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Darkwood Circus

~Wenn du nicht weißt, wer du bist~
von

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~Lasset die Spiele beginnen~

Draußen zogen die grauen Wolken träge wie eine Schar schlachtreifer Schafe am Himmel entlang und hatten jeden einzelnen Sonnenstrahl verschluckt. Das gelbliche Licht, das sie hindurch ließen, drückte die sowieso schon schlechte Laune im Dorf letztlich auf den Tiefpunkt herunter. Der Wind fegte in rauen Böen über das karge Land und der Regen schlug wie Millionen winziger Bomben auf die Fensterscheiben der traurigen Häuser ein. Die gräulichen Hauswände aus Lehm, Backsteinen und Rauputz hielten den Regen ab, doch so manches schiefergedecktes Dach war nicht dicht und es tropfte herein. Das war kein Normalzustand, doch vor ein paar Tagen erst war ein heftiger Sturm über das Dorf hinweg gefegt und hatte einige Schäden hinter sich zurück gelassen. Glücklicherweise waren es nur kleine Dinge wie eben fehlende Schieferplatten auf dem Dach, wodurch die Glaswolle ungeschützt war und Regen rein kommen konnte, doch das war auch schon schlimm genug. Dämmfolien verwendeten nur die wenigsten Menschen in Darkwoods River und die, die es taten, waren jung. Die älteren Semester wollten voll all diesen Neuerungen nichts hören und blieben bei ihren altbewährten Methoden, um Haus, Hof und Familie zu schützen und letzterer ein Dach über dem Kopf zu bieten. Kontakte in die Städte oder weiter entfernte Dörfer hatten hier nur die aller wenigsten Menschen, da das Dorf von einem dichten Wald umgeben war. Einerseits hielt der Wald mit seinem breiten Fluss, der voller Stromschnellen war, Eindringlinge draußen, doch auf der anderen Seite war es auch schwer, vom Dorf aus in die Stadt zu kommen. Während sich die alten Bewohner über diese natürliche Blockade freuten, sehnten sich die jüngeren Einwohner nach einem schnellen und einfachen Weg in die Stadt. Es gab keine Straßen und ein Auto besaß hier auch niemand. Wieso denn auch, wenn das Dorf doch so klein war? Dafür hatte fast jeder Dorfbewohner ein Fahrrad für jedes Mitglied der jeweiligen Familie in seinem Schuppen stehen, damit man vom einen Ende des Dorfes schnell an das andere kommen konnte und im Fahrradkorb konnte man zum Beispiel vom Bäcker seine Einkäufe transportieren. Viel gab es hier sowieso nicht zu sehen. Ein paar kleine Läden mit Kleidung, die selber produzierten, eine recht große Bäckerei, die an allen Tagen in der Woche geöffnet hatte, zwei Läden für übrige Lebensmittel und Getränke und natürlich auch Gaststätten für die arbeitenden Männer. Kathrin bevorzugte es, diese Gaststätten schlicht Kneipen zu nennen, denn gegessen wurde dort selten, dafür aber umso mehr Alkohol konsumiert. Dieser Dorf ödete sie an! Außer den im Dorf versprengten Geschäften gab es hier nichts. Nur Äcker, kleine private Obst- und Gemüsegärten und natürlich den Wald. Wald, wohin auch immer das Auge blickt! Beim Blick durch die trübe Fensterscheibe der Schule zu ihrer Linken fiel Kathrin wieder ein, was ein guter Freund von ihr gerne sagte. „Hier gibt es nichts. Aber davon jede Menge“, pflegte er immer zu sagen wenn er sich mal wieder ganz besonders langweilte und sein Wunsch, in die Stadt zu gehen, wieder sehr stark war. Sein Name war Rayne und er galt als Exot in diesem eher monotonen Dorf. Mit seinen roten Haaren wurde er vom Pfaffen des Dorfes bereits der Kirche verwiesen und als er sich auch noch erdreistete, sich drei silberfarbene Strähnchen zu färben, war die Empörung gewaltig. Die meisten mieden und ächteten ihn, doch nicht Kathrin Taylor. Seine grün-blauen Augen hatten sie längst gefesselt und es war ihr egal, dass dieser Dorf-Rebell ein Jahr älter war als sie und somit volljährig. Sie war erst 17, doch ihr 18. Geburtstag nahte bereits heran und sie fieberte diesem Tag schon entgegen. Rayne hatte ihr hoch und heilig versprochen, dass er was mit ihr trinken gehen würde wenn sie erst mal volljährig sein würde und sie freute sich jetzt schon wahnsinnig darauf. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde ihre Vorfreude größer und größer, doch Regenwetter wie heute trübte ihr Gemüt dann doch wieder. Besonders viel Wert legte sie nicht auf ihr zugegebenermaßen ziemlich gutes Aussehen, aber sie hasste es trotzdem, wenn sie in den Regen kam, denn ihre langes, welliges braunes Haar begann sich sofort zu kräuseln wenn es nass wurde und das sah einfach nur furchtbar aus wie sie fand. Als sei sie gerade dem Teufel persönlich von der Mistgabel gesprungen. So gelangweilt und geistesabwesend wie sie nun aus dem Fenster starrte, bekam sie gar nicht mit, dass ihre Klassenlehrerin sie bereits zweimal angesprochen hatte. Eigentlich sollte sie sich auf ihre Mathematikarbeit konzentrieren, die vor ihr auf dem Tisch lag, doch ihre Gedanken schweiften mal wieder ab. In 3 Tagen würde sie endlich 18 werden und sie hatte andere Dinge im Kopf, als irgendwelche blöden Formeln. Sie ging in die 10. Klasse, wie die meisten hier. Während Stadtkinder in der Regel mit 6 in die Grundschule kamen, wurde man hier erst mit etwa 7 Jahren eingeschult und dadurch resultierte es, dass die meisten Schulabgänger schon 17 waren wenn sie ihr Abschlusszeugnis in die Hand bekamen. Normalerweise war Kathrin eine gute Schülerin und schrieb mitunter permanent die besten Noten ihres Jahrgangs, doch es gab Tage wie heute, wo sie ihre blauen Augen überall hin wandern ließ, bloß nicht auf die wichtige Schulaufgabe, die sie schreiben musste. „Kate!“, flüsterte jemand hinter ihr. Erst jetzt hob sie langsam den Kopf und fühlte sich auch angesprochen. Kate nannten sie nur ihre Freunde Caleb, Michael, Jonathan und Rayne. Ihr Freundeskreis bestand beinahe zu 100% aus männlichen Mitschülern, wobei Rayne die Ausnahme bildete was das schulische an betraf. Jemanden wie ihn würde man in einer großen Stadt wohl hochbegabt nennen. Er wurde mit fünf Jahren eingeschult, besuchte mit acht Jahren die 10. Klasse und hatte mit 14 sein Abschlusszeugnis in der Hand. Er war ein Überflieger, doch in diesem Dorf glaubte man nicht an Hochbegabung. Nein, hier hatte man eine simple Erklärung für ihn gefunden. Er war von Gott gesegnet und hatte einen Auftrag! Schön, wenn andere daran glaubten, aber Rayne selbst wusste, dass seine Intelligenz rein gar nichts mit Gott zu tun hatte, dem er eher weniger nah stand. Nicht selten verwünschte er dieses Dorf und warf seinen Eltern an den Kopf, dass sie doch zur Hölle fahren und auf des Satans Bratenspieß gehängt werden sollten. Für seine streng katholischen Eltern ein Schock bei jedem Mal und noch dazu brach es ihnen das Herz, da auch sie glaubten, dass ihm die Begabung von Gott geschenkt sei und er irgendeinen Auftrag hatte. Doch Rayne war nun mal nicht mehr an dieser Schule und konnte Kathrin somit auch nicht darauf hinweisen, dass Frau Wegener drauf und dran war, ihr ihr Lehrbuch vom Pult aus an den Kopf zu werfen. Diese bösartige alte Ziege, wie man sie hier meistens nannte, hatte schon erste graue Strähnen in ihrer braunen Dauerwelle und der blaue Lidschatten verriet schon, dass sie ein älteres Semester war und durch die kräftigen Farben oben im Gesicht von den Falten der unteren Gesichtspartien ablenken wollte, was nur von mäßigem Erfolg gekrönt war. Ihre strengen grünen Augen mit dem gräulichen Stich konnten einem wirklich Angst machen, denn sie besaß wahrlich die Fähigkeit einem Unschuldigen das Gefühl zu geben, dass er etwas furchtbares verbrochen hatte, indem sie ihm einfach nur einige Sekunden lang in die Augen blickte. „Kate!“ Wieder flüsterte jemand ihr Namenskürzel und langsam kam Kathrin wieder aus ihrer gelangweilten Traumwelt zurück in das trübe Klassenzimmer mit der grünen Tafel und den unbequemen Holzstühlen. In ihre Tagträume versunken hatte sie sich federleicht und entspannt gefühlt, doch plötzlich wurde ihr wieder sehr bewusst, dass sie hier nicht in ihrem Zimmer war. Sie spürte wieder den unbequemen und teils splittrigen Holzstuhl unter sich, von dem sich ihr schon seit längerem eine herausragende Schraubenspitze in die Hüfte bohrte und unangenehm durch den Stoff ihrer dunklen Jeans piekste. Und immer noch war auf ihrem weißen Pullover auf Brusthöhe der kleine rötliche Fleck zu sehen, der von ihrem morgendlichen Tomatensaft-Unfall herrührte. Langsam sah sie über die Schulter nach hinten und erblickte Caleb Matthews, der sie die beiden Male angesprochen hatte. Seine schulterlangen schwarzen Haare waren mal wieder ein wenig zerzaust und wie sie ihn kannte hatte er auch gar nicht versucht, etwas daran zu ändern. Wie auch Rayne hatte er faszinierende grüne Augen, die aber nicht an die des Rotschopfes heran reichten wie Kathrin fand. Wenn man sie fragte, ob sie in Rayne verliebt sei, stritt sie immer sofort alles ab, doch sie wusste tief in ihrem Herzen, dass sie mehr waren als nur gute Freunde. Zumindest wünschte sie sich, dass sie mehr waren und er genauso empfand wie sie. Viele Mädchen waren hin und weg von diesem selbstbewussten jungen Mann, aber er schenkte den Damen meistens keine Beachtung. Wieso denn auch? Er wusste, dass sie nur auf seinen Körper heiß waren und seine Art „cool“ fanden, doch mit echter Liebe hatte das nichts zu tun. Vielleicht war es kitschig und für einen Jungen in der heutigen Zeit peinlich, doch er wollte nichts weiter, als eine Frau, die ihn liebt, und mit der er seine eigene kleine Familie gründen konnte. Was hatte er denn davon, wenn er hier jedes Mädchen für eine Nacht nahm? Im Gegensatz zu vielen anderen hatte er begriffen, dass das hier ein kleines Dorf war und nicht der Großstadtdschungel. Ob man in Berlin jede Nacht die Frau wechselte, oder in einem Dorf mit knapp 200 Einwohnern, machte doch einen großen Unterschied. Die Dame nach der gemeinsamen Liebesnacht nie wieder zu sehen funktionierte hier ganz einfach nicht. Und schon wieder hatte Kate zugelassen, dass ihre Gedanken zu Rayne abdrifteten! Himmel, sie konnte einem leid tun. Erst Tagträume im Regen, dann grüßte ihr verliebtes Herz mal wieder mit Gedanken an ihren Schwarm zum falschen Zeitpunkt. „Was ist denn, Caleb?“, flüsterte sie nun leicht angenervt zurück, woraufhin er knapp nach vorne nickte in Richtung von Frau Wegener. Bei den Gedanken an den Dorf-Rebell hatte ihr Herz noch kräftig gepumpt, doch nun sank es ihr mit einem Mal in die Hose. Sie wusste, was Caleb meinte, und es war keine gute Nachricht. Sie musste schon wieder überhört haben, dass die garstige Gewitterziege am Lehrerpult mit ihr gesprochen hatte und schon beim letzten Mal gab es dafür furchtbaren Ärger. „Wie schön. Du bist also wieder bei uns, Kathrin.“, hörte sie es auch schon mit ungesund liebenswürdiger Stimme von vorne aus. Das war die Ruhe vor dem Sturm und Kathrin wusste das ganz genau. Langsam wand sie sich zu Frau Wegener nach vorne um und lächelte sie leicht an. „Ähm... Ja. Tut mir Leid, Frau Wegener. Ich war kurz...“, begann sie sich zu entschuldigen, aber man ließ sie gar nicht erst zum Ende kommen. „Das ist schon das dritte Mal diese Woche, dass dich unser junger Mister Matthews aus deinen Tagträumen rütteln muss, damit du mir zuhörst! Du wirst heute NACHSITZEN!“

Die übrigen Unterrichtsstunden verliefen relativ ereignislos, wenn man davon absah, dass die liebe Frau Wegener Kathrin nun offenbar auf dem Kieker hatte. Jedes Mal, wenn eine wirklich schwere Aufgabe an die Tafel geschrieben wurde, wurde Kathrin nach vorne gerufen und musste versuchen, sie zu lösen. Sie war was Sprachen anging wirklich begabt, doch Mathematik war nicht unbedingt das Fach, mit dem sie glänzen konnte. Nur mit größer Mühe und einigen Korrekturen seitens der Lehrerin bekam sie die Augen letztlich gelöst und setzte sich mit hochrotem Kopf anschließend wieder auf ihren Platz zurück. Es war einfach nur peinlich und ausgesprochen belastend für die sonst so gute Schülerin, doch dann war der Unterricht endlich vorbei und sie konnte aufatmen. Zwar würde sie geschlagene 2 Stunden nachsitzen müssen und somit waren ihre eigentlichen Pläne für heute zerstört, doch das war ihr lieber, als auch nur eine Minute länger so vorgeführt zu werden. Ihre Klassenkameraden strömten in großen Trauben aus der Schule und sammelten sich in kleinen Grüppchen auf dem Schulhof, um sich kurz noch über die Pläne für den Nachmittag zu unterhalten, dann stoben sie in alle Richtungen auseinander und der Schulhof leerte sich zu einer Geisterstadt. Zuletzt war nur noch Caleb übrig, der sich neben Kathrins Tisch stellte, sich mit beiden Händen darauf abstützte und sie ansah. „Lass dich nicht fertig machen, ja? Ich sage den anderen Bescheid, dass es heute nicht klappt, und wir holen es morgen nach. Der olle Manson-Kasten läuft uns ja nicht weg.“, sagte er bemüht darum, sie ein wenig zu beruhigen und aufzumuntern, doch eigentlich wusste er, dass sie sowieso nicht aufzumuntern war, wenn es etwas Schulisches war. Sie war eine echte Streberin mit Leib und Seele, doch sie hatte trotz dessen Anschluss bei einer kleinen Gruppe von ziemlich überdrehten und wagemutigen Jungs in ihrem Alter gefunden, da sie in ihrer Freizeit vollkommen anders war. Wenn sie frei hatte, wurde sie plötzlich... fröhlich. Sie legte ihre eigene Strenge ab, hörte auf, irgendwie spießig zu sein und genoss einfach nur das Leben in vollen Zügen. Heute war das Wetter leider zum Mäusemelken und entsprechend gering waren ihre Ambitionen, überhaupt vor die Tür zu gehen. Draußen begann es leise zu grummeln und sie konnte bereits erste kleine Blitze am Himmel zucken sehen, was sie leise seufzen ließ. Niemand sollte bei diesem Regenwetter, das sich gerade zu einem dicken Gewitter entwickeln wollte, auf der Straße sein müssen, doch es ließ sich eben nicht vermeiden, wenn man heute noch nach Hause kommen wollte. Es sah jedenfalls nicht besonders stark danach aus, dass der Regen heute aufhören würde. Leise seufzend hob sie den Blick in Calebs grüne Augen und nickte leicht. „Alles klar. Jetzt geh lieber, bevor sie dich auch noch hier behält.“ Sie war sich bei dieser Lehrerin nie sicher, wo sie ihre Prioritäten setzte, denn jedes Mal bestrafte sie die gleichen Fälle vollkommen anders als zuvor. Mal viel härter, dann viel lascher und manchmal einfach gar nicht. Irgendwas schien nicht mit ihr zu stimmen, wie Kate fand, doch sie konnte nicht benennen, was sie eigentlich genau an dieser Frau störte. Ihre Ungerechtigkeit oder ihre Strenge? Eigentlich war es auch egal, denn Fakt war, dass sie heute zum ersten Mal für ganze zwei Stunden mit ihr alleine sein würde und darauf freute sie sich nicht gerade. Kurz warf Caleb einen blick nach vorne zum Pult, wo Frau Wegener noch die letzten Klassenarbeiten von heute ordnete, dann vergrub er eine Hand in Kathrins nach Apfelshampoo duftenden Haaren und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Bis morgen.“, verabschiedete er sich noch von ihr, ehe er dann auch den Weg nach Hause einschlug. Ein wenig seufzend sah sie ihm nach und strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn, wo er sie geküsst hatte, widmete sich dann allerdings lieber dem Pult, wo sie es knarren und schleifen hörte, als der alte Boden aus Holzdielen unter dem Stuhl von Frau Wegener erneut gefoltert wurde, weil sie grob und ruckartig wie immer ihren Stuhl darauf nach hinten rückte, um aufstehen zu können. Dort, wo sie saß, sah man immer die tiefen Furchen von Stuhlbeinen im Boden, weshalb man bereits des öfteren die Dielen am Lehrerpult hatte austauschen müssen. „Zu niedlich. Lass dich sich aber besser nicht im Unterricht von deinen Träumereien bezüglich des werten Herrn Matthews ablenken, sonst wirst du noch häufiger nachsitzen müssen.“, säuselte sie ihr schließlich mit ihrer gewohnten gespielt freundlichen Stimme entgegen. Sofort bekam Kathrin eine Gänsehaut und ihr Magen ballte sich zu einer steinernen Faust zusammen. War das etwa Angst? Wahrscheinlich, aber wo kam sie her? Nachsitzen hatte bislang doch wirklich noch niemanden umgebracht, oder? Doch irgendetwas war da einfach! Diese Augen waren zu stechend und zu glänzend, um normal zu sein. ~Nicht menschlich. Diese Augen sind nicht menschlich!~, ging es ihr plötzlich durch den Kopf, weshalb sie mit Mühe unterdrücken musste, laut los zu lachen. Sie war erst eine Minute mit ihrer Lehrerin alleine und schon verursachte der Staub in der Luft bei ihr Halluzinationen. Christel Wegener war nun wirklich nicht mehr die Jüngste und hieß es nicht immer, dass nur Menschen und Tiere altern, jedoch Geister, Vampire und das ganze Kroppszeug nicht? ~Krieg dich ein, Kleines. Du warst immer schon zu empfindlich. Wenn du nicht willst, dass du durchdrehst, hör auf, dir solchen Mist einzureden und dir Gedanken zu machen!~ Da hatte ihr Verstand völlig Recht und der Blick dieser alten Hexe verriet ihr sowieso, dass sie schon viel zu lange schwieg und wohl recht ausdruckslos drein blickte. „Ich habe nicht von Calebt geträumt. Ich war lediglich... in Gedanken versunken.“, verteidigte sie sich schließlich... und bereute es sofort. Da blitzte etwas in den Augen dieser Lehrerin auf und es gefiel ihr gar nicht. Es wirkte bedrohlich und unnatürlich. Abgesehen davon kam ihr Christel gerade mindestens 5 Jahre jünger vor, als noch vor einer Minute, und das war vollkommen unmöglich! Kurz schloss sie ihre blauen Augen, atmete tief durch und zwang sich ein Lächeln auf, ehe sie Frau Wegener wieder ansah. Zum ersten Mal wurde ihr eins mit aller Deutlichkeit bewusst. Sie hasste diese Frau! Oh, und wie sie sie hasste. Sie ertrug ihren Anblick nicht und dieser widerwärtige Geruch, den diese Dame wohl als ein „wohlriechendes Parfum“ bezeichnete, beleidigte ihre Nase. Sie konnte nicht umhin festzustellen, dass dieser Geruch sie unweigerlich an einen Friedhof denken ließ und eigentlich sollte das nicht die erste Assoziation sein, auf die man kam, wenn man eine Lehrerin vor sich hatte, oder? Noch dazu wirkte Christel Wegener wie ein Raubtier. Die spitz gefeilten Fingernägel waren Klauen, ihre Zähne waren viel zu weiß, doch legte sie Wert darauf, immer wieder zu betonen, dass sie echt waren. Nicht, dass Kathrin an der Zahnhygiene ihrer Lehrerin mit dem Pfefferminzatem zweifeln würde, doch sie wusste, dass Frau Wegener eine starke Raucherin war und dass sie sich hauptsächlich von Kaffee zu ernähren schien. Beides färbte Zähne mit den Jahren gelb und es konnte doch wirklich niemand behaupten, dass Frau Wegener das Geld und den Willen besaß, um jede Woche in die Stadt zu fahren und sich die Zähne wieder bleichen zu lassen. Doch über diese Dinge dachte Kathrin nun lieber nicht nach. Sie saß hier einfach nur mit ihrer Klassenlehrerin und mehr nicht. Sie würde hier nachher raus stolzieren, durch den Regen laufen und klitschnass zu Hause ins Badezimmer schlittern, um sich zu duschen. Da war keine Zeit, um sich Gedanken darüber zu machen, ob irgendetwas nicht normal an dieser Frau war. „Und worüber hast du dabei nachgedacht?“, hakte Christel unbarmherzig weiter nach, auch wenn sie sah, dass Kathrin sich gerade nicht wohl fühlte. Sie würde so lange bohren, bis sie zufrieden war. Sie würde bohren, bis Kathrin schrie und bettelte. So machte sie es doch schon immer. Eine weitere Weile Schweigen legte sich über den Raum, bis die Brünette sich langsam in ihrem Stuhl zurück lehnte und es endlich schaffte, den Blick von dieser beinahe schon hypnotischen Frau los zu reißen, die ihr eine bis jetzt anhaltende Gänsehaut verpasst hatte. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte, konnte es aber einfach nicht definieren. „Das Manson-Haus. Meine Freunde und ich sind sehr neugierig, doch niemand hier will mit uns über das Haus sprechen oder uns die alten Bücher über die Stadt aushändigen. Anders kommen wir aber nicht an Informationen...“, log sie schließlich, auch wenn das nur zum Teil eine Lüge war. Tatsächlich beschäftigte diese alte Villa sie, Caleb, Michael, Jonathan und Rayne schon eine ganze Weile und eigentlich hatten sie heute dort einsteigen und sich umsehen wollen, doch sie wollten es gemeinsam tun. Um so mehr tat es Kate nun leid, dass sie bis morgen damit warten müssen würde, weil sie heute nicht konnte und nach Einbruch der Dunkelheit wollte niemand von ihnen mehr dort sein. Sie wussten, dass jeder, der dieses Haus betrat, entweder nie mehr gesehen oder als Leiche aus dem Wald getragen worden war, doch niemand wollte sie über die alte Geschichte des Hauses aufklären. Die Jugendlichen aus dem Dorf wollten dort ihre Mutproben veranstalten, weil die Villa als verflucht galt. Ein böser Ort, an dem Teufel und Hexen sich gegenseitig die Hand gaben und Blutopfer feierten, wie die Alten im Dorf sagten. Für einen Teenager klang das natürlich spannender als ein billiger Horrorfilm im Fernseher mit sowieso schlechtem Bild und Ton, also warum nicht selbst mutig sein und etwas wagen? Doch ganz ohne Hintergrundinformationen wollten sie eigentlich auch nicht dort hinein gehen, bis sie letztlich einsahen, dass sie keine andere Wahl haben würden. Niemand gab ihnen die notwendigen Informationen, also wollten sie nun doch ohne die Geschichte des Hauses zu kennen aufbrechen. Plötzlich aufmerksam geworden setzte sich Christel Wegener auf die Kante von ihrem Pult und saß dort kerzengerade. Aufmerksam behielt sie Kathrin im Auge, beinahe als wäre sie das Raubtier und Kate die saftige Beute, doch sie schwieg eine ganze Weile, anstatt etwas zu sagen. Es sah fast so aus, als wolle Christel ihre Schülerin hypnotisieren, doch dann schloss sie plötzlich die Augen und lächelte ein wenig. „Das Manson-Haus... Verstehe. Wenn du willst, erzähle ich dir seine Geschichte... Dann gibt es eben etwas Geschichte, statt Mathematik in den kommenden zwei Stunden.“
 

Kathrin war die Situation nicht geheuer. Ihre Klassenlehrerin mit dem streng zusammengesteckten Dutt aus teilweise schon ergrautem Braun, das ehemals in sanften Wellen ein jugendliches Gesicht umrahmt haben musste, schien heute eine Art Eigenleben zu führen. Kate könnte schwören, den Dutt ab und an pulsieren sehen zu können wie ein flaches Herz, doch das konnte natürlich nur ein Hirngespinst sein. Gut, es gab eine Menge Dinge auf dieser Welt, die die Menschen nicht verstanden, doch Haare lebten nicht und sie sollte das doch am besten wissen, denn ihre eigenen braunen Wellen schienen das jugendliche Abbild dieses Dutts dar zu stellen und sie hatte bislang nie das Gefühl gehabt, dass da etwas pochte. Abgesehen von ihrem Schädel, wenn sie zu viel getrunken oder zu lange gelernt hatte verstand sich, doch das war sie dann auch selbst schuld. Nein, Haare konnten nicht lebendig sein und das wusste Kathrin auch, weshalb sie diese Gedanken so schnell wie möglich im Keim zu ersticken versuchte, was mit Christel alleine im halbdunklen Klassenzimmer gar nicht so einfach war. Der enge schwarze Bleistiftrock dieser Dame, die sich mit erstaunlicher Grazie auf der Kante ihres Lehrerpultes niedergelassen hatte, bedeckte ihre Beine nur bis zu den Knien und zeigte daher, dass die Beine der Lehrerin von einer schwarzen Strumpfhose verhüllt waren. Oder waren es Strapse? Gott bewahre, so genau wollte es Kathrin gar nicht wissen! Sie verspürte so schon das flaue Gefühl der Übelkeit in ihrem Magen wallen und sie wollte ganz sicher nicht, dass sich das noch verschlimmerte, indem sie sich vorstellen musste, wie die zwar langen und schlanken, jedoch alten Beine von Frau Wegener wohl unter dem dünnen Nylon und dem Rock aussehen mochten. Sie wollte keine Krampfadern zählen, keine roten Geflechte an ihren Beinen betrachten, wo die feinen Äderchen unter der Haut geplatzt waren, und sie wollte auch nicht wissen, wie der Geruch einer älteren Frau an der Stelle war, wo unter Garantie nicht mal mehr Herr Wegener genauer hinsehen wollen würde. Gab es überhaupt einen >Herrn Wegener<? Wenn ja, dann hatte Kate ihn noch nie gesehen und auch nie bewusst gehört, wie die liebe Christel vor ihrer Nase über ihn sprach. Auch von Kindern hatte sie Christel nie sprechen hören, wenn sie darüber nachdachte. Hatte sie überhaupt irgendetwas privates über diese Frau erfahren, seit sie diese Schule besuchte? Nichts, dass sie wüsste, doch im Augenblick interessierte sie das auch eher weniger. Sie wollte sich keinen Kopf über diesen Raubtierblick, die spitzen Fingernägel, den strengen Dutt, diesen verfluchten Rock mit Gott weiß welcher Unterbekleidung oder über die bis nach ganz oben zugeknöpfte weiße Bluse mit den schmalen grauen Senkrechtstreifen machen! Es fiel ihr auch nicht sonderlich schwer, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, als auf den Gedanken, dass Christel Wegener gleich wie eine Raubkatze von ihrem Pult springen und sie anfallen könnte, denn was sie da gerade gehört hatte, konnte doch nur eine Halluzination gewesen sein, oder? Seit wann man Halluzinationen so klar und deutlich hören konnte wusste sie zwar nicht, aber es gab keine andere Erklärung. Niemand im Dorf sprach über die Manson-Villa und nun sollte ausgerechnet diese Hexe sich als Historikerin anbieten? Erneut wurde ihr bewusst, dass sie – Kathrin Taylor – diese Frau nicht leiden konnte. Sie ganz und gar nicht leiden konnte; sie hasste, sie verachtete und sie fürchtete. Da war immer noch irgendetwas an dieser Frau, irgendetwas in ihren Augen...

„Das wäre wirklich freundlich von Ihnen.“, hörte sie sich plötzlich tonlos sagen und sie spürte, wie sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen legte. Was war denn nun passiert? Sie hatte das doch gar nicht sagen wollen. Ein Schrei ballte sich in ihrer Kehle zusammen, erstickte jedoch sogleich wieder und schaffte es nicht bis an die Außenwelt. Die Stille im Klassenzimmer schien sich gemeinsam mit dem trüben gelben Licht des Gewittertages verdichtet zu haben und sie zu ersticken. Ihr Kopf begann zu schmerzen, ihr Herzschlag beschleunigte sie sich und ihre Handflächen, die eben noch warm und trocken waren, wurden mit einem mal kalt und begannen zu schwitzen. Und nun wusste sie, was es war, das sie so beunruhigte. Christel wusste alles! Sie wusste ganz genau, dass das junge Ding vor ihr, das wie erstarrt an einem der schmalen Holztische saß, sich nicht entschließen konnte zu fliehen, jedoch auch nicht, bleiben zu wollen. Sie musste Kathrins Angst sehen, sie riechen, sie spüren, ja vielleicht sogar schmecken, denn während sich die Teenagerin immer mehr damit abmühen musste, sich zu beruhigen, legte sich ein zuckersüßes Lächeln auf die Züge der alten Frau, die schon wieder jünger geworden zu sein schien und deren Haar schon wieder zu pulsieren schien, doch Kathrin war sich nicht sicher, ob sie das wirklich sah, oder ob das nur an ihren Kopfschmerzen lag. Langsam richtete sich Christel ein wenig mehr auf, schloss einen Moment lang die Augen und atmete durch die Nase tief ein und nach einigen schier endlosen Sekunden auch wieder aus. Dieser groteske Anblick einer sonst strengen und verhassten Lehrerin, die nun beinahe schon wie in der Blütezeit ihres Lebens auf dem Pult thronte, erweckte beinahe den Eindruck, als würde sie in wundervollen Erinnerungen schwelgen, doch lange währte diese idyllische Ruhe im Klassenzimmer nicht, in der Kate wieder einmal bemerkte, dass draußen außer dem Donner, dem Rauschen des Regens und dem Rauschen der Blätter nichts zu hören war, wenn man mal vom gelegentlichen Trommeln dicker Tropfen an die Fensterscheiben absah, doch viele Tropfen waren es nicht, da das Dach der Schule an allen Seiten ein wenig überlappte und somit den Regen von den teils undichten Fenstern fern hielt. Besonders im Winter pfiff durch jede noch so kleine Ritze der schneidende Eiswind und selbst im Klassenzimmer mummeln sich dann alle Schüler in ihre dicken Mäntel ein, um sich vor den unsichtbaren Klingen der Natur zu schützen. Nur nicht Christel. Egal zu welcher Jahreszeit, sie trug nie einen Mantel und schien auch keine Kälte zu verspüren. Merkwürdig, über was man alles nachdenkt, wenn es mal still ist, ging es Kate durch den Kopf und sie hätte beinahe gelacht. Ihr Instinkt schrie sie an, aus dieser Schule zu verschwinden, davon zu rennen und sich in Sicherheit zu bringen, doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht. Sie musste einfach hören, was ihr Frau Wegener über dieses Haus erzählen konnte, in das sie und ihre Freunde morgen einsteigen würden, um ein paar Mutproben abzuziehen. Besonders Jonathan fieberte diesem Ereignis schon entgegen, denn wenn er 3 von 5 Mutproben bestehen sollte, würde er sich endlich gleichauf mit Rayne und allen anderen aus der Gruppe sehen dürfen. Selbst Kathrin hatte diese dummen Mutproben schon hinter sich gebracht und es waren teilweise wirklich eklige Vorschläge gekommen, die sie letztlich nur durchgezogen hatte, weil sie dazugehören wollte und nicht mehr immer nur als „das Mädchen“ in der Gruppe bekannt sein wollte. Sie war mehr als nur ein Mädchen, verflucht! Sie liebte Rayne abgöttisch, doch ihr Stolz ließ nicht zu, dass sie das zu ihm sagte oder in ihr Tagebuch schrieb. Ganz egal, wie sehr ihr Herz auch wimmerte und weinte, sie gab nicht nach. Wer zu einer Jungsbande gehören wollte, durfte sich halt nicht verlieben, so waren die Regeln. That's life, Babe. Not easy, but...

Sie wusste nicht, wie lange sie vor sich hin geträumt hatte und ob Christel wieder etwas gesagt hatte, denn durch die dicken Wolken drang immer nur das selbe gelbliche Licht, das einen an eine Beerdigung denken ließ. Ganz egal, wie hoch oder niedrig die Sonne stand. Erst, wenn die Sonne ganz untergegangen sein würde, würde sie etwas bemerken können, denn dann würde es stockfinster sein und spätestens dann würde sie hysterisch anfangen zu schreien und zu weinen, wenn sie dann noch hier sein sollte. Sie wusste es ganz genau und auch Christel wusste es. Sie beide saßen hier in dem einvernehmlichen Abkommen, dass sie sich über das Manson-Haus unterhalten würden, auch wenn es vielleicht den Geisteszustand von Kathrin ziemlich durcheinander wirbeln könnte. Sie wäre nicht der erste Fall, der dank diesem Haus in die Irrenanstalt wandern könnte, also würde es diese königlich auf dem Pult thronende alte Hexe sowieso nicht wundern, wenn Kate hier im Verlauf der Geschichte in Krämpfen zappelnd mit Schaum vor dem Mund von ihrem Stuhl auf den Boden kippen würde. Sie hatte das alles schon mehr als einmal gesehen und schon mehr als einmal hatte sie irgendwelchen Eltern ihr Beileid bekundet, wenn die Kinder an ihrem eigenen Speichel oder ihrem eigenen Erbrochenen erstickten. Natürlich wagte es niemand, ihr Vorwürfe zu machen, doch sie wussten alle, dass Christel Wegener immer nur zusah, was mit den Sprösslingen der Bewohner geschah, wenn sie am Boden lagen. Manche erstickten, manche nicht, und darauf Wetten abzuschließen machte doch viel mehr Spaß, als diese zappelnden Würmchen in die stabile Seitenlage zu bringen, damit sie nicht ersticken. Einige von ihnen waren an diesem Punkt bereits geflohen; hatten sich irgendwie aus der bittersüßen Umklammerung ihrer jugendlichen Neugierde und Furcht befreit und waren nach Hause zu ihren Eltern gelaufen, um ihnen zu berichten, dass ein Monster in der Schule sei, doch niemand glaubte seinen Kindern solche Geschichten. Christel Wegener, die so viel für das Dorf getan hatte, konnte doch nicht böse sein. Sie hatte ihre Freizeit geopfert, um mit den Einwohnern etwas außerhalb des Dorfes eine kleine Bücherei und eine Kirche zu bauen und sie selbst hatte dem Altar aus massivem weißen Marmor den letzten Schliff gegeben. Niemand stellte Fragen als sie aus Versehen den ersten Marmorblock so grob bearbeitete, dass er nicht mehr zu gebrauchen war, oder als 3 der Männer, die am Bau beteiligt wurden, von der herabstürzenden schweren Kirchturmspitze erschlagen wurden als sie mit einem anderen Mann oben stand und gerade angewiesen worden war, die Spitze gerade zu halten, während der Mann Hammer und Nagel zur Hand nahm, um alles zu fixieren. Feuchte Handflächen, hatte sie gesagt. Jeder im Dorf wusste, dass auch der schmächtigste Knilch mit klitschnassen Handflächen die Kirchturmspitze hätte halten können, weil die raue und noch nicht mit Schieferplatten verkleidete Dachpappe einem mehr als genug Halt bot, doch keiner fragte nach. Ja, sagten sie alle. Tragisch, doch es kann passieren, sagten sie. Und Christel war zufrieden.

Das alles geschah lange Zeit vor Kathrins Geburt und auch lange vor der Geburt ihrer Eltern. Christel lebte schon an diesem Ort, bevor die kleine Siedlung „Darkwood“ erbaut wurde, die später zu einem Dorf ausgebaut wurde, das man „Darkwoods River“ taufte. In den Jahrzehnten, in denen nur die Siedlung existierte, gab es lediglich ein schmales Rinnsal Wasser im Wald, doch mit den Jahren wurde ein breiter Graben vom Wasser ausgeschwemmt und aus dem kleinen Rinnsal, aus dem sich Rehe und andere Tiere gerne einen Schluck frisches Quellwasser gönnten, wuchs ein breiter Fluss mit einigen tückischen Stromschnellen weiter stromabwärts heran. So erhielt das Dorf seinen Namen und von Anfang an war Christel Wegener dort. Schon immer unterrichtete sie die Kinder und schon immer gab es Fälle von sterbenden Kindern und Jugendlichen in ihren Klassen, doch es gab für Menschen ein schönes Sprichwort, das ihnen das Leben so unglaublich einfach machte. >Wo kein Richter, da kein Henker<

Sicher, diese Redewendung mochte stimmen, doch es wäre für viele Menschen besser gewesen, wenn sie die Zeichen frühzeitig erkannt und etwas gegen das drohende Unheil unternommen hätten. Heute war es zu spät und wieder hatte Christel eine Generation Nachkommen der Gründer von Darkwood zu unterrichten. Und nun war sie mit Kathrin alleine...

Als Kate wieder richtig bei sich war und den Kopf hob, bemerkte sie, dass Christel ihren Dutt gelöst hatte und ihre Haare nun offen trug. Wie sie sich gedacht hatte, umrahmten die nussbraunen Haare in leichten Wellen das Gesicht der strengen Lehrerin, die erstaunlich jung aussah. Kathrin schob es auf das Dämmerlicht und den Gelbstich in selbigem, dass sie darin keine grauen Strähnen mehr erkennen konnte und dass Christel plötzlich Mitte Zwanzig, maximal Anfang Dreißig zu sein schien. Bevor sie ihrem Entsetzen über die stetige Verjüngung dieser Frau Ausdruck verleihen konnte, erhob diese bereits das Wort und schlug ein Bein über das andere. Waren ihre Beine eigentlich heller geworden? Kathrin kam es jedenfalls so vor, als sei die Haut unter dem Nylon plötzlich straffer, jünger, heller. Makelloser.

~Wir trudeln gemeinsam Richtung Wahnsinn, wie klingt das für dich, Süße? Steigere dich noch wenig mehr in die ganze Angelegenheit hinein und dann schauen wir doch mal, ob du nicht auch bald deine Runden in einer weißen Jacke drehen darfst. Oooh, das wird TOLL sein! Sie werden dich alle liebe, Kate! Oh, Katy, Katy, Katy, sie werden dich LIEBEN!~

Wieder schlug die Hysterie ihre scharfen kalten Klauen in Kathrins warmes Fleisch und am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, doch erneut brachte sie keinen Laut hervor. Jedenfalls keinen, der ihrer derzeitigen Furcht und Beklemmung Ausdruck verleihen könnte, außer jemand fühlte sich im Stande, aus dem trockenen Krächzen, das aus ihrer Kehle drang, eine innere Hysterie zu schließen. Christel konnte das und sie genoss es. Einen Augenblick lang beobachtete sie, wie sich Kate unbehaglich auf ihrem Stuhl zu winden begann, wie eine Maus, die von einer Katze am Schwanz gepackt wurde, dann atmete sie erneut durch die Nase tief ein und aus und summte kurz eine kleine Melodie, die niemals von einem geistig gesunden Lebewesen stammen konnte. Eine irre Melodie, die den Wahnsinn an die Hand nehmen und ihn küssen könnte, wenn Kathrin es zuließe, doch sie zwang sich zur Ruhe. Es dauerte einige Momente, bis sie sich endlich wieder unter Kontrolle hatte und ihr Herz nicht mehr so schmerzhaft gegen ihre Rippen pochte, was allerdings kein Fortschritt war, der Christel gefiel. Sie wollte Angst in den Augen des Mädchens sehen und keine sture Entschlossenheit. Nun gut, wenn sie es nicht anders haben wollte, dann sollte sie eben über die rein visuelle Phase hinaus kommen und die Geschichte hören, die sie hören wollte. Die Geschichte der Villa von Eric und Jessica Manson!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-09-22T12:05:54+00:00 22.09.2012 14:05
der helle wahnsinn *-* das kapitel ist verdammt geil
mein armes altes herz, ich fiebere richtig mit ^-^
mach weiter so, ich liebe deinen schreibstil^^ aber es war auch nicht anders zu erwarten wie du schreibst^^ deine texte sind IMMER der hammer!


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