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Rote Dämmerung

Wir sind, was wir waren
von

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Eine Nacht im Licht des Wahnsinns

Kommentar: Nachdem das letzte Kapitel ein bisschen weniger direkt war, stürzen wir uns nun in die Konfrontation. Ich biete Popcorn an. Außerdem sollten so langsam Muster und Struktur in der Geschichte zu erkennen sein. Hoffe ich zumindest, denn ansonsten verfehle ich meine Botschaft.
 

Auf in den Kampf.
 

mangacrack
 

xxx
 

::Kapitel 12 – Eine Nacht im Licht des Wahnsinns::
 

Die Morgensonne schwebte galant an den Wolkenkratzern des Himmels vorbei, als Raphael die unebenen Stufen der Kirche wieder herunter stieg. Im Licht des Tages wirkte das Gebäude wenig einladend, sondern alt und rau. Die Gemäuer waren Zeugen seiner Sünden, die er in dessen Hallen begangen hatte. Keine Seele wagte sich um diese Tageszeit nach draußen, um den morgendlichen Patrouillen zu entgehen, die von den nächtlichen Unruhen zurückkehrten. Damit wurde häufig das Blut der Toten auf den Panzerrädern über die Straßen verteilt. Selbst Fleischklumpen fand man zurückgelassen in der Fahrspur liegend.
 

Raphael drehte sich angeekelt weg, als er dem blutigen Match vorlief. Den Anblick von Blut war er gewöhnt, aber er versuchte sich gegen das Bild der hilflosen Engel der dritten Klasse zu wehren, die von den Geschützen überrollt wurden. Denn sie hatten keine Flügel, mit denen sie hätten fliehen können. Stattdessen rief er den Wind zu sich, sodass sich über der Stadt graue Wolken zusammenbrauten, bis Regen niederprasselte. Widerwillig löste sich das Blut von dem Asphalt, um sich in großen Pfützen um die verstopften Abflüsse zu sammeln. Seine Hosenbeine verfärbten sich dunkel, als Raphael achtlos durch die Lachen schritt, die im Licht der Stadt hellrot schimmerten.
 

Fortwährend fallende Regentropfen ruinierten seinen Anzug, während Raphael auf seinem Weg jegliches Gefühl für die Zeit verlor.
 

„Raphael-sama, was tun Sie hier?“, fragte Barbiel, als er schließlich durchweicht und mit einem verklärten Blick vor der Klinik auftauchte.
 

Besorgt heilte die Ärztin an seine Seite, um ihm ein Handtuch um die Schultern zu legen. Geschickt prüfte Barbiel die Leistung von Raphaels Puls, als ihre Hände über seinen Hals fuhren um ihm die Haare auszuwringen. Nass und feucht klebten sie an seiner Haut, während die berühmten heilenden Hände sie blass und kalt gewähren ließen.
 

Als er sie nach einigen Minuten ihrer Fürsorge bemerkte, fragte Raphael-sama abwesend: „Welche Operationen stehen heute an?“
 

„Sie wollen tatsächlich arbeiten gehen“, stellte Barbiel fest.
 

Keinesfalls wollte sie dies als Frage stellen und suggerieren, dass sie seine Fähigkeiten Entscheidungen zu treffen anzweifelte. Ihr Herr hatte schon in vergangenen schwierigen Zeiten bewiesen, dass er widerstandsfähiger war, als man es ihm zutraute. Außerdem ermöglichte ihm dies sich auf andere Dinge zu konzentrieren, anstatt in einem abgedunkelten Raum in seine Trauer zu ertrinken. Nicht, dass es Barbiel gefallen würde, das Leben anderer so aufs Spiel zu setzen, aber – so sagte sie sich – konnte sie Raphael-sama überwachen.
 

„In Ordnung“, sagte sie „ich lasse Ihnen die Liste mit den neuen Patienten zukommen.“
 

Barbiel haderte mit sich, Bedingungen daran zu knüpfen oder ihrem Drang nachzugeben, Raphael-sama überhaupt nicht arbeiten zu lassen. Letztendlich fürchtete sie seine Reaktion, sollte sie ihn zu sehr anzweifeln. Um die merkwürdige Stille zu füllen, begann Barbiel die Kranken aufzulisten, die in den letzten Tagen eingeliefert worden waren. Tod und Krankheit wurden nicht von aufgerufenen Feiertagen aufgehalten.
 

„Vielen Dank, Barbiel. Das wäre dann alles“, sprach Raphael-sama, als sie geendet hatte.
 

Die Hand bereits an der Türklinke überkam es Barbiel beim Herausgehen, dass dies der Moment wäre etwas passendes über Michael zu sagen. Die richtigen Worte zu finden war schwer, aber den Alltag wieder aufzunehmen ohne ein Wort über ihn zu verlieren, brachte sie nicht fertig. Auch wenn es eine gängige Praxis im Himmel war, die sich im Ersten Großen Krieg etabliert hatte. Barbiel erinnerte sich gut an Folgen und die Strafen, die man sich für den Engelsnamen eines Rebellen hatte einhandeln können.
 

Michael-sama verdiente mehr, aber wie brachte sie die richtigen Worte heraus?
 

„Manchmal habe ich ihn mit Inbrunst gehasst, die mich selbst überraschte“, verließ es ihre Lippen, bevor sie es verhindern konnte.
 

Zum ersten Mal heute sah Raphael-sama sie aufmerksam an. Barbiel schämte sich für ihre Worte, beschloss nun aber, bei der Wahrheit zu bleiben.
 

„Es klingt so böse, dies kurz nach seinem Tod zu sagen“, gestand Barbiel. „Aber ich habe mir oft gewünscht, er würde sich bemühen, ein erträglicherer Zeitgenosse zu sein.“
 

Seltsam, dies rang Raphael ein Lächeln ab.
 

„Viele werden diese Ansicht teilen. Michael ist nicht ... war nie...“, korrigierte sich der Windengel „...zuvorkommend oder rücksichtsvoll. Eher selbstsüchtig, wütend und unversöhnlich. Ich habe Momenten erlebt, in denen er selbst mir Angst machte.“
 

„Angst? Ihnen?“, fragte Barbiel.
 

Raphael-sama kämpfte zwar im Alltag mit Unsicherheiten und mit Furcht, allerdings bloß vor sich selbst. Seine politischen Bewegungen hingegen wurden immer von Bestimmtheit getrieben. Angst kannte sie von ihrem Herrn nicht, nur ruhigen Intellekt.
 

„Ja. Immer“, löste sich ein Geständnis von den Lippen „Wer Michael nicht fürchtete, hat ihn nicht gut gekannt.“
 

Natürlich, wenn man das Argument von dieser Seite aus betrachtete …
 

Sie konnte sich den Angst einflößenden Michael-sama in Erinnerung rufen. Gkleidet in Schwarz, mit langen ungekämmten Haaren und verhüllt in einem rotbraunen Umhang, den man in der Wüste nicht sah, so hatte sie ihn oft nach Jahren bei seiner ersten Rückkehr von dem Grenzland hier angetroffen. Einer dieser Tage, an denen Michael-sama beschloss, nicht ein Fenster weg zu sprengen, sondern die Tür zu benutzten.
 

Das hatte ihr stets Unbehagen bereitet, weil Barbiel dann immer mit dem Befehl rechte, ihm zu folgen und zurück in den aktiven Dienst berufen zu werden.
 

Die Militärärztin rettete sich aus dem Büro, bevor sie auch noch dies vor ihrem Herrn beichtete und ihm erzählte, dass sie nicht wusste, was sie in dem Fall dieses speziellen Befehls getan hätte. Sich dem Kommandanten widersetzen, der ihr einst aufgetragen hatte Raphael-sama wenn nötig mit ihrem Leben zu beschützten oder dem Befehl gehorchen?
 

Erleichterung breitete sich in Barbiel aus. Mit Michaels Tod wurde diese Frage hinfällig.
 

Jetzt würde sie niemals von Raphael-samas Seite rücken.
 

-
 

Gespenstige Stille breitete sich in den Büroräumen für die Angestellten des Himmelspalastes aus. Bis auf die permanent eingerichteten Notfalllichter war die Umgebung nicht beleuchtet und Raziel erschauderte bei dem Anblick der Leere. Er kannte diesen Ort als Lebensraum für eifrige oder überarbeitete Angestellte des Himmelspalastes. Kaum ein Engel konnte sich darauf vorbereiten, dass dieser Ort häufig die Spitze der Karriereleiter bedeutete. Trotz all des harten Arbeitens kam man selten näher an die Hohen Engel heran. Noch immer verwirrte es Raziel, dass inzwischen er selbst als ein Engel mit guten Beziehungen angesehen wurde. Inzwischen verneigten sich vor ihm dieselben selbstherrlichen Beamten, die ihn vor dem Dritten Großen Krieg noch als Schmutz unter ihrem Schuh betrachtet hatten.
 

Wichtiger war Raziel allerdings das Recht diese Räumlichkeiten zu betreten, wann er wollte. Natürlich war dies nicht sein eigenes Tun. Es war Jibrils Schatten, der für seine neue Freiheit verantwortlich war. Genauso wie für die Verantwortung zu jeglichen erdenklichen Zeit Dokumente besorgen zu müssen, wenn seine Herrin danach verlangte.
 

Ein unerwartetes Geräusch ließ Raziel von den Akten aufblicken.
 

„Hallo?“, rief er vorsichtig, die Mittelgänge mit seinen Augen absuchend. „Ist hier jemand?“
 

Ein Schatten bewegte sich am Rand der Lichtkegel entlang und erstarrte als Raziel seine Frage stellte.
 

„Brauchen Sie etwas?“, erkundigte sich Raziel und schritt auf den Unbekannten zu, in der Annahme es würde sich dabei ebenfalls um einen Vertreter einer hohen Persönlichkeit handeln.
 

Während Raziel sich seinen Weg durch die Reihen der Schreibtische bahnte, überkam ihn Argwohn. Der Fremde hatte sich weder bewegt noch geantwortet. Einen Moment lang herrschte vollendete Stille, selbst Raziels Schritte wurden von dem dicken Teppichboden geschluckt.
 

Bis sich der Unbekannte rasant umdrehte, um im Schatten in Richtung Ausgang zu rennen.
 

„Stehenbleiben“, forderte Raziel den Flüchtling auf. „Erklären Sie ihre Anwesenheit!“
 

Dank seiner Ausbildung war es ihm möglich, seine kurzen Beine durch Wendigkeit wett zu machen. Während der flüchtende Engel zudem noch jegliches Licht mied um nicht entdeckt zu werden, konnte Raziel durch die engen Reihen zwischen Büromöbeln an kostbaren Metern gewinnen. Im Zickzack zischte er an Aktenstapeln und Stühlen vorbei, um dem Eindringling an der Tür den Weg abzuschneiden.
 

Es gelang ihm tatsächlich, Raziel erreichte den Ausgang rechtzeitig.
 

Doch zwischen den Atemzügen, in denen er instinktiv einen sicheren Stand einnahm, griff Raziel in ein leeres Waffenhohlster. Natürlich.
 

Er hatte seine Pistole am Eingang beim Wachmann abgeben müssen, weil der Himmelspalast nur Hohen Engeln erlaubte sich innerhalb der Regierungsgebäude zu bewaffnen. In dem Fall schwachsinnig, da Hohe Engel keine Pistole brauchten, um nach Bedarf mutwillige Zerstörung anzurichten.
 

So stand Raziel nun unbewaffnet da.
 

Entschlossen den Einbrecher trotzdem nicht passieren zu lassen, hob er seine Fäuste und wartete mit Unbehagen auf den unvermeidbaren Kontakt. Ohne seine Dienstwaffe hatte sich Blatt eindeutig gegen ihn gewendet, denn beim Näherkommen erkannte Raziel eine kräftige, hochgewachsene Gestalt. Schultern wurden durch den schwarzen Mantel breiter, der Körper größer und furchteinflößender.
 

Raziel erinnerte sich in diesem Moment daran, dass er trotz aller hilfreichen Tipps von Zaphikel-sama nie ein Krieger werden würde.
 

Dass ihm die grundsätzliche Bereitschaft instinktiv Gewalt anzuwenden schwerfiel, wurde wieder deutlich, als der Eindringling seine Offensive mit einem zielstrebigen Faustschlag begann. Die Wucht ließ Raziel am ganzen Körper erzittern, als sein Arm in Abwehrhaltung auf die heran fliegende Faust traf. Sein Körper bot nicht viel Masse, die er als Gegengewicht oder als Basis für irgendeine Art von Widerstandskraft hätte einsetzen können. Er war noch dabei sich zu erholen, als bereits der nächste Schlag folgte. Sowie der Nächste. Und der Nächste. Wütend drosch der Eindringlich auf Raziel ein, der zum Glück genug Zeit auf der Militärakademie verbracht hatte, um seinen Kopf zu schützen.
 

Leidlich machte er in diesen Sekunden allerdings die Erfahrung, dass seine bisherigen Begegnungen auf Strategien aus einer sicheren Zentrale, Laserwaffen oder Überraschungsangriffen bestanden.
 

Nie zuvor war er ernsthaft im Nahkampf getestet worden. Nicht gegen einen anderen Engel – der Rachefeldzug für Zaphikel-sama zählte nicht. Dort hatte er immer zuerst geschossen und war nie das Risiko eingegangen, dass seiner Gegner zum Gegenzug kämen würden,
 

Überlebensinstinkte setzen dennoch ein. Lange Stunden hatte er mit dem Observieren zugebracht, also viel Raziel auf, dass sein Gegner zwar kampferfahren, aber körperlich nicht trainiert war.
 

Ein älterer Soldat vielleicht, vermutete Raziel. Auch, wenn die Statur und die schemenhaften Gesichtszüge auf eine jüngere Person hindeuteten. Dennoch, er will den Kampf schnell beenden.
 

Raziel reagierte, indem er seine Haltung änderte. Seine Handflächen formten sich zu Schalen welche begannen, die Fäuste abzufangen und sein Körper passte sich den Bewegungen seines Gegners an, um die Wucht des Aufpralls abzufangen. Fast lautlos trafen sich ihre Hände im Dunkeln. Während Raziel sich darauf konzentrierte, den Kampf hinauszuzögern, erhöhte sich die Aggressivität seines Gegners. Die unterschwellige Wut war tief in den Schlägen zu spüren und immer öfter wurde Raziel an die Wand getrieben. Es ging solange gut, bis er einen Moment länger brauchte, um seinen Bauch zu schützen.
 

Die Reaktion war anders, als Raziel sie von Training gewohnt war. Mit einem Schlag war zu rechnen, selbst mit einem sehr heftigen Schlag, aber sein Gegner war schnell, aggressiv und ließ keinen Spielraum zu.
 

Als ihm die Luft aus dem Körper gedrückt wurde, glaubte Raziel anstatt einer Hand Metall zu spüren, aber das mochte auch die Wirkung des Hiebes sein. Blind für einen Moment und desorientiert, wurde Raziel an seinen Haaren herumgerissen und mit dem Gesicht gegen eine harte Oberfläche geknallt. Noch röchelnd und mit Schmerzen in der Kehle wurde er zurück gerissen, ehe die Schreibtischkante wieder auf ihn zuraste. Raziel zählte nicht wie oft sein Kopf auf dem Holz aufschlug, doch jedes Mal glaubte er, dass die Wucht dieses Mal tödlich für ihn enden würde.
 

„W...öhr...en...itte“, drang es aus Raziel wie ein Winseln hervor.
 

Sein Gegner hatte innegehalten, aber ihn noch nicht losgelassen. Derzeit legten sich die Finger eines Handschuhs fest um seine Kehle. Von der körperlichen Schwäche, die Raziel vermutete hatte, war nichts mehr zu merken. Gewalt durchfloss die Aura des Unbekannten und sie leuchtete im Dunkeln wie Feuer in der Nacht.
 

Eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihm und dem gewalttätigen Eindringling aus, der nun klar und deutlich die Oberhand hatte. Raziel rang nach Luft und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Er hoffte einfach, dass sein Gegner ihn jetzt fallen lassen und die Flucht ergreifen würde. Dennoch lösten sich die Finger um seine Kehle nicht.
 

Stattdessen begann die andere Hand über seinen Körper zu wandern.
 

In Raziel wurde es kalt. Er hatte nicht mal die Kraft sich zu versteifen. Indessen kamen die Erinnerungen an den Ort seiner Kindheit zurück, wo er wie ein lebloses Stück Fleisch von Händen und Nadeln untersucht wurde.
 

Mögliche Szenarien stiegen vor seinem inneren Auge auf, als er dichter an den größeren Körper gezogen wurde. Noch immer lagen die Finger strickt um seinen Hals, doch jetzt drückten sie seinen Kopf zur Seite und offenbarten seine Kehle. Während ein Fuß in im Ungleichgewicht hielt und die tastende Hand seinen Körper absuchte.
 

Sich auf das Schlimmste vorbereitend, hielt Raziel den Atem an.
 

„Was haben wir denn hier?“, sprach sein Angreifer zum ersten Mal.
 

Leise zwar, aber klang er eindeutig erfreut. Dabei richtete seine Aufmerksamkeit sich nicht einmal auf Raziel. Der Engel versuchte nach links zu linsen und sah seine Zugangskarte im Licht der Neonröhren schimmern.
 

Er ist also nicht an mir interessiert, dachte Raziel und begriff seine eigene Erleichterung kaum.
 

Auch, dass er zu Boden sackte, weil sein Angreifer ihn losgelassen hatte, realisierte Raziel kaum. Eben war seine einzige Angst noch gewesen, was sich die Angestellten über Übergriffe ihrer Vorgesetzten erzählten.
 

Am Rande bemerkte er, wie der Eindringlich jetzt zu ihm sprach: „Nun, ich sollte mich vielleicht für die Umstände entschuldigen. Aber diese Karte macht den Ärger hier immerhin wett. Zugang Level drei, ich bin entzückt. Sicherlich wird man dir dank deines Zustands schnell eine Neue ausstellen.“
 

Die Worte durchdrangen nur allmählich Raziels Geist. Über ihm wandelte sich die gewalttätige Aura zurück in etwas, das mit den Schatten verschmolz. Für eine Sekunde erlaubte das Licht ihm einen Blick das Gesicht des Engels über ihm zu werfen.
 

Entsetzen durchdrang Raziel, als er silbernes Haar vor seinen Augen schimmern sah.
 

Sevothtarte...?
 

Unmöglich. Von Angst erfüllt und nicht in der Lage sich zu bewegen, harrte Raziel aus. Er blinzelte, um das Gespenst aus seinen Gedanken zu verdrängen. Nur schwerlich gelang es ihm. Zu tief saßen die Narben in seiner Seele fest.
 

Jetzt beugte sich der Engel mit Sevothtartes Gesicht über ihn. Der Schuh drückte in seine Magengegend und wieder kam in Raziel die Angst auf, er würde wieder mit Fingern auf seinem Körper rechnen müssen.
 

„Ich empfehle mich“, flüsterte der unbekannte Engel.
 

Fremde, bleiche Lippen beugten sich zu ihm herunter und verzogen sich zu einem wissenden, unheimlichen Grinsen.
 

„Raziel...“
 

Noch lange blieb ein bitterer Nachgeschmack in seinem Mund hängen, als die Schritte auf dem Teppichboden verklangen und Raziel benommen liegen blieb.
 

-
 

Vorsichtig ließ er die Finger seiner gesunden Hand knacken. Das künstliche Metall anstelle seines rechten Arms hingegen summte leise. Die Schaltkreise hatten sich während des Kampfes erwärmt und warteten auf einen weiteren Einsatz. Aber er bezweifelte, dass er nochmal auf unerwarteten Widerstand stoßen würde.
 

Seine Gedanken glitten zurück zu dem … dem Kind.
 

Ein bisschen tat er ihm ja schon Leid, ihn so zugerichtet zu haben, aber er würde sich ja schließlich erholen. Das erste Mal war immer hart und der Junge hatte das Glück, dass es nicht auf dem Schlachtfeld gewesen war.
 

Thorongil betrachtete die Zugangskarte in seinen Händen. Sie war Gold wert. Eine Level Drei, damit waren nur noch die Regierungsmitglieder und die Hohen Engel über ihm. Sehr nützlich und ein unerwarteter Glücksgriffs.
 

Die Frage war nur: Sollte er sie sofort benutzten?
 

Seine Zeit wurde knapp, er war bereits entdeckt worden. Wenn es auch unwahrscheinlich war, dass der junge Engel allzu bald aufgefunden werden würde. Aber jemand würde ihn vermissen. Oder ihn finden. Eine Garantie, dass die Karte sofort funktionieren würde, gab es auch nicht. Nein, besser er sah sich das Ding in Ruhe an. Außerdem könnte Beniguma sicherlich die letzten Login-Daten aufrufen oder andere kleine Nettigkeiten, die ihm sagen würden, für wen Raziel arbeitete.
 

Thorongil warf einen Blick über seine Schulter.
 

Sicherlich hatte er diesen kleinen Bengel nicht zum letzten Mal gesehen. Der Drang ihn zu entführen und auszubilden war groß gewesen. Hoffentlich begegneten ihm keine Wachen auf dem Weg nach draußen. Ihm war danach, ein paar Kehlen bluten zu lassen. Schließlich waren alte Instinkte nicht leicht in den Griff zu bekommen.
 

Nie würde „Raziel“ erfahren, wie knapp er dem Tode entronnen war.
 

-
 

„Raziel...“, rief eine weit entfernte Stimme seinen Namen „Raziel, wach auf.“
 

Seine Augen flatterten. Vor ihm tanzten Schatten, in einem kleinen Lichtkegel war eine Frau zu sehen.
 

„Raziel“, erklang die Stimme nun bestimmter „das ist ein Befehl.“
 

Mit Anstrengung fokussierte sich sein Blick. Blaue Augen rückten in sein Gesichtsfeld. Augen einer Frau mit Haaren, die so dunkel waren, dass sie dem Nachthimmel oder dem Meeresgrund glichen.
 

„Jibril-sama...?“
 

Hände fuhren über sein Gesicht und Raziel schloss die Augen. Selbst als sie seine Kleidung entfernten, reagierte er nicht.
 

-
 

Wachsame Stille herrschte, als sich zwei Dämonen vorsichtig ihren Weg zu Fuß über die karge Landschaft bahnten. Hinter ihnen folgte eine kleine Delegation als Wachschutz, doch im Grunde genommen konnten nur die zwei Satane im Ernstfall schnell genug sein, um den spuckenden Lavaseen zu entkommen. Dennoch war das kein Anlass zur Heiterkeit.
 

Astaroth ging nur mit einem halbwegs sicheren Schritt voran.
 

Auch Mad Hatter schwieg.
 

Nicht einmal Spielkarten konnten den Erzdämon ablenken und Streitgespräche zwischen ihnen waren schon lange nicht mehr von ihren Lippen gedrungen. Nur von den deformierten Dienern hinter ihnen war hin und wieder ein Winseln zu hören. Zu so einem Laut hätten sich die Erzdämonen nie herabgelassen, auch wenn ihnen danach zu Mute war.
 

Der Ort war ihnen unangenehm. Hoffnungslosigkeit schien sie nach unten zu ziehen, sodass fliegen unmöglich war. In der Ferne erklangen immer wieder ein Grollen und ein Stöhnen. Naivere Geister hätten dies für die Bewegungen der Erdplatten gehalten, aber die Erzdämonen wussten es besser. Unter ihnen befand sich die die letzte Schale der Hölle, der Boden von Sheol. Dabei war es keineswegs der tiefste Ort, an dem man gelangen konnte. Nein, sie liefen lediglich auf dem Dach eines Gefängnisses.
 

Einst hatte Gott die Urdämonen hier eingeschlossen, um anschließend den Zugang zu zuschütten.
 

Angeblich waren sie fieser und grausamer, als irgendeine andere Seele in der Hölle. Wieder andere Stimmen behaupteten, dass die Urdämonen einst dem Schöpfer geholfen hatten, die Welt zu errichten und wegen ihres verbotenen Wissens eingesperrt worden waren.
 

Damit sie niemandem davon berichten konnten und der Schöpfer allein regierte.
 

Soweit die Gerüchte. Nie war jemand freiwillig gekommen, um zu überprüfen, ob sie der Wahrheit entsprachen. Selbst die widerwärtigsten Dämonen und die Satane mieden diesen Ort. Ansonsten hätten sie kaum in der Abwesenheit ihres Lords Luzifer alles daran gesetzt, den Zugang verschlossen zu halten.
 

Tausende unschuldige Opfer hatte es dafür gebracht. Einen Preis, den die Satane gerne gezahlt hatten.
 

Astaroth blieb an einer Klippe stehen.
 

Mad Hatter beugte sich über seine Schulter und blickte auf den See aus Orangen unter ihnen. Er hatte etwas Unheimliches, dass selbst einem Gefallenen die Nackenhaare in Angst aufstellen ließ.
 

„Ist es das?“, fragte der Hutmacher für seine Verhältnisse fast zaghaft.
 

Nickend meinte Astaroth: „Weiter will ich nicht gehen. Es muss genügen. Je tiefer wir in die Ebene eindringen, desto dünner wird die Masse zwischen uns und den Titanen.“
 

Gerne würde Mad Hatter Astaroth nun heftig nickend beipflichten, aber zu so vielen Gefühlen sollte sich ein Erzdämon nicht herablassen. Dennoch hätte sie gerne gewusst, ob Astaroth auch dieses unangenehme Jucken auf der Haut verspürte. Wahrscheinlich nicht. Astaroth schien von diesem Ort kaum aus der Ruhe gebracht zu werden. Also schob der Hutmacher es auf die kürzlichen Berührungen mit den reinen Luftschichten des Himmels, die er im Dritten Krieg eingeatmet hatte. Sicherlich erweckte das jetzt nachträglich alle Instinkte.

Astaroth trat einen Schritt zurück, um Mad Hatter Platz zu machen.
 

„Ich habe dich hergeführt. Jetzt tu dein Werk.“
 

„Als ob ich mich so wahnsinnig gut mit Zauberkunst auskenne“, maulte der Hutmacher, begann aber seine Spielkarten zu mischen. „Das war immer Balberos Ding.“
 

„Einerseits ist das dein ehemaliger Vasal, den wir beschwören sollen und andererseits beruhte Balberos Macht vornehmlich darauf, dass sie die Hälfte ihrer Gefolgschaft selbst geboren hat“, höhnte Astaroth. „Sie hat für alles die Beine breit gemacht. Angeblich hat sie bereits vor dem Fall damit angefangen.“
 

Immer spitz auf Spötteleien, drehte sich Mad Hatter neugierig zu Astaroth um.
 

„Glaubst du, da ist was Wahres dran?“, kam die Frage. „Dass sie selbst unseren Herrn und Meister verführt hat?“
 

Der andere Erzdämon zuckte bloß mit den Schultern.
 

„Zwar hat Balbero genügend Monster zwischen ihren Beinen hervor gepresst, aber da war nie einer dabei, der von Luzifers Blut hätte sein können. Nicht einmal an Prinz Abbadon kamen sie heran und dessen Vaterschaft ist wohl bekannt.“
 

Beruhigt, dass Balbero nie das fertig gebracht hatte, was Mad Hatter sich ihr Leben lang erträumt, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Spielkarten, die inzwischen über dem Lavasee tanzten und sich zu einem Pentagramm angeordnet hatten.
 

Dann begann das Ritual. Mad Hatters Worte hallten herrisch über die Ebene.
 

Während sich die kleineren Dämonen duckten, hielt Astaroth wachsam Ausschau nach Schaulustigen. Sie wollten weder gestört noch unterbrochen werden. Aber das Stöhnen und Grollen hatte sich entfernt, offenbar waren die Urdämonen mit wichtigeren Dingen beschäftigt.
 

Astaroth hatte dennoch damit gerechnet, dass sie behindert werden würde.
 

So erhob sich bald eine malträtierte Seele aus dem Lavasee. Zwischen Mad Hatters Spielkarten hing eine nackte Gestalt, deren Körper kaum mehr benutzbar war. Die Haut war weggebrannt und die Muskeln geschwärzt.
 

„Ist das die richtige Seele?“, fragte Astaroth.
 

Um die Regungslosigkeit machte er sich wenig Sorgen. Da man in den tieferen Gefilden der Hölle nicht sterben konnte, ließ sich mit ein wenig Zeit und Geduld jeder Geist wieder erwecken.
 

Mad Hatter ließ sich die Figur um die eigene Achse drehen, um sie genau zu inspizieren. Schließlich folgte ein Nicken und der Hutmacher ließ Arakune zu den niederen Dämonen schweben, die sofort damit begannen, den Körper zu reinigen und mithilfe von Magie wieder aufzupäppeln.
 

„Die richtige Seele ist es wohl, das ist die letzte Braut Luzifers“, sagte der Hutmacher „für den geistigen Zustanden übernehme ich aber keinerlei Verantwortung.“
 

-
 

Trotz der zunehmenden Dämmerung war Jibril in den vergangenen Stunden nicht von Raziels Seite gewichen. Blond und blass lag er in dem Bett, immer noch bewusstlos. Sie hatte ihn ausziehen, um seine Verletzungen zu behandeln lassen. Ihre Fähigkeiten reichten nicht an die von Raphael heran, aber als Engel des Wassers war sie dazu mächtig, Blutungen zu stoppen.
 

In Lebensgefahr war Raziel nicht gewesen, aber die Heilung würde schmerzhaft sein.
 

Gebrochene Rippen, faustgroße Blutergüsse in der Magengegend und eine Gehirnerschütterung waren fast zu viel für einen so schmächtigen Engel.
 

War das ein gezielter Anschlag? fragte Jibril sich. Hat man ihn wegen mir angegriffen?
 

Durchaus möglich. Wenn auch ihre politischen Gegner selten auf direkte Gewalt zurückgriffen.
 

Zumindest war das früher so, kam ihr die Erkenntnis. Das kann sich natürlich geändert haben. Es ist viel Zeit vergangen.
 

Was allerdings fehlte, war ein Motiv. Sie war sich niemandem bewusst, der einen Groll gegen Raziel haben könnte. Außer, dass dessen fehlenden Kampfesfähigkeiten zu einladend für den Angreifer gewesen waren. Sich an einem derartig Schwächeren zu vergreifen … ein Zeichen?
 

Jibril plagten Zweifel.
 

Sie hatte keine Aufzeichnungen über die Tat oder den Angreifer finden können. Wer so geschickt war, hinterließ selten derartig offensichtliche Spuren.
 

„Herrin?“
 

Eine Dienerin verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie hielt einen zerknüllten Zettel in den Händen.
 

„Den hier haben wir in Raziel-samas Kleidung gefunden. Er muss ihm Gefecht an sich gebracht haben.“
 

Mit großen Interesse nahm Jibril den Zettel entgegen und strich ihn vorsichtig glatt. Sie hörte gar nicht, wie die Dienerin verschwand, als sie den ersten Blick darauf warf.
 

Zwar war es nur ein Abschnitt eines Formulars, aber die Handschrift auf dem Zettel war unverkennbar.
 

„Michael...“
 

Jibril schlug eine Hand vor ihren Mund, teils aus Entsetzen teils aus Verwunderung.
 

„Was will die Armee mit Entlassungspapieren?“
 

Strudelförmig drehten sich ihre Gedanken um die Erkenntnis, die darauf folgte.
 

Seit wann lässt der Himmel gefallene Engel am Leben?



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Inzestprodukt
2013-08-20T08:11:53+00:00 20.08.2013 10:11
Also meine "ich rede nicht mehr mit dir"-Taktik trägt irgendwie keine Früchte, so ein Mist aber auch...

Ich bin jetzt nichts klüger geworden, eher noch dümmer das is echt kein schönes Gefühl XD'
Und ja klar an der interessantesten Stelle machst du den Cliffhänger <_<'
Antwort von:  Inzestprodukt
20.08.2013 10:12
Re: ich will, dass Astaroth und Belial was miteinander haben!
Antwort von:  mangacrack
20.08.2013 11:38
Den Wunsch kann ich dir sogar erfüllen. Ganz ohne Spoiler.


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