren gelb und es konnte doch wirklich niemand behaupten, dass Frau Wegener das Geld und den Willen besaß, um jede Woche in die Stadt zu fahren und sich die Zähne wieder bleichen zu lassen. Doch über diese Dinge dachte Kathrin nun lieber nicht nach. Sie saß hier einfach nur mit ihrer Klassenlehrerin und mehr nicht. Sie würde hier nachher raus stolzieren, durch den Regen laufen und klitschnass zu Hause ins Badezimmer schlittern, um sich zu duschen. Da war keine Zeit, um sich Gedanken darüber zu machen, ob irgendetwas nicht normal an dieser Frau war. „Und worüber hast du dabei nachgedacht?“, hakte Christel unbarmherzig weiter nach, auch wenn sie sah, dass Kathrin sich gerade nicht wohl fühlte. Sie würde so lange bohren, bis sie zufrieden war. Sie würde bohren, bis Kathrin schrie und bettelte. So machte sie es doch schon immer. Eine weitere Weile Schweigen legte sich über den Raum, bis die Brünette sich langsam in ihrem Stuhl zurück lehnte und es endlich schaffte, den Blick von dieser beinahe schon hypnotischen Frau los zu reißen, die ihr eine bis jetzt anhaltende Gänsehaut verpasst hatte. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte, konnte es aber einfach nicht definieren. „Das Manson-Haus. Meine Freunde und ich sind sehr neugierig, doch niemand hier will mit uns über das Haus sprechen oder uns die alten Bücher über die Stadt aushändigen. Anders kommen wir aber nicht an Informationen...“, log sie schließlich, auch wenn das nur zum Teil eine Lüge war. Tatsächlich beschäftigte diese alte Villa sie, Caleb, Michael, Jonathan und Rayne schon eine ganze Weile und eigentlich hatten sie heute dort einsteigen und sich umsehen wollen, doch sie wollten es gemeinsam tun. Um so mehr tat es Kate nun leid, dass sie bis morgen damit warten müssen würde, weil sie heute nicht konnte und nach Einbruch der Dunkelheit wollte niemand von ihnen mehr dort sein. Sie wussten, dass jeder, der dieses Haus betrat, entweder nie mehr gesehen oder als Leiche aus dem Wald getragen worden war, doch niemand wollte sie über die alte Geschichte des Hauses aufklären. Die Jugendlichen aus dem Dorf wollten dort ihre Mutproben veranstalten, weil die Villa als verflucht galt. Ein böser Ort, an dem Teufel und Hexen sich gegenseitig die Hand gaben und Blutopfer feierten, wie die Alten im Dorf sagten. Für einen Teenager klang das natürlich spannender als ein billiger Horrorfilm im Fernseher mit sowieso schlechtem Bild und Ton, also warum nicht selbst mutig sein und etwas wagen? Doch ganz ohne Hintergrundinformationen wollten sie eigentlich auch nicht dort hinein gehen, bis sie letztlich einsahen, dass sie keine andere Wahl haben würden. Niemand gab ihnen die notwendigen Informationen, also wollten sie nun doch ohne die Geschichte des Hauses zu kennen aufbrechen. Plötzlich aufmerksam geworden setzte sich Christel Wegener auf die Kante von ihrem Pult und saß dort kerzengerade. Aufmerksam behielt sie Kathrin im Auge, beinahe als wäre sie das Raubtier und Kate die saftige Beute, doch sie schwieg eine ganze Weile, anstatt etwas zu sagen. Es sah fast so aus, als wolle Christel ihre Schülerin hypnotisieren, doch dann schloss sie plötzlich die Augen und lächelte ein wenig. „Das Manson-Haus... Verstehe. Wenn du willst, erzähle ich dir seine Geschichte... Dann gibt es eben etwas Geschichte, statt Mathematik in den kommenden zwei Stunden.“
 

Kathrin war die Situation nicht geheuer. Ihre Klassenlehrerin mit dem streng zusammengesteckten Dutt aus teilweise schon ergrautem Braun, das ehemals in sanften Wellen ein jugendliches Gesicht umrahmt haben musste, schien heute eine Art Eigenleben zu führen. Kate könnte schwören, den Dutt ab und an pulsieren sehen zu können wie ein flaches Herz, doch das konnte natürlich nur ein Hirngespinst sein. Gut, es gab eine Menge Dinge auf dieser Welt, die die Menschen nicht verstanden, doch Haare lebten nicht und sie sollte das doch am besten wissen, denn ihre eigenen braunen Wellen schienen das jugendliche Abbild dieses Dutts dar zu stellen und sie hatte bislang nie das Gefühl gehabt, dass da etwas pochte. Abgesehen von ihrem Schädel, wenn sie zu viel getrunken oder zu lange gelernt hatte verstand sich, doch das war sie dann auch selbst schuld. Nein, Haare konnten nicht lebendig sein und das wusste Kathrin auch, weshalb sie diese Gedanken so schnell wie möglich im Keim zu ersticken versuchte, was mit Christel alleine im halbdunklen Klassenzimmer gar nicht so einfach war. Der enge schwarze Bleistiftrock dieser Dame, die sich mit erstaunlicher Grazie auf der Kante ihres Lehrerpultes niedergelassen hatte, bedeckte ihre Beine nur bis zu den Knien und zeigte daher, dass die Beine der Lehrerin von einer schwarzen Strumpfhose verhüllt waren. Oder waren es Strapse? Gott bewahre, so genau wollte es Kathrin gar nicht wissen! Sie verspürte so schon das flaue Gefühl der Übelkeit in ihrem Magen wallen und sie wollte ganz sicher nicht, dass sich das noch verschlimmerte, indem sie sich vorstellen musste, wie die zwar langen und schlanken, jedoch alten Beine von Frau Wegener wohl unter dem dünnen Nylon und dem Rock aussehen mochten. Sie wollte keine Krampfadern zählen, keine roten Geflechte an ihren Beinen betrachten, wo die feinen Äderchen unter der Haut geplatzt waren, und sie wollte auch nicht wissen, wie der Geruch einer älteren Frau an der Stelle war, wo unter Garantie nicht mal mehr Herr Wegener genauer hinsehen wollen würde. Gab es überhaupt einen >Herrn Wegener<? Wenn ja, dann hatte Kate ihn noch nie gesehen und auch nie bewusst gehört, wie die liebe Christel vor ihrer Nase über ihn sprach. Auch von Kindern hatte sie Christel nie sprechen hören, wenn sie darüber nachdachte. Hatte sie überhaupt irgendetwas privates über diese Frau erfahren, seit sie diese Schule besuchte? Nichts, dass sie wüsste, doch im Augenblick interessierte sie das auch eher weniger. Sie wollte sich keinen Kopf über diesen Raubtierblick, die spitzen Fingernägel, den strengen Dutt, diesen verfluchten Rock mit Gott weiß welcher Unterbekleidung oder über die bis nach ganz oben zugeknöpfte weiße Bluse mit den schmalen grauen Senkrechtstreifen machen! Es fiel ihr auch nicht sonderlich schwer, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, als auf den Gedanken, dass Christel Wegener gleich wie eine Raubkatze von ihrem Pult springen und sie anfallen könnte, denn was sie da gerade gehört hatte, konnte doch nur eine Halluzination gewesen sein, oder? Seit wann man Halluzinationen so klar und deutlich hören konnte wusste sie zwar nicht, aber es gab keine andere Erklärung. Niemand im Dorf sprach über die Manson-Villa und nun sollte ausgerechnet diese Hexe sich als Historikerin anbieten? Erneut wurde ihr bewusst, dass sie – Kathrin Taylor – diese Frau nicht leiden konnte. Sie ganz und gar nicht leiden konnte; sie hasste, sie verachtete und sie fürchtete. Da war immer noch irgendetwas an dieser Frau, irgendetwas in ihren Augen...

„Das wäre wirklich freundlich von Ihnen.“, hörte sie sich plötzlich tonlos sagen und sie spürte, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen legte. Was war denn nun passiert? Sie hatte das doch gar nicht sagen wollen. Ein Schrei ballte sich in ihrer Kehle zusammen, erstickte jedoch sogleich wieder und schaffte es nicht bis an die Außenwelt. Die Stille im Klassenzimmer schien sich gemeinsam mit dem trüben gelben Licht des Gewittertages verdichtet zu haben und sie zu ersticken. Ihr Kopf begann zu schmerzen, ihr Herzschlag beschleunigte sie sich und ihre Handflächen, die eben noch warm und trocken waren, wurden mit einem mal kalt und begannen zu schwitzen. Und nun wusste sie, was es war, das sie so beunruhigte. Christel wusste alles! Sie wusste ganz genau, dass das junge Ding vor ihr, das wie erstarrt an einem der schmalen Holztische saß, sich nicht entschließen konnte zu fliehen, jedoch auch nicht, bleiben zu wollen. Sie musste Kathrins Angst sehen, sie riechen, sie spüren, ja vielleicht sogar schmecken, denn während sich die Teenagerin immer mehr damit abmühen musste, sich zu beruhigen, legte sich ein zuckersüßes Lächeln auf die Züge der alten Frau, die schon wieder jünger geworden zu sein schien und deren Haar schon wieder zu pulsieren schien, doch Kathrin war sich nicht sicher, ob sie das wirklich sah, oder ob das nur an ihren Kopfschmerzen lag. Langsam richtete sich Christel ein wenig mehr auf, schloss einen Moment lang die Augen und atmete durch die Nase tief ein und nach einigen schier endlosen Sekunden auch wieder aus. Dieser groteske Anblick einer sonst strengen und verhassten Lehrerin, die nun beinahe schon wie in der Blütezeit ihres Lebens auf dem Pult thronte, erweckte beinahe den Eindruck, als würde sie in wundervollen Erinnerungen schwelgen, doch lange währte diese idyllische Ruhe im Klassenzimmer nicht, in der Kate wieder einmal bemerkte, dass draußen außer dem Donner, dem Rauschen des Regens und dem Rauschen der Blätter nichts zu hören war, wenn man mal vom gelegentlichen Trommeln dicker Tropfen an die Fensterscheiben absah, doch viele Tropfen waren es nicht, da das Dach der Schule an allen Seiten ein wenig überlappte und somit den Regen von den teils undichten Fenstern fern hielt. Besonders im Winter pfiff durch jede noch so kleine Ritze der schneidende Eiswind und selbst im Klassenzimmer mummeln sich dann alle Schüler in ihre dicken Mäntel ein, um sich vor den unsichtbaren Klingen der Natur zu schützen. Nur nicht Christel. Egal zu welcher Jahreszeit, sie trug nie einen Mantel und schien auch keine Kälte zu verspüren. Merkwürdig, über was man alles nachdenkt, wenn es mal still ist, ging es Kate durch den Kopf und sie hätte beinahe gelacht. Ihr Instinkt schrie sie an, aus dieser Schule zu verschwinden, davon zu rennen und sich in Sicherheit zu bringen, doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht. Sie musste einfach hören, was ihr Frau Wegener über dieses Haus erzählen konnte, in das sie und ihre Freunde morgen einsteigen würden, um ein paar Mutproben abzuziehen. Besonders Jonathan fieberte diesem Ereignis schon entgegen, denn wenn er 3 von 5 Mutproben bestehen sollte, würde er sich endlich gleichauf mit Rayne und allen anderen aus der Gruppe sehen dürfen. Selbst Kathrin hatte diese dummen Mutproben schon hinter sich gebracht und es waren teilweise wirklich eklige Vorschläge gekommen, die sie letztlich nur durchgezogen hatte, weil sie dazugehören wollte und nicht mehr immer nur als „das Mädchen“ in der Gruppe bekannt sein wollte. Sie war mehr als nur ein Mädchen, verflucht! Sie liebte Rayne abgöttisch, doch ihr Stolz ließ nicht zu, dass sie das zu ihm sagte oder in ihr Tagebuch schrieb. Ganz egal, wie sehr ihr Herz auch wimmerte und weinte, sie gab nicht nach. Wer zu einer Jungsbande gehören wollte, durfte sich halt nicht verlieben, so waren die Regeln. That's life, Babe. Not easy, but...

Sie wusste nicht, wie lange sie vor sich hin geträumt hatte und ob Christel wieder etwas gesagt hatte, denn durch die dicken Wolken drang immer nur das selbe gelbliche Licht, das einen an eine Beerdigung denken ließ. Ganz egal, wie hoch oder niedrig die Sonne stand. Erst, wenn die Sonne ganz untergegangen sein würde, würde sie etwas bemerken können, denn dann würde es stockfinster sein und spätestens dann würde sie hysterisch anfangen zu schreien und zu weinen, wenn sie dann noch hier sein sollte. Sie wusste es ganz genau und auch Christel wusste es. Sie beide saßen hier in dem einvernehmlichen Abkommen, dass sie sich über das Manson-Haus unterhalten würden, auch wenn es vielleicht den Geisteszustand von Kathrin ziemlich durcheinander wirbeln könnte. Sie wäre nicht der erste Fall, der dank diesem Haus in die Irrenanstalt wandern könnte, also würde es diese königlich auf dem Pult thronende alte Hexe sowieso nicht wundern, wenn Kate hier im Verlauf der Geschichte in Krämpfen zappelnd mit Schaum vor dem Mund von ihrem Stuhl auf den Boden kippen würde. Sie hatte das alles schon mehr als einmal gesehen und schon mehr als einmal hatte sie irgendwelchen Eltern ihr Beileid bekundet, wenn die Kinder an ihrem eigenen Speichel oder ihrem eigenen Erbrochenen erstickten. Natürlich wagte es niemand, ihr Vorwürfe zu machen, doch sie wussten alle, dass Christel Wegener immer nur zusah, was mit den Sprösslingen der Bewohner geschah, wenn sie am Boden lagen. Manche erstickten, manche nicht, und darauf Wetten abzuschließen machte doch viel mehr Spaß, als diese zappelnden Würmchen in die stabile Seitenlage zu bringen, damit sie nicht ersticken. Einige von ihnen waren an diesem Punkt bereits geflohen; hatten sich irgendwie aus der bittersüßen Umklammerung ihrer jugendlichen Neugierde und Furcht befreit und waren nach Hause zu ihren Eltern gelaufen, um ihnen zu berichten, dass ein Monster in der Schule sei, doch niemand glaubte seinen Kindern solche Geschichten. Christel Wegener, die so viel für das Dorf getan hatte, konnte doch nicht böse sein. Sie hatte ihre Freizeit geopfert, um mit den Einwohnern etwas außerhalb des Dorfes eine kleine Bücherei und eine Kirche zu bauen und sie selbst hatte dem Altar aus massivem weißen Marmor den letzten Schliff gegeben. Niemand stellte Fragen als sie aus Versehen den ersten Marmorblock so grob bearbeitete, dass er nicht mehr zu gebrauchen war, oder als 3 der Männer, die am Bau beteiligt wurden, von der herabstürzenden schweren Kirchturmspitze erschlagen wurden als sie mit einem anderen Mann oben stand und gerade angewiesen worden war, die Spitze gerade zu halten, während der Mann Hammer und Nagel zur Hand nahm, um alles zu fixieren. Feuchte Handflächen, hatte sie gesagt. Jeder im Dorf wusste, dass auch der schmächtigste Knilch mit klitschnassen Handflächen die Kirchturmspitze hätte halten können, weil die raue und noch nicht mit Schieferplatten verkleidete Dachpappe einem mehr als genug Halt bot, doch keiner fragte nach. Ja, sagten sie alle. Tragisch, doch es kann passieren, sagten sie. Und Christel war zufrieden.

Das alles geschah lange Zeit vor Kathrins Geburt und auch lange vor der Geburt ihrer Eltern. Christel lebte schon an diesem Ort, bevor die kleine Siedlung „Darkwood“ erbaut wurde, die später zu einem Dorf ausgebaut wurde, das man „Darkwoods River“ taufte. In den Jahrzehnten, in denen nur die Siedlung existierte, gab es lediglich ein schmales Rinnsal Wasser im Wald, doch mit den Jahren wurde ein breiter Graben vom Wasser ausgeschwemmt und aus dem kleinen Rinnsal, aus dem sich Rehe und andere Tiere gerne einen Schluck frisches Quellwasser gönnten, wuchs ein breiter Fluss mit einigen tückischen Stromschnellen weiter stromabwärts heran. So erhielt das Dorf seinen Namen und von Anfang an war Christel Wegener dort. Schon immer unterrichtete sie die Kinder und schon immer gab es Fälle von sterbenden Kindern und Jugendlichen in ihren Klassen, doch es gab für Menschen ein schönes Sprichwort, das ihnen das Leben so unglaublich einfach machte. >Wo kein Richter, da kein Henker<

Sicher, diese Redewendung mochte stimmen, doch es wäre für viele Menschen besser gewesen, wenn sie die Zeichen frühzeitig erkannt und etwas gegen das drohende Unheil unternommen hätten. Heute war es zu spät und wieder hatte Christel eine Generation Nachkommen der Gründer von Darkwood zu unterrichten. Und nun war sie mit Kathrin alleine...

Als Kate wieder richtig bei sich war und den Kopf hob, bemerkte sie, dass Christel ihren Dutt gelöst hatte und ihre Haare nun offen trug. Wie sie sich gedacht hatte, umrahmten die nussbraunen Haare in leichten Wellen das Gesicht der strengen Lehrerin, die erstaunlich jung aussah. Kathrin schob es auf das Dämmerlicht und den Gelbstich in selbigem, dass sie darin keine grauen Strähnen mehr erkennen konnte und dass Christel plötzlich Mitte Zwanzig, maximal Anfang Dreißig zu sein schien. Bevor sie ihrem Entsetzen über die stetige Verjüngung dieser Frau Ausdruck verleihen konnte, erhob diese bereits das Wort und schlug ein Bein über das andere. Waren ihre Beine eigentlich heller geworden? Kathrin kam es jedenfalls so vor, als sei die Haut unter dem Nylon plötzlich straffer, jünger, heller. Makelloser.

~Wir trudeln gemeinsam Richtung Wahnsinn, wie klingt das für dich, Süße? Steigere dich noch wenig mehr in die ganze Angelegenheit hinein und dann schauen wir doch mal, ob du nicht auch bald deine Runden in einer weißen Jacke drehen darfst. Oooh, das wird TOLL sein! Sie werden dich alle liebe, Kate! Oh, Katy, Katy, Katy, sie werden dich LIEBEN!~

Wieder schlug die Hysterie ihre scharfen kalten Klauen in Kathrins warmes Fleisch und am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, doch erneut brachte sie keinen Laut hervor. Jedenfalls keinen, der ihrer derzeitigen Furcht und Beklemmung Ausdruck verleihen könnte, außer jemand fühlte sich im Stande, aus dem trockenen Krächzen, das aus ihrer Kehle drang, eine innere Hysterie zu schließen. Christel konnte das und sie genoss es. Einen Augenblick lang beobachtete sie, wie sich Kate unbehaglich auf ihrem Stuhl zu winden begann, wie eine Maus, die von einer Katze am Schwanz gepackt wurde, dann atmete sie erneut durch die Nase tief ein und aus und summte kurz eine kleine Melodie, die niemals von einem geistig gesunden Lebewesen stammen konnte. Eine irre Melodie, die den Wahnsinn an die Hand nehmen und ihn küssen könnte, wenn Kathrin es zuließe, doch sie zwang sich zur Ruhe. Es dauerte einige Momente, bis sie sich endlich wieder unter Kontrolle hatte und ihr Herz nicht mehr so schmerzhaft gegen ihre Rippen pochte, was allerdings kein Fortschritt war, der Christel gefiel. Sie wollte Angst in den Augen des Mädchens sehen und keine sture Entschlossenheit. Nun gut, wenn sie es nicht anders haben wollte, dann sollte sie eben über die rein visuelle Phase hinaus kommen und die Geschichte hören, die sie hören wollte. Die Geschichte der Villa von Eric und Jessica Manson!

Der etwas andere Geschichtsunterricht

Kapitel 2
 

„Bevor ich dir von der Villa erzähle, musst du wissen, wer dort gelebt hat, sonst wirst du es nicht verstehen. Eric und Jessica Manson waren ein Traumpaar, das jeder in Darkwood beneidet hat. Eric war ein Bild von einem Mann! Die schulterlangen pechschwarzen Haare pflegte er im Nacken mit einem Haarband zu bündeln und seine atemberaubenden grünen Augen würden auch dir heute die Knie weich werden lassen. Durch seine Arbeit als Dorfschmied konnte er einige Muskeln vorweisen und ich kann dir versichern, dass es nicht eine Frau im Dorf gab, die nicht mindestens einmal das Bett mit ihm geteilt hat. Eric war ein Charmeur, dem die Damen zu Füßen lagen, obwohl er unter Männern eher rau und kernig war. Die perfekte Mischung, das lass dir gesagt sein, ist ein Mann, der gegenüber seiner Liebsten ein kuscheliger Hauskater ist, während er draußen eine Raubkatze ist! Diese Sorte Mann weiß, wie man es einer Frau besorgen muss! Wenn er seine nächtliche Beute erst mal nackt und willenlos vor sich liegen hatte...“, begann Christel zu schwärmen und schon jetzt drehte sich Kathrin der Magen um. Sie wollte etwas über dieses verdammte Haus erfahren und sich nicht die feuchten Träume ihrer Lehrerin beichten lassen! Mochte ja sein, dass dieser Eric Manson der Beschreibung nach ein ziemlich gutaussehendes Kerlchen gewesen war, doch nun war er schon seit Jahrzehnten tot und keine Frau leckte sich mehr die Finger nach ihm. Er war Geschichte, während sein Haus immer noch die Gegenwart heimsuchte und seine Liste von Opfern wuchs jährlich. „Ähm... verzeihen Sie bitte, Frau Wegener, aber könnten wir den nicht-jugendfreien Teil eventuell überspringen?“, wagte Katy schließlich nachzuhaken, wofür sie lautes Gelächter erntete, das ihr durch Mark und Bein fuhr wie eine heiße Nadel ins Knochenmark. Es schien den ganzen Raum nur noch finsterer werden zu lassen und eine neuerliche Welle der Übelkeit suchte Kathrin heim. Eine längere Zeitspanne verstrich, während Christel ihre Schülerin einfach nur auslachte, doch genau so plötzlich wie sie anfing hörte sie auch wieder auf. Seelenruhig lächelnd blickte diese elende Hexe ihre Schülerin an und nickte. „Nun gut, wir wollen die kleine Jungfrau ja nicht erröten lassen, nicht wahr?“, säuselte sie schließlich. Normalerweise würde so eine Bemerkung Wut in Kathrin auslösen, doch diesmal nicht. Diesmal fragte sie sich einfach nur, woher in drei Teufels Namen diese Frau wusste, dass Kathrin mit ihren 17 Jahren immer noch unberührt war, obwohl sie so viele Verehrer besaß, die sich die rechte Hand abhacken würden, um mit ihr in die Kiste steigen zu können. Ein kurzes undeutliches Knurren war die einzige Antwort, die Christel erhielt, und diese erschrak sie beide. Kathrin, weil sie solche Töne noch nie von sich gegeben hatte, und Christel, weil sie noch nie von einer Schülerin angeknurrt worden war wie gerade. Das war kein menschliches, missfallendes Knurren, doch auf ihre Nase war verlass und Katy musste einfach menschlich sein! Wahrscheinlich hatte sie sich einfach verhört, wie sie glaubte. Leicht den Kopf schüttelnd seufzte sie und schloss die Augen. „Also schön, dann weitestgehend jugendfrei für die liebe Kathrin Taylor.“, seufzte sie resigniert und ließ ihren Kopf in den Nacken fallen. Es schien, als müsse sie nachdenken, und Kathrin hatte keine Ahnung, wie Recht sie mit dieser Vermutung hatte. Sie schrie immer noch nicht, rollte sich nicht am Boden herum und geriet auch nicht in blinde Panik, worauf es dieses alte Miststück – oder inzwischen eher wieder das junge Miststück – eigentlich abgezielt hatte. Alle waren nach kürzester Zeit gebrochen, doch Kathrin war ein Härtefall. Ob aus Stolz oder Neugierde, sie blieb ganz einfach sitzen und wartete darauf, dass Christel sich endlich wieder völlig fing und weiter sprach. Nach einer halben Ewigkeit, in der das letzte kränklich erscheinende Licht des Gewittertages schwand und den Klassenraum ohne Lampen im Dunkeln zurück ließ, richtete sich die Lehrerin wieder auf und betrachtete ihre Schülerin eingehend. Sie war blass wie das Wachs der weißen Kerzen in der Kirche des Dorfes und ihre Augen waren trüb und zuckten leicht nervös, aber sonst gab es keine Anzeichen von Angst. Sie schien nicht besonders zu schwitzen, sie zitterte nicht viel mehr, als die Kälte auslösen könnte, und vor allem stotterte sie nicht. Sie war zurückhaltender geworden, aber das war es dann auch schon. Christel roch keine Angst und das schmeckte ihr überhaupt nicht. Was sie roch was Ablehnung und eine Art Ekel, nebst dem zarten Duft einer beschämten Jungfrau, was zweifelsfrei durch ihre Erzählung von Eric Mansons Liebesleben ausgelöst wurde. ~Also schön, dann geben wir der kleinen Kröte eben eine Geschichtsstunde.~, beschloss sie im Stillen und begann Katy wieder mit ihrem zuckersüßen Lächeln anzulächeln, das so falsch war, wie die Zähne von Kathrins Großmutter Lois. Sofort machte sich unter dem warmen Pullover der Siebzehnjährigen eine Gänsehaut bemerkbar, die sich bis knapp unter ihren Kiefer auch noch über ihren Hals zog und dafür sorgte, dass sich ihre feinen Nackenhärchen aufstellten. „Eric und Jessica...“, setzte Christel schließlich wieder an und legte sich ihre nachfolgenden Worte zurecht. Ab jetzt würde sie wohl einfach hoffen müssen, dass die Geschichte der Mansons und die der Villa das Mädchen endlich in diesen wundervollen Zustand der Panik versetzten, den sie so gerne bei den dummen kleinen Dorfbewohnern beobachtete.

„Die ganze Gemeinde hatte es kommen sehen, aber niemand wollte es damals wirklich glauben. Immer schon war Eric von verbotenen Dingen beinahe magisch angezogen worden und auch Bücher, in denen schwarze Magie festgehalten wurde, standen reihenweise in seinen Bücherregalen. Gegenüber den anderen Dorfbewohnern zeigte er sich selbstverständlich immer sehr höflich, obwohl ein Schmied nicht unbedingt zu den Menschen gehört, denen man Sitte und Anstand nachsagen würde. Aber Eric war anders. Jessica schenkte ihm Im Verlauf ihrer Ehe drei Kinder. Zwei gesunde Söhne und eine geistig behinderte Tochter. Jacob war der Älteste und Stephan kam als Zweiter auf die Welt. Sie waren Zwillinge, während Lucy alleine geboren wurde. Im Dorf sagte man, dass Erics dunkle Machenschaften hinter verschlossenen Türen Schuld an der Behinderung des Mädchens seien, aber ich glaube da nicht dran. Wenn das stimmen würde, müsste außerhalb von Darkwoods River ja jeder 5. irgendwelche komischen Sprüche vor sich hin murmeln! Offenbar gibt es in den großen Städten ja einen ganzen Haufen von geistig und körperlich behinderten Kindern und die können wohl kaum alle durch Gottes Zorn so geboren worden sein, nicht wahr? Angeblich liebt er doch seine Lämmer. Aber ich schweife ab... Lucy wurde vor den Dorfbewohnern versteckt und nur weil sich die Hebamme etwa ein Jahr nach der Geburt des armen Dings verplapperte kam überhaupt ans Licht, dass es sie gab. Ein bemitleidenswertes Weibsbild, das kann ich dir sagen. Kaum in der Lage richtige Wörter, geschweige denn Sätze zu formulieren und auszusprechen, dafür aber sehr emotional. Es muss weh getan haben, jedes Mal als Aussätzige behandelt zu werden, nur weil sie nicht ganz normal war. Es heißt, man konnte ihre gebrochene Seele bei jedem Blick in ihre blauen Augen sehen, aber es hat niemanden gekümmert. Niemanden außer Eric! Selbst Jessica wendete sich von dem Mädchen ab, doch Eric liebte sie von Herzen und wenn er nicht arbeiten musste verbrachte er den ganzen Tag an der Seite seiner durchaus süßen und hübschen Tochter. Ihm machte es nichts aus, dass sie nicht richtig sprechen konnte, denn lesen und schreiben klappte einigermaßen und so konnten sie sich über Feder und Papier verständigen, wenn sie ein Gespräch führen wollten. Leider war er nur bei Tag der bürgerliche, gute Vater, denn sobald es dunkel wurde, verschwand er in sein privates Kämmerchen und widmete sich wieder seinen Büchern. Aus der Kirche wurde er längst ausgeschlossen und seine Kindern wurden nie getauft. An Jacobs und Stephans dreizehntem Geburtstag verstarb letztlich seine Frau. Man fand sie am unteren Ende der Treppe, die zum Schlafzimmer des Ehepaars hoch führt. Offizielle Todesursache war ein offensichtlicher Genickbruch durch einen Sturz die Treppe herunter, wofür einige blaue Flecken an ihrem Körper sprachen, allerdings weiß ich, dass das nur eine fadenscheinige Ausrede des Arztes von damals war, um nicht weiter nachforschen zu müssen. Zwei Tage nach ihrem Tod und einen Tag vor ihrer Beisetzung ließ er seinen Assistenten mit ihrer Leiche alleine, weil der Leichenbeschauer noch irgendwas wollte, aber er weg musste. Also sollte sein Assistent ihm später mal eben die Tür aufmachen und abschließen, wenn dieser Geier wieder fort war. Dummerweise war der Bursche noch sehr jung und er konnte nicht so recht glauben, dass Eric der Hexer – so nannte man ihn inzwischen im Dorf – seine Frau wirklich durch einen Unfall verloren hatte. Was ich dir jetzt erzähle steht in keinem offiziellen Bericht, sondern nur in den inoffiziellen Aufzeichnungen des Assistenzarztes und die werden sicher unter Verschluss gehalten, damit niemand sie lesen kann.“ Kathrin gefiel nicht, in welchem Ton Christel das alles erzählte. Gerade so, als wäre sie selbst mit dabei gewesen! Aber das war unmöglich, denn älter als vielleicht 50 Jahre konnte Frau Wegener unmöglich sein. Andererseits saß ihr gerade eine Frau vor der Nase, die vielleicht 20 war, wenn nicht sogar noch jünger und ihre weiblichen Reize, von denen die strenge Lehrerin sonst eigentlich keine besaß, sprangen Kathrin nun förmlich ins Gesicht. Es war ein Wunder, dass ihre Brüste nicht das Oberteil sprengten und der Schülerin einen Anblick boten, den sie niemals geboten bekommen wollte. Selbstverständlich würde sie den Teufel tun, das jemals auszusprechen, da sie sich sowieso sehr sicher war, dass ihre Lehrerin längst wusste, dass Katy die starke körperliche Veränderung aufgefallen war. Christel Wegener war tatsächlich attraktiv geworden und wie es schien auch jünger! Ob Attraktivität wohl bei jedem Menschen im Alter verschwand? Sie wusste es nicht, allerdings wusste sie auch nicht, ob diese Frau tatsächlich ein Mensch war. Je länger sie mit ihr alleine war, desto stärker zweifelte sie daran und desto größer wurde ihr Unwohlsein in Gegenwart dieser Person. Ihr Herzschlag hatte sich deutlich beschleunigt und ebenso ihre Atemfrequenz, doch ansonsten gab es keine Veränderungen bei Kathrin. Sie war gespannt, was noch kommen würde, denn inoffizielle Berichte wurden in der Regel nur dann unter Verschluss gehalten, wenn sie etwas verrieten, was man der Öffentlichkeit aus irgendeinem Grund vorenthalten wollte. „Was hat er gefunden?“, hörte sie sich selbst fragen und bereute es sofort wieder. Dieser beinahe schon gierige Klang ihrer Stimme jagte ihr einen Schauer über den langsam auskühlenden Körper. Seit wann war sie denn so heiß auf irgendwelche Horrorgeschichten? Auch Christel hatte den neuen Tonfall bemerkt, doch ihr gefiel das um einiges besser als dem dummen kleinen Menschlein an dem Schülertisch. Kathrin zappelte an ihrem Haken und jetzt wurde es Zeit, die Leine einzuholen! Ganz langsam, damit sie nicht riss und das Fischlein doch noch davon kommen ließ verstand sich.

„Als er ihre Leiche öffnete, hatte er natürlich nicht mehr besonders frische Ware auf dem Tisch liegen, aber die Kälte in der Kammer hatte die alte Dame doch recht gut erhalten. Was ihm sofort ins Auge stach waren die violett verfärbten Arterien in ihrem Inneren. Auf Brusthöhe nur wenige, wobei auch das Herz von Violett durchzogen war, aber je weiter es runter ging, desto mehr dunkle Arterien fand er und als er am Bauch ankam, traf ihn fast der Schlag. Du kleine Streberin weißt sicherlich, dass bei einer Autopsie auch der Mageninhalt untersucht wird, nicht?Nun, in ihrem Magen fand er alles andere als ein normales und gesundes Frühstück oder Mittagessen. Lebensmittel gab es gar keine in ihrem Magen, dafür aber jede Menge Magensäure... und zwei leicht anverdauete Schlangen. Etwa zwanzig Zentimeter lang und einen Zentimeter dick, dafür aber ungemein giftig die Biester. Ihre Magenschleimwand war von zahllosen Schlangenbissen perforiert worden und offensichtlich hatten diese Tierchen sie von innen heraus vergiftet. Jessica wird die Schlangen kaum selbst geschluckt haben, wodurch sich natürlich die Frage stellte, wie diese Tiere in ihren Bauch kamen, aber damit konnte er sich nicht befassen. Er kam noch zu dem Schluss, dass das Gift sie vielleicht noch nicht getötet hatte, aber doch so weit beeinflusst hatte, dass sie die Treppe hinunter stürzte, denn gebrochen war ihr Genick tatsächlich, und kaum hatte er das notiert kam der Leichenbeschauer und er musste hektisch seine Aufzeichnungen verstecken. Gnädigerweise wurde dem wirklichen Arzt nichts von diesem Alleingang erzählt und Jessica wurde wie es sich gehört beigesetzt, doch ein paar Tage nach der Beerdigung fand der Dorfarzt die Aufzeichnungen seines Assistenten und feuerte ihn. Die Papiere behielt er und brachte sie in Sicherheit, damit niemand je erfahren kann, was damals wirklich geschehen war. Auch ohne dieses Wissen war allen im Dorf klar gewesen, dass dieser Todesfall allein Erics Schuld war. Jessica betrog ihn mit einem der Holzfäller seit Lucy auf der Welt war und das hatte er ihr nun heimgezahlt. Niemand betrog Eric Manson ungestraft! Jessica war nicht der erste Todesfall, den man Eric in die Schuhe schob, aber es war der Erste, bei dem kein Schmiedehammer oder eine Axt benutzt wurde, um dem Opfer den Rest zu geben. Mit der Zeit zogen sich die Zwillinge immer weiter zurück und begannen von ihrem Vater zu lernen, was er aus diesen Büchern gelernt hatte und so dauerte es nicht lange, bis sich der nächste Todesfall ereignete. Diesmal traf es die arme Lucy, die damals erst zehn war, während ihre Brüder inzwischen fünfzehn geworden waren. Jacob hatte seine Schwester geliebt, aber trotzdem immer eine gewisse Abneigung gegen sie gehabt, weil sie anders war. Das war ja noch im vertretbaren Rahmen, wie ich finde, aber Stephan war anderer Ansicht als sein älterer Zwillingsbruder. Er hasste Lucy, die immer die meiste Liebe und Aufmerksamkeit von ihrem Vater bekam. Wann immer sie etwas wollte, bekam sie es und auch wenn er seinen Jungs etwas versprach, ließ er die beiden links liegen, wenn seine kleine Prinzessin etwas wollte. So kam es, wie es kommen musste und Stephan wendete an, was er gelernt hatte. Nur 3 Monate nach dem Tod von Jessica Manson fand auch Lucy den Tod. Ihr Vater wollte nach ihr sehen und als er ihr Zimmer betrat sah er sie am Boden liegen. Die Arme hatte sie zu den Seiten wie eine Gekreuzigte mit beiden Handrücken auf dem Boden von sich gestreckt und in beiden Handflächen steckte ihr jeweils ein Nagel, der sie jedoch nicht bis in den Boden reichte. Um ihre Fußknöchel, die zusammengelegt worden waren, hatte jemand eine tote Königskobra geschlungen, die ihr noch lebendig einmal in die rechte Wade gebissen haben musste. Das war natürlich nicht die Todesursache, denn so tödlich sind die Biester auch wieder nicht. Was sie umgebracht hat waren die drei Würfel, die ihr tief im Rachen steckten. Sie ist erstickt und wurde dann nur für Eric so hergerichtet, damit er sieht, was er davon hat, seine Tochter zu bevorzugen, nur weil die nicht ganz auf der Höhe war. In dem Moment, wo Eric seine Tochter so fand, muss irgendwas in ihm zerbrochen oder aufgewacht sein. Auf alle Fälle war ab dem Tag Schluss mit lustig und das ganze Dorf sah es schon kommen. Obwohl Lucy nicht getauft war und sie alles andere als christlich gestorben war, wurden ihr sämtliche eventuellen Sünden vom Pfarrer vergeben und sie bekam ein anständiges Begräbnis. Das schien Eric ein wenig zu besänftigen, was aber nicht all zu lange anhielt. Sein Schmerz über den Verlust machte ihn blind und innerlich brodelte er weiter vor sich hin. Immer öfter sah man in den letzten Tagen vor der Katastrophe eine fremde Frau bei ihm ein und ausgehen. Sie gehörte nicht zum Dorf, stellte sich aber auch niemandem vor. Sie war hübsch und niemand hegte einen Zweifel daran, dass sie es mit dem alten Manson trieb, der mit den Tagen immer verschrobener wurde, doch das Ende sah niemand so kommen. Im Herbst wurden seine Jungs erneut ein Jahr älter und die Feier zu ihrem sechzehnten Geburtstag sollte auch zu ihrer Totenfeier werden. Obwohl nur Stephan Schuld an Lucys Tod hatte, konnte Eric beide Söhne nicht mehr ertragen. Er plante lange und als es endlich so weit war, muss er erleichtert gewesen sein. Kein Vater will lange auf Rache für sein Kind warten müssen, glaub mir. Zuerst lockte er Stephan in den Keller, wo er ihn mit einer Axt, die er selbst geschmiedet und geschliffen hatte, bei lebendigem Leib in Stücke hackte. Den Kopf ließ er dran, damit der Junge leidet. Natürlich hörte Jacob seinen Bruder schreien und wollte ihm helfen, wie man annimmt, aber das war die dümmste Idee. Als Stephan fast nur noch eine hackfleischartige Masse mit großen braunen Augen war, widmete sich Eric seinem Erstgeborenen. Vielleicht war schon wahnsinnig geworden, vielleicht war er auch einfach nur blind vor Hass oder hatte Drogen genommen. In den Büchern, die er las, stehen einige Rezepte für Tränke, die einem die Sinne betäuben oder ähnliche Wirkung haben sollen, wenn man beispielsweise mit einem Dämon in Kontakt treten will, der sich einem hellwachen Menschen nicht zu erkennen geben würde. Wenn er unter dem Einfluss von solchem Zeug stand wundert es mich nicht, dass er so vollkommen ausgeflippt ist. Manche dieser Tränke haben es ganz schön in sich... Na ja. Jedenfalls kam Jacob auch nicht besser bei der Sache weg als sein kleiner Bruder. Er verlor einen Arm durch die Axt, ehe sein Vater ihm eine dicke Eisenkette um den Hals schlang und ihn damit bis zur Bewusstlosigkeit würgte. Als er wieder zu sich kam lag er zusammen mit seinem zerhackten toten Bruder auf einem brennenden Scheiterhaufen im Wald und schrie sich die Seele aus dem Leib, bis er starb. Abhauen konnte er nicht, weil sein Vater ihm die Kette um den Körper geschlungen hatte. Anschließend kam Eric als sei nichts gewesen wieder nach Hause und man sah ihn einige Tage nicht mehr. Die Schmiede blieb kalt und leer, der Scheiterhaufen wurde abgebrannt gefunden, aber man konnte nicht mehr identifizieren, wer dort verbrannt worden war. Nachdem 2 Wochen vergangen waren machten sich schließlich doch einige Leute Sorgen, zumal sie natürlich seine Arbeit als Schmied benötigten, was sie in Zugzwang brachte. Man schickte zwei der Holzfäller mit einem Mitglied des Rates zur Manson-Villa um nach Eric zu sehen. Na ja, der Rest ist schnell erzählt. Man fand ihn erhängt über der Treppe baumelnd und schon am verwesen. Er musste sich schon Tage zuvor aufgehängt haben und niemand hatte etwas bemerkt. Was den Arzt allerdings bei der Untersuchung verwunderte waren die Kratzer auf seinem Rücken. Die sahen aus, als hätte er vor seinem Selbstmord noch Spaß mit einer sehr kratzbürstigen Frau gehabt. Mit einer Frau, die ihm die Krallen tief ins Fleisch geschlagen hat... Eric Manson bekam keine christliche Beisetzung, sondern wurde im Wald verscharrt und vielleicht ist das die Wurzel allen Übels. Nach seinem Tod begann das Haus sich am Dorf zu rächen, das dem Mann, von dem es gebaut wurde, keine anständige Beisetzung schenkte.“

Eigentlich hatte Kathrin geglaubt, dass sie sich seelisch auf alles vorbereitet hatte, was da kommen möge, doch was sie hier erzählt bekam, traf sie wie ein Hammerschlag vor den Kopf. Giftschlangen im Bauch, gestellte Kreuzigungen, Zerstückelungen und Verbrennungen bei lebendigem Leib und dann ein finaler Selbstmord. Damit hatte sie nicht gerechnet und jetzt verstand sie auch, wieso niemand im Dorf darüber sprechen wollte. Dass Christel klang, als sei sie selbst zu dieser Zeit im Dorf gewesen ließ sie mal außen vor, denn im Augenblick war sie schon mehr als genug damit beschäftigt, die gerade erhaltenen Informationen zu verarbeiten. Dass Männer ihre Frauen wegen Ehebruchs umbringen war nichts besonderes mehr in Darkwoods River, wo die Kirche immer noch die alleinige Macht besaß und herrschte, doch dass Geschwister sich aus Eifersucht mit schwarzer Magie auf beinahe satanische Art und Weise gegenseitig umbringen, nur um dann vom Vater mit dem Tod bestraft zu werden, war ungewöhnlich. Ungewöhnlich? Unmöglich! Kathrin hatte nie sonderlich viel für solche Geschichten übrig gehabt, doch irgendetwas war da in den Augen ihrer Lehrerin. Irgendetwas, das sie dazu zwang, ihr ganz einfach jedes Wort zu glauben, weil diese elende Hexe ein Miststück, aber keine Lügnerin war. Frau Wegener hatte die Wahrheit schon immer als ihr mächtigstes Schwert benutzt und es sollte Katy doch sehr wurden, wenn sich daran irgendetwas geändert haben sollte. Zum Erstaunen der Lehrerin steckte Kathrin diese Informationen ziemlich gut weg. Bislang hatten nur wenige vor ihr bis zu diesem Punkt zuhören können, ohne blass zu werden und hysterisch kichernd zu behaupten, dass Christel ihnen bloß einen schlechten Scherz erzählt habe. Dieses brünette Weibsbild schien nicht so leicht zu knacken zu sein wie die anderen zuvor... und es gefiel Christel. Langsam verflog ihr Unmut darüber, dass sie keine großen Erfolge verbuchen konnte, und machte Platz für ihren Spieltrieb und ihren Jagdtrieb. Wenn sich einem schon eine so störrische und scheinbar geistig gefestigte Beute präsentierte, dann sollte man das Spielchen doch genießen, bevor man der Beute sprichwörtlich das Genick brach, oder etwa nicht? Sie würde schon noch bekommen, was sie wollte... oder auch nicht.

„Sie sagten, dass das Haus sich am Dorf zu rächen begann... Wie meinen Sie das?“

Diese Frage war wie eine Ohrfeige für Christel. Sie wollte Kathrin eigentlich noch ein Weilchen zappeln lassen und die düstere Atmosphäre auf sie wirken lassen, doch das wollte man ihr nicht gönnen. Dieses Gör wollte noch mehr hören und das ohne eine Pause einzulegen! Gerade als das Miststück des Dorfes wieder zu sprechen anfangen wollte geschah allerdings das, was ihr in all den Jahren noch nie passiert war: ihr versagte die Stimme wegen ihrer Schülerin! Nicht wegen ihrer nach wie vor unbefriedigten Neugierde, die offenbar in dem Mädchen brannte, sondern wegen ihren Augen! Hatte sie sich gerade verguckt oder spielte die Dunkelheit ihren Augen einfach nur einen Streich? Außer der silbrigen Scheibe des Vollmonds gab es inzwischen kein Licht mehr am Himmel und selbst diese Lichtquelle wurde immer wieder von beinahe schwarzen Wolken verhüllt. Da konnte man sich doch mal irren, oder nicht? Langsam erhob sich Christel von der Tischplatte, auf der sie die ganze Zeit gesessen hatte, und schritt auf den Tisch ihrer Schülerin zu, die ausdruckslos zu ihr hinauf blickte. Zwei Schritte vom Tisch der Schülerin entfernt blieb sie schließlich stehen und musterte Kathrin ganz genau. Sie saß aufrecht an ihrem Tisch, die Hände lagen übereinander flach in ihrem Schoß und die Beine hatte sie sittsam angewinkelt. Doch es war die Farbe ihrer Augen, die nicht richtig war. Die nicht richtig sein konnte, verflucht! Kathrin hatte blaue Augen, so strahlend wie der Himmel an einem wolkenlosen Sommertag, und das wusste Christel ganz genau, also warum erschienen sie ihr jetzt vollkommen ausdruckslos und schwarz? Ein Mensch hatte keine schwarzen Augen und es war einfach nicht möglich, dass dieses Mädchen während eines Wimpernschlags von Christel mit Lichtgeschwindigkeit irgendwelche farbigen Kontaklinsen eingesetzt hatte. Solche Linsen gab es in Darkwoods River doch nicht einmal! „Geht es dir nicht gut, Katy?“, hörte sie sich selbst mit hölzerner Stimme fragen. Nicht etwa, dass Christel Angst vor ihrer Schülerin bekommen hätte, doch sie durfte sich nicht täuschen lassen. Es war zu gefährlich, wenn man das Spiel, das man spielte, nicht völlig unter Kontrolle hatte. Man konnte dann verlieren und das wollte die alte Lehrerin auf gar keinen Fall riskieren. Niederlagen waren für sie wie ein Bad in Säure und das wusste jeder im Dorf. Wer sie jemals in irgendwas geschlagen hatte oder einfach nur den Triumph errungen hatte, das letzte Wort zu behalten, wenn man sich mit ihr stritt, der hatte meistens nicht mehr lange zu leben. Niemand im Dorf versuchte Christel einzusperren oder zu vertreiben. Nicht noch einmal nach den düsteren Vorfällen kurze Zeit nach Eric Mansons Freitod. Kathrin wusste noch nichts von diesen Fakten, sah aber deutlich, wie angespannt der Körper ihrer deutlich jünger gewordenen Lehrerin plötzlich war. Sie traute ihr nicht über den Weg und wenn Kathrin ehrlich sein sollte wusste sie nicht, woher Frau Wegeners plötzliche Unruhe kam. Hatte sie denn etwas falsches gesagt oder war die Frage nach der Bedeutung ihrer letzten Worte zum Haus unerwünscht gewesen? Sie wollte sich entschuldigen, doch ein Teil von ihr stemmte sich dagegen, diese Worte heraus zu würgen, die Katy sowieso nicht dachte oder fühlte, sondern nur aus Anstand sagen würde. Es war der dunkle Teil von Kathrin, den sie so sehr verachtete und immer zu ignorieren versuchte, der sie jedoch immer wieder heimsuchte. Noch vor einer Viertelstunde hatte dieser Teil ihr Angst gemacht und ihr eingeredet, dass sie wahnsinnig wurde. Doch das war für den Moment vorbei. Kathrin wusste, dass dieser Teil von ihr selten auf ihrer Seite stand, doch gerade tat sie genau das und sie wollte mit Christel spielen. Sie wollte einsteigen und das Spielchen mit ihr gemeinsam beenden, aber nicht verlieren. Langsam legte sich ein kühles Lächeln auf Kathrins Lippen und ihr Blick wurde von Gleichgültigkeit und Berechnung geprägt. „Mir geht es bestens, keine Sorge, Frau Wegener. Aber wie geht es Ihnen denn? Sie wirken nervös, Teuerste. Und dabei haben Sie mir doch noch gar nicht alles erzählt, was ich wissen möchte. Haben Sie keine Lust mehr?“, gab sie ihrer Lehrerin zur Antwort und jubelte innerlich über diese Worte. Wenn das mal nicht gesessen hatte! Ihre Stimme war aalglatt und genau das schien Christel aus der Bahn zu werfen. Einen Moment sah sie Kathrin mit leicht geöffnetem Mund einfach nur etwas dümmlich an, dann bemerkte sie selbst ihre aktuelle Position. Sie wurde in ihrem eigenen Spiel durch einen Überraschungsangriff an die Wand gedrängt! Sofort schloss sie den Mund, straffte ihre Körperhaltung und ging zurück zu ihrem Tisch, um den sie herum ging um sich auf ihren Stuhl sinken zu lassen. Tief durchatmend stützte sie die Ellenbogen auf die alte Tischplatte aus Eichenholz, verschränke die Finger zu einem Bett ineinander und legte ihr Kinn auf dieses Geflecht aus Fingern. „Es ist alles Bestens. Meine alten Augen haben mir wohl einen Streich gespielt.“, lenkte sie schließlich mit ihrem entnervend süßem Lächeln ein, das sowieso falsch war. Kathrins Gesichtsausdruck blieb unverändert dabei, was Christel störte. „Dann ist ja alles gut und sie können weiter berichten, was damals geschehen ist, nicht wahr?“, bohrte sie bloß unnachgiebig weiter, was ein langgezogenes Seufzen ihrer Lehrerin zur Folge hatte. „Glaubst du an Gott, Kathrin?“, war ihre Gegenfrage, die Kathrin leise lachen ließ. Nach ein paar Augenblicken verstummte sie jedoch sie wieder und schüttelte den Kopf. „Nein. Meinen letzten Fantasiefreund hatte ich mit fünf. Warum fragen Sie?“ ~Autsch, das war böse!~, hörte sie den dunklen Fleck in ihrem Inneren zufrieden lachen. Ja, auch Kathrin selbst konnte mal etwas bissig sein und auf Gott war sie sowieso nicht gut zu sprechen, nachdem er ihr schon zu viel nahm als sie noch klein war. Als Kind hat man zwei Möglichkeiten, wenn man gläubig ist und dauernd von diesem „Gott“ verletzt wird. Man fällt vom Glauben ab, oder man beginnt seinen Herrn zu hassen, der einen selbst wohl hassen muss! Kinder wählen in der Regel den Weg des geringsten Schmerzes und so fallen sie schnell vom Glauben ab, bevor sich der schmerzhafte Gedanke in ihnen festsetzen kann, dass ihr Gott sie hasst und sie strafen will. So war es auch bei Kathrin gewesen und das Unheil nahm seinen Lauf. Ein Glück, dass sie heute dennoch eine sehr liebenswerte junge Frau war und keine dauernd in schwarz gekleidete Irre, die irgendwelche „Grillfeste“ auf dem Friedhof veranstaltet. Auch Christel musste nun ein wenig lachen und Kathrin hörte die ehrliche Erheiterung in diesem Lachen. Sie hatte tatsächlich etwas gesagt, was diesen widerlichen Eisblock amüsierte! ~Du solltest eine Urkunde verlangen, Herzchen. Ich wette, das schaffen nicht viele.~ Darauf ging die Schülerin nicht ein. Lieber sah sie zu ihrer Lehrerin nach vorne, die nun wieder um einiges entspannter wirkte und wieder entspannt lächelte. Sie glaubte, dass das Spiel ihr wieder sicher war. Kathrin war eben etwas trotzig geworden, sonst nichts. War das nicht eine tolle Erklärung? Für Christel schon. „Also... Wie ich das gemeint habe willst du wissen? Du kennst doch die Geschichten um die Villa, oder nicht? Nur wenige Wochen nach Erics Selbstmord sollte das Haus abgerissen werden, weil die Dorfbewohner es als das >dunkle Auge der Hölle< bezeichneten. Sie hatten Angst davor und sagten ihm eine unheimliche Aura nach. Damals gab es eben noch viele Esoteriker und andere Spinner. Nun ja, das Haus war ein wenig anderer Meinung und als die Bauarbeiter anrückten, um das Haus dem Erdboden gleich zu machen, geschahen ein paar... dumme kleine Unfälle. Einer der Arbeiter stürzte die Treppe vom ersten Stock hinunter und brach sich das Genick, ein anderer wurde von der Badewanne des Stockwerks über ihm erschlagen. Der Boden muss morsch gewesen sein, sonst hätte die Wanne nicht durch den Boden krachen können, auch wenn das massive Edelstahlding ein ordentliches Gewicht mitgebracht haben dürfte. Nach diesen Vorfällen an nur einem Tag legte man eine Pause von zwei Wochen ein, um zu trauern und sich zu beraten. Man erklärte das Haus für einsturzgefährdet und traf Vorsichtsmaßnahmen. Man wollte nun einfach alles drin stehen lassen und das Haus von außen sprengen, doch auch das sollten sie bereuen. Sie bohrten von außen Löcher in die Mauern um Dynamit hinein zu stecken und offenbar muss irgendwo Gas durch eine Leitung geströmt sein. Das Kupferrohr wurde angebohrt und als sich einer der Arbeiter eine Zigarette anzündete, entflammte er das Gas. Es gab eine kleine Explosion, die der massiven Backsteinmauer wenig Schaden zufügte, die dafür aber den Arbeiter erledigte. Die Dorfbewohner glaubten an den Fluch der Mansons und schnell sprach sich das bis zum Dorfrat durch. Wie du dir sicherlich denken kannst hat dieser abergläubische Haufen Trottel schnell alle Maßnahmen eingestellt und das Haus einfach stehen lassen, aber sie hatten das Haus gereizt. Es vergingen fast 10 Monate ohne irgendwelche Vorfälle, doch dann kamen die ersten Heranwachsenden auf die Idee, in der Villa ihre Mutproben veranstalten zu müssen. Man fand sie reihenweise tot im Erdgeschoss des Hauses, vielen war einfach das Herz stehen geblieben. Ein Herzinfarkt mit 15 oder 16, kannst du dir das vorstellen? Man warnte alle Jugendlichen eindringlich davor, dieses Haus zu betreten, doch allen Warnungen zum Trotz sind immer wieder welche in die Villa gegangen. Nicht alle sind wieder aufgetaucht und die, die zurück kamen, waren tot oder mussten wegen Geisteskrankheit eingesperrt werden. Letztlich wurde trotzdem jeder Besucher tot aufgefunden, denn alle, die lebend heraus kamen, haben sich später selbst das Leben genommen! Und nun sitzt du hier vor mir, Liebes... und willst mit deinen kleinen Freunden ebenfalls in die Villa. Habe ich nicht Recht?“, beendete Christel endlich ihre Erzählungen über die Villa der Mansons und über die grausige Vorgeschichte dieses Ortes. Kathrin war klar gewesen, dass irgendetwas mit diesem Haus nicht stimmte, doch nun wusste sie es noch genauer und sie würde all das ihren Freunden berichten müssen, bevor sie rein gehen konnten. Sie mussten vorsichtig sein! Natürlich glaubte die Teenagerin nicht daran, dass dieses Anwesen ein Einleben führte... doch ein gewisses Maß an Vorsicht war doch nicht verkehrt, oder? Immerhin war es eine unumstrittene Tatsache, dass die Mansons verstorben sind und dass immer wieder Jugendliche in diesem Haus umgekommen sind, genau wie damals die Bauarbeiter. Irgendwas musste dort sein und selbst wenn es bloß ein giftiges Gas sein sollte, das von verwesenden Ratten in irgendwelchen Kammern kam, sollte man vorbereitet sein. Caleb war ein mutiger Kerl, genau wie Michael und Rayne, doch Jonathan war eher von vorsichtiger Natur und er war es ja auch, den Ryan in den Keller schicken wollte, um einen Test zu machen. Niemand konnte von ihm verlangen, dass er dort hinunter ging, wenn er nicht darüber informiert worden war, was eigentlich alles vorgefallen ist. Eigentlich erwartete Christel eine unruhige Reaktion von ihrer Schülerin, doch einmal mehr wurde sie enttäuscht. Kathrin machte einen nachdenklichen Eindruck, bis sie plötzlich von ihrem Stuhl aufstand. Diese abrupte Bewegung kam unerwartet für Christel, die instinktiv nach hinten zurückweichen wollte, woran die Rückenlehne ihres Stuhls sie aber hinderte. Der düstere Teil von Kathrin hatte die Situation erfasst und die Informationen längst verarbeitet. Nun war es an der Zeit, endlich nach Hause zu gehen und ganz schnell das beklemmende Gefühl zu vergessen, das sie hatte, seit sie mit ihrer Lehrerin in diesem dunklen Zimmer saß, das vom Mondlicht nur unzureichend erhellt wurde. Was die alte Hexe auf dem Lehrerstuhl allerdings erleichterte war die Tatsache, dass Kathrins Augen nun wieder von einem reinen Blau waren. Also hatte das Licht ihren Augen wirklich einen Streich gespielt, sehr gut! Jedenfalls glaubte Christel das nun. „Die Zeit ist um, oder?“

Diese Frage holte die in Gedanken und Selbstzufriedenheit versunkene Lehrerin zurück ins Hier und Jetzt und rüttelte sie wieder richtig wach. „Welche Zeit?“, fragte sie dennoch eher misstrauisch als gefasst nach, denn geheuer war ihr dieses Mädchen trotzdem nicht. Dieser abergläubische, ängstliche und schwache Haufen von Menschen mitten im Wald hatte sich nie lange halten können und war schnell in Panik ausgebrochen wenn solche Geschichten erzählt wurden, dich Kathrin war ein Sonderfall. Sie glaubte nicht an Gott und damit war es nicht möglich ihr so leicht wie den anderen weiß zumachen, dass irgendwelche dämonischen Dinge in diesem Dorf vor sich gingen und dass die Manson-Villa ein Eigenleben führte, nachdem sich Eric Manson umgebracht hatte. Mit einem unschuldigen Lächeln, das wohl nur Christel Wegener selbst besser hätte spielen können als sie, sah Kathrin zu ihrer noch immer sitzenden Lehrerin herunter und neigte den Kopf auf die Seite. „Die Zeit, die ich nachsitzen musste meine ich. Ich kann jetzt nach Hause, stimmt's?“, hakte sie weiter nach und klang nun beinahe schon fordernd. Sie wollte nach Hause und das schnell, wenn auch nicht aus Angst, sondern weil sie schlafen wollte, um morgen ihren Freunden die neuen und offenbar wichtigen Informationen mitzuteilen. Da Christel bloß nickte, wartete das braunhaarige Schulmädchen auch gar nicht länger ab, sondern machte sich auf den Heimweg. Es kam ihr vor, als hätte der Himmel nur darauf gewartet, dass sie das Haus verließ, und sie wollte nicht ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass dem nicht so war. Während sie sich von ihrer grauenhaften Lehrerin hatte darüber aufklären lassen, was ihr und ihren Freunden von allen anderen vorenthalten wurde, hatte der Regen nachgelassen und darüber war Kathrin auch froh gewesen, da sie ausgerechnet heute keinen Regenschirm mit sich führte, doch von langer Dauer sollte dieses gnädigere Wetter nicht sein. Sie war vielleicht zwei Schritte über die Türschwelle des Schulgebäudes nach draußen getreten, da wurde die Welt von einem krachenden Donner überrollt, der sich anhörte, als würden die Engel mit den übrigen Planeten Bowling spielen und alle Kegel umhauen. Leise seufzend hob sie den Blick gen Himmel und verfluchte jede einzelne schwarze Wolke, die sich dort oben am Vollmond vorbei schob und ihr das einzige Licht raubte, das es rund um die Schule gab. Die Dunkelheit war schon lästig genug, doch was ihr die Laune endgültig vermieste war der plötzliche sturzbachartige Regen, der ihr ins Gesicht klatschte, kaum dass sie selbiges der Wolkendecke über sich zugewendet hatte. Langsam schloss sie die Augen, ließ die Schultern mit einem langgezogenen Seufzen der Frustration hängen und atmete tief durch. „Es gibt keinen Gott... und wenn doch, dann hasst er mich!“, beschwerte sie sich leise in der Stille, die nur durch das Rauschen der nassen Blätter im Wind unterbrochen wurde. Einen Moment blieb sie so stehen, doch schon nach wenigen Augenblicken war sie bis auf die Haut durchnässt und begann nach Hause zu rennen. Der Schlamm spritzte unter ihren Füßen hervor und besprenkelte ihre Schuhe und Socken, der Regen durchweichte ihre Kleidung, die an ihrem wohlgeformten Körper zu kleben begegann und sich einfach nur widerlich und schleimig auf ihrer kalten Haut anfühlte, doch das war ihr für den Moment egal. Sie beeilte sich einfach nur auf ihrem Weg und war dankbar, als sie nach guten 7 Minuten vollkommen außer Atem wieder unter einem Dach stand. Unter dem Vordach ihres Elternhauses! Tief seufzend strich sie sich die nassen Strähnen nach hinten aus dem Gesicht und sah an sich herunter. Sie war ein zerzaustes, schlammiges kleines Ungeheuer und ihre Mutter würde ihr definitiv eins mit dem Kochlöffel über den nicht mehr richtig vorhandenen Scheitel ziehen, wenn sie das Haus mit Schlamm und Wasser in einen dreckigen Tümpel zu verwandeln wagen sollte. Auch wenn ihr eiskalt war zog sie vor der Haustür ihre besudelten Schuhe und ihre durchgeweichten Socken aus, genauso wie ihre vollgesaugte Jacke aus schwerer Wolle, die stark tropfte. Vorsichtig wrang sie die Jacke ein wenig aus, bis sie sich entschied, dass es reichte. Den Rock ihrer Schuluniform würde sie garantiert nicht vor dem Haus ausziehen! So leise wie möglich schloss sie die Haustür auf, schob sich ins Hausinnere und ließ die Tür möglichst leise auch wieder ins Schloss fallen.

„Kathrin, wo warst du so lange?!“

Leise einen Fluch zischend zuckte Kate zusammen als sie die dunkle Stimme ihres Vaters hörte. Sie verspürte nicht das geringste Fünkchen Angst, wenn sie an ihren Vater dachte oder sie seine Stimme hörte, doch ertappt hatte er sie nun trotzdem. Die warme, rauchige Stimme ihres Vaters bewies ihr, dass sie hier zu Hause war. Sie war in Sicherheit und sie war den Fängen dieser verfluchten Lehrerin entkommen. Das war eigentlich auch schon alles, was sie wirklich interessierte, denn außer dem Bedürfnis, so schnell es ging viel Distanz zwischen sich und Christel zu bringen, hatte sie nicht mehr viel gespürt. Bis jetzt. „Ich musste nachsitzen, Daddy. Ich habe im Unterricht vor mich hin geträumt.“, gestand sie ihrem Vater schließlich betreten, wobei sie nass und ausgekühlt im Flur stehen blieb. Keine dreißig Sekunden später stand ihr geliebter Vater auch schon bei ihr im Flur im Licht der Hauslaternen und musterte seine triefendnasse Tochter mit dem typischen besorgten Blick eines Vaters, der sich ganz sicher sein wollte, dass sein Töchterchen nur durch einen Regenguss gerannt war und ihr nichts weiter geschehen war. Sein Kind war blass, aber er konnte nichts weiter feststellen, was nach einem Übergriff auf sie aussah, weshalb er schnell sein besorgtes Gesicht verlor und ein ruhiger, sanfter Gesichtsausdruck den Platz einnahm. Er liebte seine Tochter und sie liebte ihn. Genau das machte alles so harmonisch in diesem Haus, denn eine Mutter gab es schon seit ein paar Jahren nicht mehr in diesem Haus. Kathrins Mutter blieb nur mit ihrem Vater zusammen, weil sie schwanger wurde, doch kaum dass sie ihre Tochter auf die Welt gebracht hatte, hatte sie das Weite gesucht und sich nie wieder gemeldet. Kathrins Vater blieb mit ihr allein zurück und musste zusehen, wie es seine und ihre Angelegenheiten geregelt bekam. „Du siehst schlimm aus, mein Kind. Nimm ein heißes Bad, bevor du dir noch eine Grippe holst, und dann leg dich schlafen. Du machst mir einen sehr erschöpften Eindruck.“ Da hatte er den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen. Kathrin war ziemlich fertig und sie brauchte ganz dringend ein heißes Bad, um sauber und wieder warm zu werden. „Okay.“, kommentierte sie es nur, ehe sie auch schon ins Badezimmer davon eilte. Ihre nassen Kleider hängte sie zum Trocknen auf und danach würde sie sie waschen, doch nun ließ sie sich erst mal das erwünschte Bad einlaufen. Ein paar Minuten beobachtete sie auf dem Wannenrand sitzend, wie das Wasser in die große Kupferwanne mit der Beschichtung aus weißer Emaille einlief, dann stand sie langsam wieder auf und knöpfte ihre durchnässte Bluse aus weißer Baumwolle auf. Sie sank als erstes zu Boden und gab den Blick auf einen ebenfalls nassen und an ihrer Haut klebenden Büstenhalter frei. Der ebenfalls weiße Stoff war halb durchsichtig geworden und taugte in seinem derzeitigen Zustand nicht mehr wirklich um etwas zu verhüllen, doch lange trug sie ihn sowieso nicht mehr. Mit einer schlangen Hand griff sie nach hinten an ihren Rücken und schnippte den BH gekonnt auf. Meist waren es Männer, oder eher männliche Halbstarke, die diese Bewegung in Perfektion beherrschten, doch ihn als Frau drauf zu haben konnte ja auch nicht falsch sein, oder? Ruhig ließ sie das Stück Stoff zu Boden fallen, ehe sie die beiden Rockknöpfe an ihrer rechten Hüfte öffnete und somit den dunkelblauen Rock fallen lassen konnte. Das schwere Flatschen auf dem gekachelten Boden entlockte der jungen Frau ein zartes Schmunzeln. Wie konnte sie in wenigen Minuten bloß dermaßen durchnässt werden? „Wäre ich doch nur fünf Minuten eher abgehauen...“, murmelte sie mit Blick in den Spiegel und fuhr sich mit einer Hand durch die nassen Haare, die ihr strähnenweise an Schläfen, Wangen und Hals klebten. Eher ungewollt blickte sie schließlich an sich hinunter und fuhr mit einer Hand über ihre nackten Brüste. Weiche, helle Haut wie aus Porzellan und dunklere Haut rund um ihre Brustwarzen herum. Eigentlich machte sich Kathrin wenig aus ihrem Körper, doch dass sie sich nicht verstecken brauchte wusste sie ganz genau. Sie gehörte nicht zu diesen Großstädterinnen, die mit Silikon einen überdimensionalen Busen erschaffen ließen, der ihnen eh nur Rückenschmerzen einbringt. Ihre Brüste waren wohlgeformt und von Natur aus trug sie C-Körbchen, was ihr vollkommen ausreichte. Dass Männer in der heutigen Zeit gerne irgendwelche Frauen begafften, die mehr Brust als Frau waren wusste sie, aber deswegen musste sie sich ja nicht daran orientieren, oder? Mit einem zufriedenen Lächeln aus den roten Lippen begann sie ihre Brüste mit je einer Hand links und rechts zu massieren, stoppte aber bald wieder damit und sah zur Wanne zurück. Kathrin war eine anständige junge Frau, die sich nur dann selbst befriedigte, wenn sie wirklich vor Lust platzte. Dummerweise war sie eine Jungfrau und entsprechend oft war das Verlangen da, konnte aber nicht durch einen Mann gestillt werden. Ihre Unschuld war Kathrin heilig, denn die würde sie nur einem Mann schenken, den sie wirklich liebte, so wie Rayne. Das sollte nun allerdings nicht bedeuten, dass sie bereit wäre, sich ihm einfach so anzubieten! Nur wenn er sie auch lieben würde, wäre sie dazu bereit ihr erstes Mal mit ihm zu erleben, doch so viel Glück wollte ihr das Schicksal einfach nicht gönnen. Sie war einfach nur wie eine kleine Schwester und beste Freundin für ihn und über diesen Status sollte sie mit viel Pech nie hinaus kommen. Erneut an diesem Tag kam ein tiefes seufzen aus der Schülerin hervor, die sich nun auch von ihrem weißen Slip und den Socken befreite. Diese Kleidungsstücke waren sowieso genau wie die übrigen komplett vom Regen durchnässt worden und damit so oder so nicht mehr brauchbar für heute. Die Badewanne war bald voll genug und Kathrin stellte den Hahn ab, ehe sie sich in das heiße Wasser sinken ließ und sogleich ein entspanntes Stöhnen ausstieß. Langsam schloss sie die Augen und lächelte zufrieden. So gefiel ihr die Welt. Sie hatte es warm und ihr Badewasser war nicht so unangenehm kalt wie draußen. Außerdem trug sie nun keine Kleidung mehr, die klamm an ihrem Körper kleben und sie anwidern konnte. Erst nach über einer Stunde verließ Kathrin schließlich wieder das Badezimmer. Das Wasser hatte sie abgelassen, ihre Haare gekämmt und abgetrocknet und auch ihren Körper hatte sie abgetrocknet. Splitterfasernackt war sie schließlich in ihr Zimmer gelaufen und hatte sich dort frische Unterwäsche und ein Nachthemd angezogen. Zusammen mit ihrem Vater aß sie zu Abend, doch sie verlor kein einziges Wort darüber, was sie heute alles erfahren hatte und schon gar nicht darüber, was sie mit ihren Freunden plante. Schon länger sagte ihr Vater, dass ihre Freunde kein guter Umgang für sie seien, da es Jungs waren und Jungs in diesem Alter nicht mehr mit Puppen oder Mädchen spielen sollten. Nicht, dass sich Kate irgendwie davon beeindrucken ließe, doch zumindest nickte sie immer brav und erklärte ihrem Vater jedes Mal, dass ihre Freunde völlig in Ordnung waren und dass keiner von den Jungs je irgendein sexuelles Interesse an seinem kleinen Mädchen geäußert hatte. Erst kurz vor Mitternacht krabbelte das unerwartet erschöpfte Mädchen schließlich satt und wieder warm ins Bett zurück, mummelte sich in die Bettdecke ein und begann zu schlafen. Sie träumte einen Haufen wirsches Zeug über die Villa und schwarzäugige Frauen und Männer, die dort ihr Unwesen trieben, doch schon morgen Früh würde sie sich an diese Träume nicht mehr erinnern können. Nicht bewusst und nicht bis zu einem gewissen Ereignis. Morgen würde ein langer Tag werden, wenn sie wirklich vor hatte, ihren Freunden alles zu erzählen, was sie heute gehört hatte, und es würde ein noch längerer Tag werden, wenn sie beschließen sollten, gleich morgen in die Villa einzusteigen. So oder so, der kommende Tag sollte der härteste in Kathrins jungen Leben werden...

Die Villa

Der Morgen begann, wie der Abend geendet hatte. Nass! Es schüttete wie aus Eimern und die wenigsten gingen freiwillig aus dem Haus. Einige Schülerinnen und Schüler ließen sich einfach von ihren Eltern krankmelden und blieben zu Hause, so dass sie nicht durch den kalten Regen rennen mussten, der schnell sämtliche Kleidungsstücke durchweicht hatte und die armen Jugendlichen vor Kälte zitternd im Schulgebäude ankommen ließ. Am liebsten würde auch Kathrin es vermeiden bei diesem Wetter die warme Stube zu verlassen, doch was hatte sie schon für eine großartig andere Wahl? Ihr Vater konnte sie für die Schule entschuldigen, aber nicht für die Jungs und die zählten heute auf sie. Das Wetter kam den fünf Jugendlichen sehr gelegen, denn dadurch, dass es wie aus Eimern schüttete, wunderte es niemanden, wenn sie mal wieder gemeinsam fehlten. Sie sollten vermeiden, dass man sie alle zusammen draußen herum turnen sah, dann war auch schon alles in trockenen Tüchern. Auch die Eltern von Caleb, Michael und Jonathan hatten ihre Kinder entschuldigt, weil diese angeblich irgendeine Krankheit bekommen hatten, wegen der sie das Bett hüten mussten, und Rayne war sowieso schon mit der Schule fertig und musste sich nicht entschuldigen lassen.

Der Dorfrebell war es auch, der die anderen vier dazu überredet hatte, das miese Wetter des Tages dafür zu nutzen, endlich in das alte Anwesen der Familie Manson einzusteigen. Keiner von den anderen Jungs war besonders begeistert von dem Gedanken, sich während eines tosenden Unwetters in dieses verwitterte Haus zu begeben und Kathrin war nach dem, was sie gestern Abend erzählt bekommen hatte, sowieso nicht mehr der größte Fan dieser unüberlegten Aktion, allerdings wollte sie auch nicht kneifen. Sie hatte sich dieser scheußlichen Frau ausgesetzt und war Gott weiß wie lange mit ihr alleine gewesen, also sollte sich das nun auch auszahlen. Während sie mit Frau Wegener im immer dunkler werdenden Klassenzimmer gesessen hatte war ihr sämtliches Zeitgefühl ab gegangen und sie heute nicht sehen zu müssen war ihr nur recht. Katy wollte ganz einfach nicht wissen, ob diese Frau...

~Dieses DING, Liebes. Sie ist ein Ding.~, korrigierte das Stimmlein in ihrem Kopf sie sofort... heute wieder alt war, oder ob Christel Wegener immer noch durch Jugend und weibliche Reize zu betören vermochte wie gestern Abend als Kathrin das Klassenzimmer verließ. Wie eine Frau von etwa fünfzig Jahren plötzlich wieder so jung werden konnte verstand Kathrin nicht und sie hatte es auch gar nicht erst zu enträtseln versucht, denn derartige Denkvorgänge entzogen sich dem Rahmen des Greifbaren in ihrer Welt. Genau aus diesem Grund hatte sie den Jungs auch nur das erzählt, was sie selbst während des Nachsitzens in Erfahrung bringen konnte, denn auf keinen Fall wollte sie als schwächstes Glied in der Kette angesehen oder als dummes, ängstliches Mädchen ausgeschlossen werden. Was sollten sie denn von ihr denken? Dass sie Wahnvorstellungen bekam, sobald man sie mal ein oder zwei Stunden mit ihrer Klassenlehrerin alleine ließ? Gut, Frau Wegeners Bild würde wahrscheinlich in jedem Lexikon neben dem Begriff „Hexe“ abgedruckt werden, wenn in den Großstädten je ein Foto von ihr ankommen würde, doch das ließ das Dorf sowieso nicht zu. Darkwoods River war eine abgeschottete Gemeinde, die keine Einmischung von Außen gestattete und die keine Flüchtlinge duldete. Wer einmal die Grenze des Dorfes – den Fluss – überquert hatte, der galt als Ausgestoßener und durfte nie wieder zurückkehren. Es blieb nur die Flucht nach vorne und Kathrin hatte nie erfahren, ob je einer von denen, die das Dorf verlassen hatten, auch wirklich die Stadt erreicht hatte. Normalerweise interessierte sie sich brennend dafür, ob die Welt hinter der Grenze jemals irgendwem aus dieser Gemeinde Glück gebracht hatte, doch heute nicht. Heute interessierte sie sich ausschließlich für die Expedition, die sie mit ihren Freunden unternehmen wollte und sie ahnte, dass es unschön enden könnte, wenn sie nicht auf sich aufpassen und sich ablenken lassen würde.

Besonders Rayne hatte große Freude daran, merkbar angespannte Personen noch absichtlich zu reizen oder zu erschrecken und sie wollte ihm nicht noch mal eine kleben, nur weil er sie erschreckte. Das war vor knapp sieben Monaten einmal passiert und sie bereute es selbst jetzt noch. Dass eine saftige Ohrfeige ihre Chancen bei ihm nicht gerade steigern würde hatte sie gewusst, doch in dem Moment, wo er ihr in dem Leichenschauhaus, in dem die ganze Bande sich an diesem Tag befand, so taktlos die Hand einer Leiche auf die Schulter gelegt hatte, war es einfach mit ihr durchgegangen. Nicht nur wegen ihrem eigenen Schreck und Ekel, sondern auch damit er lernte, dass man nicht so pietätlos mit den Toten umzugehen hatte. Wie dreist war es denn bitte, einerseits zu sagen und zu schreiben, dass die Verblichenen in Frieden ruhen sollten, wenn man andererseits ihre Leichen dazu benutzte, ein sowieso schon angespanntes Mädchen zu erschrecken? Kathrin machte viel mit, aber wenn es um etwas ging, wobei man vielleicht dem Herrn die Laune vermieste, wurde ihr meistens mulmig zu mute.

Nicht etwa, weil sie Gottes Zorn fürchtete, sondern weil sie eine, wie sie fand, ungesund starke Neigung dazu besaß, alles ein wenig zu übertreiben, wenn es nur unchristlich genug war. Kreuze verbrennen, das große Messingkreuz in der Kirche umwerfen oder einfach eine tote Katze, die sie draußen gefunden hatte, mittwochs auf den Altar der Kirche legen und bis zum Gottesdienst des kommenden Sonntags darauf verwesen lassen... Hatte es alles schon gegeben und sie hatte Spaß daran gehabt. Rayne fand das natürlich besonders toll, denn alles Extreme fand er interessant, doch Caleb, Michael und Jonathan waren weniger angetan davon gewesen. Sie fanden es widerlich und waren sich nicht sicher gewesen, ob Kathrin noch alle Tassen im Schrank hatte. Da sie ansonsten aber nie irgendwas anstellte, Flüche vermied und älteren Damen und Herren die Einkäufe nach Hause trug wie ein katholisches Musterkind hatten sie irgendwann beschlossen, dass sie diese Seite von Kathrin einfach mal als sehr extreme und seltene Laune abtun würden. Andere sprangen mit einem Gummiseil an den Fußknöcheln von Eisenbahnbrücken in der Großstadt, sie versündigte sich gegen die Kirche und wurde dabei noch nicht mal erwischt. Jedem das seine, nicht wahr? Doch das mulmige Gefühl der Vergangenheit war längst aus den Mägen der Gruppe gewichen und es war nichts im Vergleich dazu gewesen, was heute in ihnen rumorte. Heute würden sie eine verfluchte und mehr als nur gottlose Villa betreten, die bislang nur tot, oder geistesgestört verlassen wurde und dank Kathrin wussten die Jungs ja nun auch, dass sie sich nicht positiv stimmen konnten, in dem sie sich sagten, dass sie sicherlich „nur“ wahnsinnig werden würden. Nun wussten sie, dass die, die lebend heraus kamen, sich hinterher alle das Leben nahmen. Was auch immer dort drinnen vor sich ging: es zerfraß einen auch noch lange Zeit nach dem Aufenthalt in diesem verfallenen Kasten aus Stein und Holzdielen...

„Habt ihr euch auch alle gut vorbereitet und wie abgemacht eure Taschen gepackt?“, fragte Rayne in die Runde und seine grünen Augen musterten die anderen vier aus seiner Gruppe eingehend; Person für Person.

Normalerweise war der rothaarige Individualist mit den drei gefärbten Silber-Strähnen immer entspannt und schien durch nichts und niemanden aus der Ruhe gebracht werden zu können, doch heute war das ein klein wenig anders. Heute stand er nicht irgendwo alleine herum und trank verbotenerweise Alkohol oder rauchte Zigaretten. Heute wurde er von vier minderjährigen Freunden begleitet und auch wenn jeder von ihnen bloß ein Jahr jünger war als er fühlte er sich als der einzige „Erwachsene“ dazu verpflichtet, zumindest vor dem Aufbruch der Gruppe alles zu kontrollieren. Ob alle da waren, ob es allen gut ging, ob auch wirklich alle vier Jünglinge dazu in der Verfassung zu sein schienen sich das anzutun, oder ob ihre Psyche allein durch den Gedanken an den Besuch der Villa schon angeknackst war. Die wichtigste Frage war allerdings, ob sie alle vier genau wie er die vereinbarten Sachen in einem Rucksack dabei hatten. Sie wussten nicht, wie lange sie in dieser Villa bleiben würden und ob ihnen nicht irgendwas passieren würde. Also hatten sie sich eine Art Schlachtplan überlegt und dazu einen Plan für ihre Taschen, den jeder genau abzuarbeiten hatte. Besonders seitdem die letzten beiden toten Jugendlichen aus der Villa geholt wurden hatte Ryan beschlossen, dass er nicht völlig planlos die Villa stürmen wollte, denn obwohl die beiden, die gefunden wurden, unzertrennlich waren als sie lebten, fand man sie in einem Leichen-Szenario, das eindeutig zeigte, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben mussten. Irgendwas musste dort drinnen mit ihnen passiert sein, dass sie sich an die Gurgel sprangen, denn von alleine konnte das unmöglich passiert sein. Edward Winchester – zum Zeitpunkt seines Todes 19 Jahre alt – und Alec Shillen – gerade mal 16 Jahre, als seine Zeit ablief – waren beide genau das, was man stockschwul nennen würde, obwohl man das in einer christlichen Gemeinde wie Darkwoods River gar nicht gerne gesehen hatte. Die jüngeren Generationen waren da ziemlich entspannt mit umgegangen, doch die älteren Bewohner und der Priester redeten andauernd nur davon, dass die beiden wider der Natur lebten und in der Hölle schmoren würden, wenn sie nicht aufhören würden, es wie die Tiere zu treiben. Als Edward dann dem Dorfältesten erklärte, was man außer Doggy noch treiben konnte, wäre dem Alten fast das Herz stehen geblieben und man warf Edward aus dem Gemeindestift, in dem der Älteste mit ihm gesprochen hatte. Rayne war mit beiden Jungen lange befreundet gewesen und hatte an Alec besonders seine blauen engelsgleichen Augen und die blonde zerzauste Mähne geliebt, in der man so herrlich ohne Sinn und Verstand herum wühlen konnte, weil da sowieso nichts mehr zu retten war. Scheitel? Alecs Haare waren immer gepflegt, weich und ordentlich durchgekämmt, also nicht verknotet oder ungepflegt, aber einen Scheitel bekam man nicht hin. Seine Haare lagen immer so, wie sie es wollten, und es stand ihm. Edward mit seinen schwarzen Haaren und den bronzefarbenen Augen war der Schwarm der Mädchen, doch dummerweise interessierte ihn nicht eine von ihnen. Er hatte seine schönen Augen immer nur auf Alec gerichtet und letztlich bekam er ihn auch. Nur die Villa, Gott und der Satan allein wussten, wieso die beiden sich schließlich gegenseitig in dieser Villa ermordeten.

Michael war es, der sich diesmal zu Wort meldete. Seine nussbraunen Haare, die ihm bis zu den Schulterblättern reichten, waren bereits klitschnass und seine grünen Augen, die denen von Rayne und Caleb sehr ähnelten und doch überhaupt keine Ähnlichkeit mit Kathrins grünen Augen hatten, huschten eilig durch seinen Rucksack, den er schnell abgenommen und geöffnet hatte. Sofort hatten es ihm Kathrin und die übrigen Jungs gleich getan um mit ihm gemeinsam den Inhalt der Taschen zu kontrollieren. „Taschenlampe, eine Packung Ersatzbatterien für den Fall der Fälle, eine große Flasche Wasser, ein Essenspaket, das Jagdmesser unserer jeweiligen Väter und ein Notizbuch mit Stift, damit wir im Gegensatz zu den Pappnasen vor uns wenigstens festhalten können, was da drin vor sich geht, wenn wir da drin Löffel abgeben.“, zählte er auf. Taschenlampen und Batterien waren in Darkwoods River enorm teuer, doch ihre Familien waren alle zum Glück ausreichend mit Geld versorgt. Nur wenig war aus der immer weiter modernisierten Außenwelt bis in dieses Dörfchen tief im Wald vorgedrungen, doch Taschenlampen gehörten dazu, genau wie Telefone, doch diese ausschließlich mit Schnur. Schnurlose Telefone, Handys oder gar Smartphones waren Fremdwörter in diesem Dorf und reines Wunschdenken der Kinder. Es gab keinen Fernseher, lediglich Radios, die nur wenige Sender empfinden und die meisten davon waren auch noch kirchliche Sender, wo eh nur den lieben langen Tag gepredigt wurde. Musste man sich da wirklich noch wundern, dass die Teenager aus dem Dorf vor lauter Langeweile schon anfingen so lebensmüde Aktionen zu starten wie diese fünf Exemplare, die zumindest für die Kontrolle der Taschen und das Versammeln der Gruppe Schutz unter einem Dachvorsprung gesucht hatten? Nein, nicht wirklich. Rayne nickte und auch alle anderen bestätigten, dass sie genau das dabei hatten. Alle schulterten wieder ihre Rucksäcke und wieder sprach der rothaarige Anführer der Gruppe mit seinen jüngeren Freunden.

„Ich habe auch einen Verbandskasten im Rucksack. Wir wissen ja nicht, ob da drin was kaputt ist, und wenn sich einer von uns verletzt sollte er vielleicht nicht unbedingt bis nach Hause eine Blutspur hinter sich her ziehen. Ein Feuerzeug habe ich auch dabei, falls etwas sein sollte oder wir eine rauchen wollen.“, zählte er noch die letzten Dinge auf, die er von sich aus einzupacken beschlossen hatte. Die Jungs und Kathrin warfen sich kurz einen unruhigen Blick zu, dann sahen sie wieder entschlossen zu Rayne. Sie verstanden nicht ganz, weshalb er einen kompletten Verbandskasten und extra auch noch ein Feuerzeug mitbrachte, denn normalerweise benutzte Rayne Streichhölzer für seine Zigaretten, doch er hatte sich mit Sicherheit etwas dabei gedacht, also fragte niemand nach und man versuchte einfach, das mulmige Gefühl im Magen zu verdrängen. Das Gefühl, dass etwas Grauenhaftes geschehen würde, nur weil man sich sowieso schon auf das Schlimmste vorbereitet hatte. „Können wir los?“, fragte Jonathan schließlich etwas kleinlaut. Er machte Rayne am meisten Sorgen. Caleb hatte die falsche Augenfarbe, sah ansonsten jedoch aus wie ein zweiter Edward und Jonathan war zu einhundert Prozent das Ebenbild von Alec. Blonde zerzauste Haare und solch blaue Augen, dass man einfach nur vor ihm niederknien und ihn anbeten wollte. Auch Kathrin und Michael war das natürlich nicht entgangen, doch sie dachten sich da nichts weiter bei. Ein unheimlicher Zufall, na und? Kathrin sah auch aus wie eine junge, langhaarige Frau Wegener und da stand auch niemand wie vom Donner gerührt im Klassenzimmer und glaubte, dass das ein unglaublich schlechtes Zeichen war. Um genau zu sein war das bislang noch nicht mal irgendwem aufgefallen, denn niemand sah sich diese Lehrerin gerne aus der Nähe an. Welche Augenfarbe sie hatte dürfte niemand aus der Klasse wissen und noch viel weniger dürfte irgendwer unter ihn wissen, dass sie als junge Frau das Ebenbild von Kathrin heute gewesen war. Wer von den heutigen Schülern hatte denn schon gelebt als Christel jung war? Niemand und das war auch gut so. Wie oft hätte der entsprechende Schüler denn bitte sitzenbleiben müssen, um das zu schaffen? Oft, das sei mal als grobe Antwort in den Raum geworfen und sollte auch reichen, denn wie alt genau Frau Wegener war wusste doch sowieso keiner. Wenn sie häufiger aus Lust und Laune körperlich jünger wurde konnte niemand mit Gewissheit sagen, dass sie nun wirklich Mitte Fünfzig, maximal Anfang Sechzig war.
 

Der Gang zur Villa der Mansons wurde für die Teenager zum längsten Gang in ihren noch jungen Leben. Als habe das Anwesen gemerkt, dass sie näher kamen, begann es grell zu blitzen und grollend zu donnern als würde der Himmel gleich zerbersten und Jonathan glaubte, dass nicht viel fehlte, bis genau das passieren würde. Der Blondschopf war der Schwarzseher der Gruppe und noch dazu ein streng katholisch erzogener Kirchengänger, doch das Gotteshaus wurde ihm allmählich langweilig und auch der Rest hatte seinen Reiz verloren. Gott hatte nicht eins seiner Gebete erhört, die Kirche des Dorfes kannte er mittlerweile von innen und von außen bis auf den letzten Mikrometer und die Bibel konnte er schon auswendig rezitieren, also wieso noch Zeit damit verschwenden, sich an den beliebtesten imaginären Freund der Menschen zu klammern? Zwar trug er auch heute wie jeden anderen Tag ein kleines goldenes Kreuz an einer dünnen Goldkette um den Hals, doch das war mehr, weil seine Eltern darauf bestanden und weil er es gewohnt war, sie zu tragen. Der letzte Handgriff, bevor er morgens das Haus verließ, war stets das Anlegen dieser Kette und es geschah schon völlig automatisch. Bis er bemerkte, dass er es getan hatte, obwohl er sie zu Hause lassen wollte, war er meistens schon den halben Weg zur Schule gegangen und hatte keine Zeit oder keine Lust mehr, nur um die Kette abzulegen noch Kehrt zu machen. Schon lange hatte er den Glauben verloren, doch bis heute hatte er auch noch nie einen so aberwitzigen Plan gehabt, wie das Manson-Haus zu stürmen. Schon bald sollte er sich nach einem Hauch göttlicher Hilfe oder Gnade sehnen und würde dafür wahrscheinlich seine Seele verpfänden, doch Gott neigte wohl dazu, denen, die von ihm abfielen, nicht den Hintern zu retten. Schlechte Karten für Caleb und Michael, die sowieso niemals geglaubt hatten, und auch Rayne und Kathrin standen nicht viel besser da. Sie gaben ihren Glauben auf als sie zu dem Schluss kamen, dass es keinen Gott geben konnte. Doch was, wenn sie das Gegenteil erfahren sollten? Man würde es sehen. Im Augenblick war die Kirche mit all ihren Auswüchsen und Wurzeln nicht besonders von Interesse für die Gruppe, die inzwischen bis auf die Haut durchnässt war. Sie hätten die Regen-Ponchos anziehen sollen, die sie alle zu Hause hatten, doch als sie aufbrachen nieselte es bloß. Dass es ein heftiges Unwetter geben würde, sobald sie sich der Villa nähern, hatten sie ja schlecht wissen können. Von dem Dachvorsprung aus, unter dem sie eben noch Schutz gesucht hatten, war es vielleicht ein Kilometer bis zur Villa, die am höchsten und äußersten Punkt des Dorfes erbaut worden war. Kathrin erinnerte sich, dass ihre Großmutter Lois immer gesagt hatte, dass niemand, der nichts zu verbergen hatte, sich so weit Abseits vom Geschehen niederlassen würde. Und sie erinnerte sich auch daran, dass Lois sie eindringlich davor gewarnt hatte, jemals in die Nähe dieses Hauses zu kommen. Es sei gefährlich und Kathrin könne gar nicht abwägen, was dort auf sie zu kommen würde. Bis heute wusste die junge Schülerin nicht, was diese Warnung bedeuten sollte, obwohl sie inzwischen Elf Jahre Zeit gehabt hatte, um darüber nachzudenken. Was sollte schon an diesem Ort auf sie zu kommen? Wahrscheinlich war Lois damals einfach nur schon in einem Alter gewesen, in dem man nicht mehr weiß, was man sagt und was man tut. Oder sie glaubte wie die meisten hier im Dorf an ein bösartiges Eigenleben dieser Villa. ~Oder sie wusste etwas und hat dir bloß nichts davon erzählt.~

„Halt den Mund.“

Verwundert sah Jonathan sie an und wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht. „Hast du was gesagt, Katy?“, fragte er nach. Die übrigen Jungs unterhielten sich bereits angeregt über die Villa und waren gespannt auf das, was da kommen könnte, auch wenn sie sehr nervös waren. Nur Jonathan hatte immer noch mit einem Ohr nach Kathrin gehorcht. Er mochte sie. Er mochte sie sogar sehr. Gleichzeitig wusste er aber, dass ihr Herz für Rayne schlug und dass er nicht mit ihm mithalten konnte. Er war ein sensibler, mitfühlender, artiger Blondschopf, der zwar umwerfend aussah, der Frauen wie Kathrin aber bedeutsam zu brav war. Rayne dagegen machte schon mit seinen roten Haaren eine klare Ansage und sein rebellisches, offenherziges Verhalten ließ Kathrins Herz immer wieder höher schlagen. Die beiden waren unmöglich miteinander zu vergleichen und Jonathan wusste das. Genau deshalb hatte er seiner Angebeteten bislang auch nie etwas von seinen Gefühlen erzählt. So konnte er wenigstens einfach nur ihr Freund bleiben, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ihn meiden würde – in dem Glauben, ihm damit weniger Schmerzen zu bereiten. Das Verständnis zwischen Mann und Frau funktionierte bekanntlich nicht so wirklich. Beinahe schon erschrocken hob Kathrin den Blick von dem aufgeweichten Trampelpfad vor sich und sah Jonathan an, der wie so oft, wenn er sie ansah, irgendwie bedrückt wirkte. Bereitete sie ihm wirklich solche Sorgen? Dass er sie lieben könnte kam ihr nie in den Sinn. Wieso auch? Sie benahm sich eher wie ein Junge und hübsch fand sie sich selbst auch nicht. Ihr Selbstbild war ziemlich verzerrt und so negativ, wie es nur sein konnte. Sich vorzustellen, dass irgendjemand außer ihrem Vater sie lieben könnte war für sie fast unmöglich. Sofort setzte sie wie immer ein beruhigendes Lächeln auf und schüttelte den Kopf. Wie oft hatte sie eigentlich schon so gelächelt, ohne dass ihr nach Lächeln zu Mute war? Zu oft. Sie tat es immer wieder, nur um es sich mit den anderen einfacher zu machen und lästige Fragen zu vermeiden. Sie wollte nicht über sich sprechen und sie wollte nicht über „sie“ sprechen. Über diese verdammte Stimme in ihrem Kopf, die unter Garantie nur der Selbsthass in ihr war. Der Selbsthass und das kleine Fünkchen Wahnsinn, das in jedem glühte. Das war doch die logischste Erklärung, oder nicht? Kathrin fand schon und genau deshalb akzeptierte sie auch keine andere Möglichkeit.

„Nein, ich habe nichts gesagt.“, verneinte sie schließlich und schloss etwas mehr zu ihrer Gruppe auf. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie das größte Stück bereits hinter sich hatten. Hatte sie etwa schon wieder vor sich hin geträumt? Rayne sagte vor einer Weile mal zu ihr, dass sie manchmal einfach völlig in eine eigene Welt abzudriften schien und dann nicht mehr wirklich ansprechbar war. Bestimmt war das nur der Stress als einzige Frau im Haus und dann noch dieser ganze Druck in der Schule. Das musste es einfach sein, denn anders konnte sie sich nicht erklären, wieso sie so abschalten sollte. Einen Moment betrachtete Jonathan sie noch mit diesem merkwürdigen Blick. Einem Blick, der sie immer wieder an einen einsamen Hund erinnerte, der darauf wartete, dass sein Herrchen nach Hause kam. Dann drehte er sich wieder um und beteiligte sich am Gespräch der übrigen Jungs. Das Unwetter peitschte ihnen mit schneidendem Wind den Regen um die Ohren, doch um jetzt noch umzukehren war es zu spät. Sie waren fast da und keiner von ihnen wollte der Angsthase sein, der unter dem Vorwand, dass das Wetter zu schlecht sei, die Rückkehr ins sichere Dorfinnere vorschlug. Mit jedem Schritt in Richtung Manson-Villa wurde das flaue Gefühl in ihren Mägen stärker, mit jedem Schritt erhob sich die Villa scheinbar ein kleines Stückchen weiter aus einem höllischen Abgrund. Eigentlich sah es nur so aus, da der Blick auf die Villa auf dem Hinweg von einem Hügel verdeckt wurde, doch das änderte nichts an der Atmosphäre. Wie mit jedem gegangenen Wegstück ein Stück mehr von der Villa zum Vorschein kam war einfach nur unheimlich bei diesem Wetter und die Blitze, deren Licht sich grell in den leblosen schmutzigen Fenstern spiegelte, verliehen dem Äußeren des Gebäudes bösartig funkelnde Augen. Beinahe gleichzeitig mussten die neugierigen Teenager einen dicken Kloß hinunter würgen und noch einmal allen Mut zusammenkratzen.

„Da geht es also rein, ja?“, fragte Caleb tonlos. Sie standen vor den kalten Gittern des hohen schmiedeeisernen Zauns, der die Villa umgab. Er sollte Eindringlinge draußen halten, doch schon vor Jahren hatten vorwitzige und neugierige Dorfbewohner den Zaun stellenweise beschädigt oder ganz zerstört, um hindurch schlüpfen zu können. Die Scheiben wurden bevorzugt als Einstieg genutzt, indem man sie einschlug, doch genau das schien die Dorfbewohner am meisten daran zu stören. Man solle das Haus nicht verletzen wurde immer gesagt und die Scheiben wurden ersetzt. Niemand wagte sich für Reparaturarbeiten ins Innere des Hauses und niemand wollte das Grundstück aufkaufen oder gar bewohnen, neue Beschädigungen wollte man aber auch nicht belassen. Die Dorfbewohner schien wirklich Angst davor zu haben, irgendeinen neuen Schaden nicht zu reparieren, auch wenn trotzdem niemand über die Villa sprechen wollte. Und bei jeder Reparaturarbeit war ein Priester anwesend. Glaubte etwa wirklich das ganze Dorf daran, dass die Villa lebte und bösartig war? Wie lächerlich! Still sah Kathrin durch die Gitter des rostigen und verbogenen Doppelflügel-Tores den mit Gras durchwachsenen Kiesweg zum Haus hinauf und starrte die massive Kirschholztür an. Eric Manson musste wirklich viel Geld besessen haben, wenn er bereits bei der Haustür mit Kirschholz arbeiten lassen konnte, das in dieser Gegend eher selten vorkam. Da es kaum Handel mit der Stadt gab, kam man auch nicht an die Waren der Industrie, was bedeutete, dass Eric jemanden finden musste, der einen passenden Kirschbaum für ihn suchte, fällte und verarbeitete. Teuer, aber wie man sah nicht unmöglich, wenn man nur genügend Kleingeld hatte. Gedankenversunken umfasste sie eine der Streben mit ihrer linken Hand und drückte gegen den Torflügel. Zuerst stieß sie auf Widerstand, doch dann gab es einen Ruck, etwas rostiger Lack bröckelte herunter und der Torflügel schwang quietschend auf.

Nach einer halben Armlänge ließ Kathrin los und sah ihre männlichen Begleiter wie geohrfeigt an. In ihren kalkbleich gewordenen Gesichtern erkannte sie, dass sie das Selbe dachten wie sie. War das Tor nicht eigentlich immer abgeschlossen? Der Dorfälteste hatte dem Leichnam von Eric Manson den Schlüsselbund abgenommen, den er immer bei sich trug, und mit den entsprechenden Schlüsseln die Haustür und das Tor abgeschlossen. Aus keinem anderen Grund hatten die ungebetenen Besucher dieser Villa doch begonnen, sich eigene Öffnungen in die Umzäunung zu schneiden. Doch nun war das Tor ganz einfach auf geschwungen und dabei hatte Kathrin noch nicht einmal den mit Grünspan angelaufenen Türknauf gedreht, mit dem das Tor geöffnet und zu gezogen werden sollte. „Na das fängt ja schon gut an.“, kommentierte Rayne schließlich, um das drückende Schweigen im Regenguss zu unterbrechen. Leicht grinsend trat er neben Kathrin, legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah auf sie hinab. Mehr als 20cm Größenunterschied machten da schon etwas aus, doch gerade das gefiel ihr. Ein großer Mann war genau das, was sie wollte. „Du scheinst ja ein richtiger Glücksbringer zu sein, Katy. Vielleicht kriegst du für uns ja sogar die Haustür auf? Dann müssen wir nicht durch den Kohlenkeller kriechen. Ein Fenster einzuschlagen fällt zu sehr aus. Wir würden damit Aufmerksamkeit erregen und die im Dorf riechen ja scheinbar, wenn hier etwas zu Bruch geht.“, lachte er leise. Was sie von seinen Worten halten sollte war ihr nicht ganz klar, doch seine warme Hand auf ihrer Schulter bescherte ihr ein sagenhaftes Kribbeln im Bauch und sie wollte, dass das niemals endet. Doch natürlich endete es. Er nahm die Hand wieder von ihrer Schulter, ging an ihr vorbei durch das geöffnete Tor und schritt den verwilderten Kiesweg hinauf zur Tür der Villa. Das alte rötliche Holz wies einige feine Risse auf, die verschiedene Ursachen haben könnten. Witterung, die Arbeiten des Holzes durch Temperaturschwankungen oder die Krallen von Tieren. Wer wusste schon, was hier wirklich vor sich ging? Caleb, Michael und Jonathan blieben beinahe erstarrt dort stehen, wo Rayne sie zurückgelassen hatte, doch Kathrin zögerte nicht lange und folgte dem rothaarigen Rebellen.

Der nasse Kies knirschte unter ihren Schuhen und bot auch keinen wirklichen Halt. Es war sehr leicht darauf auszurutschen und noch leichter, sich vor den funkelnden Augen des Hauses bei jedem erneuten Blitzschlag zu erschrecken. Nur zögern folgten die vor dem Tor zurück gebliebenen Jungs der recht tapferen Schülerin und ihrem Schwarm zur Haustür, die ein großes Vordach hatte, das auf Marmorsäulen gestützt war. Schon allein deshalb lohnte sich dieser Weg, der den meisten von ihnen gar nicht behagte. Wenigstens standen sie dort trocken und konnten sich nun überlegen, ob hier bereits ihre Grenze war, oder ob sie wirklich weiter gehen wollten. In der Theorie hatte es für alle noch unglaublich spannend und aufregend geklungen, das verbotene Haus zu betreten. Die verlassene Villa, die keiner je gesund verlassen hatte und die angeblich von Rache für ihre ehemaligen Bewohner getrieben sein sollte. Klang doch reizvoll, oder nicht? Das hatten schon einige andere Jugendliche vor ihnen so gedacht und zahlreich waren sie in diese Mauern eingestiegen, nur um tot oder völlig geistesgestört geborgen zu werden. Was die, die lebend davon kamen, sich später antaten wusste diese Gruppe von abenteuerlustigen Jugendlichen inzwischen auch. Kathrin interessierte besonders, ob die anderen die selben Informationen bekommen hatten, bevor sie eingebrochen waren. Hatten sie gewusst, worauf sie sich da einließen und welch grauenvolle Dinge in diesem Haus geschehen waren, bevor die so genannte Unglücksserie ihren Lauf nahm? Das Dorf weigerte sich beharrlich, diese Vorfälle als Morde oder wenigstens als Tode zu bezeichnen. Es wurde immer nur von Unglücken gesprochen, obwohl spätestens im Fall von Alec und Edward doch klar gewesen ist, dass es keinen Unfall und auch kein „Unglück“ gegeben hatte. Die beiden ermordeten sich gegenseitig in der Vorhalle der Villa und das war unumstritten. Doch wie nannte man das in Darkwoods River? Man nannte es einen „tragischen Zufall“, dass die einzigen geouteten Schwulen des Dorfes sich in dieser Villa gegenseitig getötet hatten. Dem Priester nach hatte einer von ihnen wahrscheinlich einfach nur auf den richtigen und christlichen Pfad der Heterosexualität zurück gefunden und es seinem Freund gebeichtet, der daraufhin völlig ausgerastet ist. Bekanntlich waren Schwule ja immer böse, nicht wahr? Animalisch, unsittlich und sowieso kein anerkannter Teil der Gesellschaft, wenn man in einem solch christlichen Dorf lebte. Erst kam die Kirche, dann kam der Mann, dann kam der Sohn, dann kamen erst die Frauen. Mit Pech kamen davor noch die Haustiere. Hier lebte man traditionell und genau das stank Kathrin. Sie wollte in die Stadt um in Freiheit zu leben, doch sie wusste, dass sie alleine sicher niemals durch den Wald kommen würde. Sie brauchte jemanden, der sie begleiten würde, nur wer würde sich freiwillig diesem Plan anschließen? Rayne vielleicht, aber der würde in der Stadt doch sofort mit der erstbesten Braut in ein Stundenhotel durchbrennen. Jedenfalls war das ihr Bild von ihm in der großen Stadt. Gerade wollte sie auch gar nicht über diese Dinge nachdenken.

Sie standen vor der Haustür der Familie Manson und irgendein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass sie genau jetzt hier sein sollte. Nicht vor einem Jahr und auch nicht Jahre später. Genau heute sollte sie hier sein und sich diesem angeblich verfluchten und tödlichen Ort stellen. „Ich weiß nicht, ob ich da rein will...“, gestand Jonathan leise und riss sie damit aus ihren Gedanken. Langsam sah sie zu ihm und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, ehe sie ihren Rucksack abnahm, sich einen der Träger über einen Arm hängte und die Tasche öffnete. Zwischen allem, was sie dabei hatten, wühlte sie nach dem Jagdmesser ihres Vater, das sich in einem hellbraunen Lederfutteral befand, denn natürlich sollte es weder ihre Hand verletzen, noch die übrigen Gegenstände in ihrer Tasche beschädigen. Als sie es erwischt hatte zog sie es aus der Tasche heraus, schloss den Rucksack und schulterte ihn wieder, während sie das Futteral mit dem Messer darin an ihrem Gürtel befestigte, so wie es bei diesen Ledertäschchen vorgesehen war. „Stell dich nicht so an, Johnny. Wir wollen da drin ja nicht übernachten, wir wollen bloß mal schnell einen Blick rein werfen und das Haus unter die Lupe nehmen. Wenn dich etwas angreift kannst du immer noch weg rennen.“, seufzte sie dabei, ehe sie ihn wieder ansah und ruhig lächelte. Sie brannte inzwischen darauf endlich rein zu gehen und sie würde nicht wegen einem feigen Schulkameraden an dieser Stelle abbrechen. Sie waren doch schon so weit gekommen und sie hatte genug dafür durchmachen müssen. Das Nachsitzen bei Frau Wegener saß ihr noch in den Knochen und dieses elende Mistwetter hatte sein übriges getan. Sie war durchgeweicht, der laute Donner dröhnte in ihren Ohren und was das Jagdmesser anging hatte sie vor dem Aufbruch noch ewig durchs Haus schleichen müssen, um es unbemerkt einstecken zu können. Wie sollte sie ihrem Vater auch erklären, dass sie es brauchte? Die Jungs hatten es leichter, die gingen sowieso gerne mit ihren Vätern jagen und ihre Väter ließen sie ohne Probleme auch bei so einem Wetter ihr Glück auf der Hasenjagd versuchen. Aber Kathrin war ein Mädchen und sie wäre nicht mit der Ausrede durchgekommen, dass sie auf Hasenjagd gehen wolle. Also musste sie heimlich an das Messer kommen und dazu musste sie abwarten, bis ihr Vater kurz das Haus verließ um sich Tabak zu kaufen. Leise brummend sah Jonathan sie an und schluckte etwas. Er liebte sie, aber manchmal fragte er sich, woher sie diese raue Seite hatte. Ihr Vater war streng, aber liebevoll, und er versuchte nie, eine Art Junge aus ihr zu machen. Die Jungs ihrer Gruppe versuchten auch nie sie härter zu machen und auch sonst gab es da niemanden. Trotzdem gab es Momente wie diese, in denen sie versuchte den Jungs mehr Härte einzuhauchen, weil sie es so wollte. Anstatt sich nun aber deswegen mit ihr zu streiten seufzte er leicht und gab klein bei.

„Okay, okay. Aber warum packst du jetzt schon dein Messer aus?“

Eine berechtigte Frage, auch wenn Kathrin dies scheinbar anders sah. Etwas nachdenklich sah sie in die Runde und bemerkte, dass auch Caleb und Michael sie etwas merkwürdig ansahen. Lediglich Rayne schien gelassen zu bleiben und tat es ihr sogar gleich. Er packte sein Messer aus und befestigte es an seinem Gürtel. Himmel, was für ein göttlicher Anblick das war als er sein Oberteil etwas hoch schob und den Gürtel öffnete... Am liebsten hätte Kathrin ihm noch bei der Hose geholfen, doch diese Gedanken schob sie so schnell wie immer in eine dunkle Ecke, wo sie versauern durften. Sie war jünger als er und noch dazu minderjährig. Wenn er sich für sie interessieren würde, hätte er das jawohl inzwischen mal gezeigt, oder nicht? „Wir wissen nicht, was uns da drin erwartet. Sicher ist sicher und so, wie ihr guckt, muss unsere arme Kathrin als einziges Mädchen der Gruppe mit mir zusammen vorgehen, weil ihr euch jetzt schon nass macht. Da ist es doch nur logisch, dass wir jetzt schon zu den Messern greifen, Mädels.“, erklärte Rayne unverhofft an ihrer Stelle und überraschte damit nicht nur Kathrin. Peinlich berührtes Schweigen trat ein. Jonathan hatte seine Bedenken ja schon geäußert, doch auch die übrigen beiden Jungs hatten nicht unbedingt vor Begeisterung gebrannt als sie den Kiesweg vor sich gesehen hatten und das Tor sich öffnen ließ. Nur Kathrin und Rayne schienen wirklich Feuer und Flamme für diese Expedition zu sein und genau das war es, was die hübsche Halbwaise wieder einmal schmelzen ließ. Er war einfach toll! Er stand für sie ein, wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte, obwohl sie gar keine Hilfe verlangt hatte. Und noch dazu verpasste er den Feiglingen unter ihnen einen verbalen Seitenhieb dafür, dass sie weniger Mut besaßen als Kathrin. Seelenruhig wendete sich der Rotschopf an die weibliche Verstärkung der Mannschaft und strich ihr ein paar nasse Strähnen aus dem Gesicht. Verdammt nochmal! Wusste er eigentlich nicht, was er ihr jedes Mal mit solchen Berührungen antat? Ihr Herz schlug jedes Mal höher und drohte ihr aus der Brust zu springen, doch er bemerkte es einfach nicht. Er schien in seiner eigenen Welt zu leben, in der Kathrin mehr eine Art tapfere kleine Schwester war, als ein Mädchen, das ihn vergötterte und das begehrenswert für ihn sein könnte. Zumindest hatte Kathrin das seit sie ihn kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte bis zu diesem Tag immer geglaubt, doch bevor sie überhaupt fragen konnte, was er wollte, schoss er den Vogel endgültig ab.

Seine Hand wanderte in ihren Nacken, wo er sie mit leichtem Druck an sich heran zog, während er sich gleichzeitig zu ihr herunter beugte und seine Lippen auf ihre drückte. Bis zu diesem Augenblick war ihr nie bewusst gewesen, wie sehr sie sich eigentlich immer danach gesehnt hatte, dass er genau das tun würde. Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und er musste es auch gespürt haben, denn sofort legte er einen Arm um ihre Hüften und drückte sie an seinen warmen Körper. Wie konnte er bei diesem Wetter noch so warm sein?! Sie selbst war beinahe schon eingefroren, was unter Umständen auch daran liegen könnte, dass sie sowieso immer niedrigen Blutdruck hatte. Das klang nun schlecht, aber viele Mädchen beneideten sie deswegen. Sie unterzuckerte dabei schnell und durfte sich dann durch Süßigkeiten futtern, wo andere Mädchen nur gucken durften, wenn sie ihre schlanke Linie halten wollten. Ziemlich unfair, oder? Aber die Natur machte eben, was sie wollte. Und gerade wollte sie Kathrins Körper völlig durcheinander bringen. Beinahe schon ertrinkend hielt sie sich an Raynes Schultern fest, während sie seinen fordernden Lippen nachgab und diesen köstlichen Kuss erwiederte. Wie könnte sie denn auch anders in so einem Moment? Sie war hin und weg von ihm. Ihr gesamter Körper begann plötzlich zu kochen, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und alles, was sie noch wahrnahm, war Rayne. Bis er den Kuss löste. In seiner Inbrunst hatte er ihr förmlich die Luft zum Atmen genommen und es dauerte einen Moment, bis die Welt vor ihren Augen aufhörte sich zu drehen und sie wieder einen festen Stand auf ihren Beinen hatte. Trotzdem hielt sie sich noch etwas an Rayne fest, was ihn nicht all zu sehr störte. Seine Hand zog er aus ihrem Nacken zurück, seinen Arm ließ er aber noch um ihre Hüften liegen.

„Das war dafür, dass du uns das Tor geöffnet hast. Meine Eltern haben als meine Schwester noch lebte immer gesagt, dass man brave Mädchen belohnen muss.“, erklärte er ihr derweil seelenruhig als sei es vollkommen normal, ein Mädchen so von den Socken zu hauen. Aber Moment! Schwester? Rayne hatte nie etwas von einer Schwester erzählt und schon gar nicht von einer verstorbenen Schwester. Immer noch ein wenig benebelt sah sie zu Caleb, Michael und Jonathan herüber, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie ihre Gesichter sehen wollte. Was würden sie jetzt von ihnen beiden denken, nachdem sie hier so ungeniert vor ihnen geknutscht hatten wie ein frisch verliebtes Pärchen? Edwards Ebenbild Caleb und der durchaus hübsche Michael schienen zwar etwas verlegen zu sein, weil sie die beiden in so einem relativ intimen Moment beobachten mussten, doch das war nicht weiter schlimm. Jonathans Gesichtsausdruck war es, der Kathrin einen Schreck verpasste. Er sah aus, als würde er Rayne am liebsten umbringen. Und das nicht auf die schnelle Art, wenn man sich nur mal seinen Blick ansah. „Du kannst sie jetzt auch wieder los lassen.“, zischte er Rayne beinahe schon warnend entgegen, doch wer Rayne kannte, der wusste, dass er auf Warnungen und Drohungen in etwa so sehr reagierte, wie ein Baum. Nämlich gar nicht! Langsam beugte er sich zu Kathrins Ohr hinunter und strich gleichzeitig in Richtung ihres Gesäßes. „Wusstest du eigentlich, dass Jonathan seit fast einem Jahr auf dich steht? Wenn ich dich noch mal küsse wird er mich wahrscheinlich abstechen.“, flüsterte er ihr amüsiert ins Ohr. Sofort schoss ihr die Schamesröte ins Gesicht, doch zum Glück ließ er sie dann auch los. Sie wagte es nicht, Jonathan noch mal anzusehen, sondern drehte sich zur Haustür und atmete durch.

„Wer gehen will, kann gehen. Notfalls sehe ich mir diesen Kasten auch alleine an. Ich habe mir diesen verfluchten Scheiß mit Frau Wegener nicht angetan, damit ich jetzt feige weg renne, wenn es ernst wird!“

Mehr gab es für sie nicht mehr klar zu stellen und es war ihr auch egal, wer jetzt noch da blieb und wer sich verdrückte. Selbst wenn Rayne gehen würde, würde sie sich dieser Villa stellen. Sie musste es tun. Gerade als sie eine Hand auf die alte Türklinge aus Messing gelegt hatte pfiff unter der Tür ein eisiger Windzug hindurch, der altes Laub und eine Menge Staub aufwirbelte. „Wie Rayne sagte. Fängt ja schon gut an...“, murmelte Michael leise. Die ganze Zeit über hatte er sich kaum zu Wort gemeldet, doch so langsam schien er entweder wirklich nervös, oder ebenfalls sehr neugierig zu werden. Dass er noch da war überzeugte Kathrin mehr von Letzterem, denn wäre er zu nervös, wäre er doch abgehauen.

*Die Tür ist sowieso verschlossen, wir müssen uns durch den Kohlenkeller schieben*

Da war wieder dieses enorm pessimistische Denken von Kathrin, das man ihr allerdings nicht lange gönnte. ~Es ist offen. Geh rein, sie erwarten dich schon so lange.~ Ihr blieb beinahe das Herz stehen als ihr klar wurde, dass sie genau dieses Gefühl hatte. Das Gefühl, dass in diesem Haus nicht etwas, sondern jemand auf sie wartete. Nicht irgendwas unbeschreibliches Böses, sondern eine Person, die nur wegen ihr da war. Eine Person, die nur da war, um sie zu sehen. Wie sie auf so etwas kam verstand sie nicht, sie wollte aber auch gar nicht weiter darüber nachdenken. Es war also offen laut ihrer nervigen Psychose? Schön, dann wollte sie ihr Glück halt mal versuchen. Die Türklinke gab ein tiefes Quietschen von sich, das sich mit einigen Tropfen Öl sicherlich beheben lassen würde, doch wer von ihnen hatte jetzt schon Öl dabei? Das Erste, was sie hörte, war das leise Klicken als der Riegel in die Tür gezogen wurde und irgendwo einrastete. Offenbar hatte das Türschloss die vergangenen Jahre nicht wirklich gut überstanden. Am tiefen Einatmen hinter sich erkannte Kathrin, dass auch ihre männlichen Begleiter zum größten Teil nicht besonders erfreut über dieses Geräusch waren. Dennoch ließ sie sich nicht beirren und stieß die Tür weit nach innen auf. Sie wollte lieber nicht sofort rein gehen, ohne gesehen zu haben, was hinter dieser Tür lag. Die alte Tür schwang knarzend auf und stieß nach etwa einem Winkel von 200 Grad auf einen Widerstand, an dem sie abprallte und nicht weiter aufschwang. Kein wirkliches Problem, denn so oder so änderte das nichts daran, dass man fast nichts sah. Es war rabenschwarz in diesem Haus und nur ab und sah man ein wenig etwas wenn ein Blitz aufleuchtete. Mit kalten Händen packten die fünf neugierigen Jugendlichen ihre Taschenlampen aus und knipsten sie an um ins Innere der Villa zu leuchten. Das Erste, was sie zu sehen bekamen, waren Spinnenweben. Jede Menge davon, was besonders Caleb nicht gefiel. Er hatte einen ziemlichen Putzfimmel und wenn es nach ihm gehen würde, würde er jetzt nach Hause rennen, sich Putzzeug und einen Staubwedel holen, und dann erst mal durch das Haus fegen wie ein putzender Tornado. Eine ziemlich niedliche Eigenschaft, wie die eher putzfaule Kate fand. Während sie mit ihrer Taschenlampe durch den Raum schwenkte fielen ihr direkt viele Kerzen und einige Öllampen auf, die überall standen und hingen. Außerdem waren die schweren Samtvorhänge zwar verstaubt, aber intakt. Das brachte sie gleich auf eine Idee.

Leicht stubste sie Rayne an und sah zu ihm hoch. „Wie voll ist dein Feuerzeug?“, fragte sie ihn. Etwas grübelnd zog er das silberne Benzinfeuerzeug zum aufklappen aus seiner Hosentasche und sah sie an. „Ich habe es frisch aufgefüllt bevor wir her gekommen sind. Den Nachfüller habe ich auch dabei. Warum?“ Bevor er sich versah hatte sie ihm auch schon das Feuerzeug aus der Hand geschnappt und war ins Innere des Hauses getreten. Dass sie dabei das Gefühl hatte, dass jemand ihr kalte Hände um den Hals und auf die Brust legen würde, ignorierte sie lieber, denn auf Panik hatte sie keine Lust. „Kate, was wird das?“, rief ihr Caleb hinterher, der ihr sofort folgte und sich die nassen schwarzen Haare nach hinten warf. Michael folgte als nächster, danach der noch immer ein wenig verdutzte Rayne und das Schlusslicht bildete Jonathan. Kathrin ignorierte ihren Klassenkameraden und schloss sämtliche Vorhänge in der unteren Halle, ehe sie zu den Kerzen und Öllampen ging, die sie eine nach der anderen entzündete. Bald schon wurde die Halle in ein angenehm warmes Licht gehüllt und durch die dicken Vorhänge drang auch nicht mehr das kalte Licht der Blitze. Nun erschloss sich Rayne auch, was Kathrin mit seinem Feuerzeug wollte. „Ach, deswegen hast du gefragt. Dafür reicht das Benzin locker.“, lachte er leise und sah sich im nun deutlich freundlicheren Raum um, zuckte jedoch leicht zusammen als die Haustür zuschlug. Jonathan gab sofort ein heiseres Quieken von sich und sprang auf wie ein erschrockenes Kaninchen, während Caleb und Michael einfach nur zusammengezuckt waren. Kathrin noch nicht mal das. Sie sah ruhig zu der Tür und betrachtete sie einen Moment still, bis sie ihre Taschenlampe ausmachte und wieder in ihrem Rucksack verstaute. Sie hatte das schon kommen sehen. Hier war es gruselig und draußen war es ziemlich stürmisch. Warum sollte die Tür nicht zu knallen? Es gab Durchzug und der erklärte die Sache doch, oder? Amüsiert klopfte sie Caleb und Michael auf den Rücken, ehe sie beiden durch die Haare wuschelte. „Warum denn so schreckhaft? Draußen stürmt es, das war doch abzusehen. Jetzt pustet uns das Unwetter zumindest nicht die Kerzen aus. Und wir wissen jetzt, was die Tür blockiert hat.“, versuchte sie ihre Kameraden etwas aufzulockern.

Was da im Weg gewesen war konnten sie jetzt tatsächlich sehen. Ein alter Sessel mit hellbraunem Kordbezug stand in der Nische, in die sich die Tür eigentlich einfügen sollte, wenn sie ganz geöffnet wurde. Ein alter Sessel mit merkwürdigen dunklen Flecken auf dem Sitzpolster und an der Rückenlehne. Ein wenig hin und her gerissen warf Jonathan seiner Angebeteten einen Blick zu, dann ging er auf das Sitzmöbel zu. Er wollte nicht immer als Angsthase vor ihr dar stehen, also musste er ganz einfach mal Mut beweisen und sich diese Flecken ansehen. Sie sahen aus wie Rost, aber seit wann rostete Kordstoff denn bitte? Davon hatte er noch nie gehört, weil so etwas ganz einfach nicht geschah. Schmunzelnd sah Kathrin ihm nach und verschränkte die Arme vor der Brust, während Rayne sich neben sie stellte und einen Arm um ihre Schultern legte. „Sieh genau hin.“, flüsterte er ihr grinsend ins Ohr. Als Jonathan vor dem Sessel stand beugte er sich vor und strich mit einem Zeigefinger über den größten Fleck auf dem Sitzpolster als wolle er als kritische Hausfrau über zu viel Staub auf einem Regal schimpfen. Etwas von dem Zeug löste sich ähnlich wie Schuppen und blieb an seinem Finger haften. Mehr gezwungen als gewollt begann er daran zu schnuppern, verzog dann aber das Gesicht. „Riecht alt und kupfern. Ist das Blut?“, berichtete er seiner Gruppe und wischte sich den Finger an einer der Armlehnen ab. Wie Blut auf den Sessel kommen sollte war nicht schwer zu erraten. Es waren genug junge Menschen hier gestorben und zuletzt waren Edward Winchester und Alec Shillen in genau dieser Vorhalle mit der Treppe, die in den oberen Stock führte, gestorben. Vielleicht war einer verwundet in den Sessel gefallen bevor er starb? Wer wusste das schon. Gerade als Jonathan sich abwenden und zu seinen Freunden zurück gehen wollte hörte er es unter dem Sessel leise scharren und erstarrte. „Na los, sieh nach.“, forderte ihn Rayne entspannt auf und begann Kathrin ein wenig an der Schulter zu kraulen. Ihr gefiel das einfach zu gut, um sich nun für Jonathan einzusetzen, der immer von ihm geärgert wurde. Leicht lehnte sie sich an Rayne, seufzte zufrieden und lächelte leicht. Jonathan hasste ihn genau dafür, hockte sich dann aber hin und lugte unter den Sessel, unter den er zögerlich eine Hand schob. Einige Sekunden tastete er den verstaubten Boden und Spinnweben ab, dann sprang er plötzlich kreischen auf und eine kleine schwarze Maus sprang zu Tode erschreckt unter dem Sessel hervor, nur um quiekend im erstbesten Mauseloch zu verschwinden, während Jonathan einem Herzinfarkt nahe auf seinem Hinterteil landete und am ganzen Körper schlotterte. Beinahe gleichzeitig brachen Kathrin und Rayne in Gelächter aus und auch Caleb und Michael konnten sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. „Oh, du armer. Hat die böse Maus dich erschreckt?“, ärgerte Michael seinen alten Freund und lachte ihn dabei leise aus. „Mistkerl...“, fluchte Jonathan leise und stand auf. Schlecht gelaunt klopfte er sich den Staub beinahe schon kiloweise von den nassen Klamotten, während Rayne und Kathrin endlich aufhörten über ihn zu lachen. „Hier unten gibt es nichts zu sehen. Lasst uns hoch gehen und schauen, ob Eric zu Hause ist.“, schlug Kathrin schließlich mit einem leichten Grinsen im Gesicht vor. „Das ist mein Mädchen.“, lobte Rayne sie sofort und deutete zur Treppe. „Nur zu. Du hast das Feuerzeug, meine Liebe. Ich bin direkt neben dir.“

Nickend sah sie ihn an, ehe sie einen letzten Blick in die Runde warf und mit Rayne an ihrer Seite die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hoch ging.
 

---Liebe Leser, ich werde diese Fanfiction hier beenden, da ich diesen Account löschen werde. Mit Glück wird die Geschichte aber unter einem anderen Account fortgesetzt. Falls ich nicht ein ganz neues Projekt beginne.. Bis hier hin, Danke für euer Interesse :)



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von: abgemeldet
2013-05-18T11:35:24+00:00 18.05.2013 13:35
Herr Gott noch mal, ist das spannend *-* ich freu mich jetzt schon auf das nächste Kapitel auch wenn mir der arme Johnny leid tut xD ständig wird er geärgert, aber das kennen wir ja, hm? ;) und Rayne war sowieso schon immer ein elender Draufgänger xD
Von: abgemeldet
2012-10-14T14:04:36+00:00 14.10.2012 16:04
Der helle Wahnsinn *0* wie immer hat mir das Kapitel richtig gut gefallen^^ Es ist spannend und gruselig zugleich und ich muss zugeben, dass mir nicht selten der Mund offen stehen geblieben ist^^ sowohl aus Entsetzen, als auch aus Bewunderung ^^ du schreibst wirklich verdammt gut und dieses Kapitel informiert prächtig^^ mach weiter so

Hab dich ganz, ganz dolle lieb, Mausi <3
Von: abgemeldet
2012-09-22T12:05:54+00:00 22.09.2012 14:05
der helle wahnsinn *-* das kapitel ist verdammt geil
mein armes altes herz, ich fiebere richtig mit ^-^
mach weiter so, ich liebe deinen schreibstil^^ aber es war auch nicht anders zu erwarten wie du schreibst^^ deine texte sind IMMER der hammer!
Von: abgemeldet
2012-09-22T11:48:42+00:00 22.09.2012 13:48
Der Prolog ist schon mal erste Sahne^^ läd direkt zu mehr ein und ich hoffe, du bleibst am ball :D sehr spannend


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