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Children of the Prophecy

Die Kinder der Prophezeihung
von

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20: [The IdolatrousExpressionismPunk]

20: [The IdolatrousExpressionismPunk]
 

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knien um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
 


 

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, sie Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
 


 

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
 


 

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.

-Georg Heyn, „Der Gott der Stadt“
 

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“Die Stadt – Ein von Menschenhand geschaffenes Paradies.”

“Aus dem Garten vertrieben ist der Mensch nun gezwunden, über diese unwirtliche Welt zu kriechen, an den Rand der Vernichtung gedrängt…

Geschaffen vom schwächsten aller Wesen… geschaffen mit dem Wissen, dass wir zusammengekrazt haben, um dieser Schwäche zu entfliehen …unser ganz eigener Garten aus Metall und Stahlbeton...“

„Ein Paradies, dass wir und erbaut haben, um uns vor Angst zu bewahren, und uns mit Freude zu erfüllen…? Diese Stadt ist sicherlich so ein Ort. Was ist schon das Paradies, wenn nicht ein Ort ohne Angst? Und genau das haben wir uns geschaffen. Eine wehrhafte Festung, voll mit Waffen, um uns vor den Feinden zu verteidigen…“

„Ein Monument der Feigheit, in das wir uns vor einer Welt voller Feinde verkrochen haben…“

„Es ist ein großer Vorteil, ein Feigling zu sein. Man lebt zumeist länger…. Neo-Tokyo-3, NERVs maskierte Zitadellen-Metropole… Nach fast einer Woche sind die Reparaturarbeiten endlich abgeschlossen, …wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig, damit der nächste Kampf alles gleich wieder umwerfen kann… Laut den Schriftrollen sollte sich der nächste Engel nicht mehr besonders viel Zeit lassen…“
 

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VIGILATE ET ORATE
 

ITAQUE QUIA NESCITIS DIEM NEQUE HORAM –
 

Nach gut einer Woche war von dem Spuren des letzten Kampfes, der diese Stadt in Trümmer gelegt hatte, nur noch vereinzelt etwas zu sehen – man musste schon wissen, wonach man suchte, um die letzten Imperfektionen, die Ansätze permanenter Narben ausmachen zu können, aber äußerlich war Neo-Tokyo-3 gänzlich zum Normalzustand zurückgekehrt, soviel Normalität die gegenwärtige Realität eben zuließ –

Die ganze Welt zitterte vor Furcht, also blieb es an den letzten Bewohnern, die in der gepanzerten Zitadelle namens Tokyo-3 ausharrten, diese Ängste herunterzuschlucken, als letztes Bollwerk gegen die Finsternis.

Sie mochten die Wahrheit verdrängen, aber wagten es nie, sie ganz zu vergessen – Jeder Schaltkreis, jedes Kabel, jedes Scharnier in dieser Stadt diente nur einem einzigen Zweck, nämlich Wache zu stehen an den Pforten des Himmels, zu wachen und zu beten, die Wachsamkeit nie auch nur eine Sekunde davongleiten lassen – auch deshalb war eine schnelle, reibungslose Reparatur ebenfalls imperativ gewesen: Schließlich konnten sie nicht wissen, wann genau die Verkörperunger der Apokalpse das nächste mal an ihre Pforten klopfen würden.

Sobals die Sonne begann, sich vom Horizont zu trennen, würde sie wieder komplett von neuem beginnen, die übliche, tagtägliche Matinee, dieses Theater der Normalität, der Herzschlag der Metropole, der die Menschen morgens aus ihren Häusern und den Kapilärchen kleiner Seitenstraßen über größere, sich ständig zu größeren Strömen vereinigenden Gefäße in die „Organe“ der Innenstadt saugte, nur, um sie dann nach und nach wieder zu entlassen, manche früh, manchmal spät, zurück in die Form, die sich dem Third Child derzeit jenseits des kleinen Fensters bot, das die Wand seiner privaten Räumlichkeit – mehr ein Kämmerchen als ein Zimmer – in der Form eines kleinen Rechtecks unterbrach.

Wenn er jetzt dort hinaus blickte, war das erste, was einem aufallen würde, der verschwimmende Wald aus Lichtern, deren dazugehörige Gebäude bereits als diffuse Schatten in die Nacht hineingeschmolzen waren.

Als er diese Stadt zum ersten Mal betreten hatte, war sie leer gewesen, und auch in den darauf folgenden Wochen hätte er genau so gut der einzige Mensch weit und breit sein können – Sicher, es brannten Lichter in den Fenstern, doch dahinter lagen Welten, die ihm allesamt verschlossen gewesen waren – Alle hatten sie bereits jemanden bei sich und einen Ort , an dem sie erwartet wurden, einen Plan für den Tag – Waren sie nicht in ihren hellen Stufen, waren sie in der Stadt unterwegs, in allerlei Grüppchen, die für ihn mit undurchdringlichen Blasen umgeben wurden, durch die er höchstens sehnsüchtig hindurchblicken konnte, obwohl alle gute Erziehung ihm sagte, das man Leuten nicht hinterherzublicken habe – Er hörte in solchen Momenten zumeist die Stimme seines alten Lehrers, verewigt als eine Art ewiges, höheres Konzept, und frühe, erstmalige Erinnerungen des Tadels, die sich fest verwurzelt hatten – Aus einer nüchternen neutralen Perspektive hätte man wohl anmerken können, dass zu viel Zeit damit verbracht hatte, solche Momente einfach zu umgehen, als das er sich damit beschäftigt hätte, warum manche Sachen okay waren und manche nicht – So manches kleine Kind hätte sich danach erst recht entsetzt, die Grenzen großzügig ausgelotet und bei der einen oder anderen Bestrafung Gelegenheit gehabt, sich über den Grund der Verbote eine lange, lange Zeit Gedanken zu machen, nachdem es diese Regeln gehörig herausgefunden hatte – doch dazu hätte er das gelegentliche Bisschen (wie er aus einer späteren, zumindest etwas reiferen Perspektive erkennen konnte) eigentlich recht milde portionierten Ärger erstmal ertragen können müssen, und das war zu viel verlangt – Mit fünf Jahren hatte er noch wenig Ahnung davon, was eine Festanstellung war, und dass sein (damals noch) neuer designierter Aufpasser so etwas hatte – Was er gemacht haben könnte, um seine Eltern, die doch eigentlich immer auf ihn zu warten hatten, wenn der Tag zuende war, so zu verärgern, dass sie auf immer verschwunden waren, konnte er sich mit seiner damaligen ‚Rechenkapazität‘ nicht erschließen, aber wenn selbst die ihm mit genügend Provokation den Rücken kehren würden, wie wenig noch so kleine Fehler würde es brauchen, damit selbst dieser Fremde reisaus nahm, und er sich ganz und gar allein finden würde, an einem anderen dieser wechselne kalten, fremden Orte, die er kaum noch auseinanderhalten konnte, und doch nicht sein Zuhause waren?

Sein Bestreben – und das blieb auch so als sein Alter irgendwann einmal den zweistelligen Bereich erreicht hatte, und die Funktionsweise der Welt einiges, aber nicht schrecklich viel an Schichten hinzugewonnen hatte, hatte es also zu sein, seiner Umgebung so wenig wie möglich zur Last zu fallen, und alles zu vermeiden, was nur in die Nähe dessen fiel, was ihm Tadel einhandeln, nein, anderen Schwierigkeiten bereiten könnte, wie es die Perspektivänderungen von fast zehn Jahren hinzusetzten würden –

Jahre, in denen er die seine mehr und mehr als eine randständige Existenz begriffen hatte, die am Kommen und Gehen irgendwelcher Lichter, dem Geben und Nehmen der Welt nur in der Peripherie betroffen war, nirgends wirklich erwartet wurde, und nirgends hingehen würde – Sein Lehrer hatte natürlich Vorschläge dafür gehabt, was mit seiner Zukunft anzustellen sei, und wie man darauf hinarbeiten könne, und wozu er sich wohlmöglich besonders eignen würde, aber er konnte sich das gar nicht vorstellen, dass es soetwas wie eine Zukunft je wirklich geben würde – Alles, was er tat, war, weil irgendjemand anderes es ihm sagte, zu dem äußerst kurzweiligen Zweck, es sich mit der Quelle des Vorschlags nicht zu verderben, und nie ganz ohne den Beiklang eines stillen Frustration, des insgeheimen, verboten-nihilistischen Wunsches, alles hinzuschmeißen und die mageren bisherigen Ergebnisse gespflegt zu zerschlagen – Warum Bildung, warum Musik? Wenn er ehrlich wäre, glaubte er tief und fest zu wissen, dass es doch alles keinen Zweck hatte, das aus ihm ohnehin niemals irgendetwas werden würde, dass seine Lage außerhalb aller Bahnen und Verbindungen eine Konstante war, und die Liebe in all ihren Formen nur irgend so etwas war, das die anderen taten, und als er in diese Stadt kam, hätte noch vorbehaltlos unterschrieben, dass das überall das selbe bleiben würde, in der Stadt wie auf dem Lande –

Aber dann kam Misato, und dann kamen zahlreiche Umstände, die ihn dazu zwangen, sich damit auseinanderzusetzten, dass er trotzdem hierher gekommen war, welcher uralten, naiven Fantasie er da auf den Leim gegangen war – Es gibt eine Menge dieser Geschichten, in der irgend ein starrköpfiger Tropf der gleichermaßen aus Land oder Stadt stammen konnte, sich in das gegenwärtige Habitat versetzte und nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten dort zu viel mehr Ruhm und Zufriedenheit gelangte, als er sich daheim je zu erträumen gewagt hatte – Doch es gab auch diese anderen Geschichten, in denen sich der Protagonist und seine Träume, Ideale und mit der Realität wenig vereinbaren Vorstellungen seines Wunsch-Lebensraumes an den wahren Gegebenheiten vor Ort die Zähne ausbissen, und schließlich Faser für Faser zerknautsch und gebrochen wieder von dannen zogen, wenn denn noch irgendetwas übrig war, dass den Rückweg antreten könnte, und zu so einem Ende wäre es auch beinahe gekommen, als er, von seinen ersten Kämpfen gezeichnet an diesem Bahnhof stand – Eine Begebenheit, die nun lange genug her war, um sie aus ausreichender Distanz betrachten zu können, um sich Alternativen vorstellen zu können – Wäre das noch früh genug gewesen, um diesem ganzen Strudel aus Wahnsinn noch zu entfleuchen? Wäre es überhaupt noch möglich gewesen, zu dem Leben zurückzukehren, dass er zuvor geführt hätte, oder hätte sich auch dieses in ein unerträgliches Gefängnis verwandelt – Wenn man einmal die Spitze erreichte, vergaß man niemals die Aussicht; Vielleicht hätte ihn die Frage danach, was aus diesen Ansätzen einer Chance mit Misato, Touji und Kensuke hätte werden können, für den Rest seiner Existenz geplagt, und wenn er bedachte, wie weit es damit tatsächlich gekommen war, wie viele Unmöglichkeiten sich erfüllt hatten, und wie sie irgendeinem alternativem oder früheren selbst erscheinen müssten, dass von einem in die andere Richtung führenden Ast des Schicksalsbaumes sehnsüchtig hinüber blickte – Wenn da aber so oder so Zweifel und Reue warteten, war ihm doch die Seite lieber, wo er sich zumindest mit Misato und seinen Freuden beschäftigen konnte – Zumindest im Moment, in diesem vagen Überlagerungszustand, in dem beide Szenarien noch in einem homogenen Quantendunst hingen, dem sich nicht ansehen ließ, ob es bloß die kleinen komedischen Eingewöhnungsschwierigkeiten waren, oder ob er diese mit dem Verdauungstrakt dieser Stadt verwechselte, während diese sich noch ihre Zeit damit ließ, ihn durchzukauen und wieder auszuspucken – Im Moment, in dieser diffusen Dynamik der Gegenwart, die gleich der Dunkelheit sowohl die Furcht vor den unendlichen Augenpaaren und Dämonen anheizen konnte, deren unkenntliche Schatten in Legionen ihn ihr hausten , als auch einen wärmenden Schutzmantel bilden konnte,die Leere, die die Menschen füllten, wenn sie Träumten, schienen Aufstieg und Niederfall gleichzeitig zu existieren, in diesem infinitesimalen Pünktchen, in dem die launischen Steigungen dieser Kurve durch eine simple, gerade Tangente beschreiben ließ;

Wenn in der Vergangenheit also nichts weiter zu finden war als Eiseskälte, und die Zukunft bereits den Flammen gehörte, würde er sich wohl die Herrin des dreisekündigen Reiches der Gegenwart als seine Patronin wählen müssen, die zweite jener drei Schicksalsdamen, die sich den nichtsahnenden Menschlingen schon unter einer ganzen Vielzahl von Formen und Gestalten gezeigt hatte, darunter Decima, Verdandi oder Lachesis; (So, wie es auch immer die zweite unter einem ganz anderen Dreiergespann von „Schicksalsdamen“ gewesen war, seine Einzige, seine Aimée, die derzeit am anderen Ende der Stadt nach einer knappen Dusche ihr blaues Haar trockenrubbelte.)

Ob es nun die anfänglichen Symptome eines systematischen Zerfalls waren, oder nur die Missverständnisse eines Übergangs, dem ein Verständnis folgen würde (Denn, wie einem unter anderem jeder halbwegs vernünftige Mathematik-Enthusiast erklären konnte, musste man erst verwirrt werden, bevor man etwas begreifen konnte, erst die Nähnadeln hineinstecken, bevor das Fleisch zusammenheilen konnte – Die Weißheit kam immer erst mit dem Bienenstich.) Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung an diesem Ort hatte er Beileibe gehabt – Von den Vorteilen eines kleinen Weilers konnte er weniger sagen, als man hätte meinen können, zumal er wesentlich aktiver an dem hätte teilnehmen müssen, was sein Dörfchen in den Bergen zu bieten hatte, um von den angeblichen Vorzügen seiner Gemeinschaft voll zu profitieren, und auch die Nachteile relativierten sich eigentlich – Einen wirklichen Vergleich zwischen Zahl, Vielfalt und Qualität der verfügbaren Einkaufswaren und außerschulischen Aktivitäten konnte er nicht anstellen, hatte er die Möglichkeiten doch nie bewusst betrachtet, sondern sich immer nur still mit dem zufriedengegeben, was ihm zugewiesen oder gegeben worden war, und das die Menschen in großen Städten angeblich offener und weniger zum Tuscheln aufgelegt sein sollten, dass es sich ihnen viel einfacher entkommen lassen sollte, half ihm in seiner Position als EVA-Pilot auch nichts – Selbst, wenn er nicht mehr Zeuge wurde, wie irgendwelche alteren Damen, die sein Lehrer bisweilen zum Kaffee ins Haus ließ, ihren Senf dazugaben, sobald sie meinten, dass er außer Hörweite war,

(„War das eben dieser Junge? Der Sohn von diesem verrückten Wissenschaftler? Der, der seine Frau als Versuchskaninchen benutzt hat?“

„Sind Sie sicher, dass Sie es sich zumuten wollen, diesen Bengel großzuziehen…?“)

Aber die Aktivitäten von NERV waren auch so allen PR-Regulationsmaßnamen ein brennend heißes Gesprächsthema in der Stadt, und das die Organisation für die meisten Bewohner der Stadt wenig mehr war als ein undefinierter Schemen machte ihre vorsichtig getuschelten Klagen nicht gerade milder, unwissend, dass einer der Verantwortlichen eine Sitzreihe hinter ihnen in der S-Bahn hockte, und zu dem Zeitpunkt, zu dem es ihrer Meinung nach nun wirklich nicht nötig gewesen wäre, Wolkenkratzer XY umzuwerfen, alle Hände damit voll gehabt hatte haarscharf zu vermeiden, dass ein gewisses „unverlässliches lila Roboterdingens“ nicht sauber in zwei Teile gehackt würde – In solchen Situationen pflegte er nach wie vor, einfach die Lautstärke seines treuen Kassettenplayers hochzudrehen.

Insgesamt war diese Stadt voll mit allerlei Stimmen und quietschenden Vehikeln, Machinen, Geschrei und Gepiepse, und frei von Erklärungen dafür, warum sie alle so einen verdammten Krach machen mussten – den konnte man ja vielleicht noch herausfiltern, aber mit dem alltäglichen Gedränge, in dem es niemandem in den Sinn kam, ein wenig Abstand zu halten, der völligen Fremdheit von allem und jedem und der trotz der Verbreitung von Solarzellen und Elektroautos doch nicht mit dem Lande vergleichbaren Luftqualität war das etwas schwerer – Selbst von dem etwas spendabler befensterten Raum aus, den Ausuka mittlerweile in Beschlag genommen hatte, (Bei ihr beschränkten sich die Probleme mit der Umstellung darauf, zwei ganze Kontinente weiter östlich zu sitzen, zumindest, so weit sie es sich hatte anmerken lassen, lediglich darauf, dass sie bisweilen ein paar Schriftzeichen nachschlagen musste – Womit sie sich in die perfekte Position versetzt sah, um seine ganze, jämmerliche Existenz damit zu kommentieren, dass sie mit dem Finger auf ihn zeigte – War ihr doch egal, ob sich das so gehörte – und ihn aus voller Kehle auslachte.Vielleicht hatte sie Recht.) hatte er seine Sterne vermisst, und sich mehr als einmal aus tiefstem Herzen gewünscht, dass alles und jeder doch mal still sein würde!

…Jetzt, Monate später, hatte er sich damit zumindest halbwegs arrangiert, und die diffuse, anonyme Menge aus Mensch, der er kaum irgendwelche Attribute zuweisen konnte, hatte Gesichter bekommen, Namen und Formen, Erinnerungen, die einige dieser Orte von anderen unterschieden – Misatos Appartment mit irem Wohnzimmer, seinem kleinen Herrschaftsbereich in der Küche und der mittlerweile überhaupt nicht mehr fremden Decke seines Zimmers, der Bahnhof, mit ein paar wenigen, aber umso relevanteren Erinnerungen, das Hauptquartier, mit der Kantine, diesem Foyer mit diesen ganzen Automaten, den Cages, dem Central Dogma und einem schier unendlichen Vorrat an Laboren und Testräumen, Toujis angestammter Sportplatz, die Schule, mit dem Klassenzimmer, dem Sportplatz, der Bank, und diesem ruhigen Fleckchen auf dem Dach, diese bestimmte Überführung zwischen hier und der Schule an der sich ihre kleine Gruppe meist traf, selbst dieser alte Buchladen und Ayanamis herunterkommende Plattenbausiedlung…

Schon verrückt, das es eine Ankündigung eines drohenden Weltuntergangs gebracht hatte, um ihm klar zu machen, wie weit er hier eigentlich schon zurechtkam, was er sich hier eigentlich aufgebaut war – Jetzt, wo diese unmögliche Gewissheit etwas Zeit gehabt hatte, um sich etwas zu fermentieren, erfüllte sie doch wenigstens den Zweck, dass, was vorher gewesen war, die Entwicklungen, die sie gestört, unterbrochen hatte,und die Dinge, die ihn zuvor beschäftigt hatten, in eine weitreichendere Perspektive zu rücken…

Wenn er jetzt durch dieses Fenster blickte, sah er nicht die Massen von Dunkelheit, nicht der Lichter schwindende Anzahl oder deren Gleichförmigkeit, nicht die Zähne eines Reptils, dass ihn mit Haut und Haaren verschlingen könnte, sondern die Lichter selbst in all ihrer akuten Vergänglichkeit, sicher in der Nacht, jedes Licht ein Universum, eine eigene kleine Geschichte, und auch, wenn die meisten davon mitsamt ihren Protagonisten in seiner Welt nicht viel mehr darstellten als eben diese gelbliche Nachtbeleuchtung, konnten die winzigkleinsten Schmetterlingsflügelschläge unter seinen Handlungen das Ende dieser Geschichten bestimmen, ob es nun Gedeih und Erlösung sein würde, oder das Ende aller Dinge;

Sich die wahnwitzigen Implikationen dieses Faktums konkret auszumalen, hatte sein Vorstellungsvermögen schon lange aufgegeben; Dieses Gewahrsein an sich war mehr, als er enthalten konnte, nicht, ohne sofort zu zerspringen, ganz zu Schweigen von der Möglichkeit, das Atlas die Weltenkugel in einem Moment der Nachlässigkeit einmal fallen lassen sollte, und sie in Gestallt eintausend zur Unkenntlichkeit zerdepperte Scherben zu seinen Füßen widerfinden würde; Es verschwamm einfach alles zu einer diffusen Knete, und manchmal fragte er sich durchaus, ob ihn das zu einer selbstsüchtigen Person machte…

Noch noch erschrenkender als das war jedoch der Gedanke, der mit der Frage nach der eigentlichen Quelle des Schmerzes, der diesen Horrorvisionen gefolgt war, untrennbar verwoben war: Wenn er bis an den Rand seiner düstersten Emotionen in sich hinein blickte, direkt dahin, wo er nie hinblicken wollte, in den Kern seiner schwarzen Seele, wenn er einfach mal davon ausging sich unter dem Schicksal der Menschheit wirklich nichts vorstellen konnte, das Schlimmste annehmend, wie er es in so vielen anderen Bereichen und Sachverhalte auch zu tun pflegte, wie er es, wenn er ehrlich war, auch in diesem Sachverhalt tat, warum lehnte er sich nicht einfach zurück umd ließ das Ende kommen, wie er es in so vielen halbangerissenen, aber nie ganz zuendegedachten Gedanken willkommen geheißen hatte?

Der Schuss war genau so erschreckend wie simpel: Weil es in dieser kleine Welt hier, diesen paar Spären der Vertrautheit, einige Komponenten gab, die er nicht ohne zumindest einen kleinen inneren Widerstand loszulassen gewillt war, nicht mehr, nicht einfach so…

Misato, Asuka, Touji, Kensuke, Nagato, selbst die Klassensprecherin! … Und Ayanami… Er wollte sie nicht verlieren.

(An diesem Punkt traf ihn die Erkenntnis wie ein stumpfer Gegenstand.)

Das, was er über Jahre zu verhindern versucht hatte, war doch eingetreten:

Er hatte etwas zu verlieren....!

Das war eine monströse, unklar umrissene Schattengestalt von einem Gedanken.

Eine Tragödie, die nur darauf wartete, dass ihr die Bühne freigegeben würde – Anders konnte er diesen Umstand nicht sehen, als eine Frivolität, die er sich geleitet hatte, weil er es versäumt hatte, sie im Keim auszumerzen, ein hängendes Schafott, von dem er jetzt genau wusste, dass es heruntersegeln würde – Und doch…

Schon morgen früh, wusste er, würden all diese glimmenden Lichter wieder verschwunden sein, aber die Bewohner der kleinen Welten, die sich dahinter verbargen, würden immer noch da sein und weiter ihrer Wege gehen, und vielleicht würden sie Erfahrungen machen und Verbindungen knüpfen, die ihnen verwehrt geblieben wären, wenn er den letzten Engel nicht besiegt und ihnen damit dieses kleine Stückchen Zeit erkauft hatte… Eine Woche mochte nicht so viel sein, aber drei Monate könnte man wohl ähnlich ab tun, es gab so einige drei-monats-Abschnitte in seinem Leben, von denen er kaum eine dauerhafte Erinnerung zurückbehalten hatte, weil sie einfach so gleichförmig gewesen war… Doch die letzten drei Monate schienen damit überhaupt nicht vergleichbar, und wenn er sie wie ein Buch zu durchblättern versuchte, sprangen ihn praktisch aus jeder Seite neue Erkennisse und erstmalige Erfahrungen an, ein dichtes Universum, in dessen Kontemplation er sich verlieren könnte… Eine Woche, so konnte er, so unmöglich es ihm vor einer Weile noch gewesen sein würde, mittlerweise mithilfe mit seinen jüngeren Erfahrungen schließen, musste nicht immer gleich einer Woche sein, und wenn man dann darüber nachdachte, wie viele Menschen in so einer Woche schon aus statistischen Gründen geboren wurden, ein paar wurden, oder… alt genug wurden um irgend einen blöden Film zu sehen, was wusste er schon… Es konnte schon gut sein, dass es einige Menschen gab, die diese letzte Woche für nichts auf der Welt wieder hergeben wollten – Diese Welt sah gar nicht wirklich aus, als würde sie in den letzten Zügen liegen, nicht die ganze Zeit, nicht von diesen Fenster aus, nicht mit all den Lichtern – Noch war diese Stadt nicht zerstört,noch atmete und lärmte die Menschheit in diesen Straßen, und so wie die letzten Kämpfe gelaufen waren, keinesfalls einfach, aber doch jeweils immer mit einer fassbaren, eindeutigen Lösungsmethode, die man nur irgendwie zu finden hatte, und zumindest, was sein persönliches kleines Universum betraf, größtenteils reversiblen Verlusten, sah es doch nicht so riesig unvorstellbar aus, das so fortzusetzten…

Lachesis also, die Gegenwart war, woran er sich halten würde, daran, die jetzige Stunde zu überleben, und den Erdball bis zum Untergang der jetzigen Sonne zusammenzuhalten, and sie, und an die verbliebenden Lichter jenseit dieser Fensterscheibe.

Jedes Licht, ein Universum.

(Jede leere Schulbank, jeder Geister-Häuserblock ein fallendes Blatt des welkenden Weltenbaums.)
 

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„Also wirklich, Papa, downloade doch nicht immer jeden Scheiß!“ kommentierte der bebrillte Militär-Otaku, während seine Finger eilig über die Tastatur flossen. „So ist es doch kein Wunder, wenn die Kiste nur noch im Schneckentempo läuft…“

Der soeben angesprochene „Papa“ selbst hatte ja eigentlich vorgehabt, einen strengeren Blick auf die Finger seines Sohnes zu werfen, während sich dieser an seinem Computer mit den ganzen wichtigen Arbeits-Daten zu schaffen machte, aber das scheiterte schon daran, dass der Junge mittlerweile schneller tippen konnte, als die nicht mehr ganz jungen Augen seines alten Herrn überhaupt gucken konnten.

Ein anderer Grund war, dass er ohne den Rechner gerade wegen der empfindlichen Daten darin wirklich aufgeschmissen wäre, und das Teil leider in den Streik getreten war, ohne das er doe Sprache sprechen würde, die nötig war, um zu verstehen, was der liebe Aparillo nun wirklich fordete, um im Gegenzug die Arbeit wieder aufzunehmen, sodass Aida letzlich keine Wahl hatte, als es seinem Sohn zu überlassen, die ganzen Symptome und Error-Meldungen zu deuten, aus denen er beim besten Willen nicht schlau wurde – Das meiste, was da über den Bildschirm flimmerte, hätte für ihn genau so gut auf Navajo oder Tagalog sein können… außer halt, was sollte das heißen, „Sind sie sicher, dass sie deinstalieren wollen?“ Und der „Ja“-Button wurde rasch gedrückt.

„Uhm, Kensuke…“

„Keine Sorge, ich werde bloß diese ganzen blöden Toolbars los… Das ist eh alles meistens nur Werbung, wenn’s nicht direkt Spyware ist… und wundere dich nicht über das Icon dort, ich hab mir die Freiheit genommen, dir nen besseren Anti-Malware-Scanner zu ziehen…“

„In… Ordnung…“

„Ach ja, Paps, wie lange ist es eigentlich her, dass du das letzte mal deine Festplatte defragmentiert oder die Registry sauber gemacht hast?“

Spätestens an dieser Stelle gab Aida dann auf – er wusste überhapt nicht, was Worte wie „defragmentieren“ oder „Registry“ überhaupt zu bedeuten hatten.

„Willst du nicht doch mal auf ein neues Betriebssystem umsteigen? Wenn es schon Windows sein muss, dann doch nicht unbedingt so ein uraltes…“

An dieser Stelle stimmte er nur noch pauschal zu.

„Besser nicht. In der Regel ist jedes zweite Schrott, und die dazwischen recht brauchbar…“ kommentierte Kensuke, ohne, dass die Maus unter seinen Fingerm dabei still hielt.

Sein Vater genehmigte sich an dieser Stelle einen tiefen Seufzer und machte sich nicht mal mehr die Mühe, auch nur halbherzig so zu tun, als würde er dabei, was unter den elektronischen Helferlein dieses Haushaltes vor sich ging, auch nur das geringste Wörtchen mitzureden haben, und wendete seine Aufmerksamkeit statt dessen dem lebensgroßen Poster einer jungen Frau zu, der das Wohnzimmer der Aidas unübersehbar dekorierte, eine zierliche, kleine, sommerprossige Lichtgestalt, die sonnengebadet in die Kamera hineinlächelte als wäre sie noch eine weitere Sonne; Ihre jugendliche Haut war hell aber doch rosig, und in der Mitte ihres runden Gesichts throhnte eine winzige Stubsnase, die man als niedlich empfinden könnte, und langem, welligen hellbraunen Haar, dass sie lose zu einem Pferdeschwanz geordnet hatte, obgleich ein paar herausgelöste Strähnen links und rechts um ihr Gesicht herum fielen.

„Masaki!“ rief Aida wohl bewusst überschwänglich in die Richtung des Bildes. „Dein Sohn lässt mich alt aussehen!“

„Weißt du, Paps…“ kommentierte Kensuke scherhaft, ohne sich davon von seinem Getippe ablenken zu lassen. „…Das könnte damit zusammenhängen, dass du langsam auch alt wirst.“

Aida kommentierte das mit einem spielerisch-beleidigten „Hmpf“.

„Wirklich, Masaki, wenn du nur hier wärst…“

Kensuke belächelte das Ganze nur still – Einen Zusammenhang zwischen der gelegentlich überschwänglichen Art seines Vaters (der im Gegensatz zu seinem Sohn oder der Dame auf dem Foto ein dunkler, stämmiger Typ war, diesem aber seiner eigenen Brille nach zu urteilen die Kurzsichtigkeit vererbt haben musste) und seinem eigenen Enthusiasmus im Angesicht von Militär-Paraphernalien stellte er, vermutlich altersbedingt, natürlich nicht her.

Das er nicht das Recht hatte, das Theater seines Vaters ganz als lächerlich abzutun oder, albern wie ihm in gewissen Phasen der Herranwachsens, wie etwa seiner Grundschulzeit erschienen sein mochte, darauf zu bestehen, das er damit aufhörte, dass passte aber dennoch in den Kreis seiner Wahrnehmung, auch, wenn ihm sein alter Herr solche Feinheit sicherlich nicht zumuten würde – Er hatte nicht wirklich eine andere Wahl gehabt, als sie zu entwickeln; Einerseits war er als Einzelkind sowieso von Anfang an mehr mit Erwachsenen zusammen gewesen, die man zum friedlichen Miteinander dann auch verstehen musste, andererseits hätte er seinem alten Herrn und der Mühe, die er sich seinetwegen machte, eine Ungerechtigkeit getan, wenn er verkannt hätte, dass sein Vater diese Charade seinetwegen durchzog – Kensuke hatte es X-tausend male stolz verkündet bekommen, dass er wohl ein absolutes Wunschkind gewesen war, lange herbeigesehnt und liebevoll erwartet, und dass es seinen beiden Eltern seither wichtig gewesen war, einen großen Anteil am Leben ihres Sohnes zu nehmen – Er konnte sich vorstellen, dass die Sorge, diese Aufgabe nicht wahrnehmen zu können, und für ihr Kind eine völlig Fremde zu werden, vielleicht auch ein wichtiger Bestandteil ihrer letzten Worte gewesen war, als Aida Masaki in den Ruinen der Post-Second-Impact Welt im Kinderbett eines völlig vermeidbaren Todes starb – Jedenfalls war es ihrem Gatten sehr wichtig gewesen, dass sie, wenn sie schon nicht persönlich an seiner Erziehung teilhaben konnte, trotzdem eine konkrete Präsenz im Leben ihres Sohnes bleiben würde, und die Poster, die er in Wohnzimmer und Küche nebst einer Vielzahl von anderen Bildern und kleinen Dekorationselementen, die ihr gehört hatten aufgehängt hatte, waren ein Teil davon – Scheinbar hatte sie immer ihre helle Freude daran gehabt, das Haus zu dekorieren, eine eigentümliche Manie für das sammeln von Gartenzwergen, und noch 101 andere kleine Eigenschaften, über die sein Vater nie die Klappe hielt, und bei allen Entscheidung darüber, was gekauft oder angeschafft werden sollte, oder was Kensukes Erziehung anging, versuchte er immer miteinzubeziehen, was sie wohl gemocht oder gewollt hätte, und man musste ihm durchaus zugestehen, dass er es geschafft hatte, etwas, was eine traurige, statische Rückbesinnung hätte sein können, in der man auch hängen bleiben könnte, in eine lebendige, farbenfrohe Angelegenheit zu verwandeln, die nicht immer nur aus erstickendem Schwarz oder tiefer Trauer bestand – Er zwang sich, für seinen Sohn jeden Tag ein Lächeln aufzusetzten, und weil Kensuke das schon früh gespürt hatte, hatte dieser Mann unter allen Neckerreien und kleinen Seitenhieben dennoch seinen Respekt.

Vielleicht verdankte er es ja sogar seinem Beispiel, dass er seinen Leidenschaften und Fantasien immer der Nase nach gefolgt war, ohne sich darum zu scheren, was irgendsonstjemand dazu zu sagen hatte.

Deshalb machte er das ganze Tamtam auch gerne einmal mit – aber wenn er das tat, dann im Wesentlichen, um seinem Vater eine Freude zu machen, und mit dem Wissen, dass seine wahren Gefühle über diese Sache ein Geheimnis bleiben mussten –

Denn die Wahrheit war, dass er den Bemühungen seines Vaters zum trotz nicht wirklich irgendetwas fühlen könnte, wenn er sich die Bildnisse dieser Frau ansah.

Sie war so früh gestorben, dass da nicht mal mehr der schattigste Hauch einer Erinnerung hatte formen können, nicht einmal eine noch so rudimentäre Ahnung von Verlust – Er wusste gar nicht mal, was er vermissen sollte, wie es sich überhaupt anfühlte, eine Mutter zu haben, und was da so dazugehörte – Sie war von Anfang an nicht dagewesen. Natürlich wurde er spätestens im Kindergarten zeuge des Phänomens, das ein paar der anderen Kinder von erwachsenen Frauen abgeholt wurden, die sie auf den Arm nahmen und ordentlich durchknuddelten, aber nach dem Impact war ein vollständiges Set von Eltern bei weitem nicht so häufig, wie es einmal gewesen war, was anderes war auch zu erwarten, wenn die Hälfte der Menschheit die Radieschen von unten wachsen sah?

Er sah also, das manche Kinder eine Mami hatten, manche einen Papi und manche auch beides, zählte sich zu der zweiten Kategorie und nahm das einfach so hin, wie er es hinnahm, das der Nachbarsjunge (Aus der Nachbarschaft, in der sie gelebt hatten, als sie noch in Yokohama wohnten) zwei große Brüder hatte, und er eben nicht. Er hatte nie eine konkrete Vorstellung von dieser Frau – Sicher, sein Vater erzählte andauernd von ihr, und da waren Bilder, aber für ihn hätte „Masaki“ genau so gut die imaginäre Freundin seines Vaters sein können. Eine Geschichte, wie diese Märchen, die man im Kindergarten gelegwentlich vorgelesen bekam, die Cartoonfiguren aus der Glotze, oder die Fantasiegeschichteb, die sich ein paar der Mädchen aus seiner Gruppe ausdachten – Wenn er an sie dachte, dann war sie in seinen Gedanken zunächst einmal „Masaki“, weil er das eben so von seinem Vater aufgeschnappt hatte, und nicht irgendwie „Mama“ oder „Okaa-san“, und er war um die fünf oder sechs Jahre alt als ihm wirklich klar wurde, dass diese Masaki in der Konstellation seiner Familie in die selbe Schablone passen sollte, wie all diese „Mamis“. Wie seltsam ihm das damals vorkam, stellte man sich unter so einer Mutter doch eigentlich eine ältere Frau vor, und nicht so ein junges Ding, das in der Schule nicht als Lehrerin sondern als Praktikantin klassifiziert worden wäre, ja, fast noch eher auf die Definition von „Mädchen“ passen würde, als auf die von „Frau“.

Das sie noch gealtert wäre, wenn sie nicht so früh gestorben wäre, leuchtete ihm ein, (Er war zu diesem Zeitpunkt schon mit Fotos vertraut, auf denen sein Vater als junger Mann zu sehen war) aber unwirklich hatte es sich trotzdem angefühlt – Formulierungen darüber, was ihr wohl gefallen hätte, oder dass sie sich über irgendwas Sorgen machen müsste, klangen für ihn immer Hohl und aufgesetzt, und flossen daher auch nicht in sein Denken ein, auch nicht, wenn es darum ging, Gefahren zu meiden – Die Idee, dass ihn irgendjemand vermissen oder sich sorgen machen könnte, wenn es ihn in irgendein verrücktes, gefährliches Abenteuer verschlagen sollte, war da ein recht untergeordnetes Konzept. Sein Vater würde sicherlich eine Weile traurig sein, aber es war zu erwarten, dass aus ihm schließlich auch so eine Geschichte werden würde, so wie die Geschichte von Masaki, ihm selbst würde es weis gott nichts ausmachen, zu Staub zu werden, denn Staub spürt ja keine Schmerzen, macht sich keine Sorgen, wollte nichts und fragte sich nichts – wenn es das nur wert war.

Es schien gerade zu logisch, dass eine von diesen Geschichten, in denen es Menschen, die in dieser Welt nicht so viel hatten, in eine aufregende, fremde Welt verschlug, auch ihn einmal treffen müsste, es wäre jedenfalls ganz praktisch, und träumen würde man ja wohl noch dürfen – Überhaupt war er immer ein großer Träumer, da er wenig gehabt hatte, was diese Träume hätte beschränken können, und viel Raum, den er mit ihnen füllen könnte, Raum, zu dem diese Masaki nie dazu gehört hatte,und den sein Vater nun einmal nur begrenzt betreten konnte, weil er seine Seite der Masaki-Geschichte eh nicht blicken würde, weil es nur so und so viele Dinge gab, die ein herranwachsender Junge mit einem überdrehten älteren Mann besprechen konnte, und weil dieser einfach arbeiten musste, um das bescheidene Leben der Aidas als auch den nicht ganz zo bescheidenen Krimskrams-Bedarf seines Sohnes zu finanzieren.

Trotzdem gab sich sein Vater, wie bereits erwähnt, seine Mühe, uns es war nicht so, dass es Kensuke in seinem Leben je ernsthaft an etwas gefehlt hatte, nicht wirklich – statt dessen kam er vielmehr zu dem Schluss, das man im Leben eben das beste aus dem machen musste, was einem gegeben wurde – und wenn das in seinem Fall diese Ungebundenheit war, oder auch die Selbstständigkeit, die er sich als Einzelkind hatte angeignen müssen, (Deshalb hatte sein Vater auch wenig dagegen, wenn er mit einem Zelt und einer Plastik-Knarre durch die Berge stampfte – Er könnte ihn auch nicht ständig beaufsichtigen, wenn er zuhause bleiben würde, und wenn man es Kensuke nicht zutrauen könnte, eine Weile auf sich selbst aufzupasen, hätte ihr Vermieter sie längst rausgeworfen) dann gab es keinen Grund, den aufregenden, paranormalen Elementen dieser Welt nicht hinterher zu jagen, wenn sie irgendwo da draußen saßen – Denn es war ja nicht so, als ob er herumsitzen und darauf warten würde, dass die große Chance vom Himmel fiel – Das wollte er sich von seinen Glücksternen später nicht zum Vorwurf machen lassen.

Das letzte Browser-Fenster am Computer seines Vaters schließend, und sich nach der stolzen Fertigstellung seines Werkes auf dem Bürostuhl herumwirbelnd, bis er seinem Vater exakt gegenübersaß, verkündete er seinen Erfolg mit einem nicht ganz bescheidenem „TA-DAAA!“

„Der Rechner müsste jetzt wieder flüssig laufen.“ Setzte er noch hinzu.

„Dankesehr, Junge. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte…“

„Nun, du könntest mich ja als Dankeschön zu dem Luftfahrtmuseum mitnehmen, von dem ich dir neulich erzählt habe… Da, wo sie diese alten Flieger aus dem 2. Weltkrieg haben…“

Man konnte sich denken, dass die Kulleraugen zu diesem Zeitpunkt auf volle Leistung gestellt waren. „Büttebüttebüttebütte…~<3“

Aida seufzte.

Das hätte er eigentlich erwarten sollen.

„Na gut, Kensuke… aber denkst du nicht langsam, dass du für den ganzen Kriegsspielkram ein bisschen zu alt bist?“

„Es ist kein Spiel…“ maulte der sommersprossige Brillenträger. „Das sind wichtige Teile der Weltgeschichte…“

„Wie du meinst, Kensuke, aber… willst du nicht wenigstens ein Mädchen mitnehmen?“

„Ein Mädchen. In ein Luftfahrtmuseum.“

Aida brauchte an dieser Stelle ein merkliche Pause, um dieser Logik etwas entgegen zu setzten. „…Nun, wir leben im 21. Jahrhundert… Es soll heutzutage doch tatsächlich Mädchen geben, die sich auch für Technik interessieren…“

„Sicher gibt es die, aber die muss man erstmal finden…“

„Hm… du könntest ja statt dessen deine Kumpels mitbringen.“ Schlug Aida vor, in der zunehmends vergeblichen Hoffnung, aus diesem nun immer mehr Gestalt annehmendem Ausflug nicht eine komplette Kapitulation werden würde. „Ich weiß, das Suzuhara-kun nicht besonders für soetwas interessiert, aber was ist mit-“

„Unmöglich.“ Kommentierte Kensuke nur kopfschüttelnd. „Wenn es auf dieser Welt Jungs gibt, die allen ernstes nichts für Kanonen und dergleichen übrig haben, dann sind das Shinji und Nagato…“

„Und mit ‚Shinji‘ meinst du das… Third Child, nicht?“

„Yup.“

„…Sind die anderen Piloten nicht alles Mädchen?“ bot Aida als eine Art Kompromiss an. „Vielleicht möchte eine von ihnen ja-“

„Nö.“ fing Kensuke den Versuch seines Vaters ab. „Die eine ist die wohl hochkärätigste Zimtzicke auf dieser Seite des Pazifik, und die andere ist ein bisschen… komisch. Außerdem hat Shinji praktisch ein Auge auf sie geworfen, seid er an unsere Schule gewechselt ist. Bro-Code und so weiter.“ fügte er hinzu, um weitere Einfädelungsversuche seines Vaters noch im Keim zu ersticken.

„Ach so?“

„Yup… Auch, wenn’s in den Sternen steht, ob das mit den zweien jemals was wird... Er ist ein Baby, und sie ist ein Alien…“

„Bei dem feinsinnigen Verständnis sollte es eigentlich möglich sein, dass du dir auch mal eine Freundin zulegst…“

„Das werd ich auch! Man könnte meinen, du würdest schon Enkelkinder wollen…“

Aida lachte. „Nein, nein, zumindest in der Hinsicht kannst du dir noch alle Zeit der Welt lassen…“

Auch, wenn er es für den Knaben wirklich mal Zeit wurde, die Spielzeuge an den Nagel zu hängen, und erwachsen zu werden, und Aida es sich dementsprechend nicht nehmen ließ, wenigstens zu versuchen, ihn sanft in diese Richtung hin anzustupsen – Obgleich die entsprechenden Hormonschübe bei seinem Sohn definitiv ordnungsgemäß verlaufen waren, trugen seine Schwärmereien bis jetzt immer Namen wie „Lara Croft“, „Samus Aran“ „Sarah Kerrigan“ oder "Sylvanas Windrunner", die einzige, die bis jetzt dem Real Life entsprungen war (die gelegentliche Schauspielerin nicht mitgerechnet), war diese Einsatzleiterin bei Nerv, diese so hoch geachtete „Misato-san“, die als solche zumindest laut Kensukes Erzählungen eigentlich selbst in eines dieser Videospiele gepasst hätte.

Gewissermaßen fand Aida es ja an sich schon bewundernswert, dass es in dieser Welt nach dem Second Impact doch tatsächlich wieder Kinder gab, die mit Spielzeug spielten, die sich den Krieg wieder als „obercool“ vorstellen konnten, weil sie ihn nicht selbst durchleben mussten – vielleicht war Aida was die Hobbies seines Sohnes anging, deshalb so nachgiebig gewesen, weil er diese Unschuld einfach schätze, weil es durchaus Stimmen gegeben hatte, die behauptet hatten, dass man soetwas in diese Welt nicht wieder sehen würde.

Gleichzeitig hatte er selbst als Soldat in den Impact-Kriegen gedient und wusste, dass es dabei nichts zu lachen gab, dass sein Sohn den Krieg, oder diese Evangelion-Angelegenheit wohl nur deshalb faszinierend fand, weil er einfach nicht wusste, wovon er sprach… Er war zum damaligen Zeitpunkt selbst noch recht jung und unerfahren gewesen, und war nicht auf die… Realität des ganzen vorbereitet gewesen, in gewissermaßen hatte es sein Weltbild zerstört (Und heimzukehren, um seine vor dem Impact frisch angetraute Braut in einem Grab vorzufinden, hatte auch nicht gerade geholfen) und zwischen den Erfahrungen den Krieges, und der Verantwortung, plötzlich allein mit einem kleinen Kimd dazusitzen, war seine Jugend von der Katastrophe ziemlich sauber abgeschnitten worden.

Zumindest das wollte er dem Kind ersparen –

Er wollte seinem Sohn all seinen Eigenheiten zum Trotz die Zeit geben, die er brauchte, um auf seine eigene Art ein Mann zu werden, und seine Kindheit und Jugend bis auf die letzten Glutfunken auszukosten – Und das war sein Ziel, obwohl er ganz genau wusste, welchen Grund sein Umzug nach Tokyo-3 wirklich gehabt hatte. Er hatte keine andere Wahl als zuzustimmen, so früh nach dem Impact waren Festanstellungen ein seltenes Gut, und die von NERV hatten ihm nicht nur eine Stelle geboten, sondern auch ungeschmückt durchklingen lassen, dass es für sie nicht schwer sein würde, sicherzustellen, dass sich seine damalige Stelle in Luft auflöste – Sein Kind zu beschützen bedeutete nunmal auch, es zu ernähren und die Miete für ihr Appartment zahlen zu können. Gegen alles, was über das bloße Testen und das einschließende Einquartieren in Tokyo-3 hatte er sich dann aber kategorisch gesperrt

(„Was soll das heißen, „QualifizierteTestperson“?! Sie reden hier von meinem einzigen Sohn, den meine Frau im Austausch gegen ihr Lebenauf diese Welt gebracht hat…! Was würden Sie machen, wenn es ihr Kind wäre?“)

Natürlich war sich Aida sehr wohl darüber bewusst, dass es für die von NERV letzlich kein großes Ding wäre, seine Wünsche in der Hinsicht einfach zu ignorieren, und die Geschichte gegen seinen Willen durchzuführen, aber er hoffte, dass es ihnen bei so vielen anderen, verfügbaren Kandidaten den Ärger nicht wert sein würde, dass das die ohnehin kleine Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet Kensuke treffen würde, ausreichend in Schach halten würde.

Sollte er doch ruhig weiter davon träumen, wie es vielleicht sein könnte, in einem dieser Höllenmaschinen drinzusitzen – Träumerreien waren ein Luxus derer, die noch nicht gezwungen waren, der hässlichen Wahrheit in die Augen zu sehen.
 

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„GUTEN APPETIT~~~“

Bis sie den Tischsegen fertig verkündet hatte, wartete sie noch, dann aber faltete sie ihre Hände direkt auseinander, griff sich ihre Esstäbchen und Augenblicke später gab es auch schon ein Urteil: „Hast du gut gekocht, Nee-san!“

Die Rede ist von Horaki Nozomi, die derzeit mit ihrer Familie am Esstisch saß, und nachdem sie ihrer Schwester einen „Daumen hoch“ signalisiert hatte, enthusiastisch dazu überging, sich das Gesicht mit kalten Soumen-Nudeln vollzustopfen, welche höchst dekorativ präpariert und liebevoll garniert in einem handelsüblichen Trinkglas serviert waren.

Die Horakis waren eine recht traditionell geprägte Familie, und genau so traditionall sah auch ihr Domizil aus, mit Papierwänden, Tatami-Matten und zu einem Innenhof hin führenden Schiebetüren, die aufgrund der aktuell sommerlichen Hitze derzeit teils offen waren, sodass von außen hin das gelegentlich nächtliche Insektenzirpen vernommen werden konnte.

Traditionell geprägt waren, wie es wohl keinen mehr überraschen dürfte, auch der halbhohe Tisch, um den die Familie derzeit herumsaß – Die Horakis waren bei Leibe keine kleine Familie, insbesondere für die Verhältnisse der Post-Impact-Zeit, aber eine „große“ Familie konnte man sie auch nicht wirklich nennen, dafür wirkte irgendetwas an dem kleinen Grüppchen von Menschen unvollständig… Vielleicht die Abwesenheit der Person, der der kleine Hausschrein galt, der an der der Tür entgegengesetzten Wand zu finden war – auch recht klassisch, mehr Zeitlos als alt, ein schlichtes, bewusst in Sepiatönen gehaltenes Bild mit einem simplen, schwarzen Rahmen, und ein paar noch glimmenden Holzstäbchen links und rechts davon, Duftrichtung Apfelblüte. Die Frau darauf war in einem schlicht gemusterten Kimono dargestellt, oder vielleicht einem Kleidungstück, dass einem in Geschichte und Zeremoniell versierteren Geist eine speziellere Bezeichnung und Bedeutung erschlossen hätte – Jedenfalls war darauf ein üppiges, aber realistisch gehaltenes Blütenmotif zu sehen, und Schnüre und Schleifen schmückten sie wie die Attribute einer Göttin. Der hochgesteckte Haarknoten hätte vielleicht eine Illusion der Strenge erzeugen können, wenn da nicht dieses unverwechselbare Lächeln in ihrem Gesicht thronen würde, dass nur Frauen zu eigen war, die bereits ein kleines Stück Leben in sich getragen hatten, und eine Art universell-menschliches, vorsprachlichen Signal für „Alles wird gut.“ in sich trug.

Die Wahl war unter anderem auf dieses spezifische Bild gefallen, weil es für die Füllung des Familienalbums repräsentativ war – Fotografien, deren Papier sich nicht sehr schwer damit getan hatte, sie festzuhalten, weil ihre Präzens schon von sich aus in den Raum hinein und noch Jahre nach ihrem Vergehen aus ihren Bildern heraus strahlte – Wenn sie in einem Raum war, dann wurde sie direkt zu dessen Zentrum, außer, sie wollte es bewusst anders, und lenkte die Gespräche und das Raumklima meisterhaft wie die Marionetten in einem Bunraku-Theater, konnte sich dezent und gewollt mit dem Hintergrund verschmelzen lassen, wenn sie es für angemessen hielt, nur um dann wie aus dem Nichts mit einer Bemerkung herrauszukommen, die den Kurs des stattfindenden Gespräches vollkommen umkehren konnte .

Ihr Bildnis repräsentierte alles, was Hikari selbst in verwässerter Immitation anstrebte – Sie war stets sittsam und gab nie jemandem das Argument gegen sie in die Hand, dass sie etwas Unwahres über sie gesagt hatte, anmutig, elegant, und angenehm in Stimme und Form, aber doch voll von Wärme, Weisheit und Selbstbewusstsein, mit einem stählernen Kern und endloser Hingabe, einer geschmeidigen Art von Dominanz, die doch nie die Grenzen des Respektes übertrat– Es hatte in diesem Haus nie irgendwelchen Streit gegeben, während diese Frau darin geweilt hatte, jedenfalls nicht für lange.

Sie war zweifellos das Zentrum dieser Familie gewesen, und aus genau diesem Zentrum war sie vor vielen Jahren von einem schnellen Krebsleiden unangekündigt herausgerissen worden – Und sie, die zurückgeblieben waren, hatten alle auf ihre eigene Art ihre Sprünge und Risse zurückgebracht, hatten versucht, die Lücke von allen Seiten her auszufüllen, ohne das die Trennlinien ihrer unterschiedlichen Lebenswelten sich je ganz herausdrücken ließen – Linien, die sich trotz Hikaris bester Anstrengungen selbst an diesem Esstisch hier deutlich sichtbar und auch hörbar wurden, als die Älteste der drei Hokari-Schwestern ihre Esstäbchen demonstrativ und bewusst nicht mit minimaler Lautstärke parallel zusammengelegt zurück auf dem zu deren Abstützung vorhandenem Steinchen abstellte, und sich darauf mit einer raschen, bündigen Bewegung und einer knappen Verbeugung von ihrem Platz erhob.

„Kodama, wo gehst du so schnell hin? Willst du deiner Familie denn keine Gesellschaft leisten? …und du hast nicht mal deinen Teller leergessen. Wirft man etwa in solch einer ernsten Zeit wie der unseren gutes Essen weg? Ist das etwa all die Wertschätzung, die du für die harte Arbeit deiner Schwester übrig hast?“

„Nun mach mal halblang.“ Gab sie wesentlich banaler und leidenschaftsloser zurück. „Ich bin auf Diät.“ Und verzog sich ohne weitere Kommentare allerhöchstens leicht genervt in die Richtung ihres Zimmers, wobei sie leicht gähnend ihren vom Hocken scheinbar ermüdeten Nacken durchstreckte, wobei sie auch ihr schwingendes, langes Haar in Bewegung versetzte. „Mannomann…“

Einst hatte die älteste Tochter des Horaki-Haushaltes dasselbe, kastanienbraune Haar besessen, das auch die Köpfe ihrer Schwestern zierte. Nun aber hatte sie es in einem glänzenden Mitternachtsschwarz gefärbt, und die graue Uniform der Schule, die sie besuchte, bestehend aus einem röhrenförmigen Rock, der bis kurz über ihre Knie reichte, verstärkte den monochromatischen Eindruck nur noch.
 

Sich unterwegs ohne großes zeremoniell noch etwas durchstreckend schob sie die Ausgangstür zur Seite und zerstörte in den wenigen Augenblicken, die sie brauchte, um die Tür zu öffnen und durch sie hindurchzuschreiten, auch noch die letzten Reste der Illusion – Das Wohnzimmer mit der angrenzenden Terasse mochten traditionell angehaucht eingerichtet und gebaut sein, aber der Flur sah anders aus, und gleiches galt auch für die moderner gehaltene Küche und die Zimmer der Mädchen – Auch wenn geräumige suburbane Bleiben wie dieses spezifische Haus hier gelegentlich Zimmer wie dieses als eine Art stylisches Designelement für die „anspruchsvolleren“, sprich, älteren Teile der Bevölkerung enthielten, war in dieser Stadt nur sehr wenig übrig, das noch an das alte Hakone vor dem Second Impact erinnerte – Und auch die „zwischenmenschliche“ Idylle war spätestens jetzt demaskiert, auch wenn die Anwesenheit eines Zerwürfnisses sich über dünne Risse meilenweit ankündigte, von denen keiner deutlicher hätte sprechen können, als die folgende Tatsache: Obwohl es im Hause Horaki noch eine weitere, ältere Tochter gab, war es Hikari, die zweitgeborene, die im wesentlichen die Rolle der Hausfrau und Mutter übernommen hatte; Es war nichts, wo sie sich bewusst reingedrängt hatte – Die Aufgaben waren einfach zu ihrer Zeit angefallen, und Hikari hatte sie lieber auf sich genommen, als sie unerledigt zu lassen; Kodama hatte dafür einfach nicht die passende Persönlichkeit gehabt, besaß nicht die Fähigkeit, ernsthaftigkeit und Respekt auf sich zu ziehen, mit Kindern, Küche oder Hausarbeit war sie einfach nie gut gewesen, fragte stetig nach, wie sie dieses oder jenes zu machen hatte, und „wagte“ es tatsächlich, sich die Privilegien einer normalen Junggesellin herauszunehmen, ganz gleich, ob es nun „nicht ihre Schuld war, dass sie eine scheiß kaputte Familie abgekriegt hatte“; Man hätte sie in diese Rolle hineinzwingen können, aber schließlich war selbst ihr Vater zu dem pragmatischem Schluss gekommen, dass es besser sei, das ganze Hikari zu überlassen, einfach, weil er wollte, das es ordentlich erledigt wurde – Aber eine gewisse Spannung und Unzufriedenheit blieb, und das die Älteste der Horaki-Schwestern es mit der traditionell-japanischen Vorstellung, dass man sich der Gesellschaft strikt unterzuordnen und alle Energie in die Schule zu stecken habe, nicht ganz voll nahm, half da wohl nicht; Es war ein äußeres Geheimnis, dass sie einen Freund hatte, und bisweilen länger in seinem Appartment verweilte, irgendwo am anderen Ende der Stadt; Vielleicht war es auch nicht die ganze Zeit über der selbe gewesen, es war nichts, worüber man in diesem Haushalt mit lauter Stimme sprechen könnte, auch, wenn Kodama sich wenn man sie gefragt hätte, nicht die Mühe gemacht hätte, ein Geheimnis daraus zu drehen; Aber es war nicht wirklich erlaubt, zu fragen, wohin sie ging oder was sie tat; Es war eine Sünde, wie sie zu sein, und sie ging ihnen gerne aus dem Weg; Es war schließlich nicht so, als ob sie den Stress bewusst herbeiführen würde, oder etwas zu beweisen hatte; Krach zu vermeiden war letzlich auch in ihrem Sinne; Sie ging nicht auf Kollisionskurs, sie ließ ihren Lebenswandel nur gelegentlich hindurchscheinen, mehr aus Langeweile als aus Rebellion.

Entgegen dem, was man annehmen könnte, und was wohl auch der Herr des Hauses annahm, gab es zwischen den älteren beiden Horaki-Schwestern nicht wirklich eine Spannung oder Feindseligkeit; Sicher, es war immer ein bisschen seltsam mit „der Anderen“ zu reden, die von ihrem gemeinsamen Vater als das totale Gegenstück hingestellt wurde, und so gab es ihre gemeinsamen Momente nicht oft, und meist nur, wenn sie sich in abendlicher Stille über den Weg liefen und ansonsten allein waren, aber unter den an sich halbherzig-saloppen Dialoge, auf die sich ihre ältere Schwester bisweilen einließ, lag wie der Glanz des eines Metalls unter einer trüben Oxidschicht ein Band aus unterschwelliger gegenseitiger Bewunderung;

Hikari war mit den strengen Vorstellungen ihres Vaters aufgewachsen, und sie hatten sich ihr so tief eingeprägt, dass es einfach in ihrer Natur lag, sich „Unanständiges“ einfach nicht vorstellen zu können, und sie könnte niemals alles zurück lassen und das Leben von Kodama führen können, sie verspürte kein bestreben undglaubte nicht, dass sie es auch nur aushalten würde, und auch, wenn es sie es in den gelegentlichen Momenten von Zweifel und Melancholie, die alle Menschen hin und wieder ereilen, besonders in diesem Alter, und bei Hikari auch nicht viel öfter als bei allen anderen auch, gelegentlich ganz nett finden würde, für Nozomi wie auch für ihre Klassenkameraden weniger eine „Aufpasserin“ und mehr eine Freundin sein zu können, die dazugehörte und zu bestimmten Gesprächsinhalten und Persönlichkeits-Facetten zutritt hatte, die ihr sonst durch ihre Rolle und die Distanz, die sie dafür benötigte, verwehrt geblieben wären, aber würde sie das tun, hätte sie sie alle um das nächste an einer Mutter betrogen, was sie je bekommen würden, und eine schwerer zu findendende, langanhaltendere, und vor allem hilfreichere Bindung gegen eine simplere eingetauscht, die sie alle auch andererorts finden könnte, und das würde sie nicht tun;

Aber alledem zum trotz hatte sie trotzdem noch eine ganz andere Art des Respekts für ihre Schwester, und das nicht etwa irgendwie, weil sie füreinander eine Begegnung mit dem Pfad darstellten, den die jeweils andere nicht gewählt hatte; Wenn Hikari geben worden wäre, es zu erklären, hätte sie wohl begonnen, von der Jacke zu erzählen, mit der man Kodama zumeist zu sehen bekam, wenn sie nicht gerade in ihrer Uniform steckte, in der Regel sogar häufiger; Es war eine schon etwas ältliche, schwarze Lederjacke, auf der hinten in teils orangen-metallisch-glänzender Schrift das Logo einer Rockband aufgenäht war war; Die älteste der Horaki-Schwestern kannte die Gruppe nur vom Hören-Sagen, aber sie mochte den Schriftzug und den Glanz seiner Textur. Sie wusste noch nicht einmal, wem die Jacke ursprünglich einmal gehört hatte – Sie war nach einer Party als letztes in der Garderobe hängen geblieben, ohne dass jemand sie für sich beansprucht hätte, und Kodama, die das Etablissement als eine der letzten verlassen hattem meinte eben, dass sie ihr ganz gut stehen würde.

Sie trug sie, wenn sie loszog um ein Teil des Meeres aus Geräuschen, Menschen und Zigarettendunst zu werden, welche die schlaflosen Hintergrundkullisen der Innenstadt bildeten, und auch, wenn Hikari nicht wusste, was das für Leute waren, mit denen sie unter den urbanen Lichtern herumziehen ging, war sie doch froh in dem wissen, dass ihre Schwester da draußen nicht allein war.

Und wenn irgendjemand gekommen wäre, und behauptet hätte, dass die Jacke ihnen gehören würde, hätte Kodama vermutlich nur mit den Schultern gezuckt und sie ihnen zurückgegeben – Letzllich konnte es ihr doch gleich sein, es machte ihr nichts auf, nicht auf die eine Weise und auch auf die andere nicht.

Sie war es, die an den Second Impact und das Dahinsiechen ihrer gemeinsamen Mutter noch die deutlichsten Erinnerungen hatte, ein bisschen Endzeit-Romantik konnte man ihr also nicht verdenken; Das war ihre Art, sich mit Gewissheiten anzufreunden, die sie ohnehin überallhin begleiten würden – Sie war nicht unbedingt darauf aus, sich es sich noch mit irgendjemandem zu verderben, bevor der nächste Impact sie alle holen kam, sah es aber auch nicht lohnenswert, ihre Situation vorher noch großartig zu ändern; Es erschien kaum der Mühe wert, auf die Hoffnung zu setzen, wenn Hoffnung ihre größte Enttäuschung gewesen war.

Sie war nicht der Typ, der sich viel in der Stube aufhielt, sie sah nicht fern, setzte sich keine Kopfhörer und saß auch nie an Schreibtischen; Sie las, auch, wenn sie nie sagen würde, dass sie las; Sie tat es meist in Bahn, Bussen oder dicht befüllten Plätzen, außergewöhnliche Lebensgeschichten oder sonstige seltene Abarten von Liebe, Selbtverwirklichung und Realität, Magazine oder Romane. Sie ging raus unt unternahm Sachen mit ihren Freunden, sie besuchte das gelegentliche Konzert, Kirmes oder Kabarett;

Daher waren die Worte, die sie mit ihrer Schwester tauschte, selten und simpel, doch Hikari bewahrte sie in ihnen Inneren wie einen Schatz oder besonders schöne Muscheln und Steine, die man in der Landschaft gefunden und in eine kleine Truhe gepackt hatte;

Sie hatte nicht dieses… Bissige an sich, den Alpha-Befehlston, der in den höllischen Netzwerken heutiger Mädchen unverzichtbar schien, wenn man nicht komplett hindurch fallen wollte, und deshalb brauchte man sie, wenn man mit ihr zusammen war, auch nicht an den Tag zu legen, sie schien gar nicht erst die Festigkeit zu haben, um jemanden zu misgönnen, oder Strenge auszudrücken, und damit schuf sie für eine lange Zeit die einzigen Situationen, in denen Hikari dazu fähig war, diese Strenge abzulegen, und einfach diese seltsam-romantische Seite zu haben, die sie mit dem verfrühten Ende ihrer eigenen Mädchen-Heit verloren geglaubt hatte; Später würde sie sich erzählen, dass der Second Impact sie ihr nie erlaubt hatte, aber sie wurde das Gefühl nicht los, das die ganze Welt geendet hatte, als ihnen die Sonne aus dem Himmel genommen worden war – Die verlorene Mutter kam in diesen frühen Erinnerungen gar nicht vor, nur die Abwesenheit des Zerwürfnisses, dass sie hinterlassen hatte, und drei spielende kleine Mädchen, unten in den Mohnblüten mit Puppen, stibitzter Schminke und Konstümen, mit denen sie sich selbst verwandelten, in Prinzessinen und Kammerzofen und Damen und Superstars; Schatullen voll glänzender aber wertloser Spängchen und Glasschmuck, aus der auch die Haardekorationen stammten, die sie bis zum heutigen Tage noch mit sich trug.

Als Hikari erfuhr, dass diese Welt mit dem, was in der Welt um sie herum gebraucht wurde, nicht kompatibel war, war es wirklich ein wenig so, als sei die Welt ein kleines bisschen geendet, und das musste auch irgendwie das Gefühl sein, das mit diesem Zerwürfnis einhergegangen war, ein Verlust von- nicht Unschuld, aber doch von Licht und Kindheit.

Aber Kodama war nicht irgendwie melancholisch, oder verbittert, sie glaubte nicht, dass je ein wirklich bitteres Wort aus ihr herausgekommen war, dazu fehlte die Festigkeit und der Impetus hinter den Worten; Sie war… sie war ziemlich cool, so als ältere Schwester.

Hikari hatte Kodama oft gesagt, dass sie sie wunderschön fand (sie wusste auch, das Nozomi diese meinung teilte), und sie hatte ähnliches von Frauen und Männern gesagt bekommen, doch Kodama verstand nie ganz, was sie alle damit meinten; Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie dort nicht irgendwelche abstrakte „Schönheit“, sondern nur ihr Gesicht.

Hikari wusste, wie Schönheit funktionierte, und was man tun musste, um sie herbeizuführen, aber sie hatte wichtigeres zu tun und zu bewahren, als „schön“ zu sein, dass war etwas für andere Leute.

Als war die Person, die für das Wohlergehen und die „Moral“ aller Bewohner dieses Haushaltes verantwortlich war, und als solche bekam sie eine Menge mit, und auch, wenn sie mit sicherheit nicht alles wusste, was in diesen vier Wänden geschah, filterten doch genug Informationen durch sie hindurch, dass sie schließen konnte, dass auch Nozomi gelegentlich ihre eigenen Momente mit Kodama hatte, und das beruhigte und nahm der Situation das dringliche Gefühl der Unzumutbarkeit, die sie einmal besessen hatte.

Dennoch begriff sie in eben dieser Position, als diejenige, zu der alle letzlich gelaufen kamen, und zwischen allen herumschwirrte, um sicherzustellen, dass sie alles hatten, wass sie brauchten, das Kodama und ihr gemeinsamer Vater einander immer noch sehr liebten und dass sich letzterer eigentlich nur um seine Tochter sorgte – Es waren gerade ihre Ähnlichkeiten, die besten Beweise, dass sie Vater und Tochter waren, die an der stockenden Kommunikation schuld waren, und ihr Vater folgte einfach dem traditionellen Weltbind, nachdem ein Vater ein distanzierter Ernährer zu sein hatte, und alles andere Schaden verursachen würde – Nichts galt hier im Osten als ein üblerer Erziehungsfehler, als den Kindern durch übermäßige Nachgiebigkeit Hochmut einzupflanzen, die Übelste der Sünden in einer Welt, die wie viele ältere Gesellschaften als von höheren Ordnungen vorherbestimmt gesehen wurde, die sich noch weiter in höhere Sphären erstreckten, in der jeder seinen Platz im Mikrokosmos zu kennen hatte, damit der Makrokosmos nicht zusammen fiel; Das neuere Modell aber war eine von Erfolg bestimmte Welt, wo statt sozialen Stellungen eben andere Faktoren die Menschen auftrennten, und die Aufstiegsmöglichkeiten durch die Möglichkeit erkauft worden war, wie ein fallender Stern herrabzustürzen;

Doch zumindest war Hikari bei ihren Versuchen, die Tischsituation zu entschärfen, nicht ganz auf sich allein gestellt, so gern sie diese Pflicht auch von Nozomi fernhalten wollte: „…Mach dir nix draus, Papi!“ meinte sie. „Kodama-Nee-san ist wahrscheinlich bloß wieder schlecht gelaunt…Aber immerhin bleibt so mehr von diesem scharfen Chinakohl für uns übrig! Probier den mal, ich denke, unsere Onee-san hat sich mal wieder selbst übertroffen!“

Manch einer könnte diese Worte dem Unwissen kindlicher Unschuld zuweisen, aber wie gesagt, bekam Hikari in ihrer Position sehr viel davon mit, was in diesen vier Wänden unter der Oberfläche vor sich ging – Und es verstand sich, dass ihr Verständnis von der ihr schutzbefohlenen jüngeren Schwester am größten war; Nozomi könnte nichts von ihr verbergen, wenn sie es je ernsthaft versucht hätte; Sie war es, zu der sie kam, wenn sie Trost brauchte, sie war es, die ihr, als sie noch klein gewesen war, so einiges von den Grundzügen dieser Welt erklärt hatte, und sie hätte ihre Aufgabe nur äußerst Miserabel erfüllt, wenn sie nicht die Wahrheit über ihre jüngste Schwester erkannt hätte; Auf den ersten Blick könnte man Horaki Nozomi für ein wandelndes Sonnenscheinchen halten, eine strahlende zwölfjährige mit gebräunter Haut, ein leichtes, sonnengelbes Kostüm in Stil eines Matrosenanzugs mit einem Faltenrock, der bis kurz über ihre Knie reichte, noch mehr Sommersprossen als ihre Schwester und das Haar zu zwei Zöpfchen winzigen frisiert, weil sie ihre Schwester trotz ungleicher Haarlänge doch über alles vergötterte; Doch Hikari hatte nicht übersehen, dass auch sie versucht hatte, in irgendeinen Form einen Beitrag zu diesem Haushalt zu leisten, in der einzigen Form, in der es ein kleines Nesthäkchen konnte; Hikari hatte ihr Bestes versucht, um sie zu bewahren, all das vorzeitige Erwachsenwerden auf sich zu nehmen, damit sie es nicht musste, und es war nicht so, als ob es ein Fehlschlag gewesen wäre;

Statt den Baracken, dem Schlamm und den Ruinen, die dem Second Impact gefolgt waren, hatte es für sie Spielplätze und Schwimmbäder gegeben, Kränze aus Gänseblümchen und Kindergeburtstage mit einer festen Traube von Freundinnen, von denen sie nie zu erzählen aufhörte, doch da waren immer diese Momente, wo es all zu deutlich wurde, dass sie, Nesthäkchen oder nicht, doch wesentlich reifer war, als sie aussehen mochte – Sie hatte sich Diplomatie aneignen müssen, die hohe Kunst des Themawechselns, für die auch vergangenes Unwissen gerne eingespannt werden duften, bei dem sie Vorsicht walten ließ, um ihnen nicht zu zeigen, dass es vergangen war – Aus Rücksicht.

Dem Aufmerksamen Auge offenbahrten sich viele Begebenheiten, bei denen sie zurückgesteckt und sich zuerst um die Bedürfnisse jener zu kümmern, die eigentlich für ihre Bedürfnisse zuständig waren; Kaum einer wusste, welche Reife sie wirklich besaß, oder wie viele Dinge es gab, von denen sie niemals irgendjemandem etwas erzählt hatte; Aber manchmal sah man sie am Fenstersims ihres Zimmers dicke Bücher lesen, Fantasy-Bücher und die alten, ursprünglichen Versionen der Märchen, voll mit mittelalterlichem Wahnsinn, den die Disney-Versionen feinsäuberlich weggeputzt hatten, und immer häufiger auch Romane über „ernste Themen“; In der Schule galt sie als ein „zuverlässiges und verantwortungsbewusstes, selbständiges junges Mädchen“, und ihr Vater war natürlich höchst zufrieden mit dem Resultat, und begriff nicht die Tigerstreifen von Schattenspiel, die sich darüber hätten legen können, nicht wirklich ein Verlust, wenn sie sich beide eigentlich zufrieden fühlten;

Vielleicht war es mehr Hikaris eigenes Gewahrsein darüber, dass es hätte besser laufen können – Aber besser konnte es eigentlich immer laufen.

Das war auch eine von Kodamas Weißheiten gewesen – „Tja, Hikari, wir leben eben in einer Welt, wo vieles besser laufen könnte, und nur wenig schlechter- Nachsicht ist oft die beste Sicht…“ und auch, wenn sie dem letzen Part nicht bedingungslos zustimmen würde, hatte es sie zum Nachdenken gebracht – Sicher gab es immer etwas, dass man hätte besser machen können, aber wenn sie nun fähig war, das Verbesserungspotential zu sehen, hieß das nicht, dass sie in der Zwischenzeit dazugelernt haben musste?

Blieb also nur, es in Zukunft besser zu machen, und zu sehen, welche Erkenntnisse ihr Leben noch für sie bereithielt…

Sie wusste noch, als ihr Vater reagiert hatte, als sie Asuka das erste mal mit Nachhause gebracht hatte – Zu seiner Verteidigung war zu sagen, dass er sie respektierte und während des Besuches sein übliches selbst blieb, und jegliche Zeichen der Verstimmung so subtil hielt, dass wohl nur seine eigenen Töchter sie zu wittern wussten; Nozomi war von Asuka trotzdem ganz begeistert gewesen, und hatte sie direkt bewundert und nach ihren Schönheitsgeheimnissen gefragt, eine Aufmerksamkeit, die bei Asuka selbst keinesfalls unerwünscht war, Kodama hatte schon bescheidgewusst und scheinbar von einem ihrer Freunde gehört, dass Hikari mit dem „ausländischen Mädchen von der NERV-Schule“ befreundet sei, weil angeblich doch „die halbe Stadt“ „ganz kirre“ nach der „neusten Weltklasseschönheit“ von Tokyo-3 sei, deren himmelhohe Ansprüche sie sie alle verschmähen ließen – Das sie selbst noch „Anhänger“ unter den Älteren hatte, hätte Hikari nicht gedacht.

Beide Schwestern wurden von Asuka im Nachhinein als „cool“ eigenstuft, ohne, dass da eine dieser narzistischen kleinen Nachträge gewesen wäre, die sonst jedem ihrer Worte folgten, die man auch nur als Lob missverstehen konnte, einfach, weil sie nicht daran gedacht hatte; Hikari hatte nicht lange gebraucht, um zu bemerken, dass die ganze Fixierung aufs Äußere nicht ihr natürlicher Zustand war, sondern etwas, dass sie mit bewusster Anstrengung aufrecht erhielt, und bisweilen auch mal vergaß – und es ließ Hikari ein kleines bisschen ehrlich Lächeln wie damals bei diesen frühen Kostümspielen, weil dies bedeutete, dass es ihr gelungen war, Asuka ein bisschen von dem Geschenk zurück gegeben hatte, dass sie ihr gemacht hatte.

„Komm schon, Hikari!“ hatte sie bei ihrer ersten Schoppingtour verkündet, gezündet von ihrer Meinung, das Hikari bei der „Klamottenwahl“ zu sehr auf „Ordentlichkeit“ und ihren Geldbeutel achtete – „Lass den Tafelschwamm in der Schule hängen, und spann mal ein bisschen ab!“

Ehrlich gesagt glaubte sie nicht, dass sie vorher überhaupt gewusst hatte, wie das geht – und auch bei Asuka traf sie schnell auf die Unbeholfenheit hinter der Fassade, auf das Mädchen hinter der Maske der Kämpferin, nicht „das Second Child“, nicht „Captain Shikinami“, sondern einfach nur Asuka, das Mädchen, dass wie viele andere Mädchen eine allerbeste-beste Busenfreundin hatte, mit der sich fröhlich tuscheln ließ;

Alle Befürchtungen, die sie gehabt hatten, verpufften letzlich doch, so stellte sich herraus, dass die „wahre“ Asuka hinter dem Strudel-Monster, dass das Soziale Netz zu biegen vermochte, wie ein schwarzes Loch das Gravitationsfeld, sich in starkem Kontrast zu ihrem üblichen Erscheinungsbild als überhaupt nicht eitel oder oberflächlich erwies; Nicht, dass sich dahinter ein kitschiger Cartoon-Schrank voller Tiefgründigkeit verborgen hätte, dessen Inhalt einem beim Öffnen regelrecht erschlagen könnte, nichts könnte weiter davon entfernt sein; Das Mädchen hinter Makeup und Interface-Clips stellte sich als eine erstaunlich… simple person herraus. Simpel jetzt keinesfalls im Sinne von einem blöden Einfaltspinsel, sondern durchaus in einem positiven Sinne, von dem man wirklich etwas lernen konnte, die Sorte von Mensch, die sich nicht mit ewigen Grübelleien aufhielt, sondern praktisch und mit den Füßen auf den Boden denken konnte, mit einer unkomplizierten Spontanität, die sich nicht von irgendwelchen Ettiketten oder hochzogegenen Augenbrauen aufhalten ließ, sondern wenn sie etwas wollte, einfach hinging ung es sich holte, unverhohlen danach fragte, und mit der Sprache herrausrückte – und da war tatsächlich auch eine echte Kriegerin darin, eine zu dem prunksüchtigen Superstar, den sie der Außenwelt präsentierte, völlig verschiedene Kreatur, vielleicht teils darunter begraben und vergessen, dass selbst Asuka nicht ganz wusste, wo sie dieses innere Feuer an einem schlechten Tag einmal hingelegt haben würde, ein Wrestler, der tatsächlich auch wirklich kämpfen konnte, ein als Prinzessin verkleidetes Mädchen, das nicht ahnte, dass es wirklich von königlichem Geblüt war; Doch für Hikari war sie schwer zu übersehen: Eine stählerne, innere, unveräußerliche Qualität, Teil der Art, wie sie ihre Umwelt verarbeitete und darauf reagierte, eine härtere, tiefer sitzender metallische Art Stolz; Es gab drei grundlegende Arten, wie Menschen auf Bedrohungen reagieren konnten, die ihnen fest im Programm saßen und nur dadurch zu überwinden waren, dass man die Bedrohungssituationen zu kontrollierten machte… die guten alten drei Fs, und Asuka war einfach grundlegend nicht der Typ, der davonlief, oder wie vereist stehen blieb, sondernsich zurückwendete und kämpfte – das war ein wirkliches Geschenk, dass man so leicht nicht künstlich imitieren konnte, und etwas, das ihrer Bewunderung wert war, und Hikari eine Gelegenheit gab, auch in sich selbst eine andere Seite zu entdecken, dass auch sie einfach nur mal ein einfaches Mädchen sein konnte, inklusive „Frivolitäten“, Klamotten und Freizeit-Quatsch, und ja, auch dem aufblühenden Interesse an Jungs, die die „Aufpasserin“ in ihr für unreife Tunichtgute hielt; Von außen hin mochten sie vielleicht wie ein seltsames Paar aussehen, eigentlich „natürliche Feinde“ (Aber würde man das nicht auch von dem „Idioten-Quartett“ sagen? Vielleicht war ja doch kein so großer Unterschied zwischen ihren beiden Welten), das ernsthafte Muster-Mädchen, perfektes Yamato-Nadeshiko-Hausfrauen-Material, und dieser auffallende Rotschopf, der die Welt zwang, sich an sie anzupassen statt umgekehrt;

Genau das war zunächst auch die Reaktion ihres Vaters gewesen, der, kaum, das Asuka das Haus verlassen hatte, direkt losgelegt hatte, dass er enttäuscht sei und nicht erwartet hätte, das ausgerechnet Hikari von all seinen Tochtern so einen „Schlechten Einfluss“ mitnachhause bringen sollte – Zum Schreien! Dieses Haar! Diese freizügige Kleidung! Dieses respektlose Auftreten und völlige Missachten ihrer Kultur! Diese ganzen frivolen Aktivitäten! Und hatte Hikari da gerade erzählt, dass sie auf einen älteren Mann stand?

Herrn Horakis erster Eindruck war klar: Ein durch und durch selbstsüchtiges Mädchen!

Sie hatte ja gesagt, dass sie eine gewisse „Asuka-san“ mitbringen würde, aber er hatte sich, dank dem in Anlehnung an das Erbe ihrer japanischen Großmutter gewählten Namen des fraglichen Mädchens etwas ganz anderes unter ihr vorgestellt, eine von den braven jungen Damen, mit denen Hikari sonst gepflegte Konversationen, gemeinsam erledigte Schularbeiten und einen Verbrauch and traditionellem Tee fabrizierte.

Doch Hikari wusste, wie mit ihm umzugehen war; Sie war trotz allem was er sagte doch diejenige unter seinen Töchtern, auf die er am ehesten hörte, vor allem bei der Überbringung eines duftenten Essens in sein Arbeitszimmer, und alles, was es brauchte, um ihn dazu zu bringen, seine Reaktion auf Asuka überdenken zu lassen, war eine Erwähnung ihrer schulischen Leistungen; Kaum hellhörig geworden, ließ sich Horaki damit beschwichtigen, dass Asuka ein sehr ehrgeiziges Mädchen sei, dass sie einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Zivilisation leistete, und dass sie nichts dafür könne, dass ihr das Haar nun mal so aus dem Schädel wachse.

Zufrieden mit der Vorstellung, dass die Gemeinsamkeit der Mädchen in ihrem Ehrgeiz liege, ließ er Hikari seufzend gewähren, und sie schaffte es, ihn Stück für Stück an die gelegentlichen Besuche ihrer neuen besten Freundin zu gewöhnen.

War es nun wirklich der Ehrgeiz, der sie verband? Nun, in einem gewissen Sinne.

Als Hikari das erste mal dazu kam, sich länger allein mit ihr zu unterhalten, fragte sie sie danach, wie sie denn dazu gekommen war, EVA 02 überhaupt zu steuern – Obwohl sie bis her nicht aufgehört hatte, von ihren heroischen Taten mit dem (vermeintlichen) Riesen-Roboter zu berichten, hielt sie sich an dieser Stelle plötzlich bedeckt, doch nach einer kurzuen Bedenkzeit kam sie mit einer Antwort hervor, die gar nichts sagen konnte, aber auch alles: „Ich mache es, weil ich es will.“

Sie hatte Hikari gezeigt, dass sich Erfolg durchaus damit vereinen ließ, hin und wieder mal die Dinge zu tun die normale Mädchen eben miteinander taten…

(Und somit ein Anstoß für die Kette von Gedanken, die sie letzlich zu der Idee führte, dass es nicht unbedingt ein Widerspruch war, in einem Akt, das man eigentlich nach allen Regeln der Vernunft als leichtsinnige Dummheit einzustufen, einerseits doch noch den noblen Charakter einer Person zu erkennen, die jemandem, dem er ein Unrecht getan hatte, aller Gefahr zum trotz sein Bedauern auszudrücken, und andererseits an der Gewissheit festzuhalten, dass dem verantwortlichen Holzkopf mal gründlich die Leviten gelesen gehörten.)

Damals hielt sich sich dadurch, dass sie von Asuka tatsächlich so etwas wie Freundlichkeit zu sehen bekam, nicht wirklich für privilegiert, gerade, weil so etwas unter allerbesten Freundinnen eben ganz normal war, einander zu helfen und sich gegenseitig besonders gut zu kennen; Vielleicht war sie sich auch nicht zu vollem Maße darüber bewusst, wie weit Asuka sonst dazu tendierte, die Welt abgesehen von ihr scharf in Rivalen und „Besitztümer“ (oder, im unglücklisten Falle des bedauernswerten Third Child, beides zugleich) einzuteilen, Bewunderung konnte auch ein Stück weit blenden, vielleicht schob sie die Frage danach, wieso sie sich diese Fassade überhaupt antat, nachdem sie eine Idee davon bekommen hatte, was dahinter lag, darauf, dass sie einfach gerade die Wahrnehmung von sich erzeugen wollte, die sie eben haben wollte, aus purem Ehrgeiz;

Darauf, dass Asuka „dahinter“ nicht eine inspirierende Persönlichkeit, sondern einfach nur ein erbärmliches, weinendes Kind sehen konnte, kam sie nicht.

Doch ganz konnten ihr die Knickung und Stauchung, die sie ihrer Seele antat, als ihre beste Freundin nicht übersehen, vor allem, als sie den eigentlichen Widerspruch in siesen komplizierten Drehungen zu erkennen vermochte.

Die Erklärung war jedoch intutiv genug: Wie bricht man etwas am effizientesten in ein kompliziertes Puzzle aus zahllosen winzigen Splittern?

In dem man mit einem großen, flachen Fuß und ohne ein einziges Gramm von Barmherzigkeit so richtig draufstampft.
 

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[The IdolatrousExpressionismPunk II: Urban Light]


 

moshi watashi ga ame datta nara

sore ga eien ni majiwaru koto no nai

sora to daichi o tsunagitomeru you ni

dareka no kokoro o tsunagi tomeru koto ga dekita darou ka?

-Kubo Tite
 


 

[:]

„Wenn ich der Regen wäre,

Könnte ich dann die Herzen von Menschen verbinden,

So wie er den Himmel und die Erde verbindet,

Die sich in aller Ewigkeit nicht berühren?“
 

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Dies ist die Geschichte einer Stadt.

Dies ist die Geschichte einer Stadt, und der Menschen, die darin existieren.

Dies ist die Geschichte einer Stadt, und ihres Herzblutes.
 

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Die schlichteste Logik hätte jetzt vermuten lassen, dass man sich um das nächste Segment dieser Erzählung anzusehen, in den persönlichen Wohnraum der Suzuharas hätte begeben müssen, doch hätten wir das getan, hätten wir den persönlichen Lebensmittelpunkt von Suzuhara Touji dort vergeblich gesucht;

Nicht, dass an diesem selbst in seiner materiellen Beschaffenheit etwas auszusetzten gewesen wäre: Es war zwar nur eine Wohnung in einem fünfstöckigen Appartmentgebäude statt eines eigenen Hauses, aber sie war geräumig und gut ausgestattet, mit einem großen, überdachten Balkon, einer Badewanne, einer modernen Küche und einem eigenen Zimmer für jeden der Bewohner; Von der Theorie her hätte nichts an dem bescheidenen Domizil selbst verhindert, dass sich darin warme Szenen familiären Beisammenseins abspielen könnten, und es war auch nicht so, als ob es diese überhaupt nicht geben würde – Denn obgleich seine Arbeit ihn voll für sich einnahm, gab sich der Familienvater des Hauses Suzuhara, ein simpler, erdgebundener aber doch gefühlsgeleiteter Mensch, den man unter Vernachlässigung einiger nicht ganz unwesentlicher, aber auch nicht unbedingt zentraler Details überschlagsmäßig als eine ältere, vernünftigere Version seines Sohnes approximieren könnte, doch Mühe, seinen Kindern Zeit zuzumessen, und war, damit es ihnen auch nicht an Zuwendung fehlen würde, nach dem Tod seiner Frau wieder bei seinem eigenem Vater eingezogen, der zwar selbst noch arbeitete, aber dennoch die Zeit fand, in den Herzen der zwei Kinder als ihr geliebter Großpapa heimisch zu werden; Etwas Hilfe bei der Kindererziehung war immer besser als keine, und hieß es in diesen ganzen Ratgebern und Magazinen nicht, dass zwei Bezugspersonen jeglicher Art laut dem Stand der gegenwärtigen Psychologie doch generell besser seien als eine?

Was ebenfalls anzumerken war, war, das sowohl Suzuhara junior als auch senior bei NERV arbeiteten – Der Sohn war dem Vater in dieser Hinsicht nachgeiefert, und schon daran, dass das Zusammenleben von drei Generationen über Jahre hinweg funktioniert hatte, konnte man erkennen, dass das Verhältnis der beiden immer sehr gut gewesen war, und diesem während der Kindheit des „mittleren“ Suzuharas auch seine Zeit gegeben worden war, und beide erzählten sie immer, dass es ihm schon, als er selbst ein Kind gewesen war, wichtig gewesen war, zu seinen eigenen Kindern ein ähnlich enges und freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, und als sich das Erstgebore per Ultraschall als Junge identifizieren ließ, hätte man leicht in Versuchung kommen können, dass das Schicksal diese Pläne guthieß, und kurz darauf war es beschlossene Sache, dass der kleine Stammhalter in dritter Generation „Suzuhara Touji“ heißen sollte, wenn auch angeblich nicht in idealer Tradition, sondern auf Unwegen nach dem Großvater, und auch das zweite Kind war zu diesem Zeitpunkt schon fest eingeplant gewesen: Die Mutter der zwei war das einzige, alleinerziehend großgezogene Kind einer Dame, die ihrerseits von einer ansonsten kinderlosen, älteren Frau adoptiert worden war, sodass es nie soetwas wie Geschwister, Großeltern oder Cousins gegeben hatte – und daher war es immer einer ihrer innigsten Wünsche gewesen, selbst eine große Familie zu haben, mit vielen, vielen Kindern, und auf den Vorschlag ihres Gatten bezüglich des Namens für ihren gemeinsamen Sohn hatte sie darauf nur geantwortet, dass das erste Mädchen dann nach ihr benannt werden sollte; Und ganz, wie sie es sich erträumt hatten, gingen aus ihrem Ehebund ein Suzuhara Touji III und eine Suzuhara Sakura junior hervor – doch da hörte die Erfüllung der Träume auch schon wieder auf, nicht nur, weil keiner von ihnen zum damaligen Zeitpunkt mit dem Second Impact und der darauf folgenden Hölle auf Erden gerechnet hätte, sondern, weil dieses „erste Mädchen“ auch das letzte blieb – Eine Frau, die diese Küche hätte benutzen, und dieses Haus liebevoll hätte dekorieren können, gab es schon lange nicht mehr, und auch, wenn Vater und Großvater der Kinder die Aufgaben, welche die traditionelle Rollenverteilung Männern zudachte – nämlich den Kindern unter anderem Moral einzuimpfen, Lebensweisheiten mit ihnen zu teilen und ihnen passable Finanzen zu bieten, zu genüge erfüllten, fehlte doch das passende Gegenstück, die warme, hingebungsvolle Hausfrau und Mutter, deren Kompetenzen sie in ihrer traditionell geprägten Auszucht nie auszufüllen gelernt hatten. So blieb das Haus, in dem die Suzuharas lebte, doch etwas anderes als ein „zuhause“, mehr eine schmucklose Junggesellenbleibe, in der die Herren ihre Besitztümer aufbewahrten, ihren Kühlschrank und ihre Mikrowelle hatten (Die Kochkünste sämtlicher Haushaltsmitglieder beschränkten sich auf die simpelsten Gerichte) und zum Schlafen zurückkehrten;

Das Touji (der jüngste) sich also trotz der relativ „modernen“ Konstellation in seinem Hause zu einem Anhänger der „Guten alten Zeiten“ entwickeln sollte, könnte also durchaus dadurch bedingt sein, dass er sie mit all diesen Erzählungen von einer Welt assoziierte, in der noch alles in Ordung war, und man sich nach einem langen, stressigen Tag der Magie eines besonderen Ortes überlassen konnte, der sich promt mit Lachen, Wärme und Freundlichkeit anfüllte – Touji hatte keinerlei Erinnerungen an die Frau die ihn, gegeben eine ideale Welt, an diesem Ort hätte erwarten sollen; Alles, was ihm von ihr geblieben war, war eine Tasche voll mit diffuser Wärme irgendwo in den Einstülpungen und Gewölben seines seins, eine Art grundlegende Gewissheit, das auf jeden noch so schwarzen Tag ein frischer Morgen folgen würde, ein goldener Schein, so alt, wie sein Bewusstsein selbst – Das aber ließ ihn vermuten, dass seine Mutter eine gutherzige, liebevolle Person gewesen sein musste, die trotz der kurzen Zeit, die ihnen miteinander vergönnt gewesen war, einen Unterschied gemacht hatte, und die stetigen Versicherung seines Vaters und seines Großvaters, dass seine kleine Schwester ihr mit jedem Jahr sowohl in Aussehen als auch in ihrem Wesen ähnlicher wurde, konnten dafür nur eine Bestätigung sein; Die Suzuhara-Kinder waren die Art von Geschwister, bei denen eines sehr nach dem Vater und das andere sehr nach der Mutter kam, untereinander sahen sie sich nur bedingt ähnlich; Bei genauerem Hinsehen hatten sie zweifellos die selbe Nase, die Form ihrer Kiefer war ähnlich, ebenso wie gewisse kleine Gesten und Details in der Art, wie sie sie sich bewegten, die Lehrer zumindest meinten aus unerklärlichen Gründen, dass sie nur durch Größe und Geschlecht auseinander zu halten seien, aber an sich betrachtet war Touji ein hochgewachsener junger Mann mit pechschwarzem Haar und brauner Haut, während Klein-Sakura selbst für ihr Alter klein und zart war, einen deutlich helleren Hautton und volles, braunes Haar, dass um ihr niedliches Köpfen herum ein dezentes, sich jenseits des Kinns geringfügig hochbiegendes Häubchen bildete; Die dazu perfekt dazupassenden Kastanien-Augen jedoch könnte man hingegen wieder als eine Ähnlichkeit zu ihrem „Onii-chan“ sehen.

In vieler Hinsicht war Sakura immer das Licht der Suzuhara-Familie gewesen, das liebenswerte Nesthäkchen, dass sie alle beschützen und verwöhnen wollte; Sie lebte mit drei Männern in einem Haushalt, die sich alle größte Mühe gaben, ihr Lächeln zu bewahren, und solange dies so blieb, war alles gut;

Hätte er im inneren dieses Hauses festgesteckt, hätte Touji vielleicht die nötige Melancholie entwickelt, um die klassischen, idyllischen Familienszenen nach denen er sich sehnte als Ding einer vergangenen Zeit abzutun, doch glücklicherweise lebten sie, auch Klein-Sakura zu liebe, in einem Teil der Stadt, in dem man die Kinder noch guten gewissens auf die Straße lassen konnte, (Kensuke hatte dieses Glück nicht gehabt; Sein Vater und er lebten in einem Hochhaus, links und rechts nur Beton, und weit und breit nichts, was einem Spielplatz ähnlich gesehen hätte) sodass seine Welt eben statt des leeren Appartments der örtliche Boltzplatz gewesen war, wo er immer mit den anderen Jungs aus der Nachbarschaft hatte abhängen können; Touji war sowieso schon immer der Typ gewesen, der lieber im freien an der frischen Luft spielte, und so spät nachhause kam, wie seine Eltern es erlaubten; Er hatte die Leere nie wirklich spüren müssen, und wenn er doch einmal daheim gewesen war, dann war da immer Sakura gewesen, für die er stark sein musste, um die er sich kümmern musste, und die ihm Beschäftigung und Gesellschaft bot; Und wenn Touji sie sah, in ihrer Fröhlichkeit und ihrem Strahlen, fühlte er einen Stolz in seiner Brust aufsteigen, und konnte nicht anders als zu denken, „Das ist meine kleine Sakura, das ist meine Schwester!“

Wenn dort schon keine Mutter auf ihn wartete, dann war wenigstens ihr Lächeln es doch wert gewesen, nachhause zu kommen.

Doch seid etwas mehr als drei Monaten war in diesem Appartment nichteinmal mehr der Schatten dieses Lächelns anzutreffen, und die Tatsache, dass sein Vater und sein Großvater Zusatzschichten schieben mussten, um die immer neuen, kostspieligen Behandlungen für den zertrümmerten Körper eines einst munteren kleinen Mädchens notdürftig zusammentackern zu lassen, machten es auch nicht besser.

Touji wusste, dass er nicht das geringste Recht hatte, sich zu beklagen, zumal er nicht selbst derjenige war, der Überstunden schieben musste, oder vielleicht niewieder laufen können würde; Sein eigenes Leid und seine Frustration waren nur kollaterale Effekte und vermutlich winzig im vergleich zu dem, was der Rest seiner Familie durchmachen zu hatte – Und überhaupt war er ein Junge, er konnte es durchaus überleben, einfach mal die Zähne zusammenzubeißen und die Klappe zu halten, ein Indianer kennt keinen Schmerz!

Aber diese Machtlosigkeit.

Dieser Drang irgendetwas zu tun, der sich nirgends entladen konnte…

Doch diese Situation hatte nicht etwa irgendwie aufgehört, sondern stattdessen hatte das normale Alltagsleben begonnen, dieser Angelegenheit zum Trotz einfach weiterzulaufen, und begann auch irgendwann von ihm zu verlangen, dass er einfach mitlief, während seine Schwester in diesem Bett verblieb, als ob nichts geschehen wäre –

Und er hatte mittlerweile begriffen, dass er das akzeptieren musste, wenn er für seine Familie nicht am Ende nur noch zusätzliche Probleme und Sorgen produzieren sollte – Das erste Mal wäre es nicht…
 

ZWEI MONATE UND ZWEI WOCHEN ZUVOR
 

„-du hast was gemacht?“

„Ihm eine reingehauen!“ verkündete Touji unverblümt seine Faust präsentierend.

„Mitten in die Fresse rein. Und gleich noch eine, weil die erste Backpfeife scheinbar nicht beim Empfänger angelangt ist… Du hättest ihn sehen sollen, Sakura-chan, dieser… rückgratlose Schlumpf! Versucht direkt, sich rauszureden, statt zu kassieren, wie sich das für einen Mann gehört. ‚Glaubst du, dass ich das freiwillig mache‘ , das ich nicht lache!

Der Typ hat vielleicht Nerven, schön brav alles auf andere zu schieben, nachdem er mit seinen ‚Karatekünsten‘ die halbe Stadt plattgewaltz hat… Wirklich aalglatt, dieser Schweinehund…“

„-du hast den Piloten von diesem Riesen-Roboter getroffen… und du hast ihn verprügelt?“

„Sag ich doch! Besonders reuhmütig sah er mir ja nicht aus, aber der wird es sich mit Sicherheit schon aus Selbsterhaltungsgründen zweimal überlegen, wo er mit seinem dämlichen Roboter das nächste Mal hintritt!“

„Du hast ihn verprügelt?

Im Nachhinein konnte er nicht sagen, wieso er so lange gebraucht hatte, um diese… scharfkantige Qualität in der Stimme seiner Schwester zu erkennen; Vielleicht, weil sie es war, und selbst mit gerechtem Zorn nie unvorsichtig zuschneiden würde, aber er schloss nicht aus, dass es der Hochmut gewesen war, dass er es einfach nicht möglich gehalten hatte, das ihr Entääuschung und Schockiertheit die Sprache verschlagen hatten, und nicht simple Überraschung oder gar Gerührtheit; Doch oh nein, wäre Klein-Sakura das Getränk im Cocktail-Glas eines unrasierten Superspions gewesen, wäre sie definitiv geschüttelt gewesen, oder vielmehr erschüttert:

„Sag mir, dass das nicht wahr ist!“

Sein eigenes Gewissen mochte er mit kurzweiligem Zorn übertönt oder gekonnt ignoriert haben, aber selbst die bewährtesten Ohrenstöpsel hätten die Worte dieses kleinen Mädchens daran hindern können, genau ins Schwarze zu treffen – Es war nur ein simpler Satz, nicht etwa in den Glyphen irgendwelcher uralten Zivilisationen, die Götter beschwören, Dämonen versiegeln, die Wahrheit offenbaren und Imperien zusammenbrechen lassen konnten; sondern ein völlig gewöhnlicher, alltäglicher Laut von den blassen Lippen eines winzigen Kindes, das gerademal halb so groß war wie er selbst, selbst, wenn sie tatsächlich stehen konnte, und nicht an ein Bett gefesselt war, auch wenn gerade ihr Zustand ihren Worten wohl nachdruck verlieh; In vielen Krankenhäusern hierzulande gab es die Möglichkeit, einzelne Betten mit nur halbdurchsichtigen Gardienen von Rest des Raumes abzutrennen, und gerade diese Gardienen fühlte er derzeit an seinen Rücken – Das ärtztliche Personal hatte den Anblick des kleinen Mädchens wohl für so schauderhaft befunden, dass man ihn den anderen Patieten nicht zumuten wollte – Derzeit war nur eines von ihnen besetzt, mit einer scheinbar bewusstlosen älteren Dame, die an einem Beatmungsgerät hing, aber in diesem Raum befanden sich noch drei weitere Betten, ein Einzelzimmer war bei ihrem Budget nicht dringewesen, und das, obwohl es mittlerweile offensichtlich geworden war, das Sakura hier eine lange, lange Zeit zubringen müssen würde.

Die Trümmerstücke hatten sie zermatscht wie ein Insekt nach einem außerplanmäßigen Treffen mit der Fliegenklatsche, und die Aussichten hingen von so vielen Faktoren ab, dass man sie ohne große Übertreibung als Lottospiel bezeichnen könnte – Eine Unsicherheit, die an den männlichen Mitgliedern des Haushaltes in den letzten Wochen gepflegt herumgenagt hatte. Sie hatten sich natürlich alle über die möglichen Werdegänge bei solchen Verletzungen informiert und darüber, was mithilfe der modernen Wissenschaft alles möglich war, doch immer, wenn sie von einer dieser neuen Methoden oder irgendeinem gefeierten Spezialisten hörten, wurde ihnen auch klar, dass ihnen die Mittel fehlten, um sie ihrem kleinen Mädchen bieten zu können – Touji schätzte, dass die beiden Älteren ja wenigstens arbeiten konnten, und mit jeder abgerackerten Stunde konkret sounsoviele Yens zu den benötigten Beträgen hinzuzuadieren; Ihm selbst war nichts weiteres möglich, als ihr einfach seine simple Anwesenheit zu bieten; Er konnte nicht mal ihre kleinen Hände halten, von denen derzeit eine eingegipst und die andere einen permanenten Venen-Zugang gelegt bekommen hatte, in den nun langsam eine Infusion hineintröpfelte, vermutlich eine Art Schmerzmittel oder ein Antibiotikum, um Infektionen an ihren Wunden vorzubeugen – Auf jeden Fall konnte sich Touji auf einen Blick vorstellen, dass für beides davon erheblicher Bedarf sein würde, zumal die ganze Form der winzigen Grundschülerin gleich einer ägyptischen Mumie in Schichten über Schichten aus Bandagen und Gips verpackt war, aus der hie und da die gelegentliche Elektrode oder Drainage herausschaute, inklusive des Kopfes, der bis auf den Mund und der erst seid kurzem um den bisher darin steckenden Schlauch erleichtert worden war , komplett außer anyonmen, weißen, nur von dem gelegentlichen Drainageschlauch unterbrochenen Bandagen-Maske versunken war, unter der sich nur mit sehr großer Vorstellungskraft das Gesicht eines kleinen Mädchen erahnen ließ – und selbst so war ihrem kleinen Körper trotz der extrem reduzierten Bewegungsfähigkeit eine deutliche Spannung anzumerken, selbst so konnte sie mit ihrem blassen Kindermund vollbringen, wozu andere Waffen aus Blei und Metall brauchten:

„Onii-chan, sag mir, dass das nicht wahr ist!“

„Natürlich ist es wahr!“ protestierte er erstmal direkt, wohl etwas lauter, als es in einem Krankenhaus angemessen war. Er ließ seine Handfläche demonstrativ auf das metallische Gestell des Krankenbettes herniedersausen. „Ich habe mir diesen Schweinehund geschnappt und ihm gegeben, was er verdient hat! Nicht mehr, und nicht weniger!“

„Was er verdient hat? Was er verdient hat? Onii-chan, du bist ein großer Dummie!“ verkündete die Kleine erstaunlich energisch. Wenn sie es derzeit gekonnt hätte, hätte sie wohl ihre Ärmchen verschränkt. „Dieser Junge hat uns nicht in Gefahr gebracht, sondern uns alle gerettet!“

„Wie kannst du das sagen, Sakura?! Ich brauch dir wohl hoffentlich nicht zu erzählen, dass dieser Stümper dich glatt ins Krankenhaus verfrachtet hat!“

„Das ist immer noch besser als tot zu sein!“

„Na, diesem Schweinehund ist das schonmal nicht zu verdanken!“

„Du bist wirklich ein großer, großer Dummie, Onii-chan!“ verkündete Sakura mit einem Versuch von tandelnder Strenge, der ihr wegen ihrer kindlichen Stimme und der Abwesenheit wirklicher Abneigung misslang – Sie klang eher enttäuscht als irgendetwas anderes.

„Dieser Junge hat doch nur deshalb mit diesem Roboter gekämpft, weil dieses große Monster dabei war, die ganze Stadt kurz und klein zu hauen! Wenn er das Monster nicht besiegt hätte, was glaubst du wäre dann passiert? Hätte es die ganze Stadt zerstört? Hätte es sich mit der Stadt allein zufriedengegeben? Wir wären mit Sicherheit alle tot gewesen. Einfach so! Vati, unser Opa, unserer Lehrer, unsere ganzen Schulfreunde… Wir alle!

Und ich natürlich auch. Wenn die dieses Monster nicht aufgehalten hätten, wären wir alle sowieso gestorben, und nur, weil der Roboter-Junge den Mut hatte, sich diesem Monster entgegen zu stellen, bin ich nicht gestorben, sondern bloß verletzt… und du wärst natürlich auch gestorben, wennkeiner das Monster aufgehalten hätte... Dieser Roboter-Junge hat meinem großen Bruder das Leben gerettet…

Und dafür, dass er das gemacht hat, werde ich ihm auf ewig dankbar sein!

Also bitte, sprich nicht so schlecht über den Jungen, der meinen großen Bruder gerettet hat, und entschuldige dich bitte bei ihm!“

Touji stand mit großen Augen da.

„…Aber Sakura… Wie kannst du soetwas sagen?! Wegen der Unfähigkeit dieses Kerls wärst du beinage gestorben! Dass du dir neben allen anderen Knochen nicht auch noch das Genick gebrochen hast, war großes Glück, und wenn du älter bist, wirst du das auch verstehen.

Du wärst beinahe unter einem verdammten Haufen Beton erstickt!

Was würdest du an meiner Stelle tun? Wenn ich unter einem Haufen Beton erstickt wäre, würdest du dann auch eins auf vergeben und vergessen machen? Friedefreudeeierkuchen? Ernsthaft?! Du wärst echt kein bisschen wütend, nur weil irgend so ein dahergelaufener Typ dir mit einer billigen Ausrede von wegen ‚Uups, das war bloß ein Versehen‘ ankommt?“

Spätenstens nach der er seine vom Zorne verengten Augen nach beendeter Rede etwas entspannte, erkannte Touji dann aber etwas, was ihn endgültig verstummen ließ – Etwa dort, wo unter ihrem Verband ihre Augen angesiedelt sein müssten, zeigten sich in dem weißen Stoff dunkle Flecken, eine (salzig-warme) Flüssigkeit, welche die Bandagen schwerer machte und die Art veränderte, auf die sie das Licht brachen.

„Natürlich, Onii-chan… Natürlich wäre ich wütend!“

In diesem Moment war Touji zu seiner späteren Beschämung sehr froh, dass sie derzeit sein Gesicht nicht sehen konnte.

„Wenn dir irgendetwas zustoßen würde, würde ich dich jeden Tag vermissen, mein ganzes Leben lang, und ich würde es auch niemals vergessen können… Ich würde jeden Tag nachhause kommen, und aufs Neue merken, dass du nicht mehr da bist, und jedes Mal daran erinnert werden… und ja, ich würde sauer sein! Ganz, ganz doll sauer…. Und weißt du, was ich mit all dieser Wut machen würde? Ich würde die Zähne zusammenbeißen, und sie herunterschlucken, selbst, wenn ich der Person innen drin in meinem Herzen niemals wirklich vergeben könnte… und ich würde fair zu ihnen sein! Und wenn mich einer fragen würde, warum, dann würde ich denen sagen, dass mein großer Bruder mir immer beigebracht hat, dass Gerechtigkeit eine wichtige Sache ist, und nicht gewollt hätte, dass ich meine Wut an irgendwelchen Leuten abreagiere, die gar nichts dafür können…

…oder zumindest dachte ich das!“

Das tat wohl am meisten weh, dieser deutliche Bruch in der turmhohen Bewunderung, die sie stets für ihren großen Bruder gehabt hatte, nicht, das er irgendwie zu befürchten hätte, dass sich daraus ein langfristiges Zerwürfnis ergeben konnte – Er wusste genau, dass sie ihm vermutlich sofort verzeihen würde, sobald er in ihren Augen nur asreichend Reuhe gezeigt hatte, würde sie ihn vermutlich wieder als ihren großen, starken unbesiegbaren Bruder anstrahlen, der (fast) immer Recht hatte, und dass sie ihm eben nicht ganz alles blind nachpalaverte, konnte er nur zu ihrem Gunsten werten; Sie folgte dem, was er ihr immer gesagt hatte, nicht dem, was er tat, und darauf konnte er nur stolz sein – und jetzt war sie es, die im Bezug auf ihn Reife und Verständnis übte, obwohl er hier eigentlich das verantwortungvolle ältere Geschwisterkind sein sollte, und nicht der hitzlöpfige Pausenclown.
 

Hätte sie die Scham, die sich unwillkürlich auf seinem Gesicht materialisierte, hätte sie jetzt wohl aufgehört, aber er würde ganz bestimmt nicht derjenige sein, der sie dazu auffordern würde; Aktuell hatte er den Blick abgewendet, obwohl da kein entgegenkommendes Augenpaar war, dem er hätte ausweichen können.

„Stell dir mal vor, was für eine Angst der Roboter-Junge gehabt haben muss, und wie gruselig es gewesen sein muss, sich so einem großen Monster in den Weg zu stellen… und du denkst, was er dafür verdient hat, ist, dass du ihm eine reinhaust?!“

„Zweimal, wenn ich ehrlich bin…“

„WAS?! Onii-chan!“

Er machte sich nichteinmal die Mühe, irgendeinen Versuch zu unternehmen, seiner Schwester irgendwelche überschätzenden Illusionen von seinen Handlungen zu bewahren.

Er war schon tief genug gesunken.
 

AUGENBLICKE SPÄTER –

BEZIRKSKRANKENHAUS ODAWARA, FLURABSCHNITT VOR DEM KRANKENZIMMER 012
 

Faust.

Trifft Wand.

Braune Haut auf grauem, harten Beton… nicht gerade die beste Idee, die Touji je gehabt hatte, aber immer noch besser, als seinem kurz geratenem, sommersprossigen Kumpel in die Augen zu sehen, welcher ihn bereits auf dem Sims des dem Krankenzimmer gegenüberliegenden erwartet hatte, allerdings ohne das Touji geanht hätte, dass ihn das zum Zeugen dieses Schauspieles machen würde.

Der diffuse Ärger steckte ihm noch von oben bis unten in den Gliedern, spannte sich in seinen Fäusten und den damit verbundenen Sehnen, doch zu gleich sorgten sein Gewissen, oder zumindest so eine Art Respekt vor dem Unrecht dazu, dass seine Blicke seitlich von der Wand her nicht höher gingen als bis zum Uniform-Kragen seines bebrillten Freundes.

„Na?“ fragte dieser, von der eben erfolgten Darbietung, von der natürlich erhebliche Teile bis in den Flur zu hören gewesen waren, unberührter klingend, als er es wahrscheinlich wirklich war.

„Wie ist es gelaufen?“

Touji blieb ihm eine Antwort fällig; Nicht, dass er still blieb, aber sein rauhes „Ach, halt doch den Mund!“ wurde von Kensuke nicht als solche qualifiziert.

„Hast du jetzt vor, endlich mit der Entschuldigung herrauszurücken, oder will der Herr Staatanwalt den Fall noch weiterhin verfolgen, nachdem die Geschädigte den Angeklagten schon verziehen hat?“

„Klappe, sagte ich. Das geht dich überhaupt nichts an…“

„Ach ja?“ gab er zurück, die folgende Reaktion bewusst in kauf nehmend.

„Ja!“ gab der Bruder der kleinen Patietin zurück, ohne den Nerv, sich um irgendwelche Eloquenz zu bemühen. Er war zwar an sich ein gutes Stück größer als sein Kamerad, aber dessen Sitzplatz auf dem Fenstersitz tat sein übliches, um sie auf Augenhöhe zu bringen; Zumindest aber das Gefühl, sich überragt zu fühlen, war das Produkt von Toujis höchst eigener Wahrnehmung.

„Du kapierst das sowieso nicht, du bist schließlich ein Einzelkind!“

„Dann erklärs mir doch.“

Touji stellte sicher, dass seinem Ärger mit geigneten Lauten Ausdruck verliehen war, behielt die dazugehörigen Zügel jedoch dennoch in der Hand und blickte seinem Klassenkammeraden statt dessen fest, aber doch etwas kooperationsbereiter als vorhin in die Augen.

Wenn er jetzt Geduld hatte, dann wegen den Durschnittlichen Ergebnissen vergleichbarer Erfahrungen, die er mit dieser Person gemacht hatte, nicht weil er wirklich den Nerv hatte, jetzt so eine grundlegende Sache, die sich für ihn aus der simplen An- oder Abwesenheit eines elementaren Gefühls für einen völlig Außenstehenden begreiflich zu machen.

Er muste erst mal schlucken und seine Gedanken ordnen, brachte dann aber zumindest zuanfang einen etwas gefassteren Ton hinbekommen.

„…große Brüder, Kensuke, weißt du, warum sie zuerst auf die Welt kommen?“

Der Militär-Fan sah ein, dass es wenig Sinn machte, jetzt schon zu antworten. Wenn eine frage schon so gestellt wurde, war schon ersichtlich, dass die offensichtlichste Antwort nur eine Einladung war, als Dödel dazustehen.

Touji wusste die Abwesenheit jeglicher Besserwisserei oder kluger Ratschläge an dieser Stelle einfach mal zu schätzen und fuhr fort, ohne dass die unterschwellig aufgebaute Intesität und Energie sich entlud, doch unter der Oberfläche konnte man sie durch ausreichende Aufmerksamkeit noch immer anschwellen sehen:

„…damit sie auf die Kleinen aufpassen, die nach ihnen kommen!

Es ist scheiß egal, ob Sakura es diesem Arschloch übel nimmt oder nicht! Und wenn schon. Es is nicht ihr Job, es ihm ‚übel zu nehmen‘, sondern meiner!“

„Na, ich will mich ja nicht einmischen, aber ich weiß nicht, ob deine Schwester das so wertschätzen wird, wenn du dich so wenig um ihre Meinung kümmerst… Findest du nicht, dass sie für sich selbst entscheiden kann, wen sie verzieht und wem nicht? Und komm mir nicht damit, dass sie bloß ein kleines Kind ist. Das lässt dich bloß ziemlich uncool aussehen, wenn sie neben dran steht und sich reifer benimmt als du.“

„Das hat damit gar nichts zu tun, und wenn du Sakura genau so gut kennen würdest wie ich, würdest du das auch verstehen… Natürlich verzeiht sie ihm, Sakura war immer der Typ, der die Gefühle anderer Leute vor ihre eigenen stellt, sie würde einem so ziemlich alles verzeihen…

Meine Schwester ist vielleicht der aufrichtigste, liebenswürdigste Mensch den ich kenne. Sie hat so ein reines Herz, das es mir manchmal unnastürlich erscheint… Immer wenn ich mit ihr zusammen bin, habe ich eine schöne Zeit, immer, wenn ich sie treffe, sieht der ganze Tag schon viel heiterer aus – und tja, dass heißt das irgendjemand darauf aufpassen muss, dass ihr nicht irgendein dahergelaufenes Arschloch ihr ganzes Leben versaut, und dann auch noch aus nutzt, dass sie so eine gutherzige Person ist…

Ich weiß, wie das klingt, aber wenn du Sakura kennen würdest, würdest du das genau so sehen… Als wir beide klein waren, hatte sie mal eine Lungenenzündung. Sie konnte eine lange Zeit nicht zur Schule gehen oder ihre Freunde treffen, damit sie ja keinen ansteckt, und weil sie im Bett bleiben musste, und zeitweise auch ziemlich hohes Fieber hatte, konnte sie auch nicht irgendwie spielen, und deshalb sah sie verständlicherweise ziemlich traurig aus… Sie tat mir ziemlich leid, aber weil ich selbst nur ein dämlicher Dreikäsehoch war, hab ich nicht ganz kapiert, wie ernst das ganze war, und hab nicht geblickt, dass das schon einen guten Grund hatte, das unser Vater wollte, dass sie in ihrem Bett bleibt… Ich dachte, dass es sie vielleicht aufmuntern würde, wenn ich sie mit raus schmuggle und sie raus zum spielen an die frische Luft bringe. Da laufe ich Idiot mit ihr zum Sportplatz, mit der üblichen Truppe, mit der ich damals oft abgehangen hatte, und kam mir schlauer vor als all die Erwachsenen, weil ich sogar die Jungs überredet hatte, Sakura mitspielen zu lassen, obwohl sie nur ein kleines Mädchen war…

Natürlich ging die ganze Angelegenheit mächtig in die Hose. Gut fünf Minuten, nach dem das Spiel angefangen hatte, is die Kleine uns mitten auf dem Sportplatz umgekippt, und… wir waren alles kleine Knirpse, denen niemand im leben ein teures Mobiltelefon anvertraut hätte. Ich musste warten, bis einer der Jungs, der am nächsten an dem Sportplatz dran gewohnt hatte, nachhause gerannt war, um seine Mutter zu holen… Das waren mit abstant die schlimmsten fünf Minuten meines Lebens.

Jedenfalls hat die dann den Krankenwagen rufen, und Sakura-chan kam ins Krankenhaus…

Meine Eltern hatten in der Zwischenzeit natürlich spitzgekriegt, dass sie weg war, und hatten sie schon überall gesucht – Als mein Vater im Krankenhaus ankam, hat er mir die Backpfeife meines Lebens verpasst und ich habe eine Woche lang Hausarrest gekriegt.

Aber das war nicht verglichen mit den drei Wochen, die Sakura-chan im Krankenhaus zubringen musste… Ich wäre wohl auch dann nicht zum Spielen herausgekommen, wenn meine Eltern mich nicht auf mein Zimmer verdonnert hätten, und ich blieb selbst dann noch da drin sitzen, als meine Strafe eigentlich schon vorbei war – Ich konnte nur daran denken, wie schlecht es Sakura-chan gehen musste, und dass sie definitiv auch keinen Spaß haben würde…

Und als sie am Ende endlich entlassen wurde, ist sie allen ernstes zu mir hergelatscht, und hat sich entschuldigt – Sie. Bei mir.

Weil ich das blöde Basketballspiel ihretwegen nicht zu Ende spielen konnte… und dann fragt sie auch noch, ob meine Kumpels mir das übel genommen hätten…Sie. Mich. …und hat sich bedankt, dass ich sie mitspielen lassen habe, obwohl sie so klein ist, und dass ich mir keine Vorwürfe machen solle…

Sie musste mich erst daran erinnern, von welchem Basketballspiel sie da redet, ich hatte diesen ganzen Scheiß komplett vergessen, weil ich mir solche Sorgen um sie gemacht habe!

Am Ende sah das ganze fast aus, als ob sie mich trösten würde…

Mir wurde klar, dass ich nur daran gedacht hatte, was ich will – Nämlich draußen spielen, obwohl ich eigentlich auf sie aufpassen würde…

Und ich habe entschieden, dass ich von da ab immer zuerst an Sakura-chan denken würde. Ich habe ihr versprochen…“ Allen Muckies zum trotz war seine Stimme während dieses Geständnisses immer mehr ins stocken geraten. „ …das ihr großer Brüder sie nun an immer beschützen würde… Und jetzt liegt sie da drin in diesem Bett… Und es gibt überhaupt nichts was ich machen kann…Ich dachte, wenn ich diesem Bastard eine verpasse, könnte ich irgendwie… mithelfen… Aber am Ende habe ich Sakura-chan wieder nur zusätzlichen Kummer gemacht… Genau wie damals als ich ein dämlicher Rotzbengel war…“

„Ich versteh schon.“ kommentierte Kensuke ohne aufgesetzte Feinfühligkeit „Es ist gar nicht der Neue auf den du stinkig bist, sondern du selbst.“
 

GEGENWART. DER SELBE ORT.
 

„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du echt nen Kerl mit ner Brille geschlagen hast…“ kommentierte Kensuke, während die beiden Jungen denselben Krankenhaus-Flur wieder gemeinsam hinunterliefen, wobei er verständlicherweise nicht wirklich nostalgisch an seiner mittlerweile wieder völlig intakten Wange herumrieb.

„Es tut mir ja leid!“ gab Touji fast schon etwas beleidigt zurück, aber dennoch auf eine Art und Weise, die zumindest für die, die ihn kannten erkennen ließ, das er die betreffende Angelegenheit wirklich lieber vergessen würde.

„Schon okay.“ Gab sein sommersprossiger Kumpel dann aber entwarnend zurück, nachdem er scheinbar ausreichend seinen Spaß gehabt hatte. „Ein echter Freund ist eben jemand, der die Melodie deines Herzens kennt, und sie dir vorsingt, wenn du sie vergessen hast…“

„Wo hast’n den Spruch her?“

„Die Parkbank auf dem Schulhof. Die mit dieser Grünfläche dahinter… weil da diese Bäume stehen, guckt sie sich kaum einer von der Rückseite an, und deshalb hat diese Graffiti auch so lange überlebt… Keine Ahnung, wer die da ursprünglich reingeritzt hat, kann sein, dass er oder sie schon längst ihren Abschluss gemacht und von hier abgedüst ist… An solchen Orten findet man gelegentlich die eine oder andere Weisheit…“

„Vielleicht, aber die meisten Sachen, die irgendjemand, sagen wir mal, in eine Klo-Wand ritzt, in sind in der Regel etwas weniger profund…“

„Das ist wahr… Macht es dir was aus, wenn ich draußen warte?

„Nee, kein Problem.“
 

Seinem Freund noch kurz lässig hinterherwinkend wendete sich Touji schließlich der Tür zu, drückte die Klinke herunter und kündigte seine Anwesenheit somit schon mit den dazugehörigen Geräuschen an, sodass ihn kaum, dass er die Pforte einen Spalt breit geöffnet hatte, bereits ein freudiger Gruß erwartete: „Onii-chan!“

Auch, wenn es immer noch fraglich war, ob sie jemals wieder wirklich laufen können würde, war Klein-Sakuras Anblick vor zwei Monaten noch eine ganz andere Sache gewesen;

Mittlerweile war der Vorhang verschwunden, und er traf sie schon in einer zurückgelehnt-sitzenden Position an, zwar noch mit einem venösen Zugang an einem ihrer Handgelenke, aber derzeit ohne drinsteckende Infusion.

Das Schlimmste, inklusive der metallischen Schienen, in denen ihre Beine noch steckten, wurde ihm von der weichen Daunendecke, von der sie bedeckt war, wohl erspart; Was von ihr sichtbar war, war bekleidet mit einem orangenen Nachthemd mit teils gelben Aufdrucken von kleinen Blümchen – Die Operation an ihrem Köpfchen hatte einiges an ihren Haaren gekostet, aber die waren mittlerweile soweit nachgewachsen, dass das Resultat durchaus als feminine Kurzhaar-Frisur durchgehen konnte, auch, wenn sie zumindest um die Höhe der Stirn immer noch einen festen Kronen-Ring aus Gipsverband trug. ( Und der barg Blutgefäße, die jederzeit platzen könnten, wie auch den eine oder anderen Rückschlag.)

Das wichtigste war, dass er nun freien Blick auf ihre strahlenden, braunen Augen hatte…

Es war nicht mehr ganz so schwer, die durch ihren Zustand stetig im Raum schwebenden Implikationen beiseite zu legen, und sich einfach über ihre Gegenwart zu freuen; Sie freute sich sicherlich über seine, es war schwer zu übersehen; Auch, wenn sie stets versuchte, das nicht so offensichtlich zu machen, damit er sich nicht irgendwie verpflichtet fühlte, seine ganzen Hobbies hinzuschmeißen oder die Schule zu vernmachlässigen, um an ihrer Seite sein zu können, wie er es am Anfang dieses ganzen Schlamassels getan hatte, war sie doch ein kleines Mädchen und überhaupt ein ausdrucksvolles Menschlein und konnte schwer verbergen, dass sie sich immer sehr auf die Besuche freute, nicht nur wegen einer Chance, ihren geliebten Bruder sehen zu können, sondern um die Einsamkeit abzumildern, die die Kleine wohl als das schlimmste an ihrem derzeitigen Zustand empfand…

Er fragte sie natürlich immer, wie es ihr ging und was ihr so passiert sei, aber sie hatte selten etwas zu berichten, worüber Touji nicht schon von seinem Vater aufgeklärt worden wäre, und nicht zu selten saß er am Ende da, und erzählte von seinem eigenem Leben, irgendwelcher Jungskram, der Sakura vermutlich nicht wirklich interessiert hätte, wenn es nicht zu einer Seltenheit geworden wäre, dass sie überhaupt etwas in dieser Form erzählt bekam.
 

„Was, wirklich, Onii-chan?“

„Na ja, ich war ja in der Grundschule in dieser Gitarren-AG… wirklich gut war ich nicht, aber die ganze Sache war von Anfang an so… Seifenkisten-artig…“

Diese originelle Metapher entlockte seinem Schwesterlein immerhin ein kurzes Kichern, das sie dann aber unterbrach, um mit ihren Händchen nach der CD zu greifen, die ihr großer Bruder ihr mitgebracht hatte. Diese hatte weniger mit einer klassischen, handelsüblichen Musik-Platte zu tun, und mehr mit einem dieser Selbstbrenn-Rohlinge, die es zum Teil zu dutzenden zu kaufen gab, das „Cover“ Bild war offensichtlich von Hand in die Vorderseite der eingefügt worden – eindeutlich der amateurhafte Look von dem Touji eben gesprochen hatte.

Das Cover selbst war auch entsprechend simpel, eine populäre generell überbenutzte futuristisch angehauchte Schriftart über einem Bild von ein paar Schülern in einem Musiksaal, wobei zumindest das Bild eigentlich ganz gut gelungen war, als ob der Fotograph wenigstens im Fotographieren erfahrung gehabt hätte.

Der Schriftzug las sich als ‚Earth Defenders‘ – „Der Band-Name war Ken-chans Idee, nicht wahr?“

„Na ja, er hat die CDs organisiert, und er hatte überhaupt erst die Idee, es schien nur fair…“ kommentierte der Bruder der kleinen Patientin. „…am Ende sind wir auf den ganzen Platten sitzen geblieben. Das Schulfest ist wegen des letzten Alarms in Wasser gefallen, und gleich danach ist Yamagishi-san wieder weggezogen… Du kannst die hier also guten gewissens haben, um dir etwas die Zeit damit zu vertreiben… Erzähl nur bitte nicht allen, dass das die krüpeligen Musizierversuche deines Bruders sind… Es is nicht so schlecht geworden, vermutlich durch den glücklichen Zufall das Nagato und Shinji tatsächlich wirklich Ahnung von Musik hatten… Yamagishi-san hat sich als Naturtalent herausgestellt, und Misato-san hat uns NERVs besten Hobbygitaristen rübergeschickt, um uns etwas unter die Arme zu greifen…“

„Ach, wirklich?“

„Ja. Shigeru Aoba-san. Inklusive Rockerfrisur… Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er früher Mal in einer echten Band gespielt… ‚Cobalt Sky‘ oder soetwas…“

„Aber wenn er in einer echten Band gespielt hat… Warum hat er denn aufgehört…?“

„Tja…“
 

EINE WOCHE ZUVOR
 

„Was? Echt? Eine richtige Band?“ Kensuke hatte an dieser Stelle fast wirkliche Mühen, nicht von seinem Stühlchen zu fallen, aber auch Mayumi, Nagato und Shinji war eine etwas subtilere, aber tiefere Art von Bewunderung anzumerken, ein stillschweigender Neid für die Fähigkeit, etwas Großartiges und völlig neues scheinbar ex Nihilio aus dem Hut zu ziehen.

Und Touji war ohnehin von Anfang an begeistert gewesen; Elektrische Gitarren schienen neben Misato wohl einer der wenigen Themen zu sein, die bei Touji und Kensuke genau den selben Grad an hyperaktivem Enthusiasmus zu produzieren vermuchten.

„Das ist wirklich OBER-MEGA-AFFEN-GEIL!“ riefen die beiden Jungs im Chor, gerade beherrscht genug, um Gitarre und Kamera jeweils nicht fallen zu lassen.

„‘Cobalt Sky‘ sagen Sie?“

„Bitte verzeihen Sie mir wenn ich im Leben noch nicht davon gehört habe…“

„Es würde mich wundern, wenn ihr davon gehört hättet.“ Bemerkte Aoba mit einer seltsamen Art von Lächeln. „Es war nur so eine kleine Garagen-Geschichte, wir sind ein paar mal auf lokalen Veranstaltungen aufgetreten, besonders von der Uni aus, aber dass war es dann auch. Wir haben nur zwei kleine EPs in recht kleinen Auflagen herausgebracht….“

Doch für die Jungs gab es da keinen Anlass für ein „nur“.

„Wahnsinn! Echte Platten! Ein echter Plattenvertrag! Davon können normalsterbliche wie wir echt nur träumen…“

„Warum nur“ wollte Kensuke spontan wissen, „Haben sie so einen Traumjob aufgegeben, um ein Computer-Techniker zu werden?!“

„Ziemlich direkte Frage.“ Gab der Hobby-Gitarrist zurück – humoröser Weise waren es nicht die zwei tratschfreudigen Individuen, sondern der stillere Teil der Gruppe, der sich an dieser Stelle für die andere Hälfte fremdschämte und sich direkt entschuldigte.

„Schon okay, kein Drama… Wisst ihr, Kinder, ‚Traum‘ ist an dieser Stelle wohl das richtige Wort. Diese ganze Band-Geschichte war ja ganz nett, aber seht mal aus dem Fenster. Wir leben heutzutage in einer ziemlich harten Welt, wo große Fische kleine Fische fressen… Irgendwie müsst ihr Geld verdienen und über die Runden kommen.

Da muss man sich eben angewöhnen, realistisch mit seinen Erwartungen und Prioritäten zu sein…“

(Und auch, wenn der Techniker dabei überzeugt klang, weise sogar, kam Shinji nicht umher, eine gewisse Traurigkeit in den Augen des älteren Mannes zu erkennen – Er war sich am Ende nicht sicher, ob er sich das nicht nur eingebildet hatte, aber vielleicht hatte er einfach auch eine passende Kombination von Erfahrungen durchlebt, um diese spezifische Art von Erfahrung einfach zu erkennen… Die Worte nahm er auf wie ein Stückchen teure Zartbitterschokolade, dass man erstmal im Mund hin und her lutscht, bevor man es schluckt, um den Geschmack herrauszuarbeiten, spielte nachdenklich mit Variationen dieses Konzeptes herum und probierte es metaphorisch an, zögerlich damit, es in seiner Gesamtheit zu absorbieren.)
 

GEGENWART
 

„…das klingt irgendwie traurig…“ meinte Sakura.

„Ich weiß nicht… Auf jeden Fall ist da schon was dran…“

„Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, über so etwas nachzugrübeln, Onii-chan…“

„Vielleicht… Aber wir haben in der Schule ja bald diesen Berufs-Orientierungs-Tag, es wird wohl langsam doch Zeit, dass ich mir über die Zukunft ein paar Gedanken mache…“ meinte Touji, zunächst noch versuchend, vom Tonfall her etwas Humor in die Sache zu injizieren.

„…Wolltest du nicht immer ein Profi-Sportler werden, Onii-chan?“

„Ja, als ich noch ein Dreikäsehoch war, Sakura-chan… genau so gut könnte ich ‚Feuerwehrmann‘, ‚Lokomotivführer‘ oder ‚Premierminister‘ sagen… Ich weiß zwar noch nicht, was genau ich später machen werde, aber es ist schon so, wie Aoba-san das gesagt hat, mann muss ein Stück weit realistisch sein… Eines Tages werde ich immerhin ’ne Familie zu ernähren haben…“

„Das sieht dir wirklich nicht ähnlich, Onii-chan… Sagst du das jetzt nur wegen mir? Das du Geld für mich hast, fall ich niemals wieder laufen kann?“

„Sakura-chan…!“

Dem kleinen Mädchen war es so ernst, wie es einem kleinen Kind wohl sein konnte, was wohl wesentlich mehr war, als so mancher Erwachsene vermuten hatten, der das komplexe Innenleben seiner Jugend in Vergessenheit geraten lassen hatte.

In den langen Wochen und Monaten, die sie hier verbracht hatte, hatte sie nur zu genüge Zeit gehabt, sich so gut, wie sie es mit ihrem jungen Verstand begreifen konnte, klar zu machen, was genau es bedeutete, dass sie sah, wie die anderen Patienten aus diesem Raum heraus- und neue hereinverlagert wurden, während sie selbst immer da blieb, und wie aus der Frage, wann sie wieder gesund werden würde, die danach wurde, wie viel überhaupt noch zu retten war, und das ihre Familie, die ihr zuanfangs so oft wie möglich in dieser Ausnahmesituation zur Seite gestanden hatte, einfach aus praktischen Gründen dingen wie Schule und Arbeit nachgehen musste.

Aus einigen ihrer Lieblings-Bilderbücher wusste sie, dass sich das Wetter vor dem Second Impact im Laufe des Jahres sehr stark zu ändern pflegte; Sie hatte Bilder gesehen, die für sie, die sie Jahre nach der Katastrophe geboren worden war, wie außerirdische Landschaften wirkten; Welten bedeckt von glitzerndem Weiß, Blätter in den Farben von Feuer und Wälder in Pink, die ihre Blütenblätter zu tausenden dem frisch-kühlen Frühlingswind mitgaben, als sei dieser eine Braut, die sich vor ihrer Hochzeitsnacht Blumen ins Haar flechten ließ, Blumen so wie jene, von denen sich auch ihr Name ableitete.

Und hätte es diese Jahreszeiten auch jetzt noch gegeben, so wusste sie, dass die Zeit, die sie bereits damit verbracht hatte, aus dem Fenster dieses Raumes herauszustarren, wohl ausgereicht hätte, um ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich ineinander umwandelten.

Höchstwahrscheinlich hätte sie nicht nur den Beginn, sondern auch das dahinschwinden einer neuen Jahreszeit beobachten können, vielleicht noch nicht jetzt, aber schon sehr bald – Denn sie verstand sehr gut, dass sie schon eine lange, lange Zeit hier verbracht hatte, und wohl auch noch eine sehr, sehr lange Zeit hier bleiben würde.

Sie hatte das verstanden, und deshalb…

„Mach dir keine Sorgen, Onii-chan! Ich weiß nämlich auch schon, was ich später mal werden will, und ich werde mein eigenes Geld verdienen… du brauchst dich also gar keine Sorgen um mich zu machen…“

Touji hielt sich an dieser Stelle bedeckt – Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie seine kleine Schwester es immer durch die Wohnung posaunt hatte, dass sie eine Bellerina werden wollte – Es war eine üblicher Traum kleiner Mädchen, der vermutlich mit zunehmenden Alter konsequent verpufft wäre, und mitsamt dem typischen vierjährigen Rosa-Wahn zu einer witzigen Anekdote zusammengeschrupft wäre, wenn da nicht jenes klitzekleine, unschöne Detail wäre, der ihn mit einem tragischen Nachdruck verfestigt hätte: Die Tatsache, dass es jetzt nicht langsam vergangen, sondern mit einem abrupten Bruch zu einer Unmöglichkeit gemacht worden war; Was der hochgewachsene Junge im Jogginganzug jedoch stattdessen zu hören bekam, überraschte ihn nicht minder:

„Ich werde nämlich eine Krankenschwester!“

„Kranken… Schwester?“ gab Touji leicht bedröppelt zurück.

„Ist das so enttäuschend?“ fragte Sakura, ihre Ärmchen gespielt-ärgerlich verschränkend.

„Nein, auf keinen Fall… aber ich hätte gedacht, dass du nach dieser ganzen Geschichte hier erst mal nichts mehr mit Krankenhäusern am Hut haben willst…“

Sakura lächelte nur.

„Die Schwestern hier waren alle ganz nett zu mir, und das in so einer schlimmen Zeit… Und außerdem würde ich gerne anderen Kindern helfen, denen es genau so geht… Und wenn das mit der OP und so nichts wird, dann werd‘ ich halt eine Krankenschwester mit Rollstuhl. Und weißt du was? Ich werde die Lieblings-Krankenschwester von allen kleinen Jungs sein, weil ich nämlich immer all diese coolen Geschichten von meinem großen Bruder dem Profi-Sportler erzählen werde.“

„…Sakura-chan…“

Touji blieben die Worte weg – Und wiedermal sah er sich von all den guten Dingen überzeugt, die er je über seine Schwester behauptet hatte.

Diese Reinheit – dieses Licht, das ihn und seine Familie selbst in diesen finsteren, ungewissen Zeiten auf dem rechten Kurs hielt…

Er hätte es wohl nicht in diese Art von Worten gefasst, dazu war er wohl eine zu simple, bodenständige Person, die seine Gefühlen einfach physisch manifestierte, statt sie zur genauen Sezierung in der immateriellen Sphäre seines Schädels zu behalten, doch die Überzeugung, die er einfach ohne sich ihr groß zu widmen in ihrer ursprünglichsten Form eines gefühlen, gelben Lichtbogens zwischen seinen Schultern zu kenntnis nahm, hatte durchaus eine Entsprechung in Worten: Nur diese Unschuld konnte diese Welt noch retten, nur, was sie davon behalten konnten, durch die Vernichtung des Second Impact, und durch die Prüfungen der Endzeit hindurch; Und wo dabei seine eigene Rolle lag, war ebenfals ziemlich offensichtlich

„Ich bin mir sicher, dass du eine tolle Krankenschwester wirst, Sakura-chan… Wenn du nur weiterhin so bleibt, wie du bist…“

Und das ließ sie einfachnur lächeln, strahlend genug, um seine Entschlüsse zu bestärken – So lange sie nur weiter so lächeln würde, konnte diese Welt nicht so verloren sein, wie es alle sagten… und deshalb würde er eben dieses Lächeln mit allem beschützen, was in seiner Macht stand, koste es, was es wolle.
 

„Also, ähm, die CD hier… Aoba-san hat uns ja unter de Arme gegriffen, und außerdem hatten wir auch Shinji und Nagato dabei, die wirklich ahnung von Musik hatten… Es lässt sich also durchaus hören, auch, wenn ich kaum glaube, dass wir das Projekt jemals wiederbeleben werden…“

„Schon allein, weil ihr keine Sängerin mehr habt, hm?“

„Jah…“

Sakura betrachtete das CD-Cover, plötzlich mit einem gewissen Maß an Ernsthaftigkeit.

Sie deutete mit einem ihrer kleinen Finger auf eine unscheinbare Gestalt, die sichfast schon ein wenig hinter seinem großen, klobigen Instrument verschanzen wollen zu schien.

„…Dann ist das hier… der Roboter-Junge?“

„Yup. Auch, wenn’s ihm wohl lieber wäre, wenn du ihn nicht so nennen würdest… Er hasst den Job, und seid ich damals bei diesem Höllenritt dabei war, kann ich es ihm echt nicht verübeln…“ An dieser Stelle nahm auch der Gesichtsausdruck des älteren Geschwisterkindes eine ernster wirkende Konformation an.

„…Mach er sich… eigentlich immer noch Vorwürfe, wegen dem, was mit mir passiert ist?“

Touji kam sich wie auf Knopfdruck wie ein zu Recht bestraftes, unartiges kleines Kind vor.

Ein Stück weit wurde er die unvernünftige kleine Empfindung nicht los, dass er es etwas unfair fand, dass sie ihm wieder damit kam.

„Ich weiß, ich weiß, ich hab die Lektion ja gelernt… Wenn ich gewusst hätte, dass er damit so einen Komplex kriegen würde, hätte ich ihm niemals eine verpasst… und ich weiß auch, dass ich mir das vorher hätte überlegen sollen… Du hast ja Recht…“

„…das meinte ich gar nicht, Onii-chan. Aber… ist er denn ok?“

„Hm… In letzter Zeit mache ich mir da schon meine Sorgen… Er schien irgendwie… weit weg, als ob er mit irgendetwas beschäftigt wäre, von dem er uns nichts erzählt hat. Vielleicht von NERV aus. Ich denke nicht, dass es mit dir zu tun hat, jendenfalls nicht nur…“

„Trotzdem… meinst du, dass es vielleicht helfen würde, wenn… wenn ihn ihn mal treffen könnte? Das ich ihm… selbst sagen könnte, dass ich ihm nicht die Schuld gebe...“

„Das… das must du nicht machen, Sakura-chan.

Ihm nicht die Schuld zu geben ist eine Sache, aber wenn du diejenige bist, die sich verantwortlich fühlt, dann solltest du dich vielleicht doch daran erinnern, dass du diehenige bist, die gerade in einem Krankenhausbett liegt…“

„Es geht doch nicht nur darum!“ beklagte das kleine Mädchen mit einer milden Form kindlicher Eingerschnapptheit. „Denkst du, dass ich keine anderen Gründe hab, einen der besten Freunde meines großen Bruders kennenlernen zu wollen? Ken-chan kenne ich ja schon von früher, aber Ikari-kun habe ich noch nie gesehen, obwohl du immer von ihm erzählst… und dasselbe gilt auch für Mitsurugi-kun…“

Ah.

Verständnis, aber nicht ohne Ernüchterung.

Es ging ihr nur darum… weiter ein Teil seines Lebens zu bleiben, während sie dabei zu sehen musste, wie es weiterging, während ihr eigenes mit quietschenden Bremsen zum Stillstand gekommen war – Ihre Freunde aus der Schule kamen sie trotz anfänglicher großer Aktionen von Klassenlehrerin und besten Freunden immer seltener besuchen, und auch, wenn es keiner laut aussprechen musste, um Zeitangaben jeder Art möglichst diffus zu halten, war es nach über drei Monaten Abwesenheit aus ihrer Schule implizit klar, dass sie die Klassenstufe wiederholen müssen würde…

„Ich… ich werde sehen, was ich arrangieren kann…“

Aber das würde auch nicht leicht werden, insbesondere zu einem Zeitpunkt wie diesem.

Zuanfangts hätte er die Tatsache, das Shinji Sakura nicht von sich aus besucht hatte, nachdem er von ihr gehört hatte, ja, ihn nicht mal angesprochen hatte, um sich nach ihr zu erkundigen, oder wenigstens einen blöden Blumenstraus oder ein paar Postkarten geschickt hatte, einfach auf auf eine Denkweise geschoben, nachder das sowieso das Problem von jemand anderem war, und dass er selbst nichts dafür könne, nichts so radikales und realitätsfernes wie fehlendes Interesse oder mangelnde Reuhe, welche die offensichtlichen Reaktionen des EVA-Piloten nicht wegerklären konnten, aber doch genug, um seinen Ärger am kochen zu halten, und seine Entschuldigung hinauszuschieben – Und diese Vermutung bedurfte nicht einmal sehr vieler Annahmen. Empathie mochte ein Stück weit da sein, naschön, aber scheinbar konnte er es sich nicht leisten, sie für jemanden auszugeben, der einfach nur eines von vielen Opfern war… Vielleicht menschlich, aber feige.

Dann aber hatte Touji das Third Child richtig kennengelernt, dieses paradoxe, absurde Wesen – Shinji Ikari, Bezwinger von Göttern, zitternd vor ein paar kleinen Menschen; Es mochte wahr sein, dass er sich vor dem Schmerz von Enttäuschung und Ablehnung fürchtete wie sonst vor nichts, doch mitlerweile war es ihm klar geweorden, dass es doch noch eine andere Sache gab, vor der er sich noch viel mehr fürchtete: Die Möglichkeit, selbst zum Grund für das Leiden anderer zu werden.

Touji wusste von Kensuke, (selbst schaffte er sich seiner eigenen Reuhe wegen nicht wirklich, darüber ein produktives Gespräch zu führen, dass nicht dazu verdammt wäre, wenn nicht an Shinjis dann an seinem eigenen Ende verklemmen würde) dass das Third Child alle Neuigkeiten über Klein-Sakura geradezu aufsaugte, und darauf immer recht merkliche Reaktionen hatte… Es war nicht, dass er es einfach abwälzen könnte, dass er sich da überhaupt nicht einfühlen könnte – Nicht, weil er die Stärke und das moralische Rückgrad hätte, einzusehen, dass es so nicht sein könnte, sein, dann hätte er sich inzwischen dazu zwingen können, mit einem Blumenstrauß in ihrem Krankenzimmer in Odawara aufzukreuzen.

Wenn er den leichten Weg hätte nehmen können, hätte er er ihn wohl nach kurzem zögern erwählt, doch er wäre nicht weit gekommen, ohne umzudrehen, weil er ihn nicht reuhlos zuendegehen konnte- Es war nicht, dass er zu wenig Einfühlung besitzen würde, sich zu wenig um die Folgen kümmern würde, sondern zu viel- Er schämte sich so tief für das, was mit Klein-Sakura geschehen war, dass er es nicht fertig brachte, ihr sein Gesicht zu zeigen, und überzeugt war, nicht das Recht zu haben, dort überhaupt aufzukreuzen, oder sie Touji gegenüber auch nur zu erwähnen.

Es war sein Bewusstsein darüber, dass er etwas anrichten könnte, dass ihn stocken ließ – Aber auf die Dauer würde auch das freilich nicht produktiv sein.

Je mehr er darüber nachdachte, umso mehr erschien es ihm, dass Sakura endlich entgegenzutreten und sich nicht nur der Wahrheit ihrer Situation, die wohl weniger grimmig war, als er sich das vorstelle (Das wurde auch Touji selbst an dieser Stelle klar – Auch, wenn es schmerzte, sie so zu sehen, es hätte alles noch sehr, sehr viel schlimmer kommen können…), sondern in erster Linie seinen eigenen Gefühle bezüglich der ganzen Angelegenheit zu stellen, ihm eigentlich nur zu Gute zu kommen konnte…

Ihm diesen Vorschlag aber erfolgreich zu unterbreiten, würde eine ganz, ganz andere Angelegenheit sein, die er nicht zu unterschätzen wagte – Auf jeden Fall würde er sich zuerst ein Mal mit Kensuke beraten müssen, auch darüber, ob man Nagato zur Entschärfung der Situation gleich Mit-Einladen sollte, oder ob eine gewisse „Schärfe“ nicht notwendig war. Nagato selbst würde er wohl erst mal noch nicht informieren, nicht, weil er ihn irgendwie als „nicht zugehörig“ wahrnehmen würde, weil er dem ausgewählten Kreis im Kampf gegen den füfften Engel nicht zugehörig gewesen wäre – Wo Distanz war, war eigentlich nur eine Gelegenheit, sie zu schließen – sondern mehr aus einer Art Rücksicht.

Sein eigener Blick auf das Third Child war schon durch ihre Historie bedingt immer unverblümt gewesen, und Kensuke besaß mehr Einsicht, als man es ihm ansehen würde, und es war auch nicht Nagatos Bewunderung, für das Third Child, die er nicht zerschlagen wollte, vertrat er doch selbst das Prinzip, dass eine gute Freudschaft auf einem nüchternen, realistischem Bild voneinander basierte – Das war auch zwischen ihm und Kensuke seither ein bestimmender Faktor gewesen, und er hatte auch von Sakura nur lernen können, weil sie aller Bewunderung zum Trotz nicht verlegen war, ihm gepflegt die Meinung zu geigen… Es war vielmehr diese Wahrnehmung, die Nagato von Shinji als jemandem hatte, der ihm ähnlich war; Das mochte ein Stückweit stimmen, aber Touji hatte mittlerweile genug gesehen, um zu wissen, das Nagato an Shinjis Stelle noch an dem selben Tag, an der er von ihrer Existenz erfahren hatte, wohl noch halb von benommen von allem, was der Engel mit dem Evangelion angestellt haben mochte, direkt in Sakuras Krankenzimmer marschiert wäre, um sich direkt mit einer tiefen Verbeugung zu entschuldigen…

Nicht, das Touji sich zu diesem Zeitpunkt darüber den Kopf zerbrochen hätte, als er nach dem er sich von seiner Schwester verabschiedet hatte, und auf dem Display seines Handys zunächst Kensukes und nicht Nagatos Nummer auswählte; Es war in gewisser Hinsicht in eine logische Kontinuation von vergangenem, soetwas zunächst mit Kensuke zu besprechen – Sehr, sehr viel später sollte er jedoch Gründe bekommen, über all dies gründlich nachzugrübeln, getrieben von dem Verlangen nach dringenden Antworten, auf die Shinji vielleicht einen kurzen Ausblick bekommen würde, Touji selbst aber für alle Zeit verborgen bleiben würden…
 

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„…Vater…“

„Hm?“ Mitsurugi, der derzeit mit einem Holzspatel in einem Wok herumrührte und zu diesem Zweck seine langen, dunklen Haare in ein mittelblauen Haargummi und den Rest seines Körpers in eine blaue Schürze verpackt hatte, blickte von den Edelstahloberflächen der mitsurugi’schen Küche auf, um seinem Sohn entgegen zu sehen, der soeben in einer „geschlossenen“, Raumsparenden Haltung aus seinem Zimmer hervorgekommen war, den eigentlich nur verwundert-fragenden Blick seines Vaters ernst und mit schweiß an den Händen treffend.

„Ich würde… ich würde dich gerne frragen ob du… vielleicht… vielleicht kurz Zeit hättest…. Mit mir zu reden…“

„Ja gerne doch.“ Gab Mitsurugi Minoru augenblicklich zurück, den Blick nur kurzzeitig von seinem Sohn abwendend, um den Wok vom Feuer zu nehmen und abzudecken – Er war sich nicht Sicher, ob das wirklich eine gute Idee war, das Zeug vom Feuer zu nehmen und später weiterzukochen – Kikyo hätte es wohl gewusst – aber im Moment hatte etwas anderes schon aus Prinzip vorrang. Auch, wenn er seine Unbeholfenheit bezüglich deser plötzlichen, ernst wirkenden Nachfrage und seiner Angst vor dem, was schon seit langem drohte, über ihn hineinzubrechen drohte, nur unzulänglich verbergen konnte.

Von einem erwachsenen Mann sollte das eigentlich zu erwarten sein.

„…Natürlich, natürlich kannst du mit mir reden. Dafür habe ich immer Zeit, dass weißt du doch… Nagato. Was… was ist denn?“
 

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…und in den Schatten dieser dunklen Wolkenkratzer und all der einzigartigen Seelen, die darin ein und aus gingen, fand sich ein Wesen, dass hier definitiv nicht hingehörte, mehr noch, als die paar überirdischen Gestalten, die diese schwarze Zitadelle der Menschheit auf ihren eigenen Bahnen bespukten; Sie stach nicht mehr so heraus, wie sie es einst gestan hatte, hatte, kaum anders als die anderen ungewissen Rauchgestalten menschlicher Imitation, die sich hier finden ließen, Form und Formalität dieser für sie fremden Welt imitiert, und hätte man sie rein äußerlich betrachtet, war die Imitation mittlerweile besser als so manche andere; Ein passender, grün-gemusterter Rock spannte sich über die Schenkel der Gestalt, Wildlederstiefel reichten bis kurz unter ihre Knie, und sie hatte sich, unwirklich wie es scheinen mochte, sogar tatsächlich angeignet, wie man sich mit hohen Absätzen fortbewegen konnte; Ihren Oberkörper hingegen bedeckte ein roter Pullover, der die Formen darunter gut erahnen ließ, besonders, wenn sie ihre Arme wie jetzt gekreuzt hielt, während sie an einer Wand lehnte, und auch die Schirmmütze, die sie mit einer tief ins Gesicht gezogenen Sonnenschutz auf ihrem Haupte trug. Die Farben waren intensiv genug, um das glänzende Blau der Mähne, die ihr gleich einem Wasserfall über die Schultern strömte, fast schon perfekt dazupassen zu lassen, und im bläulichen Licht des Tokyo-3-er Nachtlebens fiel selbst der blasse Hautton nicht wirklich auf, genau so wenig wie die Art, wie sie an der teils mit vielen identischen Plakaten beklebten Holzwand des Gebäudes lehnte; Aus dem Gebäude selbst drang der Lärm von Musik und Tanz, Verstärkerboxen tränkten die Luft in bebende Vibration, eine Menge Leute standen hier draußen und schnappten kurz etwas frische Luft oder nahmen sich die Zeit, eine Zigarette zu rauchen, sie war also nicht die Einzige, und ihre Präsenz fiel in dieser Hinsicht also auch nicht auf, es war zu erwarten, dass man sie zu frieden lassen würde, ohne dass sie irgendjemandes Aufmerksamkeit erregen würde, und es ihr somit weiterhin möglich sein würde, auf das zu warten, worauf sie eben wartete.

Doch wie es mit der äußerlichen Ähnlichkeit auch stehen mochte, sie ging nicht tiefer als die oberen Schichten ihrer Haut, gleich den fruchtgummihaften, äußeren Schichten einer Tapioka-Perle, deren mehliges Inneres wenig Ähnlichkeit damit hatte, was sich am ehesten darin wiederspiegelte, dass sie nicht erwartet hatte, dass sie irgendwann mal eine kritische Masse erreichen könnte, einen Punkt, an dem sie sich dem äußeren einer gewöhnlichen jungen Frau so weit angepasst hatte, dass sie nicht nur nicht als Fremdkörper in diesem ganzen, großen verdorbenem Schwarmstock der Lillim wahrgenommen werden würde, sondern gar als akzeptabler Teil, dem man etwas anderes als die aktive Teilnahme gar nicht mehr unterstellen würde,und sich so mit einem jungen Mann konfrontiert sah, der sich auf die als „Leatha“ klassifizierte Lebensform zubewegt hatte; Als seine Schuhe ihr Blickfeld kreuzten, blickte sie auf, weil es gemäß der Information, die sie bis jetzt absorbiert hatte, dass war, was man von ihr als Teil dieser Lillim-Masse erwarten würde, wenn sie praktisch flüssig dort hinein schmelzen würde.

Der Mann verwechselte die Fehler in ihrem oberflächlichen „Interaktions-Programm“, das wenig mit dem Zutun hatte, worüber sie in jenem Moment wirklich nachgedacht hatte, und hier auch zu tun glaubte, jetzt, wo die nächste Manifestation so unmittelbar bevor stand, mit der Reaktion einer Frau, die von dem, was sie sah, zu anfangs recht unbeindruckt war, und unwissend der Gefahr, in der er und alle in der näheren Umgebung sich gerade befanden, gedachte er, dass zu korrigieren.

„Was macht so eine passable Schnecke wie du ganz allein hier draußen in der Kälte? Wieso kommst du nicht rein und machst Party?“

„Ich warte.“ Gab sie weniger zurück, als dass sie mit Kehle, Lungen und Mundraum diverse Aktionen ausführte, die das Ersuchen dieser testenden Drohne zufriedenstellen würde. Sie gedachte ihrer eigentlichen Tätitkeit von dort an nun volle Aufmerksamkeit zumessen zu können, und blickte geradewegs an dem Exemplar vorbei, es im weitesten Sinne als „abgehakt.“ einstufend.

Die Worte entsprachen im weitesten Sinne der Wahrheit, für so etwas wie „Verbergen“ hatte sie ein limitiertes inneres Verständnis, auch, wenn sich so etwas natürlich indirekt auf ihre angepassten Reaktionsmuster mit einfloss, und in die Filter für das, was funktionierende, zu

Doch obwohl sie dem Subjekt eigentlich gegeben haben müsste, was er soweit es sich aus seinen Anfragen entnehmen ließ ersucht hatte, machte sich dieses noch nicht von dannen.

„Was für ein Schweinehund lässt denn ein hübsches Püppchen wie dich hier draußen herumstehen? Richtig schämen sollte sich der Halunke… Weißt du was? Ich glaube, dein Rosenkavalier würde dich auch genau so gut finden, wenn du drinnen auf ihn wartest…“

„Er soll mich nicht finden. Ich bin hier, um ihn zu finden.“ Antwortete das als „Leatha“ klassifizierte Wesen tonlos.

„Wie wärs, wenn wir uns dann an die Bar hocken? Von dort aus dürftest du ihn sehen, wenn er hier rein marschiert! Ich geb dir sogar was aus, womit du dir die Zeit vertreiben kannst!“

„Das wird nicht notwendig sein.“

„Au mann. Du weißt sicherlich, wie man jemandem die kalte Schulter gibt, Kleine.“

Ihre Versuche, dieses Lauten irgendwelche Informationen oder Anforderungen nach weiteren Reaktionen zu entnehmen, schlugen fehl.

„Na komm schon. Auch mit deinem hübschen Gesicht bekommst du doch mit sicherheit nicht jeden Tag was ausgegeben! Weißt du was, du könntest doch einfach mitkommen. Von der Kante stoßen kannst du mich immer noch, nachdem du ein gratis Getränk bei mir abgestaubt hast!“

Sie konnte in dieser Logik keine Fehler finden, zumindest nicht auf die gröbste Art und Weise, mit der sie sie vearbeiten konnte, fast schon als eine Art mathematischen Ausdruck mit Variablen und Regeln dafür, wie mit den Operatoren dazwischen zu verfahren waren – Ob sie auf dieser oder jener Seite der dünnen Holzwand stand, machte für ihre Aktivitäten tatsächlich keinerlei Unterschied.

Wenn ihr nun aber eine passende Logik präsentiert wurde, gab ihre Information darüber, wie sich ein Steinchen im Mosaik der Lilim verhalten würde, eine wahrscheinlichste Verhaltensweise an – Und in ihrem limitierten Begreifen dieser Welt, in die sie nicht gehörte, sah das ganze wesentlich rigider aus, als sich der Sachverhalt für eine tatsächliche junge Frau dargestellt hätte, die den bemühren Romeo jetzt immer noch mit einer nicht gerade kleinen Wahrscheinlichkeit von der Kante stoßen können hätte – Für „Leatha“ gestalten sich die weiteren Handlungsmöglichkeiten nun so, dass sie das Verhalten eines gewöhnlichen Lillim-Bruchstücks weiter emulieren könnte, oder dies aber abbrechen könnte, und ihre Warterei weiter fortsetzen könnte – Da sie eine kleine Abweichung von der allergröbsten Allgemeinheit jedoch nicht von etwas zu unterscheiden wusste, dass sie direkt verraten würde, würde dieser Fall mit sich bringen, sowohl dieses Exemplar hier vor ihrer Nase, als auch alle weiteren, möglichen „Zeugen“ an diesem Ort …in Ressourcen umzuwandeln.

„Also, was is nun?“ fragter der junge Mann noch mal, nichts davon ahnend, dass er vielleicht den Strick zu der Guillotinen-Klinge in seinen Händen hielt, die über den Hälsen aller Menschen in der näheren Umgebung in der Luft hing, seinen eigenen miteingerechnet.

„Ja oder nein?“

…es war unwahscheinlich, dass sie so viel Material rechtzeitig verarbeitet bekommen würde, nicht jetzt, wo die nächste Manifestation unmittelbar bevor stand.

Sie fragte ihre gesammelten Daten über solche Situationen ab.

„Ich…komme…“ antwortete sie, wenn auch mit einer gewissen Distanz in ihrer Stimme.

Einer alten Prägung folgend hielt sie ihm ihre Hand hin, was ihn nun etwas zu überraschen schien, aber als ein Zeichen des Triumphes gewertet wurde.

„Also, dann, gehen wir. Die müssten in wenigen Minuten sowieso Happy Hour haben… und glaub mir, die Hour wird heute besonders Happy sein!“

Sie suchte nach einem korrekten Muster für die nächste Aktion.

Er hielt ihre feinen Finger kunstos in seine eigenen verpackt, beiläufig, als würde er einen Koffer hinter sich herziehen, und irgendwas erschien ihr falsch, aber nicht auf eine Art, die sie erklären oder begreifen konnte… Ob sie ihn nicht doch „ernten“ sollte?

Da waren eine Menge verfügbare Optionen, doch es gab eine, ursprünglichste Prägung, die über alle anderen Präzedens erhalten sollte:

"Probier's doch mal... mit einem Lächeln..."
 

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(1) Random lateinisches Zitat am Anfang = „Wachet und betet, denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde“, einige von euch kennen den Spruch vielleicht aus einer Endzeitparabel im Matthäus-Evangelium, (Wortwitz nicht beabsichtigt) was auch einen netten Kommentar darüber abgibt, wie in Tokyo-3 sozusagen alle jederzeit für den kommenden Weltuntergang bereit sind und deshalb diese Berge an Hochtechnologie gebastelt haben…

(2) Der Expressionismus war ein Kunststil, bei dem unter anderem die Isolation in den damals neu entstandenen großen Städten war. Man könnte mit einiger Berechtigung sagen, dass Van Gogh ihn begründet hat. Das als 1. Kapitel-Zitat benutzte Gedicht könnte als expressionistisch eingestuft werden.

(3) Gendo’s & Fuyutsuki’s Gespräch am Anfang… Was einem auffält, wenn man sich die jap. Original-version aus ep 17. anhört, ist, das Fuyutsuki konsistent das aus dem Englischen entliehene Wort „paradise“ benutzt, während Gendo von „rakuen“ (im wesentlichen der japanischen Entsprechung- Wolf’s Rain, anyone?) labert; Ich wollte den Unterschied in der Terminologie, der wohl auch etwas über die Ansichten/Persönlichkeiten der zwei aussagen soll, irgendwie rüberbringen, weshalb ich Gendo hier einfach mal etwas „salopper“ von „Dem Garten [Eden]“ sprechen lasse. (laut dem I-net Wörterbuch, dass ich gefunden habe, ist „pleasure garden“ eine mögliche alt. Übersetzung, die ähnlichen Konnotationen sind also scheinbar gegeben. )

(4) Die Idee, dass Kensukes Vater daran beteiligt war, seinen Piloten-Plänen einen Strich durch die Rechnung zu machen, stammt aus seinem Szenario in dem Videospiel „EVA 2“. In dem Spiel lief das ganze ziemlich ironisch ab, sodass Kensuke seinen Wunsch letzlich erfüllt bekommt – Aber erst, nachdem sowohl Kensukes alter Herr als auch Touji (der in diesem Szenario nicht von Bardiel erwischt wurde) Zeruel zum Opfer gefallen waren… Interessanterweise ließ er sich dort selbst von dem Wissen über die wahre Natur der EVAs nicht abhalten, sondern war durch die Möglichkeit, so vielleicht seine verstorbene Mutter zu treffen, noch mal erst recht motiviert… Auch einige der Details zu den Bridge-Bunnies sind aus dem Spiel entnommen entnommen. Aber gespielt hab ich’s nicht, hab nur auf einigen Internet-Seiten dieses & jenes gelesen, & dann meine Fantasie spielen lassen… Nur so Ansätze, der Großteil ist hauptsächlich mein Versuch, die Schulkinder, Bridge-Bunnies & Tokyo-3 als ganzes mit Tiefe zu versehen – Ich denke, da ist schpn eine Menge tiefe drin, für so Nebencharaktere, man kann da Tiefe finden, wenn man gut hinsieht, aber die Zeit dafür zu haben, nicht alles in eine bestimmte Zahl von Minuten quetschen zu müssen, ist einer der Vorteile des geschriebenen Mediums; Das visuelle hat andere Vorteile, umdas ich es bisweilen sehr beneide, wenn ich die schon nicht habe, denke ich, dass ich die Vorteile von Text dann mindestens Ausreizen sollte.

(5) Die Anlehnung an eine gewisse Folge von „Digimon“ gebe ich hier gerne zu – Es war einfach zu perfekt.

(6) Wenn ich es nicht komplett verkackt hatte, sollte diese Szene mit „Leatha“ als unheimlich rüber kommen…

(7) Nächstes Kapitel ist zu 90% fertig und folgt auf dem Fuße, habe nur wieder wegen Länge gesplittet. Ich empfehle trotzdem, „The IdolatrousExpressionismPunk“ nach Möglichkeit in einer Sitzung zu lesen (soweit das bei so viel Text halt geht), dh., inklusive den in Bälde kommenden Teilen drei und vier.



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