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Children of the Prophecy

Die Kinder der Prophezeihung
von

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19: [The World]


 

19: [The World]
 

 
 

Gisei
 

naki sekai na to ari wa shinai
 

kizukanai no ka?
 

wareware wa
 

chi no umi ni hai o ukabeta jihoku no na o
 

kari ni sekai to
 

yondeiru no da
 

 
 

-Kubo Tite
 

 
 

[:]
 

 
 

Es gibt keine Welt ohne Opfer.
 

Hast du es noch nicht begriffen?
 

Wir sind
 

In einem Meer aus Blut, nichts als Asche, die durch eine Hölle treibt
 

Die wir Mangels eines anderen Wortes
 

“Die Welt” nennen
 

 

 

 

Kaum, das sich die Schiebetür automatisch öffnete, tönte ein bewusst nicht zurückgehaltenes Gähnen in den Raum hinein, und das Armpaar, das der eisame Insasse des Kahütenartigen Räumchens als erstes zu sehen bekam, als er sich nach Vernehmen des ersten Geräusches von den Kreuzworträtseln abwendete, mit denen er sich ruhig beschäftigt hatte, sobald alle für heute vorgesehenen Schularbeiten gewissenhaft erledigt und zu seiner linken feinsäuberlich zu einem Stapel zusammengelegt worden waren, wurde genüsslich durchgestreckt, sobald dessen Besitzer den Türrahmen passiert hatte und so nicht mehr befürchten musste, sich an diesem anzustoßen.

Doch das Gesicht des mit einer Lesebrille bestückten Jungen, dessen glänzendes, kinnlanges, dunkles Haar noch ohne Einschränkungen durch irgendwelche Kopfverbände herrabfiel, hellte sich nicht so sehr auf, wie man es hätte vermuten können, oder vielmehr hatte es den Anschein, als hätte die Aufhellung, die der schlanke, dunkelhaarige Mann, der den Raum soeben betreten hatte, zwar begonnen, aber mittendrin aufgehört, als hätte irgendwas seine Mundwinkel dabei unterbrochen, sich vollständig zu einem Lächeln zu formen, dessen halbfertigen Rest er schnell verschwinden ließ, wie man es nun mal mit Dingen machte, die einem zu peinlich waren, als das man sie selbst seinen engsten Vertrauten zugänglich machen würde.
 

Doch wenn dies dem älteren, langhaarigen Mann, der da mit einem weißen Kittel über seiner NERV-Uniform hineinstolziert kam, wirklich auffiel, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken, in seinem Tonfall fand sich nicht der Hauch einer Trübung: „Ah, es gibt doch nichts schöneres, als nach einem erfolgreichen Arbeitstag ins traute Heim einzukehren, und dort von seiner Familie erwartet zu werden… Tachchen, Nagato!“

„…Guten Tag, Vater…“ gab der jüngere Mitsurugi zögerlich zurück. „Es… freut mich, dass dein grßes Experiment gut verlaufen ist…  oh, und, ähm, Hallo Ueda-san. Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen guten Tag.“

Und diesen letzten Teil setzte er fast schon reumütig hinzu, nicht etwa aus Reue darüber, ihn überhaupt aussprechen zu müssen, sondern weil er die dunkel gekleidete Dame, die seinem Vater wie ein stiller, unbewegter Schatten durch die Tür gefolgt war, nicht schon im ersten Atemzug explizit angesprochen und gegrüßt hatte.

Guter Dinge an seinem Sohn vorbeischreitend, ließ sich Mitsurugi Minoru lässig in sein Bett fallen, wie er es mit einer Couch getan hätte, wenn er in dieser kleinen Kahüte denn eine gehabt hätte.

„Hach, ich glaube, wenn ich heute noch einen Messgraphen sehe, laufe ich Gefahr, einige empfindliche Geräte zu zerdeppern… Sie sollten mich besser nicht mehr in die Nähe der Labore lassen, Ueda-san… Aus Sicherheitsgründen, versteht sich!“

 

SIEBEN STUNDEN ZUVOR

 

Die dunklen Korridore mochten beinahe lichtlos sein, und die Luft in ihnen stand schon lang genug still, dass sich noch die schalen Reste des Afterschaves der Person herausschnüffeln ließen, die als letztes hindurchgegangen war, aber Mari konnte die heiße Melodie, die sich wie ein  Geheimnis durch diesen Ort zog, deutlich hören, und ihr war scheißegal, dass das sonst keiner konnte.

In ihrem Kopf hörten die Melodien niemals auf, sich zu drehen, und die Geschichten mit ihren endlosen kleinen Figuren wurden niemals müde, einander zu erzählen.

Die geheimen Töne bestimmten das Klacken ihrer Schuhsolen auf dem metallischen Füßboden, waren das Metronom zum schwingen ihrer Hüften und beherrschten sogar die Art, wie die Spitzen ihrer beiden langen Zöpfe von jedem Bruchteil ihrer Bewegungen in Schwingung versetzt wurden.

Ihre Finger hörten nicht auf, zum Schlagen ihres Herzens zu schnipsen.

Was das Herz selbst anging, so könnte man sagen, dass es derzeit wesentlich näher an der Oberfläche ihres Körpers lag als es das nächstes Jahr um diese Zeit tun sollte – hätte sie ihren grünen Plugsuit getragen, hätte er zu diesem Zeitpunkt noch gepasst wieangegossen.

Doch auch, wenn die Entwicklung ihrer weiblichen Kurven noch nicht ganz abgeschlossen war, waren die frührreifen Knospen, die teils aus dem spätestens seid ihrem letzten Wachstumsschübchen etwas zu eng gewordenen BH hervorquollen, bereits von beachtlichen Umfang, der die Maße ihrer Mit-Pilotinnen selbst dann noch ausgestochen hätte, wenn sie bereits im selben Alter gewesen wären.

Später sollte sie wehmütig an die Zeit zurückdenken, als sie ihre Büstenhalter noch im normalen Einzelhandel bekam, und sie nicht wegen extremer Übergröße im Internet bestellen musste, hach, die Unschuld ihrer Kindheit!

Doch ihre Körbchengröße spielte allerhöchstens eine recht periphere Rolle in ihren Gedanken, als sie diesen Flur entlangschritt, und dass auch nur, weil der zuenggewordene BH wie bereits erwähnt etwas zwickte – Oh nein, Makinami Mari Illustrious hatte an diesem Tag einen wesentlichen größeren Fisch zu fritieren, und jeder, der ihr selbstsicheres, aber auch kindlich-aufgeregtes Grinsen gesehen hätte, hätte nicht lange gebraucht, um sich davon zu überzeugen.

Dieses Lächeln, dass sie selbst in Situationen äußerster Hoffnungslosigkeit aufrecht erielt, könnte man durchaus als eine Manifestation ihrer endlosen Stärke sehen, die völlige Ruhe, mit denen sie an all den mit „TOP SECRET“ beschrifteten Türen und Wänden vorbei ging, ließ sich allerdings nur noch als Wahnsinn erklären.

Ihr Sinn für Gefahr schien nicht mal auszureichen, um sie davon aufzuhalten, ihre Melodie beschwingt vor sich hin zu summen, oder gelegentlich einen Hopser zwischen ihre Schritte einzubauen, und tatsächlich schien es, als hätte sie genau so wenig zu befürchten, wie sie vermuten ließ – Bis auf den Klang ihrer Stimme und ihrer Schuhe waren diese Korridore scheinbar völlig still, bis auf sie schien diese Sektion völllig verlassen.

Sie ging, wo auch immer es ihr beliebte, hinzugehen, und alles, was ihr in den Weg kam, bog sich eher nach ihr, als sie sich nach ihnen bog: Panzertüren öffneten sich, schleusen entriegelten sich, Reinräume lagen ihren Bakterien hilflos zu Füßen, weil die zwangsweise zu besteigenden Duschkabinen sie durchließen, ohne das auch nur ein Haar auf ihrem Kopf nass wurde, und nicht mal die vierfache Metaltür im Allerheiligsten dieser Anlage hielt sie lange auf – Im Angesicht des Türscanners holte sie einfach eine Karte heraus, die im Gegensatz zu denen anderer Mitarbeiter  keine Aufdrücke mit einem Bild und persönlichen Details der Benutzerin zeigte, sondern sich komplett in einem strahlenden Blutrot zeigte.

Wirklich schlampig, es war wirklich ersichtlich, das SEELE seine Mitarbeiter nach Loyalität auswählen musste, bevor sie deren Fähigkeiten bedenken konnte – Als sie die Tür von der Computerzentrale aus freigeschaltet hatten, hatten sie vergessen, dass alle Türen, die überhaupt freigeschaltet wurden, für gewöhnlich dadurch automatisch auch für den Generalschlüssel zugänglich wurden, dessen Zugang man sonst gesondert deaktivieren müssen würde, und das, trotz all der subversiven Elemente, die derzeit in der Basis herumschlichen  – Aber Mari wollte wirklich nicht zu pingelig sein, SEELEs Agenten hätten ja nicht wissen können, das einer der Generalschlüssel, wie sie zu dem Zeitraum benutzt worden war, als die Systeme der Basis noch dabei waren, überhaupt instaliert zu werden, und es hier noch wesentlich weniger empfindliche Geheimnisse verwahrt wurden, der recht systematisch durchgeführten Vernichtung entkommen sein könnte.

Gut möglich, dass die meisten von ihnen damals noch nicht hier gearbeitet hatten, und diese Vernichtung daher auch nicht persönlich mit ihrer üblichen Effizienz geleitet hatten.

Es würde die gut bestückte Evapilotin nicht einmal wundern, wenn sich keiner die Mühe gemacht hatte, die Sicherheitsbeauftrage über diese alten Generalschlüssel zu informieren – Typisch, dass sich SEELE mit den armen Schluckern, die ihre schicke Untergrundbasis überhaupt gebaut hatten, überhaupt nicht befassten, und erst begannen, sich für diese Basis zu interessieren, als ihre hübschen Spielzeuge bereits hineingebracht worden waren.

Und das biss sie jetzt gepflegt in den Arsch: Einmal durch den Schlitz gezogen brachte das wundersame Kärtchen die großen, bösen Panzertüren dazu, sich gepflegt zu öffnen, ohne die junge Dame davor mit bitten um Fingerabdruck- oder Irisscans aufzuhalten.

Die vierte Tür gab sich mit der Karte nicht zufrieden und verlagte einen Code, doch den konnte sie haben – begleitet von heiterem Singsang tippte Mari unbekümmert darauf los, ungeachtet der Folgen, die ein falscher Tastendruck unter normalen Umständen gehabt hätte – Ohne jetzt zu einer großen Rede anzusetzen, will ich verraten, dass die Alarmsirenen und promt hineinstürmenden, bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitsfriztzen Maris geringstes Problem gewesen wären.

Aber siehe da, der Aparillo an der Tür schluckte das, was der sorglose Eindringling (###000-pink-777###) hineingetippt hatte, bereitwillig hinunter, und „Seeeeesam, öffne dich!“

Tatsächlich hörte man, wie die Räderwerke in dem Schloss zu klicken begannen, und es war davon auszugehen, dass diese den normalen Schlossmechanismus umgehende Notfallfunktionalität bald alle Türchen offen haben würde, wie ein Adventskalender am 24.

Wie Mari an einen persönlichen Überbrückungscode gekommen war, von der Sorte, die allerlei versteckte Hintertüren in der Software aktivierten, die von SEELE und GEHIRN fast universell benutzt wurden, war eine lange Geschichte, aber jetzt erfüllte es jedenfalls seinen Zweck, und die Riegel klackten auf.

„Jackpot!“ rief das Mädchen zufrieden aus, und griff nach dem außer Position gefahrenen, aber an einem Ende noch mit der Tür verbundenen Riegeln, um erstere zu öffnen, wobei sie, ohne sich weiter aufzuhalten, weiter begann, dieses Lied vor sich hin zu singen, dass ihr seid sie es vor einer Weile im Radio gehört hatte, einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte – Und wurde, kaum dass die damit fertig war, die Tür beiseite zu schieben, und den Bridge fertig zu dudeln, aus dem Inneren mit dem Refrain gegrüßt, mit einer hellen Knabenstimme, die zugleich zu klar, rein und regelmäßig schien, um von etwas unsauberem wie schleimigen menschlichen Stimmbändern erzeugt worden zu sein – Vielmehr könnte man meinen, dass, unwahrscheinlich wie es auch war, eine Querflöte aus dem strahlensten zwergengeschmiedeten kalten Eisen das Ende audgerissen und zu sprechen begonnen hatte – Ein Blick zur Seite, und Mari fand die Behältnisse der beiden hier einbehaltenen Engel, einen hübschen Panoramablick auf die Nummer drei – Doch da sie diese keinesfalls zum ersten Mal sah, hielt sie sich nicht lange mit ihnen auf, sondern richtete ihre bebrillten, blau-grünen Augen auf den deutlichen Elefanten im Wohnzimmer:  Den halbnackten, holden Jüngling der, nach Ende seines eigenen glänzenden Gesangsbeitrags lächelnd klatschte, und sogar Worte des Lobes übrig hatte: „Sehr schön, du hast wirklich eine tolle Stimme… Fourth Child, Makinami Mari Illustrious… Es freut mich, dir endlich persönlich zu begegnen.“

Was da auf einem unwürdigen, schlichten Plastikstuhl saß,  hatte Ähnlichkeit mit einem Knaben in Maris Alter, doch kein vierzehnjähriger Teenager, die ja für gewöhnlich schlacksige, halb geformte, pickelige Geschöpfe voller Komplexe über ihr Äußeres waren, hätte so perfekt sein können; Er schien nicht wie etwas, das aus dem gewöhnlichen Allerweltsstaub dieser Erde hervorgegangen sein könnte, das ganze Periodensystem enthielt nichts, dass in Form und Essenz so rein sein könnte – Vor ihr lag ein Körper, gegossen aus Orichalcul, mit Haar schimmerd wie Mythrill, und Augen, wie die ewigen Flammen, die im Herzen eines Drachen brannten, und  von dort aus seinen Feuerodem nährten.

Und er hatte kein Hemd an.

Mari konnte sich ein Pfeifen nicht verkneiften, beäugte ihn danach aber erst etwas supekt.

„…Du must SEELEs Junge sein. Das Fifth Child.“

„Ganz recht. Ich bin wie du. Eines der auserwählten Kinder… Ich muss zugeben, dass du gut informiert bist…“

Nicht so gut, wie er das vielleicht dachte – Das mit dem Fifth Child war etwas, das SEELE scheinbar besonders gern unter dem Teppich behalten wollte, und bis auf dessen schlichte Existenz hatte selbst Mari nicht besonders viele Informationen darüber an Land ziehen können, noch nicht mal dessen Geschlecht oder einen Namen, auch, wenn sie natürlich durchaus ihre Vermutungen gehabt hatte.

Doch als sie einen Jungen in ihrem Alter in einem Hochsicherheitsbereich entdeckte, brauchte man praktisch nur noch eins uns eins zusammen zu zählen – Das hier war das erste mal, dass Mari von einem männlichen Kandidaten erfuhr, ihres Wissens nach waren sowohl das First Child in Japan, das Second Child in Deutschland und die amerikanische Kandidatin alles Mädchen. Im Falle des First Childs gab es da zwar noch ein gesondertes Stück Erklärung, aber theoretisch zeichneten sich brauchbare Kandidaten durch bestimmte Reaktionen auf die Kontamination durch den Second Impact und gewisse exotische Mutationen aus, die den nächsten Schritt der menschlichen Evolution  darstellen könnten – Und Mädchen hatten einfach generell eine bessere Chance, Mutationen oder sonstige Fehlbildungen zu überleben, sodass obwohl durchschnittlich ein kleines bisschen mehr Jungen gezeugt wurden (Ohne ein zweites X-Chromosom mitschleppen zu müssen waren die betreffenden Spermien leichter und somit schneller), die weiblichen Embryonen, die tatsächlich bis zur Geburt überlebten geringfügig überwog, und zum Beispiel auch die meisten überlebenden siamesischen Zwillinge weiblich waren – Aber es hatte im Laufe der Geschichte auch genügend männliche gegeben.

Was Mari aber als nächstes tat, hätte bei den meisten herranwachsenden Männchen eine wesentlich heftigere Reaktion ausgelöst, als Tabris‘  neugierig-amüsiertes Hinterherblicken, das allerhöchstens mit einer leichten Neigung seines Kopfes einherging: Sie war mit zielstrebigen Schritten auf ihm zumarschiert, hatte sich auf eine Art und Weise vorgebeugt, die ihre Oberweite praktisch direkt im Zentrum seines Blickfeldes baumeln ließ, und kam ihm wesentlich näher, als die meisten Menschen es völlig gelassen hinnehmen würden – Aber in diesem Fall hatte Maris „Opfer“ ausnahmsweise genau so wenig Sinn für Privat- oder Intimsphäre wie Mari selbst, und ließ sich ohne wirkliche Reaktion an den Schenkel tatschen- Doch zu ihrer Verteidigung waren Maris Motive dabei wesentlich unschuldiger, als man hätte meinen können, denn statt sich Zeit für sinnliches Verweilen zu nehmen, hatte Mari ebenso ahnungslos darüber, wie man die Situation extremst falsch verstehen könnte, ihr Ziel von Anfang an fest im Sinn gehabt, und das bestand darin, ihr feines Näschen an den Nacken des Jungens zu bringen – Kaum, dass die kurz daran geschüffelt hatte, zog sie sich gleich einer Wissenschaftlerin, die erfolgreich an eine heiß begehrte Probe gekommen war, augenblicklich weit genug zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen und ihr Urteil zu verkünden: „Du riechst komisch.“

Tabris selbst hatte bei der ganzen Prozedur nicht einen Moment lang sein übliches, entspanntes Lächeln abgesetzt, und präsentierte es dem Eindringlich selbst jetzt noch, als er antwortete, als hätte sie ihn ganz normal zu einem gepflegten Diskurn eingeladen:

„Inwiefern?“

„Komisch halt. Aber keine Sorge, nicht ‚komisch‘ in dem Sinne, dass du Wasser und Seife vertragen könntest.“ Entgegnete sie, scheinbar unvorbereitet auf eine Gegenfrage, und selbst noch dabei, über die Angelegenheit nachzudenken. „Anders, als irgendein anderer Mensch, der mir je unterkommen ist. Komisch, aber nicht übel. Irgendwie wie Weihrauch…“ mutmaßte Mari, sich nachdenklich am Kinn kratzend.

Schließlich errinnerte sich daran, sich von ihm zu lösen, wenn auch nur, weil es ihr eingefallen war, sich in dem Raum etwas umzusehen – Ihr Blick verweilte kurz auf dem Y-Förmigen Verbindungsstück, und hinter den Spiegelungen ihrer Gläsern verborgen zeigten ihre Augen kurz ein suspektes, ernstes Erkennen, dass sich dort aber nicht besonders lange hielt.

„Was macht so ein komischer Kerl wie du eigentlich hier?“ fragte sie, ohne ihn anzusehen, weil sie sich neben dem Kabelsalat hingehockt hatte, um diesen genauer zu examinieren, eine Pose, welche die extreme Kürze ihres Uniform-Rockes noch mal so richtig zur Geltung brachte, ohne dass sich irgendeiner von den beiden besonders über die teilweise sichtbare Pobacke scheren würde, die glücklicherweise noch notdürftig von ihren Strumpfhosen verhüllt waren.

Sie warf einen prüfenden Blick hinein in die unterseite der Konsole, von der ein Paneel entfernt und an die daneben angelehnt worden war, um an die darin liegende Schnittstelle heranzukommen, an  die die Kabel angeschlossen waren.

Tabris wendete sich zu ihr hin, soweit es seine „eigenen“ Kabelenden zuließen, um sie weiterhin aufmerksam zu beobachten, während sie aufstand, und sich der über die restlichen Bildschirme und Konsolen flimmernden Anzeigen besah, und gelegentlich kurze, spontane Kommentare wie „Wow.“ Oder „Mein lieber Scholli…“ von sich gab.

Der Engel schätzte, dass sie sich die Tatsache, dass seine derzeitige Beschäftigung zu großen Teilen als ‚Versuchskaninchen spielen‘ zusammenfassen konnte, selbst denken können würde, also bezog er diesen Teil bei seiner Antwort nicht ein.

„Ich habe etwas gesungen, um mir die Zeit zu vertreiben…“ erklärte er in völliger Offenheit. „Das heißt, bis ich deine Darbietung gehört habe.“

Die meisten Menschen hätten jetzt wohl eingewendet, dass er sie durch die ganzen Panzertüren unmöglich hatte hören können, dieser ganze Raum war praktisch luftdicht, doch Mari fand andere Dinge derzeit wesentlich interessanter: „Ach was, dudelst du auch gerne vor dich hin, wenn du gut gelaunt bist?“

„Sicher doch. Die Freuden dieser Welt sind es wert, gefeiert zu werden.“ Bestätigte er gut gelaunt.

„Na so was.“ Kommentierte Mari, einen Code in eine Konsole eingebend, um dort etwas zu überprüfen – Um überhaupt in diesen Raum hinein zu kommen, musste man so einer hohen Geheimhaltungstufe angehören, dass man von hier aus so ziemlich alles in den Datenbanken anzapfen können müsste, zumindest wenn man wusste, was man suchte, zum Beispiel ein ganz bestimmtes Passwort. Es lautete im übrigen ‚The Beast‘, was Mari selbst überaus passend fand.

Aber das war nicht der Grund für ihre letzten paar Worte: Bis jetzt hatte sie immer gemeint, dass sie die Einzige sei, die solche „seltsamen“ Dinge tat.

Aber sie war generell nicht der Typ, der sich mit langen Grübelleien aufhielt, über das, was gewesen war, und das, was hätte sein können – So was hatte sich als eine recht effektive Methode herausgestellt, sich unglücklich zu machen, und das konnte Mari nicht brauchen.

Sie konnte gar nichts brauchen, was sie binden oder zurückhalten könnte, also hatte sie all das vor einer Zeit, die sicht mitlerweile länger anfühlte, als sie wirklich gewesen war, hinter sich gelassen, so weit, dass sie sich nicht einmal an die Geschmäcke und Gerüche dieser anderen, „normalen“ Welt erinnerte, aber das störte sie nicht – Vermutlich war es sowies bloß alles grau und fad gewesen, und selbst wenn nicht, war es vorbei, also war es von Vorteil, es so zu sehen.

Wo andere Erinnerungsstücke mit sich herumschleppten, und Schatten der Vergangenheit mit sich herumtrugen, hatte Mari gelernt, das alles loszulassen, und nur noch Gelegenheiten für die Zukunft zu sehen – Gelegenheiten, von der jetzt eine weitere reif für die Ernte schien.

Andere hätten sich vielleicht nicht getraut diesen spontanen Einfall auszusprechen, den die Mehrzahl der großen, grauen Leute da draußen mit Sicherheit für leicht irre gehalten schienen, aber Mari zog es wirklich vor, es darauf ankommen zu lassen, als irgendwann mal einer verpassten Gelegenheit nachzuweinen.

All diese Dinge, von denen es hieß, dass sie wertvoll waren, dass sie wichtig waren,  so wie die Meinungen fremder Leute, die einem einen schönen Tag wünschten, obwohl sie beide wussten, das es sie nicht besonders stören würde, wenn sie sich irgendwo zusammenkugeln und verrecken würde, sowie das Urteil jener in Grüppchen herumkichernden Kobolde, dieser Halbgötter, die man als die „hübschen und beliebten“ Mädchen bezeichnete, und insbesondere das, was irgendwelche verstaubten alten Fürze für manierlich und angemessen hielten… Sie hatte gelernt, das alles reißen, bluten und davonwaschen zu lassen, und wenn es zerbrochenes Glas geben sollte, dann sollte es halt brechen, dann würde sie es halt brechen lassen – Sie waren es nicht wert.

„Feierst du die Welt auch gerne im Duett?“ fragte Mari, sich verrichteter Dinge zu ihrer Begleitung hindrehend.

„…ein Duett… mit dir?“

Faszinierend, über alle maßen faszinierend. Tabris konnte nicht leugnen, dass dieses Mädchen anders zu sein schien, als alle Lillim, die ihm zuvor je begegnet waren.

Ihre Gedanken waren ganz ähnlich, auch, wenn sie sie wesentlich simpler ausdrückte: Sie fand den Typen recht sympathisch.

Handwerkerisch-Praktisch in ihren Bewegungen klopfte sie sich den nichtvorhandenen Staub von den Händen, und breitete sich im Schneidersitz nebst dem Plastikstuhl des Engels aus.

„Schön-schön, ich sehe, dass wir uns verstehen. Irgend einen Peil, was wir singen sollen?“

„Nun, wenn du die zweistimme in einem klassischen Kanon-“

„Viel zu kompliziert!“ rief das Mädchen freiheras.

„Nun, was würde deinem Sinn für Ästhetik denn am nächsten stehen?“

„Hast du mich gerade gefragt, was ich mag?“

„So könnte man es auch formulieren, ja.“

„…kannst du was aus den 70ern?“

„Nach welchem Stil denn?“

„Vergiss es. Was is mit dem, was ich eben gesungen habe. Das konntest du doch scheinbar…“

„Scheinbar.“

Wenige Augenblicke später trällerte die Brillenträgerin aus voller Seele, ohne große Kunst, aber mit dem Enthusiasmus einer Horde Kindergartenkinder – Sie schien kaum besorgt darüber, ob sie nun gut war, oder nicht, es ging ihr einzig und allein darum, dass es ihr gefiel, und das war eine Weltsicht, der Tabris nur zustimmen konnte.

Bei den gelegentlichen Konversationen zur Auswahl des nächsten Liedes wurde ihm klar dass sie oft dieselben Dinge sagten, auch, wenn sie sich in ihrer Ausdrucksweise unterschieden.

Wo er kompliziert war sie simpel und direkt, aber sie vereinte derselbe Optimismus, der auch nicht die einzige Gemeinsamkeit bleiben sollte.

Beide bewerteten sie dieses zusammentreffen als… interessant und anregend, auch, wenn es nicht für immer dauern konnte: „Hör mal, ich möchte, dass du weist, dass ich unsere gemeinsamen Aktivitäten sehr genossen habe, aber ich würde dir raten…“

„Ich weiß. Ich sollte abhauen, nicht wahr? Es gibt sonst Ärger, oder? Schon okay.“

Sie stellte sich wieder auf die Füße, und grinste ihn an.

„Ich muss sowieso los, hab ein kleines Rendevouz, das ich einhalten muss… Pass auf dich auf ’kay?“

„Das werde ich. Ich freue mich bereits auf unsere nächste Begegnung… mit dir und den anderen.“

„Wenn es soetwas wie eine nächste Begegnung denn überhaupt geben wird… Schön wärs, wenn es vor dem Ende tatsächlich geschehen würde…“ kommentierte Mari recht beiläufig, während sie sich auf dem Weg zum Ausgang machte, nachdem sie ihre Generalschlüsselkarte zwecks der Beweisvernichtung tief in die Schublade geteckt hatte, in der schon bald eine Bauteil-Selbstzerstörung vorgesehen war – Unwahrscheinlich, dass einer von den Wissenschaftlern die Zeit, die er damit hätte verbringen sollen, diese Schublade so schnell wie möglich zuzuknallen, darauf verwenden würde, vorher noch mal rein zu greifen.

„Also dann, wir sehen uns. Baibai!“ verabschiedete sich Mari mit einem Enthusiastischen Winken, bevor sich die vier Stahltüren hinter ihr schlossen.

Erst, als sie bereits dabei war, weiter zu marschieren wurde ihr bewusst, dass sie dieses Fifth Child überhaupt nicht nach seinem Namen gefragt hatte – Aber was solls, verflossene Milch und so, sie hatte nun mal nur eine Generalschlüsselkarte, deren all zu ofte Benutzung früher oder später

Wenn sie Glück hatte, würde sie diesen mysteriösen Schönling ohnehin früher oder später wiedersehen – Erst mal würde sie einige Zeit darüber nachbrüten müssen, welches Schicksal SEELE für ihn wohl vorbereitet hatte, und was seine Anwesenheit hier wohl zu bedeuten hatte…

 

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Dicht an eine metallische Wand gepresst, mit einer entsicherten, feuerbereiten Waffe in seiner Hand hielt er den Atem an, den er vor dem ausführen seines letzten Schrittes scharf eingesogen hatte, wahsam um die Ecke spähend, ohne sich das geringste Geräusch zu erlauben – Ein einziger, noch so minimaler Pieps, ein einziges, aus dem toten Winkel hervorschauendes Haarsträhnchen könnte schon seine Verdammnis bedeuten.

Unrasiert, in Schwarz gekleidet, das wilde, lange Haar zu einem verwegen wirkenden Pferdeschwanz zusammengebunden, hatte Kaji Ryoji nicht die geringsten Illusionen davon, das jede Begrüßung, die er in diesen verbotenen Heiligtümern dieser verbotenen Gefilde erwarten könnte, aus etwas anderem als einem direkten, gnadenlosen Kugelhagel bestehen würde. Die Zeiten,wo die Menschen zumindest außerhalb der USA, Zentralafrika und dem mittleren Osten erst mal zu reden versuchten, bevor sie einfach schossen, waren schon lange vorbei, und er wusste das nur zu gut.

Staub hing an jedem Winkel seiner Form – Auch, wenn er bis jetzt unerkannt geblieben war, soweit er das beurteilen konnte, war es nicht einfach gewesen, diesen Ort unbemerkt zu erreichern, und durch einen Klaustrophobie induzierenden, von Ungeziefer und gardinenhaften Spinnweben verseuchten Wartungsschacht zu kriechen, war dabei sein geringstes Problem gewesen.

Die Vorsicht, mit der er sich durch diese Korridore bewegte, war zwar durch unermüdliches, hartes Training geschärft worden,wie man es um für einen solchen Job ausgewählt zu werden werder vermeiden konnte noch vermeiden wollen sollte, aber es war mehr dabei, mehr wie ein geschärfter Instinkt, der ihm schon länger in Fleisch und Blut übergegangen war, als er Haare auf seinem Kinn wuchern hatte, mehr noch als die einstudierte, ohne großes Nachdenken aus dem motorischen Gedächtnis erfolgene, tödliche Perfektion, die Grazie eines Raubtiers, dass genau darüber bescheidwusste, wie es sich in einem Wald oder Dschungel zu bewegen hatte, ohne unnötige Geräusche zu machen und das wilde Leben anzulocken, dass in seinem hölzernen Palast wohnte, getarnt in Geruch und Gesicht, verwebt mit diesem uralten, ursprünglichen Killerinstinkt, den vor unsagbar langer Zeit einmal ein jeder Mann bessessen hatte, vor Äonen, bevor dem Rad, bevor Straßen, Feldern und Gebäuden, bevor die niedrigsten, tieften Bedürfnisse noch nicht durch einen simplen Griff in den Kühlschrank gesättigt werden konnten, und die Form eines männlichen Körpers noch gleichbedeutend mit der eines Killers war, als der Mensch noch keine so nahrhaften Pflanzen geschaffen hatte, von denen er komplett leben konnte, und im täglichen Leben damit konfrontiert wurde, dass es Fleisch war, was er da aß, Stücke von gestohlenem Leben, vergossenen Blut – Dem unrasierten Doppelagenten, der sich achtsam den Gang entlang schlich, fehlte die selbstverliebte Eleganz und Disziplin eines Kriegers, der einen stamm oder ein Königreich zu repräsentiert hatte, vielmehr war da sie suchende Wachsamkeit eines Jägers, die auf das schlickte, nackte, unverblümte Überleben abzielte, und seine Aufmerksamkeit nur deshalb nicht einen Augenblick lang abschweifen lassen konnte, weil es seinen sicheren Tod bedeuten würde – Das ihn manch einer um diese Fähigkeiten beneidete, war Kaji durchaus bewusst, tatsächlich war er exakt dieser scharfen Sinne wegen aufgefallen ujnd für eine so bedeutende Position ausgewählt worden – Und mal ganz ohne falsche Bescheidenheit, die Ladies liebten Kerle, die sich auf Survival-Tricks verstanden, das machte ihre inneren Höhlenmenschen mit deren Bestrebung nach Partnern mit fitten Genen ganz kirre, aber trotz allem war Kaji daraf keineswegs stolz, und nach allem, was er gesehen hatte, konnte er nicht anders, als jene jungen Männer, die alles geben würden, um soetwas zu erlangen, als Narren zu sehen, die nicht wussten, was sie sich da wünschten –

Diese Art von Instinkt war nichts, was mann sich zulegen konnte, weil man es gerne wollte, wer es nicht hatte, hatte es nicht – Vielmehr war es die Art von Lektion, die im Feuer großer Furcht und noch größerer Verzweiflung geschmiedet worden war, weil man sie sich zulegen musste, in einer Situation, nach der man, wenn man sie durchlebt hatte, entweder gelernt hatte, auf sich allein gestellt zu überleben… oder aber zu Tode getrampelt im Dreck lag.

Anders als viele anderen Hauptakteure dieses Projektes stammte er nicht aus einer Familie, die schon länger mit dem Projekt in Verbindung stand und die Zeit hatte, das, was ihnen lieb und teuer war auf den Advent der letzten Tage vorzubereiten, und ihre irdischen Reichtümer sicher versteckt zu halten, als sich die Hölle in die Täler der Erde hinein ergoss: Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Inferno des Second Impact aus erster Hand mitzuerleben, er war ein Geschöpf dieser brennenden Endzeit.   

Sicherlich, es hatte da vor einer langen, langen Zeit, die sich am treffenden als „Das letzte Jahrtausend“ beschreiben ließ, einmal einen ahnungslosen Jungen gegen, der ein komfortables, einfaches Leben geführt hatte, in dem seine größten Sorgen Videospiele und Skateboards waren, in der die Welt sich nicht weiter erstreckte als  der Gartenzaun eines suburbanen Reihenhauses, dass wie viele andere seiner Art standartmäßig mit einem Grill, zwei Autos, eines Hund und 2,5 Kindern geliefern wurde, und seine Gedanken selten weiter gingen, als bis nur nächsten Klassenfahrt, aber das Leben dieses ahnungslosen Jungen, dessen ruhige, gleichförmige Welt ihm keinen Grund gab, irgendetwas mit sich anzufangen, war für den Werdegang der Person, die NERV schließlich auf Befehl des japanischen Innenministeriums infiltrieren sollte, von keinerlei Belang, und keine der Erfahrungen, die aus dieser Zeit standen, waren in irgendeiner Form als prägend oder ausschlaggebend zu bezeichnen, genau so gut hätte man sie durch die Kindheit eines jeden anderen männlichen, aus der Mittelschicht Japans stammenden Herranwachsenden austauschen können, ohne, dass beim gegenwärtigem Endprodukt auch nur der geringste Unterschied festzustellen wäre – Genau so gut hätten dieser Junge und der Mann namens Ryoji Kaji völlig unterschiedliche, nicht miteinander verbundene Entitäten sein können – Nur der Name war gleich, und selbst den hätte er ohne weiteres anders angeben können, wenn ihm danach gewesen wäre – Die Fluten des Second Impact hatten alle davongewaschen, die davon gewusst hatten.

Das Meer war wie ein Wall aus Wasser über das Land gefegt, die Flüsse waren über die Ufer getreten und die Hände Gottes hatten alle Quellen der Erde geöfnnet und alle Wolken aufgeschlitzt, sowohl jene, die Wasser zurückhielten, als auch jene Berge und Spalten, die Feuer und Schwefel in sich verbargen, und das Feuer und das Wasser, die für die Dauer der Vorherigen Epoche so unvereinbar geschienen waren, verschmolzen zu einem einzigen urtümlichen Sturm – Die Flamen tanzten für sieben Tage und Sieben Nächte, erfassten die Erde, den Himmel und alles dazwischen, bis sich alle diese Dinge schließlich nicht mehr voneinander unterscheiden ließen, und nur noch ein einziger Schmelzofen blieb, bis selbst das Feuer selbst Vergangenheit waren und nur die wüste, leere See zurückblieb, unbelebt, wie sie Gottes Geist vor den Versen des Genesis vorgefunden haben musste – einst war die See die Wiege alles Lebens gewesen, doch jetzt kam aus ihrem Schoß nur noch ein rostig-roter Ausfluss, der alles Leben mit sich nahm, dass sie berührte, und nur den Gestank toter Schwäne und Fische zurückließ, der endlich auch schwand, als es keine Tiere mehr gab, die noch hätten sterben können.

Als die Fluten nach vierzig Tagen und vierzig Nächten endlich schwanden, konnte er die Stadt, in der er einst gelebt hatte, nicht mehr finden.

Natürlich war es nicht das erste Mal, dass diese Nation mit Erdbeben konfrontiert wurde, und es gab Vorräte und Verstecke; Er selbst hatte sich in den Bergen verkrochen, in einem alten Bunker aus dem zweiten Weltkrieg, mit einem Rucksack voller Konserven, den ihm seine Eltern mitgegeben hatte, damit er schon einmal vorgehen konnte, während sie zurückgingen, um den jüngeren ihrer beiden Söhne aus dem oberen Stockwerk ihres von den Erschütterungen bebenden Hauses zu holen – sie waren niemals nachgekommen, und er hatte auch nicht auf sie gewartet – An diesem Tag, als die Erde bebte und die Grundfesten der Gebäude zu knarzen begannen, hatte er seinem alten Leben den Rücken gekehrt und war einfach nur gerannt, ohne jemals zurück zu blicken – Die Panik hatte sein ganzes Wesen ergriffen, die Furch hatte seinen gesamten Kopf ausgefüllt und alles, was er vormals gewesen war, sauber herausverdrängt – Wie auch immer er es drehen und wenden wollte, was er er umso weniger leugnen konnte, je älter er wurde war, dass er in diesem Augenblick nur an sich selbst gedacht hatte, an seine eigene Angst und sein eigenes, mickriges Leben, nicht einmal daran, was er mit diesem Leben überhaupt anfangen sollte, verschwendete er einen Gedanken.

In diesem Moment warf er eine Menschlichkeit fort und wurde nichts als ein Tier, gierig, egoistisch, und nur auf pure Selbsterhaltung bedacht; Das Loch, in dem er sich verkroch, war noch nicht einmal ein designierter Schutzraum, sondern ein persönlicher Zufluchtsort, den er eines Tages beim Wandern in den Bergen entdeckt und mit niemandem geteilt hatte, aus Angst, dass man ihm verbieten könnte, dort zu spielen, wegen Eingesturzgefar und ähnlichem Erwachsenengedöns, dass keinen halbstarken Jungen dieser Welt aufgehalten hätte, und weil alles, das mit dem „Krieg“ behaftet war, eine Aura des Verbotenen an sich trug, die ihn reizte, ihm aber auch das Gefühl gab, das er niemandem davon erzählen durfte – Wenn er Streit mit seinen Freunden oder seiner Familie gehabt hatte, war er oft hierher gestürmt und hatte sich hier verschanzt, und es war generell ein Ort, an dem er sich verschanzte, wenn er einfach nur seine Ruhe und seine Einsamkeit haben wollte – Im Laufe der Jahre hatte er schon das eine oder andere mal Anzeichen dafür gefunden, dass dieser Ort auch anderen Menschen bekannt war, wie reste eines Lagerfeuers, weggeworfene Plastikflaschen oder sogar einmal ein verlorenes Fahrrad, dass er, nachdem tagelang niemand gekommen war, um es als seines mitzunehmen, liebevoll poliert und als sein eigenes Geheimnis gepflegt hatte, aber angetroffen hatte er hier nie irgendjemanden – Dieser Ort war also zumindest in Gedanken sein alleiniger Besitz gewesen, und er hatte es geliebt, das Versteck als „seinen geheimen Garten“ zu bezeichnen – Es war also kein Wunder, dass seine Füße ihn an jenem schicksalhaften Tag ausgerechnet hierhin getragen hatten, an seinen ganz persönlichen Hafen der Sicherheit, seinen Pol der Unzulänglichkeit, der weder seinen Eltern noch seinem Bruder bekannt war.

Oft war er stolz darauf gewesen, kindlich-verärgert darüber, dass er sein Spielzeug, sein Zimmer und sogar seine Spielekonsolen mit den ungeschickten Händen seines kleinen Bruders teilen musste, als älterer Bruder hatte er immer das verantwortliche Beispiel zu sein, obwol er viel weniger Aufmerksamkeit bekam, aber wenigsten sein geheimer Garten, und alles, was er hierher schmuggeln und als „verloren“ ausgeben konnte, war sein alleiniger Besitz, den er mit niemandem teilen musste.

Das jemand sie auf nimmerwiedersehen von hier klauen könnte, wie es letzlich auch mit dem geheimen Fahrrad geschah, das so unerklärlich verschwand, wie es gekommen war, aus dem Ncihts ins nichts, als habe es niemals wirklich existiert, ohne, dass er den Rest ihrer Geschichten bei irgendwelchern anderen Kindern jemals erfahren würde, war ein Risiko, dass er dafür gerne einging.

Verstecke all diese Dinge die du haben willst, vor allen anderen, und sie werden deins.

Am ersten 15. September des dritten Jahrtausends wurde dieser kindische Neid im laufe eines einzigen Tages zu einer fremartigen Geschichte aus einer anderen Welt, die er nicht mehr begreifen konnter, außer in der Hinsicht, dass sie die Gewissheit verstärkten, die ihm immer mehr auflauerte.

Ein paar mal hatte er sich noch gefragt, wie es seiner Familie ergangen sein mochte, ohne ihn, und ohne die Vorräte, die er mitgenommen hatte, aber wenn er ehrlich mit sich war,  war ihm schon sehr früh klar geworden, dass er in dem Moment, in dem seine Füße den Weg hierher eingeschlagen hatten, statt den an den designierten Schutzraum seiner Wohngegend bereits die Wahl getroffen hatte, die Lebensmittel für sich selbst zu nehmen, und seine Familie dem Tod zu überlassen – Es mochte nicht bewusst geschehen sein, und die Tatsache, dass er zu diesem Berg kam, und nicht zu einem Ort, der tiefern in den Tälern oder näher an der Küste lag, rettete ihm höchstwahrscheinlich das Leben, aber es blieb dass er in seiner simplen, niederen Fursch seine ganze Familie und all seine Freunde gegen ein paar simple Konservenbüchsen eingetauscht hatte, die sie vermutlich ohnehin mit ihm geteilt hätten.

Es machte keinen Unterschied, dass er ein Kind gewesen war, oder das er von Furcht getrieben wurde, wie er sie niemals zuvor gekannt hatte, das Resultat blieb so oder so gleich – Eine schlechre Note oder ein Streit ließ sich durch Umstände abmildern, die Umstände zählten, weil sie zu einem Prozess der Versöhnung beitragen könnte, zur Widerherstellung des Status Quo, aber die Rechtfertigungen eines dummen Jungen und die Macht, Tote aus ihren Gräbern zu rufen, spielten sich in nicht annähernähnlichen Maßstäben ab, es waren Spähen, die nicht nur nicht überlappten, sondern so weit voneinander entfernt waren, wie die Flamme eines Feuerzeugs von den Feuern Alpha Centauris.

An diesem Tag lernte er, dass wahre Furcht keine Emotion wie Vertrauen oder Mitgefühl war, sondern etwas älteres, reptilianischeres war, ein Instinkt, der kein Ende hatte, und auch keinen Anfang.

Sie war der Grund, dass seine Vorfahren, simple, niedere Biester, überlebt hatten, während andere verreckt waren, und sie war auch jetzt der Grund, dass er lebte, und andere nicht.

Und jubg und törricht, wie er gewesen sein mochte, das verstand er, nur zu gut, klar wie Kristall.

In seiner Scham verbarg er sich so tief vor dem Tageslicht, als hätte er nicht vor, sich ihm jemals wieder zu zeigen, und er konnte sich dieses kleine Bisschen Feigheit durchaus leisten. Das Essen war für vier Personen gedacht gewesen, wenn nicht für mehr, und die Dunkelheit der Höhle nahm ihm jedes Gefühl für Zeit – Welche Bedeutung blieb da noch für Tage und Stunden, wenn es keine Termine gab, die sie anzeigen konnten, und keine Schulglocken, um sie zu markieren? Was war der Unterschied zwischen einem Montag und einem Samstag, wenn man sowieso nurzusammengekauert dasitzen würde, wie eine Schnecke in der Winterstarre, sich nur regend, um sich hie und da eine handvoll formlosen Brei in den Mund zu stecken, wenn man nur dann das Licht sah, wenn man eine neue Büchse öffnete, sich die Batterien seiner einzigen Taschenlampe einzig und allein für solche Momente aufsparend, Nahrung und Strom geizig aufsparend wie ein alter Geizhals.

Von da an gab es nur noch Zeit, Raum und Finsternis; Ein paar Mal krabbelte etwas in seinen Mund hinein, während er schlief. Die Erlebnisse forderten eine Menge Spucke, Rotz und Tränen, der Gedanke, dass sich Insekten auf ihn setzten und krabbelten, wie auf seine frische Leiche, jagte eisige Schauer über seinen Rücken – Ein mal merkte er sich nicht richtig, wo er seinen Dosenöffner hingelegt hatte, und wälzte es ihm Schlaf in den Grund hinein – Er konnte es bei seinem Erwachen nicht finden, und auch, wenn er es letzlich wieder zu greifen bekam, verfiel er zunächst in eine lächerlich würdelose Panik, all das wegen einem blöden Stück Metall, wie er es vorher so einfach hätte verlieren können, ein blödes Küchenutensil, dem er nie bedeutung zugemessen hatte, und jetzt war es seine einzige Lebenslinie – Einmal glaubte er, in der Dunkelheit einen Schatten gesehen zu haben, ein Tier, wesentlich größer als ein Insekt, er konnte nicht sagen, wie groß, es hätte alles sein können, ein Wolf, der ihn hätte töten können, oder viel Wirbel um eine kleine Maus – Er warf dem Ding eine Dose voll gutem Essen hinterher, dachte nicht weiter darüber nach, dass das vielleicht Tage seines Lebens waren, die er da verschleuderte, er brauchte einfach Gewissheit, dass dieses Ding fort war und ihm nicht den Hals durchbeißen würde, sobald seine Aufmerksamkeit das nächste Mal schwinden würde, und die schmerzliche, furchterrengende Erkenntnis, dass das keinesfalls optional war, so gut er auch darin werden sollte, solche Momente der Schwäche zu minimieren: Wenn seine Aufmerksamkeit schwand, nicht falls.

Das Leben war eine sexuell übertragbare Krankheit, die in 100% aller Fälle tödlich endete.

Es kam schon ein paar mal vor, dass er es bei seinem Erwachsen in einer angebrochenen Dose krabbeln sah, und auch, wenn er sich nicht einmal sicher war, ob er das Getier in dieser Dunkelheit komplett entfernen konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als den restlichen Inhalt der Dose (Er konnte diese immer gleichen Konserven kaum noch auseinander halten) hinunterzuwürgen.

Seine Exkremente versuchte er natürlich ein gutes Stück von seinem Rastplatz entfernt zu hinterlassen, aber so groß war die Höhle nicht, und ob es nun geschluckte Insekten waren, die eine oder andere schlechte Konserve, der Stress oder schlicht die Tatsache, dass ein stationärer Lebenswandel mit recht einseitiger Ernäherrung nicht all zu gesund sein konnte, die gelegentlichen Durchfälle, die das Ergebnis waren, ließen den Gestank schneller durch den ganzen Rest der Höhle kriechen, und schließlich musste er lernen, ihn auszublenden – Er hatte sich ein paar Male in die Nähe des Ausgangs gewagt, und auch, wenn das mittlerweile eine lange, lange Zeit her war, hatten ihn die Geräusche, die er dort vernommen hatte, ziemlich schnell kehrt machen lassen, und das recht permanent –

So weit er wusste, konnten die Fluten da draußen noch weiter unaufhaltsam vor sich hintosen, oder vielleicht brannte die Landschaft noch lichterloh, und was er hörte, war ein tosendes Inferno – Vielleicht würde ihn jenseits des Ausgangs nur eine leere, endlose Wasserfläche erwarten, die sich in alle Richtungen fortsetzte, ohne das irgendwas anderen zu erkennen war, oder vielleicht war das da draußen auch schon längst zu spielball von Elementen geworden, die er sich nicht mehr vorstellen konnte, und über Feuer und Wasser weit hinausgingen – Das der Logos der alten Welt schon einmal völlig außer Kraft gesetzt war, war schon einmal offensichtlich.

Wer weiß, vielleicht war da draußen ja längst keine Welt mehr, zu der er hätte zurückkehren können, vielleicht gab es da nichts mehr, nichts außer dieser kleinen Höhle und er war allein in völliger Dunkelheit – Die Horrorvisionen, die von seiner schrecklichen Eisamkeit und der dadurch bedingten Unfähigkeit, das Wachen vom Träumen zu unterscheiden, noch genährt wurden, ließen ihn den Ausgang eine lange Zeit meiden, aber letzlich blieb ihm keine Wahl – Der Vorrat war für vier Personen gedacht gewesen, aber er ging letzlich zuende.

Eigentlich hatte er keinen besonderen Grund, hier nicht zu krepieren, er war sich sicher, dass er kein Leben mehr hatte, zu dem er zurückkehren konnte, und bei dem Preis, mit dem er es erkauft hatte, konnte er getrost sagen, dass er das Leben keinesfalls verdiente, aber wenn er jetzt sterben würde, allein, in irgendeiner Höhle, wo ihn vermutlich nie irgendjemand finden würde, wozu waren sein Bruder und seine Eltern dann gestorben?

Sterben kam also auch nicht in die Tüte.

Also packte er seine Sachen.

Als er die Höhle verließ, hätte er nicht sagen können, wie lange er darin zugebracht hatte, vielleicht wesentlich kürzer, als es sich angefühlt hatte, vielleicht ein Leben lang.

Seine Haare erreichten seine Schultern, aber ehrlich gesagt hätte er nicht sagen können, wie lang sie vorher gewesen waren. Als er den Höhleneingang letzlich erreichte, waren da keine Geräusche mehr zu hören, und auch, wenn die Außenwelt entsetzlich stank, waren da lange keine Feuersbrünste mehr, auch, wenn da welche gewesen sein mussten – Die unmittelbare Umgebung des Felsens am Höhleneingang war leicht angeschmolzen,der Berg schien nicht mehr die selbe Form zu haben – dass nichts davon über ihm zusammengestützt war, grenzte an ein Wunder.

Jenseits davon erwartete ihn eine veränderte Welt – Hier und da lag noch ein entwurzelter, verkohlter Baum, aber die waren die einzigen Errinnerungsttücke an die vergangene Welt, der Boden war feucht mit stinkendem Rot, freigespültes Gestank und ein klebriger Film aus diesem leblosen Un-Wasser, das Kaji bald zu hassen lernte, tauchten die abgeschleifte Landschaft in ein mamoriertes Muster aus geld, orange, schwarz und rot, entfernt ähnlich den vulkanischen Sänden in den Höhen von Teneriffe – Die Vegetation, die diesen Landstrich bis jetzt primär geprägt hatte, war jedenfalls restlos fort, und an diesem Ort erinnerte nichts an das grüne Refugium, dass er einst seinen „geheimen Garten“ genannt hatte – Was er daran mit einem „Garten“ verglichen hatte, konnte er hinterher nichts mehr sagen, er hatte nie etwas dazugegeben oder geflegt, sondern sich an dem Ort, seiner Natur und seinen Geheimnissen einfach nur bedient, ähnlich, wie er sich an den Vorräten seiner Eltern bedient und sich damit den Boden vollgeschlagen hatte – Er hatte sich daran gelabt, während sie nichts gehabt hatten.

Weil er in der Landschaft nichts ausmachen konnte, was er irgendwie wiedererkannt hätte, oder sonst einen Anhaltspunkt gebildet hätte, marschierte der nun verweiste Junge einfach darauf los, wie es ihm gerade zum Stand der Sonne passte, vereinsamte Spuren im blutigen Matsch hinterlassend, die weit und breit sie einzige Anzeichen menschlicher Aktivität blieben, wohin er auch zu gehen schien, auch, wenn es durchaus sein konnte, dass er in Kreisen lief.

War es nicht sogar recht häufig, dass man, wenn man kein Ziel hatte, automatisch begann, in Kreisen zu laufen, weil man mit einen Fuß immer stärker auftrat als mit dem anderen?

Wenn Kaji sich umdrehte, um seine Fußabdrücke zurückzuverfolgen, konnte er schon bald nicht mehr sehen, wo er hergekommen hatte, und er hatte hunger – Entfernt dämmerte es ihm, dass er nicht hätte warten sollen, bis alles verbraucht war, sondern sich Proviant für die Reise hätte aufsparen sollen.

Wer weiß, wie lange er noch laufen müssen würde, bevor er etwas erreichen könnte, was er ein Ziel nennen könnte… Und was, wenn er der einzige Mensch war, der auf dieser Erde noch übrig war, oder die anderen weit, weit weg saßen, zu weit, als das ein einziger Junge sie zu Fuß erreichen könnte?

Wirklich, das einzige, dass noch danach aussah, als ob er noch im selben Universum wäre, war die unbarmherzig herabscheinende Sonne, und der blaue Himmel, der ihn jetzt, wo die Stürme damit fertig waren, darüber hinwegzufeden, pausenlos mockierte – Nicht einmal der Mond sah noch gleich aus, ein hässlicher, roter Spritzer befleckte ihn, und Kaji fragte sich entfernt, ob es wohl die selbe rote Schlacke war, in der er derzeit bis zu den Knöcheln watete.

Ein Ort, der nicht entsetzlich gestunken hätte, war ihm bis jetzt noch nicht untergekommen – In gewisserweise roch es in dieser Außenwelt schlimmer als in der Höhle. Es waren nicht nur die Kadaver – Kadaver sollten stinken, ebenso wie Scheiße, dass war nicht viel anders, der Unterschied war diese rote pampe selbst, sie sich langsam aber sicher an seinen Füßen abzeichnete, nachdem sie die Schuhe schon eine lange Zeit durchdrungen hatte – Es stank nach Aldehyden und Ketonen, organischen Säuren und nach Fetten, nach zerfallenden Bestandteilen des Lebens, die zwar organische Materie darstellten, aber eigentlich in gebundener Form hätten vorkommen sollen, nicht offen und aufgebrochen, die Polymere des Lebens in ihre Bestandteile zersetzt – Und unwahrscheinlich, wie es schien, wurde Kaji dass Gefühl nicht los, dass hinter alledem noch ein nicht schwinden wollender Unterton von altem Blut war, wie eine Frau es vielleicht von einem Eimer zur entsorgung von Damenbinden gekannt hätte, abscheulich stinkendes, altes, verrotendes Blut.

Eigentlich sollte die Logik doch gebieten, dass seine Nase irgendwann mal gegen diesen Geruch abgestumpft sein musste – Er bemerkte bei diesem himmelschreinden Miasma ja nicht nicht einmal mehr den eigenen Gestank zer schmutzigen, zerschlissenen Kleider, die er schon weiß Gott wie lange trug, wie dieses ständige Brennen in seinen Lungen ihn noch nicht umgebracht hatte, das wusste er ehrlich nicht, aber so, wie dieses stetige Husten seinerseits immer häufiger wurde, konnte das, was nicht wahr, vermutlich immer noch werden.

Die ständige, brütende Hitze, welche die ekelhafte organische Pampe schön am gären hielt, machte es auch nicht besser.

Irgendwas daran schien ihm falsch, aber tat das irgendwas an dieser leeren, verkochten Welt nicht?

Der Gedanke, dass es doch eigentlich Herbst sein sollte, war nur noch ein schwaches, ignoriertes Flüstern in seinem Kopf, und schon sehr bald hatte das Wort „Herbst“ ohnehin alle bedeutung für ihn verloren.

Überhaupt funktionierte sehr wenig an dieser Welt noch so, wie es irgendjemand gewohnt war, nicht nur, dass die Jahreszeiten eine Sache der Vergangenheit waren, nein, die aller grundlegensten Fakten hatten sich verändert – Zum Beispeil war das Meer einst blau gewesen, ein simpler, elementarer Fakt, den jedes dreijährige Kind brav aufsagen konnte, und in zahllosen Liedern, Gedichtern und sonstigen kulturellen Zeugnissen verewigt waren…

Pustekuchen!

Das Meer in dieser schönen neuen Welt war rostig-rot.

Aber einer der größten Unterschiede blieb für Kaji unsichtbar, bis er auf die ersten Menschen traf.

Er war zwei Tage unterwegs, bis er etwas fand, das ungefähr menschliche Form hatte, ein Körper im Sand mit den lagen Haaren einer Frau, aber alle Hoffnungen, dass das hier noch wie einer dieser Filme werden könnte, erledigte sich, als er die Person zu wecken versuchte, und sich beim Versuch, sie zu wecken, ein Arm löste – Wie die andere Seite des Kadavers aussah, wollte er gar nicht mehr wissen, natürlich verdiente die Frau ein Begräbnis, aber er sah nur noch ein zerfressenes Ding, ein weiteres dieser unmöglichen, widerlichen Dinge in einer toten Welt – Nein, nein, er ließ das alles sofort fallen, weigerte sich, sich weiter damit zu kontaminierten, rubbelte alles an seinen Händen an seinen zerfallenden Kleidern ab, auch wenn er da nur Schmutz auf Schmutz verrieb, und rannte.

Bis er eine lebende Seele traf, kam er durch die Reste dreier Dörfer, in denen niemand überlebt hatte. Der Gestank der Kadaver war beinahe beruhigend, im Vergleich zu der roten Schlacke, was haben wir da, Menschen, die tatsächlich daran gestorben waren, dass ihnen etwas auf dem Kopf gefallen war, dass es so etwas noch gab!

Ihm blieb nichts anderes übrig, als über die Leichen hinüberzusteigen, da gab es nichts, was ihn mehr kontaminieren könnte, als alles, was er bis jetzt schon erfahren hatte.

Er hatte keine Wahl, tatsächlich war seine Überlebenchance wohl größer, wenn er die Siedlung nach etwas Essbarem absuchen würde, denn davon hatte er lange nichts mehr zu Gesicht bekommen, und auch der Inhalt des letzte Wasserkanisters im Rucksack seiner Eltern ging zu Neige.

An die Kühlschränke wagte er sich nicht, da es in keinem der Gebäude noch Strom fand, er suchte vielmehr nach Konserven und Wasser, jede Art von Wasser, und wenn es nur angesammeltes Regenwasser war, etwas besseres gab es nicht, und wenn er nicht bald irgendwas fand, das zumindest ähnlich aussah wie Wasser, würde er noch die rote Schlacke runterwürgen, und wenn sie ihn binnen Minuten umbringen sollte!

Auch wenn es harte, schweißtreibende Arbeit war, konnte er in den ersten beiden Dörfern genug zusammensuchen, um seine Reise fortsetzen zu können, er pickte sich aus einer nur Teilweise eingestürzten Küche ein paar Pillen heraus, um etwas gegen diese entsätzlichen Durchfälle zu tun, und die Übelkeit, die sich mittlerweile dazugesellt hatten – Wer wusste, ob die noch gut waren, aber schlimmer machen konnten sie’s auch nicht.

Im dritten Dorf gab es keine Beute, aber, paradox wie das klang, etwas viel besseres: Er fand nichts, weil alles, was es hier zu holen gegeben hatte, bereits geplündert worden war – ein paar altruistische Seelen hatten sogar ein paar halbherzige Versuche gemacht, die mehrzahl der Leichen in Massengräber zu schütten – Natürlich hatte keiner die Zeit, jede einzelne Leiche unter den Trümmern hervorzuziehen, aber zumindest die, die alle auf einem Haufen lagen, konnte man doch außer Sichtweite schaffen.

Und auch, wenn das bedeutete, dass er seine Reise unter dem mittlerweile fast ständigen Durst fortsetzen würden musste, war es doch ein Grund zur Freude, war es doch das erste Anzeichen menschlicher Aktivität, dass er seid der Katastrophe zu Gesicht bekam.

Erst dachte er ja, sein von der langen Isolation und seinem insgesamt miserablen Zustand zermürbter Verstand würde ihm streiche spielen, aber all diese frischen Fußabdrücke konnten nicht seine eigenen sein – Er suchte sich eine Spur aus, von irgendwelchen abgenutzen Turnschuhen, und folgte ihr, beschwingt und wie berauscht von etwas, was durchaus schon Tod und Wahnsinn hätten sein können, oder ernsthafte Vergiftungserscheinungen – Aber was hier draußen das Ende seiner Reise bedeutet hätte, erschien ihm bedeutungslos, als sich seine Hoffnungen bestätigten – Er erreichte den Ursprung dieser Schuhabdrücke gegen Abend, und diese Siedlung lag in Trümmern wie alle anderen auch, aber darin brannten Lichter.

Vielleicht befand er sich jetzt ausreichend landinwärts, um der Flutwelle zumindest teilweise entkommen zu sein, vielleicht hatte sie hier ja nur bis zu den Hausdächern hochgereicht anstatt alle sofort zu ersäufen, aber da war es, Menschjen, Gesellschaft, Zivilisation!

Dieses letzte Stück wollte er noch schaffen, die Erleichterung könnte ihn sonst noch dazu hinreichen, irgendwas von dem vorzeitig abzubrechen, was seinen Körper bis jetzt noch knapp am Laufen gehalten hatte, aber wenn er diese Siedlung erreichen sollte – und ja, er erreichte sie – würden sich seine Überlebenschances um ein Vielfaches multiplizieren.

Wieso also war es ihm gelungen, es bis zu diesem Meilenstein zu schaffen?

Einerseits pures Glück, wohl auch, dass er zuanfangs jung und gesund gewesen war, und regenerationsfähig, die Chancen, unter diesen Umständen zu überleben, mussten verschwindend gering gewesen sein, und in der tat hatte er unterwegs ja ausreichend Menschen gesehen, die dieses Glück nicht gehabt hatte, wie waren die Chancen gewesen, eins zu tausend? Eins zu zehntausend? Er war der zehntausendunderste gewesen.

Er hatte überlebt, während so viele gestorben waren.

Weil er ein pures Lotteriespiel gewonnen hatte, nicht, weil er es irgendwie besonders verdient hätte – Vermutlich verdiente er es sogar weniger, als viele anderen, die es an seiner statt erwischt hatte.

An seine Eltern und seinen Bruder hatte er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr getan.

Und nur, weil er andere Menschen gefunden hatte, war das Ärgste noch lange nicht ausgestanden, ganz im Gegenteil… Aber wenn er jetzt sterben würde, wieso hatte er denn so weit überlebt, an der Stelle von so vielen anderen?

Nein, das Leben, das er kannte, war vorbei, und es kehrte niemals wieder.

Das zeichnete sich schon ab, als er zu merken begann, dass er sich beim Anblick der Lichter der Siedlung erheblich verschätzt hatte: Sein erster Gedanke war „Zivilisation“, aber zivilisiert war dort nichts und niemand – Das wurde ihm schon klar, als er bei seinen ersten Versuchen, nach Essen zu suchen von einer Gruppe erwarchener Männer gefunden wurde… die ihn promt dafür verprügeln wollte, dass er sich an das herangemacht hatte, was sie als ihr Territorium beansprucht hatten.

Ein Herz für Kinder? Lästig in diesen Zeiten, wo jeder Mann für sich allein zu stehen hatte.

Wäre er noch klein und niedlich gewesen, gäbe es da vielleicht noch Hoffnung, aber Teenager waren sowieso selbst in Friedenszeiten universell gehasst, mehr noch als Erwachsene, und die traurige Wahrheit war, das Menschen mehr Mitleid für einen verdammten Köter hatten als für einen erwachsenen Menschen – Warum sollten diese ganzen Bettler sonst mit diesem Tölen herumlaufen? Da gab es fast mehr Spenden für das Vieh als für die Besitzer, und nach dem Second Impact hatte selbst das ein Ende, greift euch diese Hunde, solange da noch etwas Fleisch auf den Knochen ist!

Darauf, das ihn irgendwer aufnehmen oder versorgen würde, konnte derverwaiste Junge lange warten.

Du bist jetzt in der Armee, kid, jeder Affe für sich.

Ja, nur kurze Zeit zuvor waren all diese Flüchtlinge, die wie irgendwelche Makaken ihre lächerlichen Besitztümer horteten, ohne sie einen Moment lang aus den Augen zu lassen, besessen von Paranoia, Bürger einer recht friedlichen Nation gewesen, aber das war, als sie noch Wasser in ihren Duschen hatten, und Fisch in ihren Bäuchen – Das einzige Gesetz, was dem Hunger lange standhalten konnte, war das Recht des Stärkeren.

Und er hatte kein Recht, ihnen das zum Vorwurf zu machen, denn als er damit an der Reihe gewesen war, zu zeigen, dass er ein weiterentwickelter Mensch war, und kein gut gekleideter Schimpanse, hatte er seinen Eltern den Rücken zugekehrt.

Doch eines hatte Ryoji Kaji sich damals fest in den Kopf gesetzt: Er würde überleben, koste es, was es wollte. Er dachte nicht einmal daran, warum, einen Grund schien er damals nicht zu brauchen. Er musste sich wesentlich mehr Gedanken um die unteren Stufen der Bedürfnispyramide machen, bevor er seine Zeit mit existenziellen Zweifeln verbringen könnte.

Nachdem er ein paar weitere Tage ausgeharrt hatte, gav es wenigstens ein weiteres kleines Wunder: Hilfsmaßnamen aus weniger zerstörten Teilen der Welt waren eingetroffen.

Natürlich verpufften diese wie ein Tropfen auf einem heißen Stein, und es gab auch keine Wiederholungen dieses Stunts, keine Nation auf diesem Planeten war in diesem Moment gut genug dran, um sich um etwas anderen Sorgen zu machen, als ihre eigenen Probleme, und die hattensich  schon zu den Zeiten, als sie sich selbst noch in den fetten Jahren befanden,  die Zähne an den wesentlich enger begrenzten Probleme der dritten Welt die Zähne ausgebissen, dass sich die Lebensbedingungen der Flüchtlinge so schnell erst mal nicht verbessern würde, war simple Mathematik.

Aber für einen kurzen, beschränkten Zeitraum der fast so schnell vorbei war, wie er begonnen hatte, gab es, für die, die ihre Ellenbögen spitzten, zuerst kamen und zuerst malten, Decken und Medikamente – Er konnte sich erinnern, ein paar Packungen davon gestohlen zu haben, direkt vom Verteiler, und nicht direkt von irgendwelchen Leuten, auch, wenn im Nachhinein klar war, dass die, die er sich schnappte, später irgendjemand anders nicht schnappen würde.

Die, die er nicht selbst schluckte, tauschte er gegen Nahrung und Wasser.

Zumindest Unterkunft war bei der gegenwärtigen Hitze ein untergeordnetes Problem.

Damals war er noch nicht dazu gekommen, sich zu fragen, was sie da eigentlich erwischt hatte, oder Gedanken an eine Zukunft zu formen.

Das alles hätte sowieso nur auf eine Hilflosigkeit geführt, der er sich damals nicht stellen konnte.

Er lebte einfach, wie bisher seid der Katatrophe immer von Moment zu Moment, von Mahlzeit zu Mahlzeit, und was eine absolute Ausnahmesituation hätte sein sollen, dauerte an.

Tage wurden Wochen, Wochen wurden Monate und Kaji hatte sich schon bald von der Vorstellung verabschiedet, dass es so etwas wie „schlechtes Essen“ geben könnte – Essen war immer gut, auch, wenn man sich danach gelegentlich etwas schlecht fühlte. Auch Zahnfleischbluten und ähnliche Mangelerscheinungen – Es gab einen ganzen, diversen Katalog davon – wurden von besorgniserregenden Alarmzeichen zu ständigen Begleitern, die man nach Möglichkeit bei Laune halten musste. Eine Dusche sah er lange, lange Zeit nicht mehr, und damit, ständig schmutzig zu sein, und von kleineren Verletzungen bedeckt zu sein, gehörte zum täglichen Überlebenskampf – Wer nicht bereit war, zu stehlen, und dabei auch mal die unvermeidliche Tracht Prügel zu kassieren, krepierte. Nach dem Second Impact gab es viele Waisen, um die sich niemand kümmern konnte, und wenn einer von ihnen am Wegesrand verenden sollte, würden sie dort vermutlich verrotten, selbst, dass sich jemand dazu bequemte, sie zu verscharren, war selten. Die grausige Wahrheit war, dass sich niemand kümmerte, dass niemand kommen würde, und dass sich jeder erst mal selbst der Nächste war – Zwischem dem Leben eines Fremden, und dem eigenen, oder gar den kläglichen Resten der eigenen Familie würde kein Mensch die erste Option wählen, da waren sie alle gleich schuldig.

Er musste sich daran gewöhnen, Wasser zu trinken, auch, wenn es geringfügig kontaminiert oder gar verstrahlt war – und das war es meistens, denn was nicht von den Resten der örtlichen Atomkraftwerke verdorben worden war, darum kümmerten sich die bald darauf folgenden Kriege, in denen sich die verbleibenden Nationen um die wenigen noch übrigen Nationen rissen, wie Hunde um Fleischfetzen – Die Waffen waren teils alles, was ihnen geblieben war, essen konnte man sie nicht, auch wenn da meistens mehr zerstört als gewonnen wurde – Für die zahllosen Straßenkinder hatten die Kriege ohnehin nur insofern Belang, dass sie sich Verstecke suchen musste, falls es irgendwo in der Nähe Bomben geben würden – Jede Art von Verbesserung würde sie wohl ganz zuletzt erreichen, keiner hatte Spielraum für Großzügigkeit, und keiner wollte zuständig sein.

In den Flüchtlingslagern dominierten jene, die Messer hatten, hie und da fand sich noch einer mit einer Schusswaffe, und Vogelfrei waren sie alle – Welche Polizei, welche Ordnung konnte man aufrecht erhalten, wenn man sie nicht füttern, geschweigedenn bezahlen konnte?

Weiter Inland, hieß es, gäbe es Orte, wo es besser aussähe, wo noch etwas mehr Außenposten des Lebens geblieben sollte, aber vermutlich war alles Benzin im Lande Wochen nach der Katastrophe verfahren.

Die einzigen Bündnisse waren jene mit Zweck und Nutzen, und gerade für die Schwachen lohte es sich, sich zusammenzuballen – Und wer war schwächer, als die stehlenden Waisen, die ganz am untersten ERnde der Nahrungskette herumlungerten?

All jene Künstler, die Scharen von Waisenkindern jedoch als familienhafte Bündnisse romantisiert hatten, träumten – Zumindest die Gruppierungen, an die Kaji geriet, hatten mehr Ähnlichkeit mit kriegerischen Volksstämmen, die um Diebesgut und Plunder rivalisieren, und vom Recht des Stäkeren regiert wurden – manch einer versuchte, noch lebende Geschwister zu beschützen und war dazu um so eher bereit, die anderen auszunutzen, und es war nicht selten, das Meinungsverschiedenheiten in Prügelleien ausarteten, besonders, da nicht jeder bereit war, brüderlich zu teilen – Wer den Obermotzen einfach nicht gefiel, war dran, man musste sich also gefällig machen, seinen Anteil leisten, aber auch nicht weit genug auffallen, um Neid auf sich zu ziehen; Immerhin hatte er bei der ganzen Angelegenheit richtig gut lügen gelernt, ein wahrlich professionelles Falschgesicht wurde er, der alle belog und betrog, und das bestete selber hortete – Die anderen würden es auch tun, wenn sie es konnten, es hatte keinen Sinn, sich Illusionen zu machen. Gut möglich, dass es hier und da auch echte Bindungen gab, vielleicht lag es auch an ihm, aber die Gruppen, in denen er wandelte, pflegten sich ständig zu wandeln, und teils verkaufte und verriet man einander für Butterbrote. Wenn man teilte, dann, weil es der einzige Weg war, und man war teils gezwungen so ziemlich alles zu teilen, private Tellerchen gaben nicht, es hatten alle aus der selben Dose zu fressen, manchmal reichten die Decken eben nicht, und es gab nur so und so viel Kleidung.

Es gab Orte und Zeiten, zu denen es Selbstmord gewesen wäre, allein herumzulaufen, selbst die Kleidung, die man am Leib trug, konnte es jemandem, der verzweifelt genug war, wert sein, einen auszurauben, und auf dieser grausamen Welt gab es viele Individuen, die einfach nur frustriert und Wütend auf alles und jeden waren, oder jene, die sich  bei all der Höffnungslosigkeit und der Art, wie man sie gemeinhin wie bessere Ratten behandelte, einfach mal etwas billigen Respekt verschaffen wollten – Wer hätte sie auch daran hindern sollen?

Etwas was sie untereinander ebenfalls teilten, waren ihre Leiber, es gehörte einfach zu den Gruppen-Machtspielchen dazu, sie könnten jeden Tag sterben, und disziplinierende Erwachsene suchte man vergeblich. Sie sparten sich rein gar nichts auf, und im Nachhinein koonnte man wirklich sagen, dass sie sich richtig verdorben hatten – Experimentiert wurde genug, aber große Gefühle kamen selten auf, zumal man sich innerhalb der Gruppe recht schnell so geheimnislos wurde wie Bruder und Schwester.

Er musste ein paar wirklich unschöne Erlebnisse erdulden, und war selbst gezwungen hässliche Dinge zu tun.

Aber am Ende des Tages hatte er zumindest knapp immer zu denen gehört, die noch lebten.

Er hielt durch, er lebte, wo so viele andere gestorben waren.

Wenn er das armselige Höllenloch betrachtete, zu dem seine Welt zusammengeschmolzen hätte, hätte es weder Kaji noch sonst irgendjemand auf dem Planeten gewundert, wenn irgend ein weiterer, unwahrscheinlicher Rülpser des Universums die letzten Menschen endgültig ausgelösch hätte, aber statt dessen geschah das, was niemand erwartet hatte: Das Leben ging weiter, wie es das vorher schon so oft getan hatte.

Zunächst waren es die Reichen mit noch intaktem Besitz, die wieder eine akzeptable Lebensstandart hatten, und das verbesserte die Situation zumindest dahingehend, das auf dem Schwarzmarkt mehr zur verfügung stand, aber trotzdem sollte es eine ganze Weile dauern, bis auch die Geldbeträge der Normalbürger wieder irgendetwas wert war.

Die Vertreter großer Organisationen und Regierungen dachten zuerst daran, ihre eigene Macht wieder zu festigen, bevor sie sich mit dem kleinen Mann auf der Straße befassten, und bis großflächige Kommunikation wieder funktionierte,  würden wohl noch Jahre ins lang gehen, aber mancherorts hieß es, die Kriege würden langsam zuende gehen.

Das es bis zu der Zeit, in der er das entsprechende Alter erreicht haben würde, wieder eine Universität geben würde, an die er gehen können würde, dass er ein sauberes, ordentliches Apparment mit fließeden warmen Wasser haben würde, und jeden Tag frische Kleidung hätte er nicht erwartet – aber mit der Zeit war es einfach geschen, Stück für Stück, Schritt für Schritt, und manche nannten es einen Triumpf von Menschheit und Wissenschaft, aber seine Reaktion blieb stumpfer, als die Situation es vermuten lassen würde.

Irgendwie kam es ihm…. Falsch vor, viel zu einfach.

Je mehr er nicht nur mit dem kahlsten überleben beschäftigt war, sondern wieder zunehmends dazu kam, zu leben und Zeit zu haben, die es zu füllen galt, schlichen sich auch immer mehr große Fragen in sein Bewusstsein, jetzt, wo die niederen Bedürfnisse befriedigt waren, erwachten die höheren langsam wieder, und mit ihnen das Ringen nach einer raison d’être – Also wieder die alte Frage, wieso hatte er überlebt, wenn so viele es nicht getan hatten?

Und was mussten sie alle denken, wenn sie ihn hier sahen, wie er seinem Leben nachging, so ohne weiteres, wenn er in einem gemütlichen Sessel hockte und neue Schulbücher auspackte und auf eine regelmäßige Ration halbwegsbekömmlicher Nähstoffpasste vertrauen konnten, während sie alle tot waren?

Sollte es da nicht irgendeine… Bestrafung für all die Leben geben, über die er hinweggestiegen war, wie über Leitersprossen?

Sicher, im Großen und Ganzen war diese Welt noch voller Probleme, und vielle Annehmlichkeiten blieben der Mehrheit der Menschen verwährt, aber… da war ein Dach über seinem Kopf.

Das das zivilisierte Leben zumindest in den moderneren Nationen wie nach ein paar Jahren Pause einfach so weitergehen sollte, einfach weitermachte, wo es im Jahre 2000 aufgehört hatte, erschien ihm so überaus unwirklich, leicht, zuleicht, wie einer, der dachte, er würde über Wolken tänzeln, weil er sturzbesoffen war – und das machte es leichter, eine Fassade aufzubauen, ein Puffer aus Distanz zwischen dieser Welt und seinen Gedankenprozessen. Alkohol und Zigarretten waren eine die ersten Frivolitäten, die die Menschen gerne zurückhaben wollten, und er bediente sich daran, und die Distanz wuchs.

Wie bereits erwähnt, immerhin hatte er recht gut Lügen gelernt, und er hatte „Erfahrung“, mit diesen Werkzeugen konnte er sich zumindest billige Anerkennung besorgen, die Fleischeslust war ein netter Bonus, aber es ging ihm vor allen um die Beachtung, mehr hatte er nicht zu Suchen gelernt, mehr wollte er auch nicht, es war die selbe Logik wie immer, die Logik, die er eben kannte, auch, wenn gewisse Grade von Altruismus längst wieder zu verfügbaren Optionen geworden waren.

(„Du interessierst dich nicht besonders für die Menschen in deiner Umgebung, aber trotzdem willst du von ihnen beachtet werden... Du bist wirklich genau wie mein Vater!“)

Gewissermaßen hatte er Glück, ein Mann zu sein, da widmete man dieser Idee von Verdorbenheit nicht so viele Gedanken.

Man schlug ihm irgendein Förderprogramm vor und er machte es, immer noch nicht ganz wissend, was er hier eigentlich sollte, was dass eigentlich sollte, was dieses Gefühl sollte, als ob er etwas zurückzahlen müsste.

Er hatte sich dieses Leben gekrallt, konnte sich als erfolgreich bezeichnen, als aufgestiegen, also war diese… innere Hohlheit des Ganzen doch von geringer Konsequenz.

Sobald man die Welt ausreichend wiederaufgebaut hatte, um so etwas wie eine Wirtschaft wiederherzustellen merkte man schnell, das junge, arbeitswillige Leute in dieser Zeit eine seltene Ressource war, die es zu nutzen galt, besonders, da die Menschheit schon sehr bald alle verfügbaren Fachkräfte zu ihrer Verteidigung brauchen könnte – sie gaben ihm also Geld zum Leben, sie gaben ihm Unterkunft und Chancen auf Bildung, und eine ganze Menge angebote für eine Zukunft; Angebote für Therapeuten gaben sie ihm nicht, diese waren in dier heutigen Zeit nicht mehr so ganz praktakibel, wegen des Second Impacts hätte man eigentlich den ganzen Planeten auf die Couch setzten müssen, und da hatten die hohen Gremien doch ganz andere Sorgen – Gewissermaßen hatten der Second Impact und seine Folgen die Menscheit durch ein Sieb gezogen, den jenigen, die nicht hatten, was nötig war, um mit dieser veränderten, verfremdeten Welt auszukommen, blieb keine andere Wahl, als sich entweder anzupassen oder zu sterben. Da waren schlichtweg die Rädchen der Evolution am kreiseln;

Jeden Tag so zu leben, als ob man keinen anderen u erwarten war durchaus nicht ohne Lehre gewesen, und das Fehlen vieler Annehmlichkeiten des Lebens hatte ihn Wertschätzung dafür gelehrt, er hatte Erfahrung, vielleicht sogar Ansätze von Weisheit, mit diesem bisschen Isolation würde er sich also abfinden müssen;

Bis an dem Tag an dem sie kam, war er sich noch nicht mal richtig darüber bewusst, dass er das Gefühl hatte, ohne Sinn und Zweck zu leben, so stark seine Überzeugung auch manchmal sein mochte, dass sein Herz schon lange an einem Ort war, wo es nichts wirklich berühren konnte.

Bis sie kam.

Die Person, der er sich auf seiner üblichen Fischjagt in der Caffeteria der Universität gegenübersetzte, war nur ansatzweise als die Person zu erkennen, die später die Einsatzleiterin von NERV werden sollte, unter anderem vermittelte ihr Appartment zumindest den Anschein, dass sie Ordnung hielt, auch, wenn sie ihre stille Rebellion in Form leicht göffneter Schubladen und halb herausguckender Socken ausdrücke, und auch war sie in Kleidung, Gestik (und natürlich auch Schuhwahl) etwas simpler und mädchenhafter – Keine Schminke, keine Pumps, keine schnittigen Kleidchen, sondern simple Hosen, praktische Turnschuhe und langärmelige Pullis in helles Frühlingsfarben.

Sie sah aus wie die aufmerksame, freundliche Studentin, die sich alle als Freundin und Schülerin wünschen würden, die Sorte, die Freunden in Not ohne weitere Gegenfragen helfen würde, aber viel zu gewissenhaft war, um besonders viel Zeit in Männer zu investieren, sie war attraktiv, aber sie unternahm nichts, um die zu unterstreichen, sondern spielte es mehr herunter, wie man es von einer Mustertochter erwarten würde, ein keusches Blümchen, die Sorte von Mädchen, der man schon auf dem ersten Blick alles ansehen konnte, was man über sie wissen musste – Aber alles, was sie alle wussten war falsch.

Im Geheimen pulste die Leidenschaft durch sie hindurch wie ein reißender Fluss aus Blut, und ihre Iris verirrte sich immer wieder zu den Ecken ihren Augen, als gäbe es da eine Traurigkeit, ungeweinte Tränen von denen sie manchmal vergaß, sie wegzublinzeln.

Er kannte sich ausreichend aus um all diese winzigen, nicht ganz bewussten Signale zu bemerken, die gerade zu danach flehten, dass ihre brav kaschierten Reize irgenjemanden auffallen würden, der ihren Körper in beide Hände nehmen und sie behandeln würde wie eine richtige Frau, und nicht wie ein ordentliches Püppchen, und er sah die ungeteilten Wünsche und Verlangen, die nur davon träumten, befreit zu werden, und irgendwo hinter diesen warmen, braunen Augen pulsierte die Seele einer Kriegerin.

In gewisser Hinsicht war sie wie er, jemand, der an den Kontakten des Lebens nur auf recht seichte Art und Weise teilzunehmen schien, ohne zuzulassen, das ihr wahres Herz dabei jemals berührt wurde, und doch verhielt es sich bei ihr anders – Wenn er irgendwo in sich solch eine intensive Glut hätte, wie die, die sie verbarg, würde er sie nicht im Stillen verschwenden…

Also beschloss er, dass er ihr erlauben würde, zu weinen,  das er ihr gestatten würde, ihrer Leidenschaft ein Gefäß zu geben – Seinen niedringsten Instinkten zu folgen war immerhin die eine Sache, von der er sich sicher war, dass er sie konnte, das war mit Sicherheit nicht zu viel verlangt, das konnte er ihr bieten.

Auch sie war vom Second Impact gezeichnet, wenn nicht exakt auf die selbe Art und Weise, auch sie verzehrte sich nach etwas warmen und realen, an dem sie sich in dieser kalten Welt festhalten können würde, und sie nahm all diese Schichten aus staub und Schmutz, die er von seinem Körper zwar vor Jahren abgebraust, von seiner Seele aber nie ganz abbekommen hatte und suhlte sich darin wie eine berauschte Tänzerin in einem heidnischen Ritual, und er rollte ihren Pullover von ihren Brüsten hinunter, zwischen deren die ledrige Oberfläche ihrer deutlichen Narbe prangte, und wo andere sie höflich ignoriert oder mit ihren Liebkosungen unsicher inne gehalten hätten, bedeckte er jenes hässliche Mal mit Küssen, nahm zur Kenntnis, das es da war, ja, da sein sollte, schamlos und nackt wie die Kunst, und griff sie, die einzige Überlebende, eine Überlebende, als könnte er die Katastrophe selbst fassen und eine Verbindung zu einem lange abgetrennten Teil seiner selbst knüpfen, und nahm sie sich vor, bis sie nicht anders konnte, als die lange zurüclgehaltenen Schreie der Extase aus voller Kehle in den Raum hineinzulassen.

Er hatte schon so viele Frauen gehabt, so perfekt und formschön, wie er sie nur haben wollte, aber er konnte die Unterschiede zwischen ihnen kaum benennen, wenn er sie in seinen Armen hielt – Sie hingegen, das Mädchen mit der Narbe, mit den vielen, kleinen Makeln war es, die ihn eine große Wahrheit erkennen ließ: Diese Welt mochte nicht perfekt sein und ihre Makel und Unschönheiten haben, aber gerade daher bezog sich ihre ganze Schönheit – Schönheit, etwas, von dem er nicht gedacht hatte, dass er es auf dieser Welt noch finden könnte. Genau so wenig wie wahre Liebe.

Aber hier war sie, versteckt zwischen den Schweißperlchen im Tal zwischen ihren Brüsten, das, Narbe hin oder sehr, fortan sein liebste Ort auf der ganzen Welt blieb, und der einzige Ort, den ein Vagabund, wie er es immer gewesen war, ein Zuhause nennen würde, und das auch bis an sein Lebensende bleiben würde.

Und auch sie hatte etwas in sich gefunden, dass sie eine lange, lange Zeit zur Seite geschoben hatte, etwas, das sie selbst und alle, die sie kannten überraschte, ja zutiefst schockierte, als es letzlich erwachte; Das erste mal hatte sie ihn abgewiesen, wie es sich für eine braves Mädchen gehörte, und die Finger von diesem wilden, planlosen Casanova gelassen, und auch auf der nächsten Party schien es mit dem Gespräch nicht so gut zu klappen, bis sie im schnippisch den Hinterkopf zudrehte –

Einen Moment lang war die Maske durchsichtig geworden, und schon war es um ihn geschehen –

All seine Morgen begannen genau hier.

Ungebeten fing er an, sie zu Küssen und zu berühren, als sei ihm ihre Meinung dazu schnurzpiepegal, und damit hatte er das Feuer entfacht – Von purer Wollust gebeutelt schlag sie ihre Arme um ihn und sie schafften es gerade mal so von der Tanzfläche herunter in ein Waldstück hinein, bevor sie übereinander herfielen.

„ich kann es nicht fassen, dass ich das mein Leben lang verpasst habe…“ gestand sie, nachdem sie mit ihm fertig war, ganz recht, sie mit ihm. „Es gab überhaupt keinen Grund, sich zurückgehalten… Das fühlt sich toll an… ich hätte das nicht gedacht, dass es so gut sein könnte… ich will das die ganze Zeit machen… ich will nichts anderes mehr machen…“

Und tatsächlich klebten sie gut eine Woche später noch aneinander, während ein gewisser mit einem Papierstreifen dekorierter Ventilator in einer Ecke des Raumes vor sich hin pustete.

Sie machte sich gar nicht mehr die Mühe, die Klamotten, die sie ausgezogen hatte, wieder vom Boden aufzusammeln, bediente sich großzügig an seinem Alkohol und seinen Zigaretten und hatte in ihrer Wohnung bald wesentlich mehr stehen als er selbst – und ja, sie hatte sich auf dem Heimweg dieses enge, rote Oberteil besorgt, ja, weil sie es gerne wollte und eigentlich schon immer mal gewollt hatte, und sie war bereit es dem Rest der Welt zu verkünden, sollten sie doch denken, was sie wollten.

Und wenn ihre blonde Freundin, mit der er sich bald ebenfalls vertraut machte, versuchte, ihr Vernunft einzureden?

„Ach komm schon, Rit-chan, vernünftig sein kann ich auch noch, wenn ich alt bin, ich hab doch gerade erst angefangen, meinen Spaß zu haben!“

Und von dort an sah dieses einst dieses saubere, überdachte Appartment, dessen Schlüssel irgendwie in seinem Besitz gelandet waren, nie wieder ganz so sauber aus – Sie leiß überall ihre Slips und BHs und auf dem Weg hierher mitgebrachten Bierdosen hier liegen und er ließ sie, wie sie waren, weil das so aussah, als ob dieses Appartment wirklich voll mit echtem, dynamischen Leben wäre, und eher er sich versah, war es schon ihr gemeinsames Appartment.

Er konnte nicht sagen, ob er sie jemals so weit verstand, wie er es vielleicht hätte schaffen sollen, oder ob irgendeiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hatte, was Glück wirklich war, aber wenn er an die Zeit mit ihr zurückdachte, dann war da immer ein Lächeln auf ihren beiden Gesichtern gewesen; Sie benutzten die Wohnung mehr beide unabhängig voneinander, als das da wirklich eine Form des zusammenlebens gewesen wäre, jeder machte sich sein eigenes Frühstück und kümmerte sich um seine eigenen Sachen und auch wenn sie gelegentlich aneinander herunmeckerten  (Was sich liebt, das neckt sich), nannten sie es damals „modern“.

Aber wenn die dunklen Gedanken sie nachts holen kamen hatten, fand sie immer schnell eine Quelle der Wärme, und die Sphäre seines Lebens, die ihm immer so fremd und unreal vorgekommen war, füllte sich mit den Geräuschen und Gerüchen eines vertrauten Heimes voller Leben, und Anzeichen, dass dieser Ort tatsächlich von jemandem benutzt wurde.

Auch, wenn er sich nicht wirklich sicher war, was er davon halten sollte und wie er es weiterführen sollte, da diese ganze Angelegenheit eine Menge Gefühle hervorholte, mit denen er sich so noch nie auseinandergesetzt hatte, war es oft leichter zu sehen, was man nicht wollte, als zu sehen, was man nun wollte, und was er ohne mit der Wimper zu zucken entschlossen verneinen konnte war die Möglichkeit, das er sich je wünschen könnte, dass das hier aufhören könnte – In diesem Sinne könnte man wohl sagen, dass er zufrieden mit der Situation war, und sobals er das beurteilen konnte, schien sie eigentlich auch zufrieden zu sein, oder zumindest glaubte er nicht zu erkennen, das ihr irgendetwas fehlte.

Im Nachhinein wurde er von endlos vielen Zweifeln geplagt, aber wenn sich konzentrierte und genau versuchte, die Erinnerungen an ihne gemeinsame Zeit sorgsam durchzugehen, waren die einzigen ansatzweise unglücklichen Momente, die er ausmachen konnte, jene gelegentlichen Augenblicke gewesen, in denen er vor ihr aufwachen und sie darauf im Stillen beim Schlafen beobachtet hatte, in diesem total zerwühlten Bettzeug von ihr, und sich fragte, was er da eigentlich machte, und was er sich bei allem hier dachte, als ob er wirklich so einfach… „glücklich bis ans Ende seiner Tage“ leben könnte, während sein kleiner Bruder sein leben verloren hatte, bevor er die Gelegenheit bekommen hatte, zu erfahren, was Liebe war, ob er überhaupt das Recht auf Liebe hatte, als einer, der überlebt hatte, während so, so viele Menschen ihre liebsten niemals wieder gesehen hatten.

Jedes kleine Kind sollte doch sehen können, das das nicht unbedingt die Lexikon-Definition von fair war…?

Und war es fair mit ihr, von ihr zu erwarten, dass sie sich an eine Person wie ihn hingab, wenn sie doch so viel anderes haben könnte, so viel mehr?

War das nicht extrem egoistisch?

Und gerade in solchen Momenten begannen seine Gedanken oft zu rasen – er wusste nicht, ob es daran lag, dass ihn sein Weg letzlich zu einer Frau geführt hatte, die letzlich untrennbar mit derselben Katastrophe verknüpft war, die ihm seine Unschuld geraubt hatte,aber in letzter Zeit führten seine Überlegungen ziemlich oft zu der Explosion zurück, die diese ganze beknackte Situation überhaupt zu verantworten hatte, und was er einst durch die Augen eines überwältigten Teenagers gesehen hatte, zeigte sich ihm nun etwas ernüchtigter aus der Sicht eines reifenden, wenn auch immer noch zu genüge von von der Vergangenheit geprägten Mannes, was ihn ganz andere Fragen stellen ließ: Ja, dass er sich selbst bereitwillig über andere gestellt hatte, konnte er nicht leugnen, seine Entscheidung war immer noch die seine, und selbst wenn all diese Menschen wie seine Familie oder Individuen, die er bestohlen hatte, auch unter anderen Umständen zu Tode gekommen wären, hätte er nicht unbedingt selbst derjenige sein müssen, der eine Miitschuld dafür auf sich laden müsste, aber was hatte eine Bengel wie er überhaupt in so einer Situation zu suchen, das er solche Entscheidungen treffen musste, wie sie sonst höchstens von trainierten Soldaten abverlangt wurden?

Wie war es zu dieser ganzen, verdammten situation überhaupt gekommen?

Durch einen Meteoriten? Eine simple Laune der Natur? Ein Zufall? Nichts weiter als das?

In letzter Zeit musste er sich immer wieder vor diese Berichte über den Second Impact setzten (Von denen er etliche für exakt diesen Zweck ausgedruckt und ständig auf seinem Schreibtisch bereit liegen hatte), um das in seinen Schädel zu bekommen, und das schlimmste war, dass er langsam anfing, Diskrepanzen in den Berichten zu sehen.

Damals sah er darin noch nichts Weiteres als die Werke von jemanden, der irgendetwas falsch abgeschrieben oder irgendwelche physikalischen Phänomene falsch erklärt oder verstanden hatte, aber es brachte ihn dazu, immer neue Berichte darüber zu lesen, um sicherzustellen, welches die richtige Erklärung war, und bis ins kleinste Detail zu begreifen, wieso das alles passieren musste, woher jedes einzelne Detail kam, die Hitze, die Erdbeben, der Gestank, die giftige Schlacke.

Er hatte sogar Misatos Freundin Ritsuko, die sich etwas mehr mit Physik auskannte, nach den Details einiger Phänomene befragt, um sie genauer zu verstehen.

Man könnte das jetzt mit einer besorgniserregenden Besessenheit verwechseln können, aber das war es nicht; Er hatte nicht zwanghaft nach einer Lücke gesucht oder einem Schuldigen, noch hoffte er, irgendeine göttliche Ordnung, einen höheren Sinn oder Grund zu finden, der die Katastrophe hätte rechtfertigen können, von der Art von Romantizismus hatte er defitiv nichts mehr übrig – Ganz im Gegenteil, es ging ihm nicht um Mutmaßungen sondern um Fakten, um Wahrheit.

Wissen ist Macht – er selbst hatte gesehen, wie genau diese Macht den Schlackenpfuhl, durch den er nach der Katastrophe tagelang gewatet war, wieder in urbares Land zurückverwandelt hatte, er wollte Ruhe, Verständnis, Gewissheit – Wenn er diesen ganzen Kram nur dazu bringen könnte, in seinem Kopf sinn zu machen, wenn er schwarz und weiß die logische Erklärung dafür gesehen hatte, wieso der Second Impact eine unabwendbare, völlig zufällige Tragödie gewesen war, für die es keinerlei Grund, keinerlei Schuld gab, würder er vielleicht auch fähig sein, bei der Suche auf seine innere, persönliche Wahrheit auf die Vernunft zu hören, und zu akzeptieren, das auch ihn keine Schuld traf, außer, das er genau sowenig perfekt war, wie Misato oder die Welt.

Was ihm dabei entglitt war der Moment, in dem seine Angebetete die sich zerstreuende Wärme in ihrem Bett nach seiner Form absuchte, und die Laken vor ihrer Nase schließlich leer vorfand, seine Berührungen vermissend, ohne genau erklären zu können, was dieser Szenen ihr auf einmal so unheimlich bekannt vorkam.

Das und der absolut überwältigte Ausdruck des Begreifens und Wiederekennens auf ihrem Gesicht, als sie ihm vorsichtig, gleich einem kleinen Mädchen das angst hatte, erwischt zu werden, hinterhertapste, sich aufgrund der Leere im Bett auf einmal unsagbar klein und verletzlich fühlend, und das erste mal erlebte, wie er aussehen konnte, wenn er konzentriert an einem Schreibtisch saß, versunken in eine ganz andere Welt die, wie man meinen könnte, nichts mit ihr zu tun hatte.

„…Kaji-kun… Wir müssen reden.“

Und er drehte sich zu ihr um, als er sie in dem Türrahmen stehen sah, und wusste nicht, was er mit ihrem Gesichtsausdruck anfangen sollte, sodass er tat, was er immer tat, und sie mit seinem üblichen, äußerlich-selbstsicheren Grinsen anzuvisieren und lässig anzusprechen: „Is was, Kätzchen?“

Und sie schüttelte nur leicht den ihren Kopf, statt auf ihre übliche, überschwängliche Art und Weise zu antworten, und spätestens jetzt hatte er vollends realisiert wie leise sie war… zu leise.

Nun war Kaji nie der Typ gewesen, der irgendweche Vorbehalte oder Schüchternheiten hätte, wenn es darum ging, mit Frauen zu reden, und selbst wenn er sie hätte würde man es wohl kaum merken, schließlich war er ein sehr, sehr talentierter Lügner.

Es war wirklich schlimm, er konnte den Leuten das Blaue vom himmel herunterbluffen, und besorgten Alten Damen jede Art von eunheilbarer Krankheit vormachen, wenn er in der richtigen Stimmung war, und nahm kein Blatt vor dem Mund dabei, irgendwelche leicht zu beeindruckenden Jungen leute bösartig zu foppen, einfach, weil er nicht ändern konnte, dass er sehr, sehr, sehr gut darin war, von Verlegenheit keine Spur.

Aber das war das erste mal, dass es ihm wichtig war, einer Frau die Wahrheit zu sagen.

Er hatte Erfahrung mit Frauengeschichten, aber nicht mit dieser Art, nicht damit, wie man Gefühle auszudrücken hatte, die ernst waren, das war das erste Mal, dass ihm in den letzten Jahren überhaupt irgendetwas ernsthaft etwas bedeutet hatte, und nicht nur an ihm vorbeizog wie die Tage oder die vom Wind getriebenen Wolken am Firmament, und er wollte sich wirklich an dieser Wärmequelle hier festhalten und ihr das alles zu kommunieren, aber er wusste nicht wie.

Nein, Quatsch.

Später würde er zu dem Schluss kommen, dass er an dieser Stelle seiner Arroganz zu Opfer gefallen hatte, die mit der Distanz, die er zwischen sich selbst und die Welt gelegt hatte, einhergegangen war, ohne, dass er sich darüber bewusst war, dass sie sich eingeschlichen hatte, fast wie durch die Hintertür.

Nur, weil er dieser Art von Situation persönlich nicht so kontrollieren konnte, wie gewisse andere, hieß das noch lange nicht, dass er ihr keine gescheite Antwort schuldete, oder das er es sich leichten konnte, ihre Gefühle mit einer flapsigen Phrase abzuwehren.

Und außerdem hatte er selbst damals mit Sicherheit zumindest einen Satz gewusst, der seine ernsten Absichten garantiert klar wie Kloßbrühe gemacht hätte, ein Satz, der längst überfällig war, dessen Abwesenheit er ewig bereuen würde, wenn diese Gelegenheit in den Satz setzen sollte, der Ernste-Absichten-Satz schlechthin – Und damals brachte er es nicht fertig, ihn auszusprechen. Er war einfach noch nicht bereit gewesen, dieses letzte Fünkchen Distanz zwischen ihnen vollständig wegzublasen, und sie auch über ein oberflächliches, lediglich streifendes Niveau in die tiefen seines Lebenswandels hineinzulassen, und er konnte sich auch überhaupt sicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn er ohne Vorwarnung in ihre Sicherheitsabstandszone hineinwatscheln würde.

Er hatte mittlerweile gemerkt, dass sie sie vor dauerhaften Bindungen schreckliche Angst hatte – Sie wollte sich nicht in ihre Mutter verwandeln, nicht diese unterwürfige, abhängige Hausfrau sein, die in billigen Tangoschritten rund und rund und rund herum um die Füße ihres Partners kreiste wie eines braves kleines Blümchen, wollte nicht der kleine, hingebungsvolle Satelit sein, der das Licht einer strahlenden Sonne zurückwarf… auch, wenn das bedeutete, das sie mit diese fehlenden Teile nicht beieinander suchen konnten, um zusammen ein Ganzes zu bilden.

Es war eine wirklich vetrackte Situation – Er wusste mittlerweile ziemlich gut, wie sie sich von innen anfühlte, und trotzdem hatte er es noch nicht gewagt, ihren Vornamen in den Mund zu nehmen, auch, weil er sie nicht… antaschen, nicht in seine Komplikationen hineinziehen wollte – auch, wenn er ihren busen mittlerweile praktisch regelmäßig ald freundliche Begrüßung antaschte, es glotze, wer wolle! – Das war ganz bestimmt keines dieser Standartszenarien, wie sie häufig in irgendwelchen Ratgebern beschrieben waren, und ganz bestimmt nicht sein übliches Szenario.

Es war auch das, was als nächstes folgen könnte, wenn er sie einfach nur als „Misato“ ansprechen würde – Okay, das erste was folgen würde, war vermutlich eine wilde Partie Sex, aber was würde als zweites folgen?

Später sollte er zu dem Schluss kommen, dass die Unberechenbarkeit dieser Situation kein Grund zur Panik, sondern zur Wertschätzung hätte sein sollen, gerade das, was sie zu diesem ewigen Rätsel machte, über das er sich noch lange danach ewig den Kopf zerbrechen sollte, warum, warum, warum hatte sie ihn nur verlassen?

Es war gerade seine Unfähigkeit, es zu begreifen, einen Grund darin zu finden (gar nicht so viel anders als die Katastrophe selbst), die ihn noch eine lange, lange Zeit über sie nachgrübeln ließ, wenn er andere oft bereits vergessen hatte, nachdem er am Morgen danach ihre Appartments oder Hotelzimmer – Nie seins! – verlassen hatte, und es schon bald umgab sich das Kopfzerbrechen mit einem gewissen Romantizismus, um die Erinnerungen am Dahinschwinden zu hindern, und um zu irgendeiner Form von Akzeptierung zu gelagen – Der Reiz des Mysteriums, die Ehrfucht und eine widersprüchliche Art von Bescheidenheit, die sich sein Bild dieser Welt mischte, der Romantizismus für das nicht-verstehen-können.

Wehmütig dachte er daran zurück, wie Glücklich sie bis zu diesem letzten einem Gespräch zu sein schien, daran, wie er sich dieser Illusion, sie völlig zu begreifen, ja, besser durchschauen zu können als sie selbst, völlig hingegeben hatte, und war ergriffen von der betäubenden Schönheit zerfallender Dinge, alles, was mal ein „wir“ gewesen war, zersplittert wie ein gläsernes Meer.

Er dachte, dass er alles über Frauen wusste, doch Katsuragi Misato hatte ihn eines besseres belehrt, hatte ihm bewusst gemacht, dass er, auch wenn er durch ihre abgründe gewandelt war, längst nicht alles von dieser welt gesehen hatte.

Und gerade deshalb war es unmöglich, ihr nicht einen sehr besonderen Thron in den Hallen seines Herzens zuzuweisen. Niemand könnte je ihren Platz einnehmen.

Gut, er mochte gelernt haben, mit dem Nicht-Wissen zu leben und es zu respektieren, aber das nur, weil es immer bedeutete, dass  sich ihm noch etwas neues, unvorhergesehenes offenbaren könnte – Es bedeutete nicht, dass er die Suche nach der Wahrheit hingeworfen hatte oder sich seiner Unwissenheit ergeben würde, ganz im Gegenteil: Es bedeutete, dass seine Suche wohl niemals aufhören würde.

Er nahm sich diesen Reiz des Unbekannten mit auf seine Reise, und er wurde schon sehr bald zu seinem treuesten Begleiter.

Ja, es war eine Schande, dass es diesen Verlust gebraucht hatte, um ihn zu lehren, was er da verloren hatte, aber das brachte es nun einmal mit sich, jung zu sein, und es war ja nicht nur das – Er glaubte nicht, dass er seid dem Second Impact auch nur ein einziges mal von irgendjemand einfach nur als „Ryoji“ angesprochen worden war. Unter etwas anderen Bedingungen wäre er durchaus versucht gewesen zu sagen, das er da mal einen Typen gekannt hatte, der sich „einfach nur Ryoji“ nannte, nur leider war der Kollege vor ein paar Jahren tragischerweise von einem verirrten Meteoriten vaporisiert worden.

Mittlerweile würde er bei dieser Antwort nicht mehr so schnell sein, aber so kunstvoller Gespräche mit Damen sonst einzufädeln vermochte, dieses mal kam Misato ihm zuvor, und sie war nicht amüsiert:

„Kaji Ryoji… Sag mal, hast du seid du auf die Welt gekommen bist, auch nur ein einziges Mal die Wahrheit gesagt?“

„Aber, aber Baby, was unterstellst du mir denn da, ich bin ein Ausbund von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit!“

Was zumindest stimmte war, das er seine wahren Gefühle nicht zum Zweck der Täuschung versteckt hatte, zumindest noch nicht – Damals, als sie jünger waren, war alles noch so viel einfach gewesen, wäre so leicht aufzulösen gewesen, und  das sie diese einfache Zeit nicht nutzten, kam ihnen teuer zu stehen – mit ein paar wenigen Änderungen hie und da wären sie vielleicht zusammen ausgezogen, um diese Verschwörung aufzudecken, anstatt sich einzeln in ihr zu verrennen.

 

Damals hatte sie nur still, aber unüberrascht in sich hinein gelächelt, aber das nächste Mal, das er sie zu Gesicht bekam, drückte sie ihm einen Koffer in die Hand und ließ ohne große Doppeldeutigkeit durchklingen, dass sie jeden Ort rasiert hatte, an dem er gewesen war.

Sie erzählte davon, sie habe einen anderen getroffen, jemand, der ihr all das bieten könnte, was sie sich von der luftigen Präsenz eines „unreifen, unzuverlässigen, und absolut oberflächlichen Machoprotzes“ niemals erhoffen konnte, und das es offensichtlich sei, das er sich absolut nicht um ihre Gefühle scheren würde, und jung, wie er war, konnte er damals nichts anderes tun, als ihre Tirade hilflos mitanzuhören, und wie betäubt zuzuhören, wie sich das Donnerwetter, das er schon von Anfang an erwartet hatte, letzlich doch über ihn ergoss.

Natürlich hätte er kämpfen können, es wäre ein leichtes für ihn gewesen, herauszufinden, wer dieser andere Verehrer war, oder ein paar grandiose Liebesbeweise abzuliefern, aber es wären wohl alles nur hohle Gesten für sie gewesen, hohle Gesten von einem hohlen Mann.

Und wer war er überhaupt, dass er sich anmaßen könnte, sich zwischen sie und diesen anderen Mann, der ihr angeblich alles gab, was sie schon immer wollte, dazwischenzudrängen?

Was gab ihm das recht dazu?

Wenn er sie weiter verfolgen würde, dann doch nur, um selbst glücklich zu werden, doch hatte er das überhaupt verdient, oder hatte er das Recht darauf nicht schon vor langer, langer Zeit verwirkt?

Eigentlich hatte er schon viel mehr erhalten, als ihm hätte vergönnt sein sollen, er hätte sich glücklich schätzen sollen…

Sie hatte ihm ihre Meinung deutlich sagt, und er schuldete es ihr, zumindest kein schlechter Verlierer zu sein – Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und er würde sie akzeptieren, alles andere würde bloß bestätigen, dass er wirklich der „Machotyp“ war, für den sie ihn hielt.

Ein „Happy End“ war wohl eines dieser Dinge, die für eine Person wie ihn niemals wirklich gedacht waren…

 

 
 

19: [Night of Hunters]
 

 
 

Hey!
 

Get out of my Garden!
 

 
 

Is there room in my heart
 

For you to follow your heart
 

And not need more blood
 

From the tip of your Star?
 

 
 

-Tori Amos, ‚Datura‘.
 

 
 

---

 

Ein Detail, das Kaji über das Ende seiner Beziehung verborgen blieb war, das Misato, obgleich sie das Ordnung halten nie besonders gemocht hatte, und schon während ihrer Beziehung begonnen hatte, es mit dem Putzen nicht mehr ganz so genau zu nehmen, nach seinem Verschwinden erst richtig began, ihre Behausung so richtig verwahrlosen zu lassen, und fast im Gleichtakt auch sich selbst.

Was lohnte es sich überhaupt zu putzen, wenn es überhaupt schon bald wieder zugemüllt sein würde?

Und für wen sollte sie putzen, wenn es ja doch niemanden mehr gab, der regelmäßige Blicke auf ihre Behausung werfen würde, niemand mehr, der sie in diesem Loch noch besuchen würde?

Vorher hatte sie dieses Braves-Kind-Nummer abziehen können, in dem sie den Deckel fest auf diese zum besten gefüllte Tonne von emotionalen Müll gepresst hatte, aber ebendieser Deckel war von Kaji fortgeschleudert worden wie ein Frisbee, und war geradewegs durch die Fensterscheibe geknallt.

Es war einfach unmöglich, nach dem, was sie erlebt hatte, zurück in ihre Puppenhülle zu schlüpfen, nicht mehr, als sie ihr Hymen nachwachsen lassen konnte, sie würde es einfach nicht mehr ertragen – Und so hatte sie hier geendet, mehrere Tage spatter, unter ihrem Esstisch Tisch mit einer teils geleerten, teils verschütteten Bierdose in der Hand, auf einem Bett von leeren Chipstüten und mit einem Abdruck, der große Ähnlichkeit zu ihrer Fußheizung hatte, quer über ihre Stirn.

Wie war das hier noch mal passsiert?

Ihr Gedächtnis war ein dieser Stelle ein klein wenig löchrig.

Sie glaubte jedenfalls, das diese ganze Sache wesentlich besser geklungen hatte, als sie damit angefangen hatte, sie sich in ihrem Kopf auszumalen, von wegen, dass die sich von nun an nicht mehr von diesem ganzen Scheiß mit ihrem Vater manipulieren lassen würde, gar nicht mehr, weder, in dem sie sich schön und harmlos gab, weil ihm das vielleicht gefallen hätte, oder auf Kerle hineinzufallen, die genau so egozentrisch, unzuverlässig und weltfremd waren, wie er.

Sie war viel zu alt, um sich von diesem toten Mann kontrolieren zu lassen, verdammt noch mal, er sollte nicht solche Macht über sie haben, nicht als Erwachsene!

Sie sollte das wirklich besser wissen!

Aber dann konnte nicht anders, als zu bemerken, wie absolut still und leer sich dieses ganze, große Appartment sich ohne diesen scheiß Idioten anfühlte, wie kalt es war, und was für einen mords Kater sie hatte.

Sie konnte auf Anhieb nicht mal sagen, welcher Wochentag heute war, und ob sie heute irgendwelche Vorlesungen hatte, zu denen sie zu erscheinen hatte, aber wenn es welche gab, dann war es ihr jedenfalls schnurpiepegal.

Scheiß drauf.

Heute hatte sie keinen Bock mehr, irgendetwas zu tun.

Gut, dann hatte sie es bei ihrer Feier anlässlich ihrer Rückkehr in das freie, ungebundene Single-Dasein und der damit verbundenen Rückführung ihrer Haupt-Aufmerksamkeit auf die wichtigen Dinge des Lebens ein bisschen übertrieben, aber das hieß noch lange nicht, dass diese diesen billigen Testosteronbolzen vermisste…

Sie vermisste ihn nicht.

Natürlich vermisste sie ihn nicht!

Warum sollte sie auch?

Und sie musste sich unbedingt einen scheiß Luftbefeuchter kaufen, wie Ritsuko es vorgeschlagen hatte, jetzt tränten ihre blöden Augen schon wieder.

Könnte auch an dem blöden Kater liegen.

Ärgerlich griff sich sich das nächste, was sich entfernt Decken-ähnlich anfühlte, und rollte sich missmutig auf die Seite, um sich erstmal gepflegt zusammenzukugeln.

Mensch, es war wirklich still hier.

Waren die Nachbarn alle noch auf der Partymeile oder sowas?

Vielleicht sollte sie es machen wie Ritsuko und sich ein Haustier zulegen, damit das wenigstens ein bisschen Krach machen würden.

Aber ja keine Katze! Sie traute diesen kratzbürstigen Viechern nicht.

Spätestens nicht, seit sie das erste Mal bei ihrer Freundin zu Besuch war, den Kratzer hatte sie immer noch – Seid dem hatte sie klar gestellt, das Ritsuko ab jetzt zu ihr zu kommen habe, und damit basta.

Nope. Katze negativ.

Vielleich ein Hund, einer von diesen lächerlichen Zwerg-Chihauas, die in die Handtasche passten, oder einer von diesen Pudeln in Knallpink.

Oder vielleicht einen Vogel, ein Wellensittich vielleicht?

Vogel ist gut, freiheitsliebende Kreaturen, mit denen würde sie sich sicher gut verstehen.

Aber bloß keinen Papagei, da könnte sie genau so gut Kaji wieder rein lassen.

Wie es dem Schwachkopf wohl so ging?

Eigentlich hoffte sie ja schon, dass er OK war, auch, wenn daran vermutlich der Restalkohol schuld war.

Aber um wen machte sie sich da eigentlich Sorgen? Dieser übergroße Pfau war (jetzt wo sie schon beim Thema Vögel waren) mit sicherheit wesentlich besser dran als sie, vermutlich war er derzeit so quietschfidel, dass sie kaum der Versuchung widerstehen können würde, eine eherbliche Verformung seines Schädels herbei zu führen.

Wahrscheinlich war der alte Casanova schon dabei, die nächste ahnungslose Schnecke zu vögeln, und damit meinte sie keine Kanarien-Vögel!

Nö, nö, sie vermisste ihn überhaupt net!

Kein bisschen!

Etwa so sehr, wie sie ein Loch in ihrem Kopf vermissen würde.

Ein an dieser Stelle passendes Lied von den Suggababes vor sich hin trällernd, das ihr gerade spontan einfiel, sang sich die einzige Überlebende der Katsuragi-Expedition mite in paar sehr schiefen Tönen selbst in den Schlaf.

“Takes more dan beggin’…. to revers mah brain… chr… chrrrrrrrrr….”

Es foltgen eine ganze Reihe weiterer undefinierbarer Schnarchlaute mit stetig sinkender Ahnlichkeit zur korrekten Melodie, und, kurz bevor sie die Grenze von Wachen zum Tiefschlaf endgültig überschritt die entfernte Feststellung, das all der Alk und alles Nikotin dieser Welt sie nicht daran hinder könnten, die verblassenden Schatten seiner Berührungen zu vermissen und dass sie sich schrecklich, schrecklich einsam fühlte.

 

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Nachdem Misato ihn verlassen hatte, war Kaji mit seinen Amateur-Nachforschungen über den Second Impact allein, und das schlimmste war, dass er langsam anfing, Diskrepanzen zu finden.

Die meisten Leute, inklusive Ritsuko schoben es darauf, das ihm die Trennung ein wenig plötzlich getroffen hatte, und es gab ohnehin niemandem mehr auf dem Planeten, der nicht irgend einen Komplex im Bezug auf den Second Impact hätte.

Er hatte seine Studien auch schon in den Wochen vor der Trennung wenn auch aus anderen Gründen wohl so ziemlich vernachlässigt, und es war ohnehin nie etwas gewesen, was er sich wirklich ausgesucht hätte, weil er es ausgewählt hatte, also fand auch keiner der Professoren und Tutoren seine bisweisen mangelnde Aufmerksamkeit in irgendeiner Form verdächtig.

Er war die Sorte von Person, die sich aufgrund seinem charme und seiner eigentlich recht geselligen Art mit vielen gut verstand, aber niemanden besonders viel über sich verraten hatte, und ohnehin als eine Art wilder vagabund bekannt, und von seiten seiner Ex-Freundin hieß es stetig, er sei ein unreifer Kindskopf – Also definitiv die Art von Person, bei der es nicht wirklich verdächtig erschien, wenn er sein Studium mitten drin abbrach und wie vom Erdboden verschwand, um eine andere Karriere einzuschlagen, aber seine tatsächlichen Gründe lagen wesentlich tiefer als gewöhnliche jugendliche Unentschlossenheit:

Schon nachdem er sich die simpelste Ausführung der Physik hinter dem Phänomen angesehen hatte, begannen sie, mehr Fragen aufzuwerfen, als zu beantworten, zum Beispiel war die Erklärung für die giftige, aber eindeutig organische rote Matschepampe, die zu seiner Zeit das Land überzogen und die Meere verpestet hatte, ziemlich… exotisch.

Nicht unmöglich, aber nicht das, was man bei jedem Allerwelts-Meteoriteneinschlag erwarten würde.

Soweit also nur besonders großes Pech.

Als Kaji dann aber nach Satelitenbildern des Einschlagskraters suchte, um sich diese ungewöhnlichen Umstände näher anzusehen, stieß er auf den richtigen Whammy: Es gab keine Satelitenbilder des Einschlagskraters.

Nicht mal Google konnte welche finden, nein, es gab ja nicht mal Webseiten zu irgendwelchen hobbylosen Menschen, die daraus eine Verschwörung spannen – was ehrlichgesagt die wahrscheinlich einer wirklichen Verschwörung nicht gerade klein aussehen ließ aber bevor er jetzt total abhob, musste er nachdenken.

Ein Haufen von Verschwörern – Die stereotypischen Menschen in Kutten – konnten schlecht einen verdammten Meteoriteneinschlag auslösen, mit einem großen Stein (okay, eigentlich einen sehr winzigen, aber extrem schnellen Stein) aus dem Weltraum.

Das war eine Nummer zu groß für alte Männer in komischen Kutten.

Bis jetzt konnte es für all das noch logische Erklärungen geben… eine Frage der political correctness? Keiner will die Reste eines verdampften Kontinentes sehen?

Kaji öffnete sich erneut ein Google-Fenster, und tippte zwei Worte ein:

„Satelite“, „picture“ und“20**“.

Und tatsächlich sah es aus, als ob eine Satelitenbilder der neuen Milleniums die nunmehr durch die Vermischung des roten Meers und der bläulichen Lufthülle größtenteils violetten Erdkugel von dieser nie das südliche Drittel zeigten.

Er klickte weiter und weiter und weiter, und auf jeder Seite nur abgeschnittene Erdkugeln, bis auf die gelegentliche blaue version aus vergangenen Jahren, die sich hie und da hinzugesellte.

Kaum zu glauben, dass da in den jetzigen Kindergärten und Schulen eine Generation heranwuchs, für die mit der Bezeichnung „blauer Planet“ nicht mehr viel anfangen können würde – Es würde so ein alter kultur-Gag sein, unverständlich wie die Tatsache, das Blau im Mittelalter zum Beispiel als „warme Farbe“ galt, und dass die alten Römer bisweisen Liegen statt Stühle hatten, so ein kleiner historischer fun-fact, „Hey kinders, die Erde war früher mal blau!“ – „Boah, echt?“

Und so weiter. Und so fort.

Aber nur, dass er in Moment keine aktuellen Bilder des Kraters auf (Denn wer würde den schon sehen wollen, und was hätte sich da großartig verändern sollen  – Die Gegend war vermutlich noch genau hoffnungslos verseucht wie am Tag der Katastrophe.)

Seine nächste Suche galt seiten, die im Verlaufe mehererer Jahre aufgenommene Bilder zu bieten hatten, vielleicht Wetterdaten oder so, auch wenn die jegliche Messungen in den Jahren direkt nach der Tragödie unmöglich gewesen waren – Aber vielleicht würde er ja ein Bild von 2003 auf eines aus dem Jahre 2000 folgen sehen, und wenn irgend eine Quelle, möglichst offiziell, von weiter herausgezoommten Bildern zu dieser obere-zwei-drittel-Ansicht wechselte – Nein, das wäre zu verdächtig, was er statt dessen fand war jedoch auch gut: Eine Seite, Amerikanisches-Umwelt-Büro-Dingens, die blauen Erden ebenso abgeschnitten wie ihre dunklen Zwillinge.

Zum gut gab es die gute alte way-back-machine. Bei Seite nummer eins gab es nichts, gut möglich, dass der Second Impact selbst den Damen und Herren hier die Arbeit abgenommen hatte, wohlmöglich durch die Überflutung irgendwelcher Servergebäude doch beim nächsten Fund ähnlicher Natur sah man in den neunzigern noch ganze Weltkugeln – Wo die neuen Bilder herkamen?

Hm. Entweder wurde da herangezommt (nein, zu umständlich) oder die Ersatzbilder warem im vorraus angefertigt worden, irgendsowas, ein Experte war er auch nicht – Er war nur hier, um sich eine grobe Idee zu verschaffen. Es war davon auszugehen, dass alles, was derart ungeschützt gefunden werden konnte, noch gut wegerklärt werden konnte, und schon von vielen anderen gesehen worden war.

Regierung. Millitär villeicht. Gut möglich, dass das die Adressen waren, an die er sich halten musste…

Doch das war alles schwammig.

Er könnte sich da durchaus was zusammensetzen, immerhin war er vor nicht all zu langer Zeit von der Liebe seines Lebens sitzen gelassen worden.

Der Durchbruch, der ihn letzlich überzeugte, war ein Artikel über einen Gerichtsfall von 2004, eine Anklage wegen Menschenexperimenten (Hört Hört!) – Eine brilliante junge Biologin und Mutter eines kleinen Kindes war scheinbar als Versuchsperson benutzt worden und hatte die Prozedur nicht überlebt, der verantwortliche Kerl, eine zwielichtige Gestalt, hoch wie ein Panzerschrank, mit tiefsitzenden, saphirblauen Augen, war mit einer recht gefühlskalten, unfreundlichen Visage abgelichtet, anscheinend waren Bestechungsgelder geflossen, um dieses exquisite Exemplar von Psychopath frei auf die Erdbevolkerung loszulassen, undsoweiter, und so fort – der springende Funkt war, es gab eine nebulös beschriebene Organisatiobn, die irgendwie zur UN gehörte, und über die in dem Text so gut wie gar nichts stand. Viel erzählt, wenig gesagt, wie die Politiker, aber da war diese vage Anmerkung, wie „…Arbeiten, die elementar für die Zukunft der Menschheit nach dem Second Impact“ gäbe, welche der Prozess unterbrechen würde.

Also konnte es mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar bereits eine Organisation geben, aber ein Student mit einem Laptop konnte da nichts viel machen.

Es wurde also Zeit für ihn, seine Sachen zu Packen, in den Untergrund zu verschwinden und seine Spuren zu verwischen, und systematisch die Wahrheit aufzusuchen.

Er reiste umher, durchforstete Archieve nach Dokumenten, zog aus den Computerkentnissen, die ihm sein halbes Studium gebracht hatte, guten Nutzen, und stürzte sich mit einem unermüdlichen Biereifer in seine Nachforschungen – Nachdem Misato ihn verlassen hatte, hatte er nicht mehr von einem weiteren Leben, als er es vorher hatte, sodass er, auch, wenn er sich immer mal ein Minütchen nahm, um die örtlichen Bars zu frequentieren, und sich ein spontanes Stelldichein zu organisieren, den größten Teil seiner Zeit und Energie komplett in seine Suche, seine Jagt zu investieren, und auch er wurde verwoben in diese Gesichte, durch seine eigene Wahl und seinem Verlangen nach der Wahrheit, ohne, das er hinein geboren wäre. (Vielleicht war das eine der Qualitäten, die ein gewisses rothaariges Mädchen so dringend in ihren Besitz bringen wollte, und sei es nur durch einen Stellvertreter)  

Zumindest für das Aufdecken von geheimen Verschwörungen schien ein alleinstehender, familienloser junger Mann genau das Richtige zu sein, jemand, der nie besonders tief verwurzelt gewesen war, und sich daher zurückziehen konnte, ohne Staub aufzuwirbeln, aber dennoch die Geschickte besaß, um die Informations- und Beziehungsnetzwerke verschiedener Schauplätze wenigstens anzusaugen,  wann immer es ihm nütze, und je nachdem, ob er sich in der Wüste oder im Regelwand befand, etweder Lianen oder Kakteen mit seinem Taschenmesser anzuritzen, um seinen höchst eigenen Durst zu stillen, an Information, Aufmerksamkeit, Vergnügen, Gesellschaft, und wonach auch immer es ihm sonst noch dürsten sollte, und diese dann offen und leckend zurückzulassen, nachdem er seine Kehle nach seines Herzens Begehren mit ihrem Saft gefült hatte, und bereit war, ins nächste Biom zu wandern.

Er hatte immer noch das Gefühl, dass in seinem Leben etwas fehlte, aber auch, wenn er es noch nicht bekommen hatte, er wusste jetzt, was es war, und wo er nach den Teilen Suchen musste, die ihm noch fehlten, um das Puzzle zusammenzusetzen.

Dennoch waren die ersten Monate in ihrer Fruchtlosigkeit sehr entmutigend und im Wesentlichen nichts weiter als ein völlig blindes Stolpern von einer Sackgasse in die Nächste – Wenn seine Unternehmungen irgendwem auffielen, dann schien ihn damals jedenfalls noch keiner als Bedrohung einzustufen; Eine Eliminierung würde mehr Ärger verursachen, als sie Wert war, er war nichts als ein kleiner Fisch, nur Kerl mit einem Computer, der sich nicht einmal mehr ein Student nennen konnte.

Doch das war zu erwarten gewesen, und es war nicht so, als ob seine Frustration Tag für Tag zugenommen hätte, oder so etwas, es gab ja reichlich Zerstreueungen, mit denen er sich bei Laune halten konnte – Auch, wenn seine Ablenkungen weder das Feuer der Suche löschen noch die Leere der Einsamkeit füllen konnten, war es nicht so, als ob er seine weltlichen Beschäftigungen nicht zumindest bis zu gewissen Leveln genießen würde, Grade, die den umherstreunenden, nicht weit von streunenden, verwilderten Katzen entfernten Jungen von vor vielen Jahren so voll und ganz zu Frieden gestellt hätten, dass ihm in seiner niederen Existenz nichts weiteres eingefallen wäre, dass er sich wünschen könnte.

Aber am Ende jedes gemütlich verquatschten oder in Zweisamkeit verbrachten Abends zog er letzlich weiter, wann immer er alles hatte, was dieser Ort ihm liefern konnte.

Ein paar Mal dachte er darüber nach, sich einer Gruppierung anzuschließen, die eher  Chancen hatte, dass hier aufzudecken, und diese nebulöse Organisation, von der er noch nicht einmal einen Namen hatte aufzutreiben können, mit aller Wahrscheinlichkeit bereits infiltriert haben würde, aber wie lange würde es dauern, um sich dort das nötige Vertrauen zu erkämpfen? Wie lange, bis man ihm eine Mission mit solcher Tragweite zuweisen würde? Das war erin Job für die alten Experten, nicht für irgendwelche Bedingungen stellenden Neulinge. Man konnte nicht einfach so ohne weiteres entscheiden, einem Spionagenetzwerk beizutreten. Wer weiß, ob man ihn überhaupt auf den Fall ansetzten würde, und mit Sicherheit nicht, bevor er seine Fähigkeiten und Loyalität bei zahllosen anderen Missionen unter Beweis gestellt hatte – Und für die hatte er weder die Zeit, noch den Nerv. Er hatte sein Ziel, sein Fadenkreuz klar vor Augen: Die Wahrheit über den Second Impact, für sich, für seine eigene Erlösung – Gerechtigkeit war eine gute Sache, die er auch tendenziel befürwortete und herbeizuführen versuchte, aber sein Feuer brannte für die Rätsel des Second Impact, die waren es, die ihn interessierten, die waren es, für die er bereit war, alles hinzugeben, nicht für andere.

Seine Kontakte mit dem Innenministerium begannen also, als sie sich bei seinen eigenständigen Aktionen gegenseitig in die Quere kamen, ihm aber durch einen ihrer eigenen Fehler eine Gelegenheit boten, zu demonstrieren, dass er nicht nur auf ihrer Seite war, sondern auch etwas für sie zu bieten hatte.

Bevor er sich ihnen formal anschloss, musste er doch die eine oder andere Prüfung bestehen und offensichtlich eine Portion Kampftraining absolvieren, aber sobald er einmal drin waren, ging alles weitere recht schnell – Es war kaum zu glauben, wie schnell so ein kleines Sätzchen wie „Ich habe Informationen über die Gegenseite“ einem alle Türen aufstoßen konnte – Seine „Freunde“ beim Ministerium kümmerten sich um seine Einschleusung, von da ab aber agierte er nach seinem eigenen Plan, seinem einzig wahren Pfad, zu dem es nie wirklich eine Alternative gegeben hatte, alle Seiten gegeneinander auspielend, keinem alles sagend und sich tiefer und tiefer in dieses Netzwerk aus Halbwahrheiten und Intrigen hineinarbeitend; Und je näher er dem dunklen Herzen dieser Prozesse kam, um so deutlicher wurde es ihm, das dort einige Dinge vor sich hingehen, ohne das jemand den Wald hinter den Bäumen sehen würde – Er kratzte durch ausfürchlich ausgearbeitete Schichten und Netzwerken aus Lügen und Halbwahrheiten, hatte man sich durch eine gearbeitet, bekam man es gleich mit der nächsten Lüge zutun, eine die tiefer war und mit etwas Glück etwas näher an der wahrheit, aber immer noch Meilenweit davon entfernt, es fand sich hinter jedem Schloss  eine weitere Tür, und unter jeder Maske eine weitere Maske. Selbst er wurde Teil davon, log und betrog, bis sich die Balken nicht nur bogen, sondern zu Spiralen zusammenbogen, seine Nase als Billiardstock verwendbar war, und der große, böse Wolf alle Schäfchen nicht nur verschlungen, sondern vollständig verdaut und wieder ausgeschieden hatte.

Er hatte schon als herumstreifender Bengel das Lügen gelernt, doch jetzt konnte er die abenteuerlichsten Märchen mit Stückchen von Wahrheit verwoben vom Himel herunterlügen, ohne mit der Wimper zu zucken, hatte das authentisch-vertrauenswürdige 0,5-Sekunden-Lächeln einstudient; Schon als heimatloser Straßendieb, der sich von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager, halbaufgebauter Kolonie zu Kolonie gekämpft hatte, hatte er sich das 101 der Selbstverteidigung und die Denkmuster  eines Jägers angeignet, jetzt aber war er tödliche Perfektion.

Wer mit dem Schwert lebt, kommt durch das Schwert um, und das galt umso mehr für Pistolen, das war ihm natürlich klar – Als er seine Zusammenarbeit mit SEELE begann, hatte er voll und ganz begriffen, dass die alten Männer voll und ganz planten, ihn als ‚Dank‘ für seine Dienste eines Tages zu liquidieren, NERV – das hieß, Ikari, legte es zwar nicht unbedingt darauf an, würde aber vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken seine Exekution anordnen, wenn er je zu dem Schluss kam, das er ihm mehr Ärger verursachte, als er Wert war, und selbst die von der Regierung würden ihn vermutlich ihren höheren Zielen opfern, wenn es hart auf hart kam –   und er nahm es nur höchst bewusst im Kauf, wenn das der Preis der Wahrheit sein sollte – zunächst, weil er es wollte, und keinen wirklichen Grund hatte, es nicht zu tun – Keine Familie, die ihn vermissen würde, keine Geliebte, der er ein Beben der Trauer hinterlassen könnte, keine festen, tiefer gehenden Verbindungen, bis auf die, die er bereits gekappt hatte, und selbst an denen zweifelte er – Sein Leben war noch ganz das seine, und außer dem hatte er nichts weiteres zu verlieren – Die Gefahr war also zunächst etwas, das er einfach hinnahm, weil es ihm das wert war, vielleicht auch, weil er sich davon eine Sühne versprach,die Art von Komplex, die man hat, wenn man jung und getrieben ist – Doch auch, wenn er bis zum heutigen Tage dazu stand, dass ein wenig Gefahr das Leben ernst so richtig aufpeppte, gab es Dinge an seiner Weltsicht, die noch zu reifen hatten – Bei seinen Aktivitäten kam er viel herum, an Stadränder, in der Wildnis liegenden Zugängen zu unterirdischen Stützpunkten, und Industriebrachen – Industriebrachen. Ein selten bekannter Fakt war, dass man auf solchen aus verschiedenerlei Gründen oft eine größere Biodiversität fand, als in den die Städte umliegenden Landschaften – Und war nicht alles von Menschen berührte Land nach dem Second Impact erst mal eine Industriebrache gewesen?

Von selbst geschah es nicht, dazu wäre das Land zu zerstört; Statt dessen waren es moderste Molukular-Sieb Techniken, breitflächig ausgesäte Chemikalien zum Neutralisieren gewisser Schadstoffe, oder mehr zu deren Umsetzung in etwas weniger schädliche Stoffe, dass, und ein paar katastrophenfeste Saatgut-Lagerbanken in Skandinavien, doch das endgültige Bild, dass die weniger wissenschaftliche Bevölkerung (und selbst der Teil der Bevölkerung, der sich in diesen Kriesenzeiten an religiöse Extremisten gehalten hatte, und keinen Moment ausließ, um sich über die Wissenschaft zu beklagen – Ob nun Wissenschaft oder Fanatismus an der Ursächlichen Katastrophe schuld war, darüber würden sich die lieben Gelehrten noch sehr, sehr lange streiten – oder, je deutlicher es wurde, je näher das Datum im Kalender der Nacht zum  1.1.2016 kam, vielleicht auch nicht mehr ganz so lange…) war eines, das Grashalme durch den Alphalt brechend darstellte, was zumindest Teile der Kontinente wieder Grün machte, und den blutigen Planeten selbst und seinen atembares Hüllchen zumindest, wie bereits erwähnt, halbwegs violett.

Es gab wieder Wälder und Felder, Landstriche, die man als malerisch bezeichnen konnte; Zuerst war das Leben ja in die Städte zurückgekehrt, wo die Menschen ihre Hochtechnologie hatten, an die sie sich klammern konnten – Verkehrte Welt, kompliziertere Formen des Lebens waren in der Katastrophe die einfacheren, die grundlegenderen,  simpleren Überlebensarten, Bauern, Jäger, Sammler, wurden unmöglicher, Fischer waren ganz ein Phänomen der Vergangenheit, Labore brachten synthetische Gewebe als Ersatz, und plötzlich hatte auch keiner mehr ein Problem mit gentechnisch zu höherem Ertrag, Nährstoffgehalt oder Widerstandsfähigkeit manipulierten Feldfrüchten, weil sie, simpel gesprochen, Hunger hatten, der älteste und beste Motivator von allen – Nicht umsonst hatte sich die Biotechnologie zuallerserst im Pharmabereich durchgesetzt, und hätte das wohl auch ganz ohneSecond Impact getan, die Menschen wurden erstaunlich un-Wählerisch, sobald es um ihre Leben ging.

Natürlich war bei weitem nicht alles zurück auf dem Weg zum Status Quo, bei weitem nicht; Schon die wesentlich harmloseren Eingriffe der Menschen vor dem Second Impact hatten mit Abholzung, Globaler Erwärmung (Globale Erwärmung! Was für ein Witz, angesichts der heutigen Situation. Die in den Neunzigern hatten vielleicht sorgen! Und doch konnte man getrost sagen, dass diese paar viertelgrad vor 2000 und die nuklearen Kriege, die auf den Second Impact gefolgt waren wie der Eiter auf eine Wunde alles Früchte des selben Baumes waren, der an der gleichen Arroganz wurzelte. Wäre der Impact nicht gekommen, wären vielleicht andere Katastropfen gefolgt, um eine wenn auch weniger extreme, aber dennoch von Krisen und Unsicherheit geprägte Zeit einzuläuten, in der etliche orientierungslose Jugendliche das Gefühl hatten, das Ende einer Ära verpasst hatten, und sich fragen würden, warum, warum nur stecken wir in solch einer körperlich geprägten Zeit? Gründe, um sich zu beklagen, hätten die Menschen immer gefunden, vor allem, wenn es statt drei Milliarden ganze sieben davon wären. Und doch: Diese sinnlose Verschwendung von Leben! Von kleineren Bestrafungen hätte man sich vielleicht noch erholen, aus kleineren Fehlern noch lernen können…) und Umweltverschwutzung das Gesicht der Welt für alle Zeit verändert, und nichts davon war je so weit gegangen, alle kompliziert miteinander zusammenhängenden Kreisläufe und Lebensräume des Planeten mit dieser undefinierbaren roten Schlacke zu kontaminieren.

Fragte man Biologen, war freilich nichts in Ordnung, die rettung der Biodiversität konnte man vergessen, und die Kreisläufe des Meeres, so dicht eingebunden in so viel Stoffaustausch, waren ein- für alle Male zum erliegen gekommen;

Die Arten an Tieren und Pflanzen, die sich nun vermehrten, waren einige wenige, besonders robuste Arten, die Sorte, die man in ein fremdes Ökosystem eintragen und dieses damit komplett vernichten könnte, wie es mit Ziegen, Ratten und Weltengrün vielerorts in kleinerem Maße geschehen war, etliche Spezies kehrten ohne ihre natürlichen Feinde zurück und überwucherten andere, und insgesamt ließ sich die Art von Balance, die sich über zehntausende von Jahren eigependelt hatte, nicht in wenigen Jahren herbeiführen – Die Änderungen waren wohl profunder, als sie beim Ausbruch eines Supervulkans oder dem zerbrechen eines Kontinents gewesen wäre, aber für die meisten Menschen war ein Baum ein Baum, und – Grünzeug!

Grünes Gras und Blätter, wo seine eigenen Augen nur kahles Rot gewesen war.

Bei solchen Anblicken, da war, zum Beispiel dieser eine spezielle Hang umbegeben von mächtigen Bergketten, Sie wissen schon, ein verlockender Ort für eine geheime Basis, und die Wälder, die ihren grünen Mantel bildeten, überkam Kaji zumeist ein seltsames, nicht per se schlechtes, aber auch nicht rein glückliches, ansatzweise melancholisches Gefühl; Die Welt, die da draußen vor sich hinwucherte, war nicht die, die er einst gekannt hatte, war nicht die, durch deren Narben und Stiche er einst geschlichen hatte, sondern eine völlig neue, in der Kinder reiften, die nicht mal passiv getragene Schuld bei sich haben würden, und sich eines Tages umdrehen würden, um mit den Finger auf ihre Ahnen zu zeigen, und das mit gutem Recht, weil sie sie selbst völlig schuldlos sein würden, rein und neu.

Das Leben war nicht zum ersten Mal am Rande der Vernichtung, Zeugnisse von Massensterben und Zeitalter der Finsternis klebten in Eis-Bohrkernen und fossilen Kalkschichten, wie die Fußabdrücke von Sommer, Herbst und Winter in den Jahresringen von Bäumen lagen;

Auch, wenn es nicht seine Welt war, auch wenn es für ihn keine Hoffnung gab, die Welt an sich würde sich weiter drehen, und die Zivilation war dabei, wieder aufgebaut zu werden – Häuser, Menschen, langweilige Büro-Jobs,  Post-Post-Apokalyptisch.

Und es kam ihm in den Sinn, während der Reifung der Jahre, der man zwar tunlichts aus den Weg gehen, ihr aber nie ganz entkommen konnte, solange man sich an einem Tag noch an mehr erinnerte als am letzten, dass sein Platz in dieser neuen Welt vielleicht darin liegen könnte, sie zu beschützen – Im Nachhinein würde er sagen, dass er mit seiner Suche nach der Wahrhheit etwas gefunden hatte, für das er weiterleben konnte, bis er etwas anderen gefunden hatte.

Sein eigener Seelenfrieden, die Wahrheit, die Suche nach Wissen war und blieb seine uhrsprünglichste Motivation, aber  dennoch sah es Kaji als eine Art kleine Tragödie, dass das ‚Natürliche‘  bei dem hochtechnisierten Leben, das die Katastrophe nötig gemacht hatte, ein wenig in Vergessenheit geriet, vielleicht auch, weil es ihn daran erinnerte, das die Welt, die in die er hineingeboren worden war ein Ding der Verganheit war.

Doch vielleicht war dieser unauffindbare Grund seines Überlebens ja der, dass er mit diesen Erinnerungen und diesen schmerzlichen Erfahrungen etwas hatte, das er anderen weitergeben konnte, das einen Wert hatte, dass er die Hölle des Second Impacts gerade deshalb überstanden hatte (wenn es so viele andere nicht geschafft hatten) weil die Kinder der Zukunft Schutz und Wegweisung brauchen würden; Denn je näher er der Antwort der vergangenen Tragödie kam, umso deutlicher wurde es, dass sich in der Zukunft noch wesentlich grausigere Bedrohungen anbahnten – Die ersten der Kinder, die nach der Tragödie geboren worden waren, würden zu dem Zeitpunkt, an dem die Rückkehr der Engel erwartet wurde, gerade mal um die vierzehn sein – Nicht älter als Kaji und Misato selbst gewesen waren, ihr eigener Himmel über ihnen zusammenkrachte.

Das würde er nicht zulassen.

Er hatte überlebt, und seine Familie nicht – Doch vielleicht konnte er die eigene Ungerechtigkeit und Schuld, die sich von der Situation, zu den Überlebenden zu zählen, nicht ablösen ließ, dadurch überwinden oder zumindest dadurch zum Ausgleich bringen, dass er sein Leben doch noch für die benutzte, die dieses Glück hatte, ihnen sozusagen etwas davon abgab, in dem er für sie handelte, zum Beweis ihrer Existenz, für ihre Kinder, für ihrer aller Kinder und damit niemand sonst solches Leid erfahren musste – Wenn er das verhindern konnte, dann wären auch seine eigenen Taten und Leiden nicht umsonst gewesen, hätten nämlich genau dafür existiert, um die letzten ihrer Art zu werden;

Er suchte also keinesfalls etwas anderes als seine Wahrheit, nicht irgendein Bonusziel an der Seite, sondern suchte sie immer noch, mit tieferem Verständnis und erneuertem Eifer, der nun weniger wilder, jugendlicher Wahnsinn und mehr etwas Festeres, Stählernes wurde.

Und mit dieser Gewissheit, diesem Wandel kam auch die Akzeptanz davor, das der Geruch von Erde, der Staub an seinen Händen ein Teil von ihm war, über den er in den hübsch hergerichteten, wiederaufgebauten Städten zwar eine lange, lange Zeit hinweggesehen hatte, um sich wieder in die Zivilisation einzufügen, der aber dennoch real und wichtig war und Zeit verdiente;

In gewissen Maße schloss sich der Kreis, und er kehrte zurück in seinen „geheimen Garten“, auch, wenn es natürlich nicht der selbe Ort war, sondern andere Orte, an die er diese selben Gefühle tragen konnte, zerfetzte Stückchen Land, in der er die Welt, die er retten wollte, auch im kleinen Maßstab unter seinen Schutz stellte; 

Auch, wenn er nicht den Hochmut hatte, zu behaupten, das in ihm nichts mehr von dem hochmütigen Jungen von damals steckte, so war er trotzdem eine Art Mann geworden, ohne es bewusst zu wollen oder darauf hinzuarbeiten, einfach, weil ihm eines Tages pieksige Häärchen aus dem Kinn sprossen und Gehälter sein Konto erreichten,  und als solcher Mann hatte er zumindest Möglichkeit und Verpflichtung, aus seinem Zufluchtsort einen wirklichen Garten zu machen, einen Ort, von dem er nicht nur nahm, sondern dem er sich auch hingab und ihn mit seinen Händen bewirtschaftete; Noch war aus dem Jäger kein Lord geworden, aber immer hin ein Ackerbauer, und außer schönen, frischen Früchten erntete er auch eine Menge Weißheit von diesen kleinen Fleckchen Land, von denen er sich eines in den kühlen Tälern Deutschlands und später nebst den surrealen Wäldern der Geofront ein weiteres zulegen sollte, nachdem er seinen Hauptwohnsitz dauerhaft zurück in ein kaum wiedererkennbares Japan verlegt hatte.

Dazu gehörte auch diese Erkenntnis:

Der Mensch hatte sich das Feuer zu eigen gemacht und schließlich leuchteten die Städte, mit denen er die Erde überzogen hatte, so hell, dass die Nacht mehr dunkel war, und die Lichter der Erde die Finsternis des Weltraums durchstach; Doch je heller die Städte strahlten, umso schwerer wurde es die natürlichen Lichter der Nacht, die ewigen Sterne und das Band der Milchstraße zu erkennen; Mit dem Licht gewannen wir zwar vieles, auf das man nicht verzichten könnte, ohne wenigstens ein paar Menschen zu verdammen, aber… wir verlieren die Sterne.

Und ein Teil davon, aufzuhören, kindisch zu sein war es, das zu akzeptieren und zu sehen, dass es gut war, das man eines über das andere wählen konnte; Wer sich quer stellte und den Zustand der Vergangenheit zum Dogma machte, fügte jenen, die die neuen Ordnungen brauchten, schaden zu, wer nicht mit der Zeit ging, ging mit der Zeit, zu leben hieß, sich ewig zu verändern, nur der Tod brachte stillstand – Aber gleichzeitig war es das, was vorbei ging, wert in Erinnerung zu bleiben, es war wertvoll und der Schmerz, den der Verlust der Sterne, der alten Welt, seines alten Lebens mit sich brachte, war real.

Es war nicht, das ein Pfad richtig war und der andere falsch, man hatte einfach zwei gewichtige Möglichkeiten, die beide ihren Wert hatten, von denen man eine über die andere hinweg auswählen musste, weil man sie für ein bisschen wichtiger hielt.

Außer dem Gemüse ließ er auch seine Haare wachsen und trug sie lang, wie er es damals getan hatte, als Scheren noch ein seltener Luxus in seinem Leben gewesen waren, auch wenn er sie jetzt zügeln, zusammenbinden konnte, und in gewissem Maße war auch das eine Art Zeichen der Akzeptanz seiner ‚Versehtheit‘ die er nun endlich auch sich selbst gewährte, nachdem er schonjede menge andere ‚versehrte‘ Dinge akzeptiert hatte;

In der langen, langen Zeit die er hatte, um darüber nachzudenken, schloss er, dass es vielleicht dieser Raum für den Schmerz über das Vergangene war, den er bei Misato, dem gezeichneten Mädchen aus dem Herzen der Katastrophe, gesucht hatte, als eine Art roten Faden, um die so grundverschiedenen Abschnitte seines Lebens zusammenzunähen.

Doch jetzt, wo er das nicht mehr von ihr brauchte, wo er seine eigene Linie gefunden hatte, zumindest gewissermaßen, jetzt fühlte er immer mehr, dass vielleicht möglich sein würde, ihr unbefangen entgegen zu treten und wenn nicht zu kämpfen, dann wenigstens mit der Möglichkeit zu spielen, ihr hübsche Augen zu machen, es mindestens noch mal zu versuchen und der Gedanke das zumindest dieser Versuch nicht jenseits dessen lag, was ihm zustand;

Ja, zumindest das nam er sich vor: Wenn er Misato noch einmal begegnen sollte, wenn das Schicksal wollte, dass sie beide sich noch einmal begegneten, dann würde er ihr sagen, dass er sie liebte.

Und vielleicht, wenn alles gut lief und die Sterne günstig standen, sollte es ihm letzlich vergönnt sein, die Worte, die ihm vor all diesen Jahren im Hals stecken geblieben waren, endlich auszuspucken, und sie nach all dieser Zeit endlich zu seiner Frau zu machen-

Aber verurteilte Sünder sollten keine solchen großen Traumgebäude hegen – Vielmehr würde jeder einzelne Tag, jeder Zentimeter, jeder günstig fallenden, wärmenden Sonnenstrahl schon mehr sein, als er zu hoffen gewagt hatte.

Ja, es stimmte schon, er verdiente es wahrscheibnlich nicht, aber gerade deshalb war es das, was man gemeinhin als Geschenk bezeichnete.

 

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Ein weiterer Faktor, der ihn diese Schlussfolgerungen erreichen ließ, und gleichsam eine Stelle, an der er seine Vorstellungen von diesem Fundament, das er für künftige Generationen bauen wollte, unmittelbar in die Praxis umzusetzen, hieß Asuka.

Sie war das Second Child, und somit eines jener unglücksseligen Kinder, die zur Steuerung dieser unergründlichen Gott-Maschinen ausgewählt waren, über deren wahre Natur sich die Information nur in einem dickflüssigen Sickern offenbaren wollte.

In den Papieren, die man ihm gegeben hatte, bevor er ihr als zuständiger Betreuer zugeteilt wurde, wurde sie als in allen Kniffen der Kampfkunst ausgebildete Soldatin beschrieben, ein überragendes Wunderkind, ein Projekt, in das einige Millionen investiert worden waren;

Was Kaji sah, war ein materiell verwöhntes, aber in den wichtigen Dingen des Lebens absolut ungeschultes kleines Mädchen, in knappen, freizügigen Klamotten, das Gesicht bemalt mit dick aufgetragener Schminke, alles dinge, die sie scheinbar bekommen hatte, weil sie einfach drauf gezeigt hatte, die sie aber eher aussehen ließen, wie ein verkleidetes Kindergartenkind, das Vater-Mutter-Kind spielen wollte, als das Bild der verdorbenen Lolita, als die man sie hätte missverstehen können, oder die Erwachsene, die sie um ihre kleinen, dünnen Ärmchen herum projizieren wollte.

Er traf ihre Stiefmutter, er traf ihre Ausbilder, und bei allen hatte er den Anschein, dass sie vergessen zu haben schienen, dass ihr großes Ass, der Stolz ihrer Einrichtung oder was auch immer einfach nur ein kleines Mädchen war; Sie wollte wie eine große, verantwortungsbewusste Frau aussehen, weil alle kleinen Kinder gerne das gleiche Taten wie die großen, doch das schlimmste war, dass es ihr im Falle dieses speziellen kleinen Mädchens alle abgekauft hatten – Niemand dachte daran, dass sie die Bedürfnisse einen gewöhnlichen kleinen Mädchens haben konnte, nach Zerstreunug und Spaß und Kontakt mit Gleichaltrigen, und wenn es ihr doch mal danach stehen sollte, war niemand da, um ihr ihre Grenzen aufzuzeigen – Die Erwachsenen, die sie umgaben, sahen immer nur ihre schulischen Leistungen, ihren Synchronwert oder ihre Kampfkünste, doch die Freiheit, die sie sich darauf basierend erbat, wurde nicht etwa benutzt, um etwas gegen die starren Trainingsregimente zu tun, die man ihr aufzwang um fast jede Sekunde ihres Lebens durchzukoordinierten, nein, sie kaufte sich zimmer voll mir Krimskrams, richtete ihre drei Zimmer ein wie ein kleines Kindergarten-Prinzesschen, und machte zu den wenigen Gelegenheiten, an denen sie man frei hatte, unvernünftige Dinge mit sich selbst und ihrem Gelt, wenn sie nicht gerade dabei war, sich wie wild in das vormals erwähnte Vollzeit-Programm reinzustürzen, von dem man eigentlich erwarten würde, dass sich ein Mädchen in dem Alter dagegen auflehnen würde, nicht wirklich eine „sexuell frührreife Frau“, auch im Herzen kein „Frühzeit-Überflieger“, sondern mehr ein „Frühzeit-Workaholic“ – Diese exzellenten Leistungen erbrachte sie, weil sie sich dazu zwang, nicht weil es in ihrer Natur lag, und wenn sie so weiter machte, würde sie die Maschinerie ihres Lebens ausleiern, bevor ihr Leben wirklich begonnen hatte.

Er kannte das, dieses Gefühl, dass das eigene Leben vorbei war, bevor man überhaupt 20 war, und er wusste mittlerweile aber auch, das das leben danach weiter ging.

Und er schien der einzige zu sein, der das Kind als das sah, was sie wirklich war: Ein pubertierendes Mädchen, das dringend ein paar erwachsene Bezugspersonen in ihrem Leben brauchen konnte.

Dann aber las er von dem, was ihr widerfahren war – Doch wesentlich mehr als nur verwöhnt von der Aufmerksamkeit, welche der ganze Stützpunkt jahrelang über sie hineinprasseln lassen hatte, auch wenn dieser Faktor durchaus present war und das ganze nicht besser gemacht hatte.

Sie war ein wirklicher Satansbraten und hatte gegenüber allen, die bis jetzt versucht hatten, „erzieherisch“ an sie ranzugehen, komplett abgeblockt – Wer sie also als „Ass Europas“ behandelte, hatte es zugegebermaßen leichter mit ihr, wenn sie wollte, konnte sie unmöglich sein, und sie hatte jedenfalls den Hitzkopf einer Prinzessin.

Und nicht zu letzt würde sich einzugestehen, dass dies ein Kind war, bedeuten, zuzugeben, das hier Vernachlässigung stadtfand, und das konnten sie sich nicht leisten, nicht, wenn die Chance auf ihrer aller Überleben in der anderen Wagschale lag – Schon allein, dass man wegen ihrer Vergangenheit nichts weiter unternommen hatte, zeigte, wie die Dinge standen.

Vielleicht, so fragte er sich in manch dunkler Stunde, war dieses verwöhnte Kind auch nur das, was er sehen wollte, um an die Zukunft dieser Welt glauben zu können, um das wiedergespiegelt zu sehen, was er nie gehabt hatte und nun wieder auf dieser Welt existierte – Er wollte nicht glauben, dass auch sie verdorben war, nein, er wollte sie anleitun und beschützen, ihr das geben, war er nie gehabt hatte, und was wichtiger war, er wollte sie davor bewahren, leichtfertig wegzuwerfen, was ihm grob und rücksichtslos, mit der wilden Zufällligkeit eines tosenden Sturmes genommen worden war; Ein unmöglicher Bengel war er auch mal gewesen. (auch, wenn die rückblingende Schwere der Katastrophe ihn sein jüngeres selbst stärker tadeln ließ, als er das bei irgendeinem anderen Jungen in dieser Situation getan hätte)

Auf jedem Fall war ihm klar, dass er dieses Mädchen nicht sich selbst überlassen konnte, egal, wie limitiert sein Beitrag war; Es war an der Zeit, dass er das er die Fackel weiterreichte, dass er nicht der war, der überlebte, sondern sich die Mühe machte, das Leben anderer zu schützen, dass er nicht mehr er war, dem Dinge vererbt, überlassen und gelehrt wurden, sondern selbst vererbte, überließ und lehrte.

Kinder als Soldaten einsetzten zu müssen hatte ihm von Anfang an nicht gefallen, zumal er all dies doch tat, um genau diese junge Generation zu beschützen und Kindern wie Asuka sein eigenes Leid zu ersparen, es entsprach überhaupt nicht dem Lauf der Natur, dass sich die jungen opferten, um den Fortbestand der Älteren zu sichern; Zu diesem Zeitpunkt war er sich schon ziemlich sicher, dass der Second Impact ein von Menschen ausgelöstes Phänomen gewesen sein musste, das Menschen ihn herbeigeführt und seine Drahtziehjer nicht rechtzeitig ertappt, weggeschaut und sie gewähren lassen hatten, hatten Regierungen gewählt, die sich von diesen Verschwörern unterwandern oder kaufen lassen hatten, in gewisser Maßen waren sie alle Schuld, alle außer Klein-Asuka und ihren Altersgenossen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe noch nicht einmal geboren waren – Auf ihrem Rücken war dieser Krieg begonnen wurden, und sie sollte die Schulden ihrer Vorväter jetzt bezahlen.

Das mindeste, was er also tun konnte war, sein bestes zu tun, um den Schaden abzumildern – Der Vater des Mädchens war verstorben,  (und es war nicht schwer zu erkennen, dass das Verhältnis nicht all zu herzlich gewesen war), die mütterliche Großmutter, der die kleine zumindest noch vertraut zu haben schien, (Auch, wenn sie es nur in dunkleren Stunden zugab, ihr „Omili“ zu vermissen – Das sie das tat merkte man aber auch daran, dass sie das Japanisch, das sie mit dieser oft gesprochen hatte, immer noch akzentfrei beherrschte, nachdem sie es jahrelang nur mit dem gelegentlichen Besucher aus dem Hauptquartier üben konnte), war von Anfang an zu altersschwach gewesen, um das Kind selbst großzuziehen, und ihrem Schwiegersohn sogar ein paar Jahre ins Jenseits vorrausgeeilt, und die Stiefmutter, das einzige noch lebende Familienmitglied, das der hitzköpfige kleine Rotschopf noch vorzuweisen hatte, hatte alle Versuche, sie zu erziehen schon lange aufgegeben und alle derartigen Pflichten partout an die Leute von NERV abgeschoben, und sah ihre Tochter nur noch an den Wochenenden zu einer Art periodischen Kommunikation.

Asuka war längst aus der Phase herausgewachsen, (oder so ließ sie es ihre Umgebung jedenfalls glauben) in der sie die Frau Doktor Langley und alles, was von ihr kam, kategorisch abgelehnt hatte, und ließ die regelmäßigen Treffen „vernünftig“ über sich ergehen – Aber das tat sie nur, weil die Witwe ihres Vaters vor ihr „kapituliert“ hatte, und endlich akzeptiert hatte, das das frühreife Asukalein sie in ihrem Leben als ernsthaften Elternteil einfach nicht haben wollte, und das dieser höchst oberflächliche, wechselseitige Handel mit Smalltalk das beste war, das Asuka zu verkaufen hatte – Wenn Kaji sich des Herzens und der Seele des Mädchens also nicht annahm, würde es keiner tun.

Nun war Kindererziehung nichts von dem er je gedacht hatte, dass er damit je etwas zu tun haben würde – Der Gedanke war ihm einfach niemals gekommen, es gab einfach eine ganze Menge Zwischenschritte, die selbst einer schwammiger und unklarer waren als der letzte, aber abgehakt werden mussten, bevor soetwas überhaupt eine Option sein würde – Er war nicht bereit, wenn er es denn jemals sein würde, und er schätzte seine Unabhängigkeit, und er konnte nicht einmal auf soetwas wie eine eigene Kindheit zurückblicken, um sich daran anzuleiten; Sein gesamtes Wissen über das Thema bezog sich also auf kleine Anekdoten und Artikel, die er irgendwo gehört bzw. gelesen hatte, weil sie einfach zwischen anderen Texten gestanden hatten, die ihn mehr interessiert hatten; Ein paar Mal war er auch einfach dem als „Wiki-Walk“ bezeichneten Phänomen zum Opfer gefallen, daher stammte auch dieser eine Satz, der ihm höchstens während seiner witzigen Natur in Erinnerung geblieben war: „Wenn morgen ein Trend ausbricht, nach dem alle jungen Leute enge Elastan-Gymnastikanzüge müssen, ist dein Job nicht, deine Kinder zu einem klassischen Pulli zu überreden, sondern dafür zu sorgen, dass sie das noch halbwegs geschmackvolle schwarze Modell anziehen statt das mit dem Leopardenfell.“  - Diese Mädchen wollten sich und ihren Einfluss als Frauen einfach nur ausprobierten, und suchten bei dem hausansäßigen Exemplar von Mann nach einer Bestätigung ihres Selbstbildes und Selbstwertgefühls; Und oft wollten sie mit knapper Kleidung viel mehr Selbstbewusstsein ausdrücken oder vortäuschen, als das die Unternehmungen wirklich sexueller Natur wären – Ein Minirock bedeutete in erster Linie, dass man sich zutraute, seine Beine prüfenden Augen vorzusetzten, die sich auch darüber in Lachen zerreißen könnten.

Das hieß also, dass man bereit sein musste, Kompromisse zu schließen und die Sorgen und Ziele der Kinder ernst zu nehmen, denn sonst, würden sie einfach aufhören, auf einen zu hören und einen kategorisch ausblenden und dann würde keiner mehr da sein, um sie vor wirklich ernsthaften Grenzüberschreitungen zu bewahren.

Außerdem konnte man einem Mädchen mit Asukas Vergangenheit die Bescheidenheit kaum mit dem Presslufthammer einimpfen; Er gab sich die Mühe, die Dinge so zu formulieren, dass es ihre Gefühle nicht verletzten würde, sagte also nicht, „Das Top sieht nuttig aus“, sondern eher so was wie, „Ich finde, in dem anderen siehst du viel stilvoller aus.“

Hätte er gewusst, wozu das vielleicht beigetragen hatte, hätte er es wohl von Anfang an anders gemacht, er konnte nicht sagen, wie, nur anders;

Irgendeine Kombination dieser Faktoren brachte ihn jedenfalls eine Wahrnehmung als „cooler“ Erwachsener ein, ohne, das er es bewusst angestrebt hatte – Es war eine dieser Dinge, die ihm erst im Nachhinein klar wurden, als sie schon bestehende Fakten waren, und es half ihm sicherlich einen „Draht“ zu diesen jungen Leuten zu bekommen, aber ursprünglich wählte er diesen, und nicht irgendeinen anderen Weg, sie anzusprechen, weil er sich eigentlich darüber bewusst war, dass er ja selbst noch jung und in vieler Hinsicht noch am Lernen war, und nicht das Recht hatte, ihr oder irgendwem sonst gegenüber den großen, bösen Zeigefinger herauszuholen – Er wollte nur das Bisschen Erfahrung, dass er gemacht hatte, teilen, damit er seine eigenen unschönen Erfahrungen nicht umsonst gemacht haben würde.

Nicht, dass das mit ihm und Asuka einen reibungslosen Start gehabt hätte (auch, wenn sie es später stolz posaunend als „Liebe auf dem ersten Blick“ beschwärmen würde) – als er den Raum betrat, und sich als ihr neuer zugewiesener Betreuer vorstellte, verkündete Asuka direkt, dass er sich verpfeifen könne, weil sie nämlich eine ausgebildete Kampfpilotin sei, und kein kleines pubertierendes Mädchen, dass einen Aufpasser brauchte –

Zumindest die Pubertät ließ sich aber nicht wegleugnen, mit den Launen.

Kaji versuchte es direkt mit einem „lockerem“ Ansatz und gab an, sich nicht als ihren Aufpasser zu verstehen, auch nicht viel von langweiligen Anstandsdamen zu halten, und versuchte ihr das Gefühl zu geben, auf „ihrer Seite zu stehen“, was, wie leicht vorherzusehen war, erwartungsgemäß klappte wie am Schnürchen – Erst viel später erfuhr Kaji, dass auch Misato diese „Methode“ verwendet hatte, um eine halbwegs harmonische „Arbeitsbeziehung“ zu Asuka herzustellen, die sich schon am ersten Treffen in ein heiteres Gespräch über Mode und eine gemeinsame Schoppingtour aufgelöst hatte – Aber den Zutritt, den Misato da zu dem Mädchen erlangt hatte, sollte sich viel später als überaus oberflächlich herausstellen;

Beide ihrer Mitbewohner sollten später unabhängig zu dem Schluss kommen, dass es eine Wand im Herzen dieses Mädchens gab, hinter die sie keinen ihrer ehrlich bemühten, aber durch ihre eignen Beschränkungen limitierten Versuche, sie zu begreifen, hatte vordringen lassen, so das keiner von beiden ihre haltlose Abwärtsspirale bemerken oder deren unübersehbare Anfänge als etwas anderes als die normalen Stimmungsschwankungen einer schon für gewöhnlich unergründlichen Heranwachsenden erkennen würde, bis es viel, viel zu spät war, und jeder weitere Annäherungsversuch mit Zähnen, Krallen und kochendheißem Kaffee beantwortet werden würden.

Wie also schaffte es Kaji, die Person zu werden, nach der sie in ihren dunkelsten Stunden schreien würde?

Nun, es gab da einen Tag, an dem sie zu einem Treffen mit ihrer Stiefmutter verabredet war – In der Klinik, in der diese arbeitete, sollte sich an jenem Tag jedoch ein Kollege überraschend krankmelden, was aber nicht hieß, das es da noch eine ganze Menge zu operierende Patienten gab, von denen einige nicht mehr länger warten konnten, unter anderem ein unglücksseliger Familienvater mit einem Hirntumor; Dr. Langley war also verhindert, und ließ dies ihre Tochter mit einer knappen SMS wissen, nicht aber die Damen und Herren von der örtlichen NERV-Basis – Diese wurden erst stutzig, als sich das Mädchen zur vereinbahrten Uhrzeit noch nicht zurückgemeldet hatte.

Wie in aller Welt sich dieses Mädchen in eine Diskothek geschlichen hatte, würde Kaji auf ewig ein Rätsel bleiben, zu dem Zeitpunkt, als sie nach Tokyo-3 kam, hätte sie vielleicht sehr leicht für wesentlich älter durchgehen können, zuzüglich sorgsam gewählter Klamotten und jeder Menge Schminke, aber zu dem Zeitpunkt, als sie Kaji erstmals zugeteilt wurde, hätte eigentlich kein Türsteher und auch kein Barkeeper der Welt für Sechzehn halten sollen; Höchstwahrscheinlich hatte sie einen älteren Jungen irgendwie überzeugt, sie mitzunehmen, dem sie dann wahrscheinlich erzählt hatte, dass sie mindestens vierzehn war oder soetwas, und bei dem ganzen Krach, den Lichtern und der Erwartung, das die Kontrolle eigentlich am Eingang erfolgt sein sollte, hatte wohl keiner sich die Mühe gemacht, sie nach ihrem Alter zu fragen.

Nach dem Second Impact war das in der Bevölkerung vorhandene Bewusstsein für Jugendschutz sowieso nicht mehr das, was es mal war – Menschen, die sich in dem Alter durch die Wildnis kämpfen mussten, hatten kaum noch einen Ausnahmestatus, und die außerplanmäßige Fortpflanzung war in einer Welt mit einer stark dezimierten, schwindenden und obendrein noch überalterten Bevölkerung längst kein wirkliches Schreckgespenst mehr, die Standarts der ganzen Menschheit hatten gelitten;  

Aber was für einen Wiederaufbau, was für eine Fortsetzung der Gesellschaft konnte man sich von Kindern erwarten, die so grob fahrlässig sich selbst überlassen wurden?

Selbst die Sicherheitsaffen hätten wohl nicht eingegriffen, solange sie sich nicht mindestens ein paar Knochenbrüche zugezogen hatte, schließlich war es ihre Aufgabe nur, sie zu „überwachen“; Außer Kaji selbst war wirklich niemand da, und selbst sein auf eigene Faust durchgezogener Eingriff (Bei den anderen NERV-Angestellten hieß es nur, „Sie ist ein Genie, sie weiß, was sie tut“ – IQ hin oder her, so schlau ihr Hirn auch sein mochte, das machte es kaum immun gegen eine ordentliche Dosis Östradiol) kam gerade mal rechtzeitig:

Als er sie fand, war sie bereits dabei, die Tanzveranstaltung wieder zu verlassen, eingehakt bei einem jungen Flegel, dervermutlich selbst erst seid kurzem 16 sein musste, und auf dem ersten Blick als hoffnungslos alkoholisiert erkennbar – Nun hatten sich wohl so ziemlich alle menschlichen Wesen zwischen 12 und 25 Jahren die eine oder andere Jugendsünde geleistet, und darüber, ob strenge Gesetze mit Zahlen als einzigen Erkennungsmerkmalen dem breiten Spektrum individueller menschlicher Entwicklung überhaupt gerecht wurden; Manche dieser jungen Leute konnten mit für erwachsenen reservierten oder ganz verbotenen Einflüssen, Tätigkeiten und/oder Substanzen intelligent und in Maßen umgehen, andere leisteten sich zuanfangs ein oder zwei Ausrutscher, aus denen sie dann fürs Leben lernten, sodass diese anfänglichen Erfahrungen im weiteren Werdegang ihres Lebens nichts weiter als peinliche oder witzige Anekdoten wurden,  doch Asuka war in diesem Moment geradewegs dabei, in die dritte Kategorie zu schlittern, zu denen, die von den weitreichenden Konsequenzen eines einzigen, dummen, zu weit getriebenen Fehlers für den Rest ihres lebens bestimmt werden könnten, ganz gleich, ob sie später in der Lage sein würden, ihre Fehler selbst zu erkennen, und das verdiente niemand – Als sie ihn erkannte, erwartete sie nicht mal, Ärger zu bekommen, sondern winkte ihm nur kichernd zu, und stellte ihm fröhlich ihr Date vor, was ihm schon mal ein sehr gutes Bild davon gab, wie viel Bier sie in sich hineingekippt haben musste, und wie sehr sie diese Situation, in der sie kurz davor war, in ihrer Unerfahrenheit ausgenutzt zu werden, grundlegend verkannte.

Kaji hoffte ja, dass ihr ‚Rosenkavalier‘ den Anstand haben würde, sich freiwillig zu verdrücken, sobals er erfuhr, das seine weibliche Begleitung zum damaligen Zeitpunkt erst zwölf war,  aber da hatte er wohl zu viel Vertrauen in die dekadente Post-Impact-Zivilisation gehabt: Pustekuchen. Statt dessen wurde das junge Freundchen direkt handgreiflich – und so kam es zu einer Situation, in der er das benebelte Mädchen von ihm weg und damit, wie ihr wesentlich deutlicher wurde als Kaji selbst, für den das ein Routine-Griff aus dem Training für Situationen wie Geiselnahmen war, auch automatisch mit dem Rücken gegen seine eigenen Brust presste, und dadurch auch nicht die verhängnisvolle, plötzliche Röte auf dem Gesicht des Mädchens nicht entdeckte – Statt dessen ließ er sie stehen, um sich ihren strahlenden Prinzen ernsthaft vorzuknöpfen – Da der Halunke selbst ausreichend blau schien, um diesen Vorfall am nächsten Morgen wenn nicht zu bereuen, dann zumindest als beschämend zu empfinden, beschloss Kaji, ihm gnädigerweise ein Vorstrafenregister zu ersparen, und es statt dessen bei einer gepflegten, aber in Maßen gehaltenen Abreibung zu belassen.

Und da nur einer von ihnen beiden jemals Selbstverteidigungstraining abgeschlossen hatte, war diese sehr, sehr schnell zuende, während das ertappte Asukaleinchen, immer noch keinen Ärger witternd, tief beeindruckt zusah, und jedes Detail mit großen Augen einsaugte.

Sie hatte selbst eine Menge Erfahrung im Nahkampf, und war daher in der Lage, die Expertise ihres rettenden Paladins auf einem höheren Level zu bewundern, als diese einfache Coolness – Die fließende Effizienz, die absolute Abwesenheit überflüssiger Bewegungen, die Art, wie er in jeden Hieb gleich die Planung des nächsten hineinsteckte, und die Mühelösigkeit, mit der er sowohl sein eigenes Gewicht als auch das seines Gegeners zu seinen Spielbällen machte – süperb!

Entgegen Kajis Befürchtungen leistete der Rotschopf keinen weiteren Widerstand, und ließ sich, immernoch Bauklötzchen in die Luft staunend, brav abführen, und selbst das fast garantierte Feuerwerk von Beschwerden blieb aus – Kaji schrieb diese Reaktion zunächst einmal ihrem Schock zu, und auch, dass sie sich auf dem Heimweg näher an ihn heran zu kuscheln schien, sah sie zunächst als ein Zeichen dafür, dass sie sich nach dem Schreck erst mal nach Geborgenheit sehnte, wie das kleine Kind, als das sie für ihn trotz, wenn nicht gerade wegen ihrer Unvernünftigkeit erkennbar war.

Tatsächlich war das schockierende an dieser Situation gänzlich über Asukas sternhagelvollen und obendrein selbst im Normalzustand recht naivem Köpfchen hinweggerauscht, doch spätestens, als sie sich kurz bevor sie das Hauptquartier erreichten, herzhaft übergeben musste, reduzierte sich ihre Welt auf flimmernde Lichter in der Dunkelheit und starke Männerarme, die sie schließlich in die dritte NERV-Außenstelle hineintragen und bereits tief und fest schlafend in ihrem großen Prinzessinnen-Himmelbett deponieren und sorgfältig zudecken mussten.

Die Gesichter der Verantwortlichen waren unbezahlbar, und es verschaffte Kaji einige Genugtuung, ihnen reinzureiben, dass sie alle Vergessen hatten, dass ihr Luftwaffen-Ass, ihr Millionen-Dollar-Projekt, ihr ‚Wunderkind‘,  ihr ‚Second-Child‘ letzlich nichts anderes war als ein zwölfjähriges Mädchen war, das anfällig gegenüber menschlichen Limitationen war.

Herrgott nochmal!

Am nächsten Morgen war Asuka freilich (zu ihrem großem Glück!) wieder ganz die alte und meckerte, dass sie wirklich keinen Aufpasser gebraucht hätte, dass es eine Frechhheit war, ihr jemanden hinterherzuschicken, und dass sie alles total im Griff gehabt hätte – Wozu, sagte sie, sollte es denn gut sein, große Erfolge zu liefern, bevor andere Kinder das taten, wenn man dazu nicht die dazugehörigen Privilegien bekam? Sie habe sie verdient, und sie, sie hätten ihr eine Chance auf eine Verabredung versaut und darauf, zu tun, was Erwachsene wie sie eben taten – Erst der Vorwurf, dass sie ihre für das Projekt unerlässliche Kondition gefährdet hätte, brachte sie zum Einlenken – Typisch, dass diese Leute letzlich nur an ihr praktisches kleines Werkzeug dachten, sie waren unverbesserlich.

Kaji konnte die Angst in ihren Augen sehen, als sie das Wort „ungeeingnet“ hörte, so sehr sie „unangemessen“ und „zu jung“ auch ignoriert hatte, und ihm dämmerte der Verdacht, dass sie nur deshalb darauf gepocht hatte, dass alles „nach Plan“ verlaufen war, weil sie Angst davor hatte, was mit ihr geschehen würde, wenn sie zugeben würde, sich leichtsinning und unreif verhalten zu haben.

Als er jedoch sagte, dass man ihn nicht geschickt habe, sondern das er auf eigenem Antrieb aus nach ihr gesucht habe, während sich sonst keiner bedeutend um ihr wohlergehen als Mensch und nicht als Werkzeug geschert hatte, verstummte sie, allen großen Tönen zum trotz eben doch nur das, als was Kaji sie ursprünglich erkannt hatte: Ein kleines Mädchen, das eine Bezugsperson brauchte, sie sich auch um ihre emotionale Entwicklung sorgte, und nicht nur darum, eine perfekte Supersoldatin aus ihr zu züchten.

Von diesem Tag an aber hatte er den Respekt des Mädchens jedoch endgültig gewonnen, und er konnte von da an davon ausgehen, dass sie begriffen hatte, dass er es nur gut mit ihr meinte, und auch tun würde, was er ihr sagte.

Als wollte sie ihren Fehltritt in den Augen ihrer Ausbilder ausgleichen, warf sich Asuka umso mehr in ihr Trainingsprogramm, so sehr es ihre körperlichen und geistigen Grenzen auch ausreizte, doch auch, wenn er ihr das nicht ausreden konnte, kümmerte sich Kaji  (wie Misato vor ihm) darum, dass Asuka auch mal die frische Luft sah und normale Mädchen-Aktivitäten unternahm, zum ersten Mal, seid ihre Stiefmutter es vor Jahren aufgegeben hätte. Hätte sie Misato sich nicht vorgenommen, hätte sie außer dem Projekt wohl nichts anderes gekannt und wäre unfähig gewesen, sich in der Klasse II-A ihre spätere Beliebtheit anzueignen, doch so einiges an Shopping, Mode, Schuhen und dergleichen reizte wohl ihre Eitelkeit und vermittelte ihr ein Bild von Perfektion, das mit einer zumindest nach außen hin wie eine Einzelgängerin wirkenden Person nicht vereinbar war – Und letzlich war es für sie einerlei, ob sie soziale Aufmerksamkeit bekam oder Annerkennungen für ihre elitären Leistungen (auch, wenn sie letztere nach außen hin immer noch als höher gewichtet beschrieb), sie wolle beachtet werden, sie durfte auf keinen Fall unsichtbar sein…

Was Misato also mit dem pünktlichen Aufblühen normaler Interessen verwechselt hatte, was nur eine Ausweitung ihres alten Perfektionswahns.

Letzlich hatte keine der beiden Frauen trotz der vielen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, vor der anderen jemals ihre Fassade fallen lassen.

Misatos Hinterlassenschaften in der dritten Außenstelle reichten jedoch aus, um Kaji ihre Persönlichkeit in ihnen spüren zu lassen, von zurückgelassenen Kaffeetassen bis zu den Beschreibungen ihrer Kollegen – Ob sie ihn wohl immer noch mit diesem verletztenden, harten Worten betiteln würde, wenn sie sehen würde, wie ihre früheren Mitarbeiter ihn als jemanden beschrieben, der ihre „Politik“ zumindest in Bezug auf Asuka fortgeführt hatte?

Oder würde sie das alles nicht sehen?

Natürlich würde sie es nicht sehen, schließlich hatte sie sich bemüht, ihm mit ihren Versetzungen und Aktivitäten bei NERV nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen, und es würde noch etwas dauern, bis das bloße Vorranschreiten des Planes und ihrer beider Relevanz dafür weiteres Ausweichen unmöglich machen würde – Ging er irgendwo hin, beantragte sie meist im Vorraus ihre Versetzung;  Kaum, das man ihn nach Deutschland beordert hatte, hatte sich Misato bereits von dort verdrückt, als ob sie regelrecht vor ihm geflüchtet sei – Konnte es wirklich sein, dass sie ihn nach all dieser Zeit immer noch hasste?

Und, nun da sie lange, nach dem sich ihre Wege getrennt hatten, ein Teil von NERV geworden war, würde in absehbarer Zeit ein Tag kommen, an dem sie sich mit Pistolen in den Händen gegenüberstehen würden?

Dieser Gedanke allein wog so schwer in seinem Herzen, das selbst Asuka sich bisweilen darüber beklagte, dass er „den Kopf in den Wolken haben“ und „ihr nicht gescheit zuhören“ würde, wenn sein Blick regelmäßig melancholisch in die Ferne klagte, und ihm wurde unweigerlich klar, das er in den letzten sieben Jahrem davor keinen einzigen Augenblick lang aufgehört hatte, sie zu lieben.

In Asukas Augen ließ ihn das wohl bloß mysteriöser aussehen, als er das sowieso schon tat – als er ihre Schwärmerei für ihn, ein weiterer Nebeneffekt dieses schicksalhaften Tages, zum ersten Mal bemerkte, nahm er sie nicht mal wirklich ernst – Unbehaglich war es schon, von so einem kleinen Mädchen angeschwärmt zu werden, wenn man die Hölle durchlebt hatte und sich denken konnte, wie etwas weniger ‚befangene‘, dass hieß, zum absoluten Abschaum gehörige Männer das ausnutzen könnte, aber er schob dieses ungute Gefühl auf die Umstände seiner sogenannten Jugend und die Gesetzlosigkeit, die er durchlebt hatte, zumal es doch eigentlich ganz normal war, das ein Mädchen in dem Alter eine kleine, harmlose Schwärmerei für einen Lehrer oder einen Popstar hegte – gewissermaßen war es sogar ein Glück, dass sie ihn dafür ausgewählt hatte und nicht jemand anderen, von dem er sich nicht sicher sein könnte, ob er die Situation nicht ausnützen sollen – Vielleicht war das einfach nur die Überreaktion, die viele Männer ereilte, wenn es um die Entwicklungen ihrer schutzbefohlenen kleinen Prinzessinen  ging.

In dieser Nacht hatte Asuka ihn als jemanden wahrgenommen, der ihrem Ideal von Unabhängigkeit und Stärke entsprach, und ihr den Schutz und die Nähe geboten hatte, nach dem sie sich ihr Leben lang verzehrt hatte, ohne, dass sie mit sich Leben könnte, wenn sie dies offen zeigen würde – Eine Person, die ihr das, was sie brauchte, auch tatsächlich gab, war also ein glücklicher Zufall, den sie als solchen mit Krallen und Zähnen nicht mehr loslassen konnte – Und in gewisser Weise war das ja auch das, was Kaji gerade gewollt hatte, er wollte, dass sie ihn als Beschützer sah, bewunderte und zu beeindrucken versuchen würde, dass sie ihn als weise und weltgewandt wahrnehmen würde – Wie sie es bei einem Vater tun würde, wie Asuka keinen mehr hatte – Auch, wenn sie angab, es gut verpackt zu haben, entging es ihm nicht ganz, das Asuka seinen Tod nicht ganz verpackt hatte, zumal dieser sie ausgerechnet in der Zeit zwischen Misatos Abreise und seiner eigenen Ankunft getroffen hatte, ohne das irgendjemand dagewesen hätte, um ihr zu helfen, das zu verarbeiten.

Es hieß zwar, dass sie nicht das beste Verhältnis hatten, aber Kaji konnte sich schon seiner eigenen Erfahrungen wegen denken, das Asuka ihn trotzdem sehr vermissen musste, schon allein wegen der vielen Möglichkeiten, die nun für immer weggefallen waren.

Doch das Loch, das er bei seinem Tode hinterließ, war nicht der erste Riss, den Sebastian Langley in der Seele seiner Tochter hinterlassen hatte – wenn sie an ihn dachte, dann dachte sie zunächst an den gefühlten Verrat, dern sie mit seiner zweiten Heirat verband, daran, wie die Tatsache, dass die Verbindung, die sich ihre leibliche Mutter zu ihm erlaubt hatte, sie letzlich völlig zerissen hatte, und an die schreckliche Macht, die er nur dadurch über sie gehabt hatte, dass er sich von ihr abgewendet hatte, und sie wusste in ihrem Herzen, dass sie sich nie derart ausschlachten lassen wollte, dass sie sich diese Art von Abhängigkeit niemals erlauben konnte – Einen Vater zu wollen, ja, glücklich über irgendeine Art von starker, männlicher Präsenz in ihrem Leben zu sein, konnte sich Asuka einfach nicht leisten.

Sie wollte nicht, dass andere Macht über sie bekammen, eher noch wollte sie die Macht selbst besitzen, um ersteres zu verhindern, und die Liebe hatte sie, nicht zuletzt durch ihren Logenplatz bei der systematischen Selbstzerstörung ihrer Mutter, nur als ein Spiel aus Macht und Kontrolle kennen gelernt – Wenn dieser Mann, der nun also in ihr Leben getreten war, um ihr Zuwendung zu geben, also Eigenschaften besaß, die sie gerne für sich selbst beanspruchen würde, wenn er etwas hatte, was sie wollte, dann war ihr nur eine einzige Art und Weise, auf die sie eine Verbindung zu ihm knüpfen und ihre Einsamkeit lindern konnte, ohne die Gefahr zu laufen, von ihm in die Tiefe gezogen zu werden: In dem sie diejenige wurde, sie ihn zu ihrem Besitz machte, wie ihr Vater ihre Mutter bessessen hatte.

Sie wollte diejenige sein, die begehrt wurde, nicht andersherum.

Selbst Liebe und Freundschaft war nur ein Wettkampf für das verwirrte, kleine Mädchen, und der, der geliebt wurde, hatte gewonnen.

(Deshalb wäre es auch „ganz praktisch“ gewesen, wenn das First Child sich ihr ergeben hätte – Dann würde Asuka sie besitzen, wie sie diese ganzen dummen Gänse auf dem Schulhof besaß.)

 

Die Avancen des kleinen Rotschopfs – Sie hörten also nicht allmählich auf, wie er es erwartet hatte, sondern wurden umso heftiger, je deutlicher es wurde, dass er sie nicht erwiderte.

Mit der Zeit ging es wirklich über das hinaus, was man für ein zwölf- und später, dreizehnjähriges Mädchen für normal halten könnte, für wie leichtsinning man sie auch halten mochte, langsam ging es wirklich über den Rahmen des angemessen hinaus, und er ertappte sich dabei, wie er immer mehr damit zögerte, ihr zum Beispiel einen Arm über die Schulter zu legen oder sonst wie physisch zu berühren, aus Angst, sie könne das falsch verstehen und sich noch weiter in diese Manie hineinsteigern konnte, vor allem, als die eintretende Reife ihres kleinen Körpers begann, ihn mehr zu verunsichern – Es war einfach unheimlich, zu sehen, wie Asuka, die für ihn immer das verwöhnte kleine Prinzesschen der dritten Außenstelle bleiben würde, von ihm erwartete, dass er sich verhielt wie die Art von Perversling, vor der er sie eigentlich beschützen wollte – und das, während er sehr gut sehen konnte, wie sehr sie so ein bisschen väterliche Nähe und Geborgenheit eigentlich brauchen konnte, und langsam wurde es schwer, deutlich genug „Nein!“ zu sagen, ohne dass sie sich als Person zurückgewiesen oder abgelehnt fühlen würde, zumal es wirklich nicht in seiner Absicht lag, ihr Liebeskummer zu bereiten – im Gegenteil hatte er eigentlich vor gehabt, die Person zu sein, zu der sie kommen konnte, wenn irgendwelche Jungs ihr Herz brechen sollten, wie es im Laufe des Erwachsenwerdens nun einmal unvermeidlich war.

Dass daraus nichts wurde, wenn Ursache und Lösung des Liebeskummers ein- und dieselbe Person waren, konnte man sich denken.

So war er am Ende fast schon erleichtert, als es hieß, dass sie nach Japan verfrachtet und dannzurück unter Misatos Betreuung gestellt werden würde, denn so weit er das gehört hatte, verstanden sie sich gut, und als Frau würde Misato zumindest diese Art von Problemen umgehen können. Vielleicht, so dachte er, würde sich das schon geben, sobald Asuka einmal begann, regelmäßigen Kontakt mit Gleichaltrigen zu haben, die sie vielleicht nur als uninteressant abtat, weil sie noch nie wirklich viel Zeit mit ihnen verbracht hatte, vielleicht würde sie von selbst einen Freund haben, wenn er sich eine Weile zurückhalten und alles andere seinen Lauf nehmen ließ – Und im Notfall könnte man sie ja immer noch mit dem Third Child verkuppulieren, dass sich glücklicherweise als erster männlicher Zuwachs zum Grüppchen der Piloten erwies, von dessen Existenz Kaji erfuhr.

Der Mensch, der einen Evangelion ohne jegliches Training steuern konnte, und dann auch noch auf Anhieb einen nutzbaren Synchronwert erreichte, müsste doch theoretisch ausreichen, um Asukas Verlangen nach „speziellen“ Jungs zu stillen, nicht?

Er hoffte es sehr, denn das Mädchen und ihre gesunde Entwicklung lagen für Kaji sehr nah an seinem Herzen, und wenn das, was in ihrem besten Interesse lag, nicht damit vereinbar war, das er in ihrem Leben eine aktive Rolle spielen konnte, würde er das zutiefst bedauern.

 

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Doch wie auch immer es damit laufen sollte, nichts und niemand würde ihn je davon abhalten, Asuka und andere wie sie zumindest aus den Schatten heraus zu beschützen.

Zumindest diese waren schon immer sein Revier; Zumindest in der Dunkelheit kannte er sich aus und beherrschte ihre Regeln.

Auch sein spätestes, sorgsames Schleichen durch die Korridore von Bethany Base war eine solche Unternehmung, auch, wenn die Geschichte, in deren Zuge er in diesen Hochsicherheitsbereich eingedrungen war, eigentlich über eine Woche vorher begann, bei Kajis letztem Treffen mit einer seiner Kontaktpersonen beim Militär, einen stämmigen Mann von Ende Dreißig, mit einem ins Braune gehenden Hautton, wie er auf den südlicheren Inseln Japans recht häufig war, dunklen Kastanien-Augen und einer markanten Knollnase, einem dunklen Bart und den Resten einer Schmalzlocken-Frisur, die durch altersbedingten Haarausfall der Vernichtung entgegen zu steuern schien.

Die beiden Männer trafen sich außerhalb des umgebenden Zaunes eines kleinen Sportplatzes, am Rande der Stadt, die zu diesem Zeitpunkt bereits als Tokyo-3 bekannt war, unter dem Himmel eines ausgehenden Tages, von dem das letzte Licht zwar noch nicht im Westen verschwunden war, dieses aber nicht mehr ausreichte, um die blasse Kreislinie des rot befleckten Mondes ganz  zu überstrahlen – Kaji war unter dem Vowand angereist, Berichte aus Bethany Base anzuliefern, für die normale Langstrecken-Kommunikation bei weitem nicht sicher genug war, was teilweise stimmte, ihm aber auch Gelegenheit gab, sich mit einem Vertreter seiner Auftraggeber zu treffen, der ihn vor kurzer Zeit auf ziemlich indirektem Wege kontaktiert hatte, um ihn um ein Gespräch zu bitten – Eines von mehereren zu diesem Zwecke ausgemachten Zeichen, die alle jeweils nur einmal verwendbar waren, um zu verhindern, dass jemand Verdacht Schöpfte war es,  einen, aber genau einen der Lebensmittel-Kühlkästen, die jeden Monat nach Bethany base geliefert wurden, mit rotem Lack zu besprühen – Einfach ein Sprüher, ohne ein besonderes Muster, sodass es wie ein Fertigungsunfall, eine Verunreinigung oder höchstes gewöhnlicher Vandalismus aussah, und nicht wie ein Signal – Es war aber eines, und Kaji war ihm gefolgt und stand hier nun mit einer Pistole in seiner Hand und der Hand selbst in der Hosentasche, bereit für alles – es konnte schließlich immer sein, dass jemand den Code geknackt oder aller Vorkehrungen zum Trotz doch Verdacht geschöpft hatte, und diese noch so geringe Wahrscheinlichkeit nicht in Betracht zu ziehen, könnte die ganze Operation an den Anfang zurückwerfen oder gar auffliegen lassen.

Doch im Moment sah es aus, als ob dafür keine Gefahr bestand – Selbst nach zehn Minuten ausführlicher Sondierung des Gebietes schienen weder NERV-Agenten noch sonst irgendjemand in der Nähe zu sein – Er konnte sich seiner Kontaktperson also nähern.

Als sich diese zunächst einen eigenen Revolver zog, als er sich zu Kaji umdrehte, befürchtete dieser einen Moment, dass die Gegenseite von der Operation wind bekommen, den Kollegen vom Ministerium ergriffen und bewusst einen ähnlich aussehenden Agenten geschickt hatte, um ihn abzufangen, sodass Kaji sich bereit machte, diesen noch in den Moment zu erschießen, in dem er sein Gesicht zu sehen bekam, aber noch, bevor sie sich gegenseitig in die Pistolenläufe blickten, erkannte Kaji, dass dies nicht nötig sein würde – Das Gesicht, das sich zu ihm hindrehte, war das seines Informanten, und dieser hatte seine Kanone nur herausgeholt, um auf Nummer sicher zu gehen.

„Mensch, Kaji, altes Haus!“ grüßte dieser, erleichtert aufatmend. „Sie haben mir aber einen Schrecken eingejagt!“

Kaum, das er sein heißes Eisen weggesteckt hatte, adressierte er seinen jüngeren Kollegen aber bereits mit einem Lächeln; Der Mann war schon länger einer von Kajis Korrespondenten bei Ministerium und Militär, und es war bei ihrer jahrelangen Zusammenarbeit auch schon durchaus mal dazu gekommen, dass sie zusammen einen getrunken und über die vergangenen Abenteuer ihres Lebens geplaudert hatten, sowohl militärischer als auch romantischer Natur, wo sie beide ein langes Repertoire an „Heldentaten“ vozuweisen hatten, und so war es mehr oder weniger natürlich gewesen, dass sich zwischen ihnen trotz des Altersunterschiedes ein freundschaftlich-kollegiales Verhältnis entwickelt hatte, zumal sich in ihren Berufen sonst wenig andere Personen fanden, die man auch als Gefühlsmenschen beschreiben könnte – Der ältere der beiden Männer war das, was man einen großen Mann mit einer großen Mission und einer großen Stimme nennen könnte; Bevor er zum Spionieren gewechselt war, aus der Überzeugung heraus, dass die großen, signifikanten Schlachten dieser Era in diesem Bereich geschlagen werden würden, hatte er er eine lange Militär-Karriere hinter sich gehabt, und sich unter anderem als Veteran der Post-Impact-Kriege hervorgetan, und jetzt sah er in der Überwachung von NERV nichts geringeres als die Fortsetzung seiner Berufung, diese Welt zu beschützen, alles in allem ein großer, glanzvoller Kontrast zu Kajis kleinem Licht von einer Schattengestalt, der von der Welt vor dem Impact noch wesentlich mehr gekannt hatte,  doch gerade das hatte ihnen Stoff für Gespräche gegeben und ihnen erlaubt, voneinander im Laufe der Jahre noch etwas zu lernen.

„Schön zu sehen, dass Sie wohlauf sind, Takao-san.“ Gab der jüngere Agent sowohl den Gruß und das Lächeln zurück. „Stehen Sie hier schon lange?“

„Nein, nicht sehr. Ich muss zugeben, dass ich wohl etwas abgelenkt war..."

"Das wäre ich an Ihrer Stelle wohl auch – an den Anblick werde ich mich wohl niemals gewöhnen.“

„Meinen Sie etwa den Mond?“

Kaji nickte, anbei weiteren Erläuterungen ausholend: „Und ich sah, daß es das sechste Siegel auftat, und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut…"

"Offenbarung, Kapitel 6, Zeile 12.“ erkannte Takao.

„...und der Himmel war zusammengerollt wie ein Buch…“ setzte Kaji fort, zwar nach Außen hin erstaunlich unbekümmert klingend, aber nicht ohne bewusste Anspielung auf den unerklärliche Malstrom auf Farben, von dem sie mittlerweile beide wussten, dass er noch bis zum heutigen Tage über dem Südpol toste, wie der große, rote Fleck schon seid Jahrtausenden über den Jupiter jagte, sich aber auch entfernt darüber belustigend, dass man sich Bücher – Schriftrollen – zur Zeit, aus der diese Worte stammten, noch wesentlich anders vorgestellt hatten.

Den Rest der Textstelle zitierte er mit einer deutlich anderen Form von Humor, mehr mit der Selbstironie eines Mannes, der wusste, dass er in einer Falle saß und über seine eigene, misarable Glücksfee witzelte, um sich die Zeit zu vertreiben, als mit dem unbetroffenen Witz eines jungen Menschen, der über eine Idee lachen konnte, weil er sie als unmögliche Rauchgestalt zu erkennen glaubte: „Und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern.  Und die Könige auf Erden und die Großen und die Reichen und die Hauptleute und die Gewaltigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen, und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallt über uns und verbergt uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“

Takao schüttelte den Kopf. „Und die Meere kochten über, und die Sterne fielen uns aus dem Kopf…“ setzte er in einem Tonfall fort, in dem er auch hätte sagen können, ‚et cetera, et cetera, undsoweiter, undsofort‘ – „Ich würde uns alle noch nicht abschreiben, noch habe ich weder Katzen und Hunde zusammenleben sehen, noch haben die Heuschrecken den Himmel überrant…“

„Die Heuschrecken vielleicht nicht, aber bei solchen alten Schinken können sich im laufe der Jahre Haufenweise Übersetzungsfehler einschleichen - Vielleicht waren statt Heuschrecken ja Zikaden gemeint – Die Viecher sind mittlerweile überall…“

Was Takao nicht wirklich bestreiten konnte, ohne dass es etwas... komisch klingen würde, zumal jetzt im Augenblick im Hintergrund welche zu hören waren.

„Sie glauben diesen ganzen Kram doch nicht etwa wirklich, oder?“

„Vielleicht nicht.“ Gab Kaji zurück. „Aber ich glaube, dass es eine ganze Menge Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, und viele Arten, wie man das alles sehen kann, auch wenn einige davon sinnvoller sind, als andere. Wenn man etwas ganz neumodisches betrachten will, kann man zum Beispiel bedenken, dass diese Scientologen zum Beispiel glauben, dass all diese Legenden, Sagen und alten Schriften und die sich darin oft wiederholenden, ähnlichen Figuren von Urbildern herrühren, welche den Seelen, die auf dieser Welt über die Jahrhunderte reinkarnieren, von den Außerirdischen eingepflanzt wurden, die uns hier zurückgelassen haben.

Die Psychonalytiker der frühen Neuzeit hingegen sahen in diesen stetig wiederkehrenden Mustern ähnlicher Götter- und Sagengestallten Ausprägungen sogenannter Archetypen, die aus den Tiefen des kollektiven und individuellen Unbewussten kommen, und Manifestatuionen von urtürmlichen Prinzipien und Bildern sind, mit denen Menschen seit jeher in ihrem Leben, ihrer Fortpflanzung und natürlich auch ihrem Zusammenleben zu tun haben – Und tja, bei diesen ganzen Gerede über Engel, Prophezeihungen und EVAs beginnt man sich langsam doch zu fragen, ob diese alten Geschichten nicht doch die ganze Zeit über Teile eines größeren Puzzles waren, die Wissen über die Natur und das Schicksal der Menschen enthalten…“

 „Sie denken also, dass wir alle sterben werden?“ fragte Takao mit gehobener Braue, nicht ernsthaft über die Möglichkeit einer Bestätigung nachdenkend. "Das sieht Ihnen aber gar nicht ähnlich. Wenn wir sterben, dann sterben wir halt. Nichts währt ewig. Aber das heißt nicht, dass wir uns all diesen Lämmern und Drachen und Antichristen kampflos geschlagen geben müssen. Einen Versuch ist es doch Wert, meinen Sie nicht?“

„Hm... Gegen einen Versuch lässt sich wirklich nichts sagen, da muss ich ihnen Recht geben.“ gab Kaji schließlich nach.

„Aber Sie haben mich doch sicher nicht nur hierher bestellt, um ein philosophisch angehauchtes Pläuschchen mit mir zu halten, oder?“

„Nein, ich fürchte nicht.“ Gab Takao zu.

„Worum geht es?“

„Sie haben mir doch vor kurzem diese Liste dieser nicht weiter demarkierten Spezialaufträge gegeben, die von NERV aus an in verschiedenen Technologiezweigen beschäftigfte Firmen aller Art verschickt hat, oder?“

„Ja. Ich dachte mir, dass die da etwas zu verbergen haben könnten – Mit Abstand am verdächtigsten war wohl dieser Auftrag 2-0-2, der an diese Firma geht, die spezielle Kabel-und Verbindungslösungen für Ausnahmebedingungen herstellt… Die überwiegende Mehrhheit der Bestellungen ging an markführende Biotech-Unternehmen und bestellte vor allem Rohmaterialen und Aparate, wie spezielle Nährmedien oder neuste Sequenzieraparate – NERV zieht es zumeist vor, die Drecksarbeit im eigenem Hause zu erledigen… Das das wirklich eine Bestellung für Kabel wage ich sehr zu bezweifeln…“

„Also, ich könnte mir vorstellen, dass die für diese ganzen Apparillos und Wissenschafts-Dingsdas eine ganze Menge Kabelsalat brauchen.“ Spekulierte Takao nicht ganz ernst.

„Allerdings, aber das erklärt nicht, warum die so einen Hehl um diese Bestellung machen würden… haben Sie diesbezüglich nachgeforscht?“

„Oh ja.“ Gab der Ältere Mann zurück. „Allem anschein haben sie da einen richtig dicken Fisch in unsere Netze gelockt, Kaji. Die Bestellung ging, ob Sie’s glauben oder nicht, tatsächlich für diese Firma, und sie war wirklich für Leitungskomponenten – Das ist es ja gerade, was die ganze Sache so verdächtig macht, denn dafür, das es genau so gut ein besseres Verlängerungskabel sein könnte, haben die von NERV einen ziemlichen Aufwand betrieben, um sicher zu gehen, das niemand mitkriegt, was genau sie da bestellt haben – Zum Beispiel haben sie statt ein ganzes Bauteil zu bestellen, lauter Bauteile nach sehr speziellen Spezifikationen einzeln anfertigen lassen.“

„Das muss bei NERV nicht viel heißen.“ Meinte Kaji zunächst dazu. „Die benutzen einen ganzen Haufen spezielle, hochentwickelte Technologie, die für öffentliche oder zivile Zwecke nicht freigegeben ist, ähnlich, wie das Militär, die ganzen Einrichtungen sind voll mit spezifischen Sonderanfertigungen aller Art, Messgeräte, biologische Baukomponenten, einfach alles… Und tja, dafür brauchen sie vermutlich auch Sonder-Verlängerungskabel. Vielleicht befürchten sie, das jemand vom genauen Aufbau des Bauteils auf die geheimen Architekturen ihrer Geräte schließen könnte.“

Takao schüttelte den Kopf. „Es ist mehr als das. Sie haben es selbst gesagt: Hier ist etwas gewaltig faul. Wir haben Grund, anzunehmen, das Agenten von NERV oder SEELE den Kerl, der den Bauplan für das Ding gezeichnet hat, und somit als einziger wusste, wozu es gut war, ausschalten lassen hat. Ein Messtechnik-Ingenieur, von dem wir schon seit längerem vermuten, dass er an dem Bau der Anlagen von Bethany Base beteiligt war, ist vor wenigen Tagen bei einem „Vekehrsunfall“ ums Leben gekommen – So zumindest die offizielle Version. Natürlich stand er schon wegen seiner ursprünglichen Beteiligung mit großer Wahrscheinlichkeit auf SEELEs roter Liste, aber…“

„…das Timing passt wirklich sehr gut zusammen.“ Vervollständigte der jüngere Mann mit dem Pferdeschwanz.  „Dann können wir auch davon ausgehen, das Bethany Base auch der Bestimmungsort dieses Bauteils ist?“

„Höchstwahrscheinlich. Da stellt sich natürlich die Frage, was es damit auf sich hat – So wie es aussieht, ist schon die bloße Tatsache, dass sie das Teil in Arbeit gegeben haben, für SEELE eine extrem kritische Information zu sein…“

„Allerdings…Das könnte einer dieser Fäden sein, die den ganzen Teppich auseinanderfallen lassen könnten, wenn einer lang genug daran pult… Wenn wir bloß wüssten, was es ist…“

Takao grinste verstohlen.

„Es ist eine Art maßgeschneidertes Y-förmiges Verbindungstück.“

„Sie… haben den Transport abgefangen?“ gab Kaji erstaunt zurück.

Der ältere Mann schüttelte den Kopf. „Das mussten wir gar nicht. Ich habe ein paar Jungs in die Teile der Fabrik eingeschleust, in der sie nötigen Maschinen haben könnten, um das äußere Chassis herzustellen, und einen Blick darauf zu werfen. Die Form des Teils war schwer zu übersehen.“

„Die Idee hätte glatt von mir sein können.“ lobte Kaji wenig bescheiden. 

„Sagen Sie das nicht – Es war meine, und der Mann, der uns das Bild geschickt hat, hat mit seinem Leben dafür bezahlt. Ganze vier Jahre hat er unter mir gearbeitet…“

Die Miene des Doppel-und-Dreifach-Agenten nahm eine merklich ernstere Färbung an.

„Es scheint, als ob SEELE nicht wollen würde, dass irgendjemand davon Wind bekommt, dass sie überhaupt etwas haben, dass sie an das betreffende Gerät anschließen können… und das um jeden Preis. Das heißt, wenn wir wüssten, was für ein Gerät das ist…-“

„Wir hatten gehofft, dass Sie das in Erfahrung bringen könnten.“

„Ich verstehe… Das ist dann wohl mein nächster Auftrag.“

„Bingo. Wir zählen auf Sie.“

„Tja, dann wird ich mich mal auf die Socken machen. Wenn ich mich beeile und noch den nächsten Flug erwische, komme ich vielleicht noch vor unserem myteriösen Bauteil in Bethany Base an… Das Böse schläft eben nie.“

„Oh, und Kaji?“

„Ja?“

„Versuchen Sie, nicht zu sterben. Ich würde Sie nur äußerst ungern auch noch überleben.“

Dieser Bitte konnte der Jüngere der beiden Männer nur mit einem Achselzucken nachkommen.

„Tja, ich werden schauen, was ich tun kann…“

 

Hunde, die mit Katzen in paradiesischer Harmonie zusammenlebten, bekam Kaji auf seinem Weg zum Flughafen zwar nicht zu sehen, aber schon bald, nachdem er sich auf den Weg gemacht hatte, wurde er Zeuge eines Anblicks, der vielleicht noch göttlicher war, und ihn seine Überlegungen über das Nahen der Endzeit noch mal scherzhaft durchdenken ließ: Da waren zwei Jungs, etwas älter als Klein-Asuka, aber doch noch jünger als das zweite Mädchen, derer er sich angenommen hatte, und ihn wohl genau wie die nächste Etappe seines Pfades in Bethany Base erwartete, und sie waren vermutlich zu eben dem abgelegenen Sportplatz unterwegs, nebst den er seine kleine Lagebesprechung eben abgehalten hatte.

Doch das war nicht der Punkt. Der Punkt war, dass einer von ihnen ein hochgewachsener Kerl mit einer modernen Gelfrisur war, der in einem dunkelblauen Jogginganzug daherkam und einen Basketball unter dem Arm daher kam, während sein Kupel ein mindestens einen Kopf kleineres, bebrilltes, sommersprossig-käsiges Wesen war, welches ununterbrochen von irgendwelchen Schiffen aus dem zweiten Weltkrieg laberte, und bisweilen zwecks Demonstration mit dem kleines Plastikflugzeug in seiner Hand umherfuchtelte.

Vielleicht, so kommentierte Kaji mehr oder weniger ernsthaft in Gedanken, war das Ende der Welt ja hoch wesentlich näher, als er es ohnehin schon vermutete.

Wer weiß.

Wenn es morgen Sterne regnen sollte, würde er sich hinlegen und versuchen, es zu genießen.

 

---

 

Das war also die Geschichte davon, wie Kaji in den Hochsicherheitsbereich von Bethany Base hineingekommen war, aber ob er da jemals wieder heraus kommen sollte, das war eine ganz andere Geschichte.

Er hatte vorher natürlich in Erfahrung gebracht, wann und wo es Sicherheitspatroullien und aktive Kameras gab und wie er sie umgehen konnte.

Glücklicherweise schien SEELE sich hier auf ihre Sicherheitsmechanismen und Schlösser zu verlassen und schien die Herstellung von weiterem Beweismaterial, das in die falschen Hände gelangen konnte, vor allen anderen Dingen vermeiden zu wollen, sodass dies gut möglich war; Offiziell ging hier nichts raus und nichts rein, oder vielmehr blieb alles, was hier rein oder rausging, schon aus Prinzip ungesehen.

Aber auch, wenn sie sich zu verbergen wussten, irgendwo in dieser Finsternis saßen SEELEs Schergen und warteten darauf, das jene, die töricht genug waren, sich in diese Gefilde hinein zu wagen, ihnen in die Arme liefen, und Kaji glaubte nicht, das vor ihm irgendjemand, der hier erfolgreich eingedrungen war, je lebend herausgekommen war.

Allerdings, wie viele hatten es außer ihm überhaupt geschafft, hier herein zu kommen?

In dieser Statistik könnte durchaus ein erheblicher Bias drin stecken, für seine Überlebenschancen könnte es also gar nicht so übel aussehen – das hieß, wenn er jetzt sofort kehrt machte, und einen Weg aus dieser Todesfalle suchte, oder sich zumindest mit dem Inhalt der Räume zufrieden geben würde, die er von hier aus erreichen würde – Wenn er aber der Spur seines Bauteils folgen und diesen Komplex noch tiefer infiltrieren wollte, tja, dann dann sa es anders aus – Er hatte zwar ungefähr verfolgen können, in welchen physischen Bereich dieser Basis das Verbindungstück befinden musste, aber ob er in die entsprechenden Bereiche auch eindringen konnte, war eine andere Sache, denn für welchen Zweck auch immer dieses blutige Baustück gebraucht wurde, es musste zu den schwärzesten Mysterien gehören, die hier überhaupt begraben lagen, in einem der best-gesicherten Bereiche dessen, was ohnehin schon eine Hochsicherheitsbasis war, deren Existenz der Großteil der Zivilbevölkerung noch nicht einmal ahnte, selbst höherrangige NERV-Angestellte anderer Stützpunkte, inklusive des Hauptquartiers, wussten im Wesentlichen nur, dass die Basis existierte, in der Arktis lag, und dass dort an EVA 05 gearbeitet wurde, und nichts weiter – Ja, selbst vor den obersten Leitern der Organisation wurde hier einiges verborgen, wie Kaji mitbekommen hatte, seid er Teil des internen Konfliktes zwischen SEELE und Ikari geworden war.

Blieb also zu hoffen, dass seine Code-Knacker-Fähigkeiten ausreichen würden…

Also schritt er weiter vorran, genau wissend, das jeder Schritt ihn näher an das letzte bringen könnte, was er tun würde.

Dann, ein Lufthauch, eine Verschiebung in den Schichten aus unbenutzer Luft, die sich hier schon seid dem letzten Mal angesammelt hatten, das jemand diese Örtlichkeit benutzt hatte.

Als nächstes folgen Geräusche, Schritte, eine menschliche Stimme (Summen?), die Berührung von Schuhsolen und Boden und das minimale Streifen, wenn sich der darinliegende Strumpf gegen das Material des Schuhs verschob – Schuhe, keine Stiefel, nicht sehr groß, höchstwahrscheinlich eine Frau, und scheinbar nicht in Eile – Eine Zivilistin konnte es hier nicht sein, eine Wissenschaftlerin vielleicht? Wissend, dass zu spät war, es ohne Geräusche zu verursachen zur nächsten Biegung zu schaffen, richtete Kaji seine mit einem Schalldämpfer bestückte Pistole in Richtung Geräusch – Doch dann, Entwarnung, in der letzten Gestalt, in der Kaji sie erwartet hätte.

Nicht, das der Mensch, der den Gang entlanggeschlendert kam, ihm Fremd wäre, aber es war wohl die Surrealität der Situation, ihr scheinbar furchtloses Summen im Kontrast zu der Anspannung, die durch seinen ganzen Körper zu gehen schien.

Der zweite Eindringling, der seine Wege trotz seiner Presenz scheinbar unbesorgt fortsetzte und vor ihm stehen blieb, und ihn leicht verwundert anblickte, als ob er derjenige sei, der eine Erklärung abzuliefern hätte, war ein junges Mädchen von (damals noch) etwa vierzehn Jahren, gekleidet in eine britisch angehauchte Schuluniform, bestehend aus dunklen Strümpfen, die bis über ihre Knie hinauf reichten, einem recht knappen, rot-grün karierten Faltenrock und einer blütenweißen Bluse, welche zusätzlich noch mit einem Anstecker und einer Kravatte dekoriert war, begleitet von einem offenen, violetten Blazer.

Der Blick ihrer türkisen Augen traf ihn durch die Gläser einer knallroten Plastikbrille hinaus, ihr langes, braunes Haar war mit roten Haargummis zu zwei mädchenhaften Zöpfen gebunden,die sich, ähnlich wie ihr blaues Stirnband, nicht so recht mit dem Reifegrad ihres restlichen Körpers vertragen wollte, und insgesamt bot sie ein Bild von vielen bunten Farben, die einfach nicht zusammenpassen wollten, und noch weniger an diesen Ort, genau so gut könnte man Pipi Langstrumpf in einem Kriegsbunker erwarten.

Doch war es gerade eines ihrer wirren Accessoires, nämlich das Stirnband mit dessen spitzen, weißen Zusätzen, die ihre Berechtigung angab, in dieser Basis zu sein – Kaji glaubte allerdings nicht, dass diese Berechtigung auch für diesen Teil der Basis galt.

„…Mari!“ begann er alarmiert, doch sie sprach, als wäre sie ihm ganz normal auf der Straße begegnet… für was auch immer man ihre Verhältnisse von Normal nennen mochte. „Ryoji-kun! Ich wusste doch, dass das dein Aftershave war, das ich da gerochen habe. Was machst du hier?“

„Dasselbe wollte ich dich gerade fragen. Hör mal, Mari-“

„Ich mache dasselbe, was du wahrscheinlich auch machst. Ich konnte nocvh nie einem ‚Betreten-Verboten‘-Schild widerstehen. Ich schätze, das haben wir gemeinsam.“

„Mari, es ist gefährlich hier, du solltest nicht hier sein-“

„Du auch nicht. Aber eine Sorge, wenn du nicht petzt, petze ich auch nicht.“

„Ich meine es ernst, du hättest nicht hierher kommen sollen. SEELE hat seine Agenten hier, und wenn die dich zu Gesicht bekommen, werden die ohne zu zögern schießen- “

„Nein.“ Korrigierte Mari, und tippte ihre rechte Hand in einer Formation, die wohl eine Pistole andeuten sollte, ohne weiteres an seine noch greifbar warme Brust, die sich darunter hebte und senkte.

Dich werden sie ohne zu zögern abknallen, wenn sie dich hier finden. Mich brauchen die noch – Wenn das Viech da unten nämlich ausbricht, während keiner da ist, um Einheit Fünf zu steuern. Es wäre also wirklich besser, wenn du das hier mir überlässt, okay? Nur dieses einmal Mal…“

„Die können mit dir noch andere Dinge tun, als dich bloß zu töten, und das weißt du.“

„Und mit dir etwa nicht?“

„Ja, aber…“

Aber er war der Erwachsene hier, und das machte es zu seiner Aufgabe, solche Gefahren auf sich zu nehmen, damit Kinder wie sie es nicht tun mussten.

Doch mittlerweile hatte er begriffen, das Mari diese Erklärung wohl nicht akzeptieren würde.

Wie ihre deutsche „Kollegin“ war Mari, obwohl sie fast zwei Jahre älter war, trotzdem noch eine Heranwachsende, die in die Fänge dieses absurden Projektes geraten war, an dessen Ausführung die Zukunft der Menschheit zu hängen schien, und somit jemand, den er, wie Asuka, eigentlich zu schützen hatte. Jedoch schien auch dieses Mädchen, wie Asuka von ihm zu erwarten, in gewissermaßen als Gleichgestellte behandelt zu werden.

Und doch hätte die Situation nicht unterschiedlicher sein können – Über Asuka hatte er etliche Berichte gelesen, er war fähig, das Kind unter ihren Kleidern zu sehen, und die suchenden Hände unter dem Stachelkranz ihres harten Panzers; Er hatte zumindest eine ungefähre Vorstellung davon, wie sie dachte, was für sie wichtig war, und was bestimmte Äußerungen und Gesten für sie bedeuten würden, er kannte ihre Geschichte, konnte zumindest einen Teil ihrer inneren Abläufe und Denkmuster erahnen, und den Dingen, die sie tat, Gründe und Kontexte zuordnen – Doch auch, wenn er das, was er über Asuka wusste, nicht allumfassend nennen würde, sah es doch endlos aus, nur durch den schieren Vergleich mit dem, was er über Mari wusste.

Ihre Gedanken kannte er nicht, genau so wenig wie die Gründe für ihre Handlungen, ihre Denkmuster und Assoziationen blieben ihm verborgen, die Bedeutungen, die sie mit ihren anderen Handlungen verband, blieben ihm ein Rätsel, und auch, was die Handlungen anderer, einschließlich seiner eigenen für sie bedeuten könnte, blieb ihm verborgen – Einst hatte man ihm das Fourth Child als „mysteriösen Neuzugang“ des Pilotenteams vorgestellt, und schon basld hatte er feststellen müssen, dass man sie nicht bloß als „mysteriös“ bezeichnet hatte, weil sie neu war, oder weil derzeit nur ein geringer Kreis von Menschen in ihre Existenz eingeweiht war, wie viele Dinge heutzutage in Werbung und Fernsehen als „mysteriös“ angepriesen wurden, um sie interessant klingen zu lassen; Nein, das Adjektiv war durchaus angebracht.

Niemand wusste, wo sie hergekommen war, was sie hier machte, oder was sie vorhatte, aber sie selbst schien da sicherlich wenig Zweifel zu haben; Und doch wäre es nicht richtig gewesen, Mari in irgendeiner Form als „Verschlossen“ zu bezeichnen, ganz im Gegenteil, (Sie war voll mit scheinbaren Widersprüchen, die bei ihr aber wirklich keine waren, und sich als runde Ecken der selben, bizarren Geometrie herausstellten, wenn man sich ihrer genauer besah, anders als Asuka, die von ihren Widersprüchen zerissen wurde) es reichte, ein paar kurze Augenblicke mit ihr zu verbringen, um sie schon in gewisser Hinsicht in- und auswendig zu kennen; Sie war unverstellt, frei von Hemmungen, machte sich nicht die Mühe, das, was sie in sich drin trug, in irgendeiner Weise zu verbergen, und plapperte ihre unmittelbaren Gedanken ohne weiteres frei heraus, als würde es ihr nicht einmal in den Sinn kommen, wie das die Meinung, die andere von ihr bilden könnten, negativ beeinflussen würde; Eher noch suchte sich den Raum, (Schaltete die Comm-Verbindung aus oder sprach eine andere Sprache)  in dem sie mit sich und all diesen Dingen, die scheinbar nur sie sehen oder hören konnte,  allein sein konnte, schottete sich eher ab, als das sie sich verbog, und das war es wohl, dass sie so anders machte, als alle Menschenseelen, die Kajis Wege zuvor gekreuzt hatten.

Er wusste nicht warum, er kannte die Motive und Antworten zu ihr nicht – (Und wahrlich gab es in dieser Welt kaum noch jemanden, der kein Päckchen mit sich zu tragen hatte – Die, denen man es nicht unbedingt anmerkte, waren meist nur die, die am effizientesten darin waren, es zu verbergen – Kaum einer wusste das wohl besser als Kaji selbst. Dass man die Geschichten nicht immer kannte, spielte eigentlich nicht wirklich eine Rolle – Das änderte nichts daran, das man sich trotzdem mit ihren Folgen arrangieren musste) also konnte er sie nur betrachten und mutmaßen, sich fragen, was durch ihren Kopf ging, während diesen seltenen Momenten, in der man sie nachdenklich in den Himmel blicken sah, völlig eingenommen von einer Kolonne Gewitterwolken oder einem vorbeiziehenden Vogelschwarm, oder was sie veranlasst hatte, Erwachsenen nicht zu trauen, und sich ihre Isolation selbst zu wählen, oder wieso sie sich mit viel zu großer Leichtigkeit dem Tod entgegen stützte; Da war eine Art Schaden da, Sprünge und Risse, zweifellos, und zugleich schien sie mit ihrem seltsamen, beschädigten selbsts absolut im Reinen zu sein, machte keine Anstalten, sich selbst und ihre Eigenheiten zu verbergen; Sie war zweifellos hier, weil sie hier sein wollte, und sie schien auch nicht der Typ zu sein, der sich mit trüben Gedanken lange aufhielt – Sie ließ sie einfach vorbeiziehen und arrangierte sich, schien auf alle Zweifel, die sie jemals gehabt haben sollte, bereits eine Art Antwort gefunden, die sie nun bereit war zu teilen.

Teilweise könnte man sagen, das sie reifer war als die anderen Mädchen, nicht nur körperlich, oder weil sie etwas älter war, sondern vor allem, weil sie verstand, was hier gespielt wurde (sogar mehr noch als Kaji selbst, wie er leider zugeben musste) und zu begreifen schien, was auf dem Spiel stand, und ließ sich von Dingen nicht aufhalten, die die anderen zurückgehalten hätten,  aber dann würde sie von „Erwachsenen“ sprechen, als wären sie eine andere Spezies, und dunkelste Situationen mit einer verspielten Koboldgrazie angehen, und man könnte meinen, man hätte Peter Pans Schwester vor sich, unberührt von dieser Einfügung in die Gesellschaft, die von einem irgendwann zwischen sechs und zwölf Jahren gemeinhin erwartet wurde.

Sie tanzte und sang, gehörte in das Reich von Zöpfen, Elfchen und Erde;

Und sie hatte eine unmittelbare Direktheit, Menschen anzusprechen, und Dinge, die weitaus größer waren als ein einzelnes Menschenmädchen, als stünden sie auf einer Stufe, „Hallo, ich bin Mari, und wer bist du?“, das archetypische „seltsame Mädchen“, das mit den höheren, manisch-magischen Elementen ihrer Welt in Verbindung zu stehen schien.

Manchmal sagte sie Dinge, beiläufige Bemerkungen, ohne weiteres in eine Konversation eingestreiut, die sich schließlich als wahr heraustellten, Dinge über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Dinge, die Kaji kalte Ahnungen einer fernen Zeit bescherten, in der alles, was ihm lieb und teuer gewesen war, zertrampelt und verdorben war, und die Menschen, die ihm wichtig waren, sich gegenseitig umgebracht hatten, und zugleich schien sie dieses Licht in sich zu tragen, das selbst in der dunkelsten Schwärze nicht verlöschen würde – Sie war eine freundliche Person, die Fremden gutes tun würde, ohne nach dem Grund zu fragen, und schien zugleich zu einer wahnsinnigen Brutalität fähig, der Typ von Mensch, dem man zutrauen würde, ein Opfer mit den Zähnen zu zerbeißen.

Sie sprach in simplen, einfachen Worten, denen dennoch tiefe Weisheit innezuwohnen schien.

Und sie schien überhaupt nicht zu wissen, was Angst ist, und es schien nicht einmal Leichtsinn zu sein – Sie nahm die Risiken hin, weil sie es ihr wert waren, nicht anders als er es tat, und sie war sich dieser Ähnlichkeit bewusst – Während sie von dem restlichen Personal von Bethany Base größtenteils genervt schien, zwar durchaus fähig war, trotz ihrer Tendenz, alleine zu arbeiten (Ein weiterer, krasser Unterschied zu Asukas Situation), mit ihnen zu kooperieren, aber ihre Geheimnisse bei sich behielt, erkannte sie in ihm ihresgleichen, eine Art Freigeist, mit dem sie durchaus sympathisierte und bereit war, mit ihm zusammenzuarbeiten, in einer Art wechselseitig profitablen Plan, der ihre beiden Pläne vorrantreiben sollte– das war zumindest ihre Sicht von der Seite, und das hier kein falscher Eindruck entstand, auch er sympathisierte mit dem „Ungebändigten Problemkind von Bethany Base“, ganz ohne Abenteuerlust konnte man eine Mission wie die, zu der er aufgebrochen war, nicht aushalten aber er kam nicht ganz darüber hinweg, das er da ein heranwachsendes Mädchen losschickte, die Weichen für das Schicksal der Welt zu stellen, und nach dieser Version war es sein Plan, seine Verantwortung, und seine Hand, die sie wohlmöglich zu ihrem Verderben lotzte, er war verantwortlich, weil er der Erwachsene hier war, eine Unterscheidung, für die Mari selbst reichlich wenig übrig hatte, ja, gekonnt ignorierte.

Als „Kumpel“, als ähnlich gesinnter Freigeist konnte er mit Mari eher reden, und es enstanden Gespräche über Gott, die Welt und die conditio humanis, aber sie wählte ihn genau so, wie sie ihn wählte, um mit ihm zu kooperieren, Mari hielt ihn für ein Exemplar von über 25 vermutlich für verhältnismäßig un-langweilig, und in ihren Gesprächen stießen sie die Gedanken des anderen etwa in gleichem Maße dazu an, neue Wege zu gehen – Er hatte schon etwas mit ihr zu tun, aber er konnte nicht behaupten, ein Elternteil für sie geworden zu sein, diese ganze Welt gab es hier im hohen Norden nicht, sie trafen sich nicht beim Essen oder bei irgendwelchen Ausflügen, oder in dem Kontext, dass sie ihn für irgendwas um Erlaubnis fragte, und sie sah ihn auch nicht bei irgendwelchen Flirtversuchen oder beim Geplänkel mit seinen akten Schulfreunden, sondern beim Untergraben von irgendwelchen Verschwörungen, beim hantieren mit irgendwelcher komplizierter Hochtechnologie, zwischen Metallgestellen und Leitungsrohren; Das war die Welt, in der sie sich trafen, die Welt, in die sie gehörte – ob es irgendwo noch eine Mari Makinami gab, die sich in etwas anderem sehen ließ, als Uniformen und Plug-Suits, und irgendwo so was wie Eltern hatte und die Schule, zu der diese Uniform einmal gehört haben musste, so ein normaler, alltäglicher Kontext mit Räumen voller Menschen;

Er konnte sich vorstellen, dass sie in die meisten anderen Kontexte denkbar schlecht hineinpassen würde, so wie sie war, mit dieser Art von ihr, diese verrückte Welt hier, mit Verschwörungen und Monstern, die sich den Gesetzten der Physik nicht beugen wollten, schien wie der einzig mögliche Ort, den man sich für sie vorstellen könnte, und doch schien sie zu beherrschen, was andere in den Wahnsinn treiben könnte – Vielleicht hatte sie diese andere Welt ja gerade deshalb zurückgelassen, aber das besprachen sie nicht, das war einfach nicht die Art von Verbindung, die sie hatten.

  – Und eigentlich hätte er eingreifen und sie beschützen sollen, weil es sie und andere wie sie waren, für die er das hier unter anderem tat, und weil so ein Mädchen für gewöhnlich nicht wissen konnte, das sie da machte, und in was sie da hinein geraten war – Doch auch, wenn sie nicht immer danach auszusehen schien, konnte er es Mar doch nicht absprechen, dass sie zumindest ein Stück weit zu wissen schien, was sie da tat.

All das waren Faktoren, die dazu führten, das er ihr letzlich von dem Bauteil erzählte, einfach als eine weitere Investition, welche die Dinge auf lange Sicht vielleicht auf den richtigen Weg lenken könnte.

„Was, ein Y-förmigen Verbindungstück?“ wiederholte sie schließlich verwundert, nicht verbergend, wie die Zahnrädchen in ihrem Kopf am ticken waren.

„Tja, das erklärt so einiges… Aber ich glaube es nicht, dass du das Ding noch zu greifen bekommen wirst, bevor sie es vernichten. SEELEs Handlanger und die Wissenschaftlerin, die sie für das Experiment abgestellt haben, müssten jeden Moment hier sein…“

Und er hatte gelernt, das, was sie sagte, und selbst das, was sie nicht sagte, einfach hinzunehmen und mit ihr gemeinsam aus diesem Teil des Gebäudes herauszuflüchten, als hätte er eine Komplizin an seiner Seite, und das Team funktionierte, sie schafften es nach draußen und lebten beide noch ein Weilchen weiter, aber jedes Mal, wenn sie mit den Rücken zueinander standen, und den nächsten Raum ausspähten, sie sich im vorbeigehen berührten und er ihre Schulterblätter so weit unterhalb seiner eigenen lagen, wurde ihm klar, dass er niemals dazu fähig sein würde, sich daran zu gewöhnen, wie jung sie war – und das er es sich niemals vergeben würde, wenn sich das jemals ändern sollte.  

 

(Aber als er sah, wie sie diesen Selbstzerstörungsmechanismus zündete, erkannte er darin den Schatten ihrer zukünftigen, glanzvollen Taten, und er wusste auch: Wenn er so eine Aufgabe schon irgendeinem heranwachsenden Mädchen anvertrauen musste, dann ihr.)

 

DREIẞIG MINUTEN ZUVOR

 

Einen momentane Gesangspause, ein praktischer moment der Stille ein Blick, rot-in-(blau-)grün, und selbst in der Summe keinerlei Beschränkungen, die sie daran gehindert hätten, die Gedanken, die ihrer beiden Gedanken gekreuzt hatten.

„…Du kannst dir wahrscheinlich denken, das…“

„Yap.“ bestätigte Mari. „Und wenn ich es weiß, dann wirst duwohl erst recht wissen, dass-“

„Das ist wahr.“ Gab Tabris zu. „Ist dir bewusst, dass der Plan umfasst, dass…“

„Yo. Auch, wenn mir Gendo-kuns Trumpfkarte noch etwas schleierhaft ist. Aber du weißt schon das-“

„Ich würde es keinem von euch verübeln.“eröffnete Tabris mit einem Lächeln. „Aber es sind noch nicht alle Würfel gefallen…“

„Du meinst, es steht noch nicht alles fest? Mir brauchst du das nicht zu sagen, aber es wundert mich schon, das von dir zu hören…“

„Es ist alles eine Frage der Perspektive…“ gab Tabris zu. „Ich nehmen an, dein Ziel wird es trotzdem sein…?“

Die Brillenträgerin nickte.

„Natürlich. Ich glaube nicht, das irgendjemand das will.“

„SEELE scheint diese …“

„SEELE? Was die wollen und was du willst sind also zwei paar Schuh‘? “ Mari hob interessiert eine Augenbraue, und genehmigte sich ein süffisantes Grinsen. „Sehr interessant. Das verspricht alles, sehr interessant zu werden.“

„Aber wenn es trotzdem so weit kommen sollte, würde ich dich gerne bitten, dass du sein Leben verschonst.“

„Verschonen? Was meinst du? Wenn da jemand ist, den du aus der Patsche holen kannst, und nichts dagegen spricht, wer würde das nicht machen?“

„Und genau deshalb ist es ein Privileg, zu diesem Gespräch hier zu kommen, Mari von Bethanien… Wir sind und sehr ähnlich.“

„Du meinst, wir singen beide gern?“

„Darauf lohnt es wohl hinaus, ja. Auch wenn das für mich eine ungewöhnliche Erfahrung ist, für die ich dir danken muss – Einerseits ist es wirklich interessant, jemanden zu treffen, der über den Fluss der Ereignisse im ähnlichen Maße erhaben ist – Andererseits gibt es gerade deshalb wenig, das wir wirklich diskutieren müssen, auch wenn das an sich wohl eine wertvolle Erfahrung ist…“

„Ja, ich fand es auch schön, dich zu treffen.“ komentierte Mari. „Hast du eigentlich schon überlegt…-“

„Nein, eigentlich nicht, aber jetzt, wo du es sagst…“

„Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte!“ brachte das Fourth Child schließlich den lange überfälligen Satz heraus, auch, wenn sich die meistenOttonormalsterblichen wohl fragen würden, wieso erst jetzt kam.

„Das Second Child. Sie meintest du doch.“

„Tatsächlich. Erraten. Wo wir schon mal dabei sind-“

„Natürlich.“

„Stimmt ja, Sie auch.“

„Sie vor allem. Wobei ich natürlich auch daran gedacht hatte…“

„Leuchtet eigentlich ein.“

„Meinst du?“

„Ich weiß nicht. Ich bin noch nie geklont worden, weißt du?“

„Aber was sie angeht-“

„Ja, ich weiß. Wir werden noch sehn, wenn die Zeit kommt. Dann wirst du also…“

„Ich hoffe es. Aber wenn die Ereignisse sich bis dahin schon genügend vom Szenario abgezweigt haben…“

„Nein, in diesem Fall nicht.“

„Und würdest du das nächste Mal anders einschätzen?“

„Nö, keine Ahnung.“

„Wie ist denn deine persönliche Meinung dazu? Sollte ich…?“

„Hm. Ich hatte ja gedacht, dass du etwas mehr wie er sein würdest, aber ist auch egal. Mit dir kann man auch ganz nett abhängen… Also dann, hast du dir schon überlegt, was wir als nächstes singen? Wieder „Freude, schöner Götterfunken“?“

 

(Es sollte noch einer kommen, um zu tun und auszufüllen, was seine Vorgänger nicht getan und gefüllt hatten, und auch Bedarf sollte er zu Genüge mitbringen…)

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(1)    Der sekundäre Titel ist ein Shout-Out zu einem gewissen Album von Tori Amos, das unter anderem die Geschichte einer Frau betrachtet, die ihr Leben nach einer desaströsen Trennung wieder zusammenzufügen versucht. Man könnte die titulierten „Jäger“ aber auch als als jene kleinen subversiven Elementchen verstehen, die danach streben, die Wahrheit hinter der Verschwörung aufzudecken, wie vor allem Kaji, aber theoretisch auch Mari.
(2)   Wieso ich Mari etliche „Vorgesetzte“ mit Vornamen anlabern lasse, wird vielleicht ersichtlicher, wenn man Q gesehen hat. Aber den Prolog von 2.0 anzusehen reicht eigentlich… Kaji merkte ja an, das Mari es dem Personal von Bethany Base „nicht leicht gemacht hätte“, ihr den EVA anzuvertrauen/ „Ärger verursacht“ hätte. Dass sie wohl herumgeschnüffelt hat, kann man sich wohl denken, schließlich ist das Mädel ja äußerst gut informiert… Im „Evangelion Chronicle“ wurde Mari ja als Kajis „Untergebene“ klassifiziert, und wahrscheinlich denkt sich Kaji das auch so, aber im Film selbst scheint Mari das ja etwas anders verstanden zu haben XD
(3)    …Mir war einfach daran, mir zumindest ein paar Absätze lang für Kaji Zeit zu nehmen, da er, wenn man es recht bedenkt, ja Fandom-technisch eigentlich nicht so viel in die Tiefe gehende Zuwendung erfährt – Einige Kommentare seines englischen Rebuild-Synchronsprechers, der statt des offensichtlichen Casanova-Faktors vor allem seine Rolle als „erwachsener, abgehärteteter Überlebender“  herauskehrte, haben mich ein Stückweit über ihn nachdenken und ihn aus einem anderen Blickwinkel sehen lassen, und ich wollte, zumindest ansatzweise auf seine in der Story ja recht essentiellen Interaktionen mit Asuka und Shinji (in letzterem nur Fall andeutungsweise, weil er zum Zeitpunkt dieses Flaschbacks ja noch nicht auf der Bildfläche des Projektes erschienen war) und die bis jetzt FF-mäßig noch nicht besonders häufig analysierte Verbindung zu Mari eingehen… Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den Horror-Faktor einer Beinahe-Apokalypse ausreichend herauszuarbeiten, das war in der Serie eine dieser Punkte, wo durch Auslassung/Andeutung einiges der Fantasie der Zuschauer überlassen, und man will diesen Effekt mit einer Konkretisierung nicht verderben, aber yah, wenn es die Hälfte der Menschheit und de Großteil des Ökosystems erwischt hat, muss es schon extrem derb zugegangen sein… Bedenkt aber, dass Japan als Inselstaat einer der stärker verwüsteten Zonen gewesen sein muss –  Australien war vermutlich direkt futsch, die meisten Überlebenden müssen im Inland größerer Landmassen gesesessen sein, auch wenn es selbst da noch Erdbeben und Kriege gab… Die Post-Second-Impact Mondlandschaft darzustellen ist so eine Sache, das ist im Original so eine Sache, die ein bisschen ausgelassen/angedeutet wurde, und den Horrorfaktor eben durch diese Auslassung hinzukriegen, und soetwas konkretisierend aufzuschreiben birgt immer die Gefahr, die Fantasie der Leser zu unterbieten… Aber da man mir schon mal gesagt hat, das ich unter anderen den Great Time War (Doctor WHO) einmal gut hinbekommen haben soll dachte ich mir, hach, versuch dich mal an der Second Impact Hölle, zumindest ist es nichts, das schon zu oft breitgetreten wurde.
(4) Kleiner Disclaimer: Ich persönlich habe absolut nix gegen Katzen, die entsprechende Stelle sollte nur den Kontrast zwischen Misato & Ritsuko betonen.
(5) Zu der Sache mit Asuka... Solche Dinge sind und es erschien mir wie die Art von "Das-Leben-ist-hart-und-jungend-ist-ein-überbewerteter-zustand-vom-dem-es-gut-ist-wenn-er-endlich-behoben-wurde"-mäßiger Kiste ist, die auch das Original thematisieren würde, und solche Dinge im realen Leben schon Individuen passiert hatten, die in ihrem Wahn, sich schon für "große Leute" zu halten, wesentlich weniger krankhaft waren als Asuka. (Der man es getrost nicht verdenken kann, wenn man bedenkt, dass sie die vielleicht übelste Backstory in einer Serie hat, wo die halbe Besatzung ein Fall für die Klapsmühle wäre) Bedenkt, dass sie sich in Episode 5 mit einem Studenten (!!) verabredet.
(6) Apropos Student - Da das Semester wieder angefangen hat, und ich diverse Veranstaltungen endlich mal bestehen müsste, kann es sein, das es mit den Updates in nächster Zeit langsamer wird... Ich kann nicht mal eine 'Besserung' in der nächsten Ferien versprechen, weil ich hoffe, mich nun endlich für ein bestimmtes 6-Wöchiges Softwarepraktikum zu qualifizieren und im Verlauf dieses Jahres auch endlich mal den 2. Band meines Romans fertigzustellen... Trotzdem werde ich versuchen, zumindest an den Wochenenden Zeit für diese FF zu nehmen, es geht definitiv weiter/ wird keinesfalls pausiert, aber es könnte zwischen den Updates halt etwas Zeit vergehen.
(7) Scheint, als würde sich der Manga nach langer Zeit endlich dem Ende zuneigen... Wer hat alles schon Stage 94 gelesen? *Schnief**Taschentuch greif* Oh mann. So wunderschön. So herzzereißend. Da fühlt man sich fast geneigt, Sadamoto Dinge wie EMK und Manga!Gendo zu verzeihen, wenn auch nur fast. *sich an dieser Stelle mal als schamlose Rei Enthusiastin outet*
(8)   Bevor das jetzt aber endgültig zum Running-gag wird, hier die endgültige, definite, direkte, keinen weiteren Änderungen unterworfene Inhalts-Vorschau für das nächste Kapitel: Dort geht es nach dem längeren Exkurs hier fürs erste wieder zurück in die Gegenwart. Wir Freunde von Computer & Internet wissen es ja am besten: Die Technik ist wirklich eine unglaublich tolle Sache, der Haken daran ist nur, dass man sie wirklich unsagbar vermisst, wenn sie mal eine Macke haben sollte – Und die sind bei unserer lieben Elektronik leider früher oder später unausweichlich. Im nächsten Kapitel ist dieser  Moment auch für die Einwohner von Neo Tokyo-3 gekommen… Diese und noch viele andere Herausforderungen erwarten unsere (Anti-)Helden in Kapitel 2.20, wie schon vor Ewigkeiten angekündigt, mit dem Titel:  [Darkness in Paradise]



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