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Rattenprinzessin

Von der Suche nach schwarzen Beeren
von

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Fliehen

Einmal vom Bahnhof entfernt, lenkte Kostja seine Schritte zielstrebig in eine neue Richtung. Marc folgte ihm eine Weile, aber nach drei Querstraßen wurde es ihm über, sich keuchend um das Schritttempo seines unheimlichen Stadtführers zu bemühen, und er blieb stehen.

„Eh. Eh, Monsieur Giovanni!“, rief er seinem Begleiter nach, welcher erst dadurch ebenfalls inne hielt und sich nichtssagend nach ihm umsah. „Wo gehen wir überhaupt hin?“ Unter dem Blick seines Retters bemühte sich der Franzose unwillkürlich, seinen Atem zu kontrollieren, damit er nicht ganz so jämmerlich aussah, wie er sich fühlte.

„Hier um die Ecke gibt es eine Straße, die meistens ziemlich leer ist. Dort machen Taxifahrer gern inoffizielle Pausen, weil selten Fahrgäste vorbeikommen. Wollen Sie nach London rein, oder möchten Sie noch einige Stunden warten bis der nächste freie Wagen sich hierher verirrt?“ Kostjas Blick wirkte desinteressiert an der Antwort. Marc schoss ein unangenehmes, eiskaltes Gefühl durch alle Blutgefäße, und er hob alarmiert den Kopf um sich umzusehen. Hatten sie in den letzten paar Minuten überhaupt andere Menschen getroffen? Inzwischen hatte sich der blaue Abend in eine dunkle Nacht verwandelt, und die Sinne des Franzosen signalisierten ihm ängstlich bebend, dass außer ihnen beiden niemand zu sehen, zu hören oder sonstwie in der Nähe war. Die Wohnungen in dieser Gegend waren dunkel und die Häuser in denen sie lagen wirkten leicht verwahrlost, und die Straße, in die Kostja gerade hatte einbiegen wollen, schien ausschließlich von halbzerfallenen Ruinen gesäumt zu sein.
 

Wieviel bot sie ihm?
 

Marc wich einen Schritt zurück, Schweiß auf der Stirn und die Gedanken rasend.
 

War das, was er bei sich trug, mehr? Hatte dieser unheimliche Bastard das mitbekommen?!
 

Kostja runzelte mit gelinder Verwunderung die Stirn. „Was ist? Haben Sie was gegen Bequemlichkeit?“ Die Winkel seines geraden Mundes wanderten leicht nach oben. „Soll ich Ihnen einen neuen Güterzug suchen, hm?“, spöttelte er, doch dieses Mal peitschte Angst Marcs Gemüt zu sehr auf, als dass ihn das provozieren konnte. Dreh dich um und lauf!, dachte er, den Blick noch immer starr auf Kostja gerichtet, während ein Motorengeräusch in einiger Entfernung erklang.

Der Spott auf Kostjas Gesicht verwandelte sich in leichte Besorgnis. „Monsieur Chevallier? Was ist denn?“ Er begann, in einem leichten Bogen auf Marc zuzugehen, der wiederum bemüht war, auszuweichen. Vielleicht hatte er den Namen des Mädchens im Schlaf gemurmelt. Vielleicht hatte dieser italienische Hund das gehört und es ausgenutzt. Was nun?

Woher kommt dieses Motorengeräusch?

Ist das überall?

Das muss der Hall sein-

Lauf doch!

Marc brach aus dem Kreis aus, den er und Kostja zogen, und schnellte an der Straße vorbei, in die der Italiener zuvor hatte einbiegen wollen.
 

Zumindest war das der Plan.
 

Ein Hupen erklang und als Marc reflexhaft in dessen Richtung schaute, leckten Scheinwerferlichter ihm die Augen blind. Mit einem wütenden Laut stolperte er von dem Licht weg und fiel hin, nur um kurz vor sich Bremsen quietschen zu hören. Die Lichter blendeten etwas ab, und er hörte eine Fahrertür klappen.

„Signor! Alles in-e Ordnung-e?!“

Noch ein Italiener?!

Mit einem Fluch ballte Marc eine Hand zur Faust, um den vermutlichen Komplizen Kostjas mit einem kräftigen Schlag zu begrüßen. Allerdings fiel sein Blick auf das Auto, bevor er das tun konnte. Es stand genau im Licht der nächsten Straßenlaterne – und war eindeutig ein typisch britisches Taxi, noch dazu mit einem auf unschuldige Weise sehr normalen Kennzeichen.

„Signor? Sprecken-e Sie Englisch?“, bemühte sich der Fahrer vorsichtig, während er dazu ansetzte, sich zu Marc zu knien – wich dann aber, sich die Hand vor dem Mund schlagend, vor dem zarten Odeur der Obdachlosen zurück, das deren Fesseln an Marc hinterlassen hatten. „Mmpf...“, gab er von sich, als sich auch schon eine Hand schwer auf seine Schulter legte, deren Griff ihn erstarren ließ – eine Zweite schob sich über seinen sowieso schon zugehaltenen Mund. Marc konnte dem armen Mann, einem wohl Mittdreißiger mit ähnlich südländischem Aussehen wie Kostja, im abgeschwächten Licht der Scheinwerfer ansehen, wie jegliche Farbe aus seinen Zügen wich. Dabei hatte er so ein freundliches, ehrliches, ängstliches Gesicht... wie jemand, den das Schicksal gern nach Lust und Laune zwischen den kreativsten Formen von Scheiße umherflipperte, nur um ihm danach einige wirklich schlimme Dinge anzutun. Wie jemand, der im Film Noir ermordet wurde, damit man den Mörder wirklich nicht leiden konnte.

Marc schnellte in die Höhe und hob die Fäuste, bereit den Mann im Schatten hinter dem Taxifahrer anzugreifen – und hielt dann bei der Frage inne, womit er ihn angreifen konnte.
 

„Hallo Sanchez.“, raunte Kostjas Stimme aus den Schatten, ehe Marc eine Antwort darauf gefunden hatte. Die Augen des Fahrers weiteten sich ungläubig. „Mpeppinm?“, fragte er hinter seinem Knebel. „Ganz genau.“, bestätigte Kostja. „Mein französischer Freund und ich hier, wir benötigen ein Taxi. Du kannst uns da doch sicher weiterhelfen, hm?“
 

~~~
 

Jonathan wusste, dass ihm die Nacht nicht gefallen würde, als er das Zimmer betrat. Das lag daran, dass die junge Frau, die zu wecken seine Aufgabe war, gleichzeitig leise sprach und die Augen geschlossen hatte. In solchen Fällen träumte sie meist, und zwar heftig und schön, wie schon zuvor des Öfteren – und das Erwachen in eine Welt hinein, in der der Hauptgegenstand ihrer Träume zerbrochen war, hatte niemals sehr positive Auswirkungen auf sie.

Mit einem Räuspern machte sich der Butler irgendeinem Unsichtbaren bemerkbar, denn die Frau wachte davon nicht auf. Der Unsichtbare blieb allerdings stumm.

„Manuk...“, äußerte Jonathan in den Raum hinein. „Im Namen der hier wohnenden Lady möchte ich Sie ersuchen, dieses Zimmer zu verlassen.“

Der Unsichtbare gab ein leises „Tsk!“ von sich, das zugleich überall im Raum und dicht an Jonathans Ohr zu hängen schien. „Ich habe die Aufgabe, diese Lady zu beaufsichtigen. Schon vergessen?“, raunte es dem Butler ins Ohr, der keine Miene dabei verzog, sondern weiter in den Raum hinein trat, näher an das Bett heran. „Das mag durchaus sein, Sir. Allerdings gilt diese Aufgabe streng genommen nur für den Fall, dass sie den Raum verlässt. Ich bin aber gern bereit, diese Angelegenheit Lady de Lune persönlich vorzutragen, falls Sie-“ „Schon gut. Ich verschwinde schon.“, murrte der Unsichtbare, und Jonathan spürte plötzlich eine Art Schlag in den Rücken, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. „Viel Spaß dann beim Wecken!“, höhnte Manuk von irgendwoher, und die Tür schlug zu.

Auf eine nur ihm eigene, höfliche Weise verärgert, klaubte Jonathan zuerst das Tablett samt Inhalt wieder auf, das neben ihm aufs Bett gefallen war, weil er es in der Hand gehalten hatte. Dann erst hielt er inne, als er der Stille um ihn her gewahr wurde. Er wandte sein Gesicht in Richtung des Blickes, der plötzlich auf seiner Haut zu prickeln schien.
 

Ihre Augen waren groß und dunkel. Meist blickten sie wie die eines kleinen Tieres: Aufmerksam und wach, aber auch etwas einfältig und naiv. Nun aber wichen Schlieren der Verwirrung in ihrem Blick vor einem Ausdruck zur Seite, den er beinahe fürchtete.

„Lady Madeleine, ich-“ „Jonathan?“, unterbrach sie ihn sanft, ehe sie sie blinzelte und sich umsah. „Wo ist Nan-?“ Beim Anblick des Zimmers zerriss die Verwirrung abrupt und sie wachte endgültig auf. Einen Moment schien sie einzufrieren, den Kopf zur Seite gewandt, durchfahren von einer Erkenntnis, die ihr jedes Mal aufs Neue für einen Moment die Fassung völlig raubte. Jonathan setzte dazu an, den Moment zur Flucht zu nutzen, indem er sich schnappte, was auf dem Tablett gelegen hatte, und versuchte, sich zurückzuziehen, doch da hatten sich schon schmale Arme um seinen Nacken gelegt, und vor seinem Gesicht schwebte das mit den großen, dunklen Tieraugen.

„Wo willst du denn hin, Jonathan?“, fuhr es zwischen ihren Lippen hervor wie Wind durch Vorhänge wehte. Wo eben noch Entsetzen geprangt hatte, breitete sich nun ein süßes Lächeln auf schmalen Lippen aus, und der dunkle Blick tat alles, um sich tief in Jonathans Psyche zu bohren.

„Willst du mir nicht... beim Aufwachen behilflich sein?“ „Ich könnte Ihnen Kaffee bringen, Mylady.“, bot der Butler mit ruhiger Stimme an, obwohl er sehr gut verstand, was sie meinte. Sie absichtlich falsch zu interpretieren und ihr auszuweichen, bis diese Phase vorbei war, hatte sich bisher immer als recht effektiv bewiesen. Sie lachte leicht und lehnte ihre Stirn gegen die seine. „Du weißt, was ich meine, Jonathan. Komm... ich bin durstig, tränke mich.“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser, und mit sich schließenden Augen brachte sie ihre Lippen näher an die seinen heran, um ihn zu küssen.
 

Er schob den Hals der Weinflasche gerade vor seine untere Gesichtshälfte, als ihre Lippen die Zwei-Zentimeter-Distanz unterschreiten wollten. Überrascht öffnete sie die Augen und starrte auf das grüne Glas, das sie gerade geküsst hatte. Wieder reagierte Jonathan schnell und gelassen.

„Dies kam mir bereits in den Sinn, Mylady. Darum habe ich Ihnen direkt eine Kleinigkeit mitgebracht. Da Lady de Lune heute mit Jeffrey als Chauffeur außhäusig einigen Verpflichtungen nachgeht, stehe ich Ihnen nach dem Umkleiden auch gerne zur Verfügung, um Sie zu einem Dinner auswärts zu chauffieren.“ Sie hob den Blick wieder zu ihm an, das Gesicht völlig blank, aber den Mund öffnend. Zwar fuhr er ihr nicht über den Mund, aber er kam ihrem nächsten Argument zuvor. „Bei jener Gelegenheit wird sich auch sicher eine geeignete Begleitung für den restlichen Abend finden, der Ihre sonstigen Bedürfnisse hinreichend deckt – besser als meine Wenigkeit es vermutlich vermögen würde.“, fügte er eifrig hinzu, ihr sichtlich den Wind aus den Segeln nehmend. Ihr Blick, nun stärker von Hilflosigkeit geprägt, als ihr auf diese Weise die Kontrolle entglitt, suchte Halt im Zimmer, während sie wieder Luft zum Sprechen holte. Doch Madeleines Butler war wieder schneller als sie. „Mylady, mir ist bewusst, dass ich eine mir von meinem bisherigen Herren hinterlassen Fürsorgepflicht für Sie zu erfüllen habe, und ich bitte Sie mir zu glauben, dass ich diese sehr ernst nehme. Aber ich könnte, mit Verlaub, Ihr Vater sein – während Sie in gewissen Etablissements mit Sicherheit jemanden finden, der Ihre Altersklasse sowie Ihre Interessen stärker teilt - , die Etikette verbietet uns jegliche Interaktion dieser Art und fürderhin übersteigt es in Anbetracht Ihrer Beziehung zu einander meine Vorstellung, dass Duke Côques Selbige bereitwillig mit veranlasste, als er mir den Auftrag überreichte, mich um Sie zu kümmern.“
 

Kleinlaut sank Madeleine etwas von ihm zurück, während er sprach. In ihren Augen konnte er sehr deutlich sehen, wie verletzt sie sich von seiner Abweisung fühlte. Aber zum Einen wusste er, dass dies nicht an ihm, sondern an der Abweisung lag, und zum Anderen empfand er, obwohl sie sich nach Kräften darum bemühte – sie hatte sogar ihre kunstvollste Art angewandt, die Bettdecke Appetit anregend weit und doch geheimnisvoll subtil herunter gleiten zu lassen – in etwa das für sie, was ein gestandener Mann für ein kleines Mädchen fühlte. Nicht gerade passend für einen Liebhaber. Da brach er lieber seine Gewohnheit, nur aufgefordert und wenig zu sprechen, und diente den Rest des Abends als Auffangbecken für ihre schlechte Laune, bis sie etwas Anderes zum Abreagieren gefunden hatte.

Innerlich atmete er erleichtert auf, als sie endgültig von ihm abließ. Ihre schmalen Hände schwebten trotzdem noch ein wenig in der Luft, aufgehalten als hoffte sie, darin Wasser aufzufangen. Er legte ihr die Flasche hinein, richtete sich wieder gerade auf und rückte seine Kleidung wieder zurecht, ehe er einen mitgebrachten Korkenzieher auf die Flasche anwandte und einen Teil deren Inhalts in ein Glas füllte, das er dafür ebenfalls vom Bett aufsammeln musste..

Sie ließ es still geschehen und starrte eine Weile in die rote Flüssigkeit, ehe sie zu ihm aufblickte.

„Nimmst du mich aber wenigstens in den Arm?“, flüsterte sie leise. Der Butler unterdrückte jede Regung, die ihm spontan ins Gesicht zu treten drohte, und setzte sich schräg hinter sie, wohlwissend, dass eine Verweigerung dieser Bitte gewöhnlich nur Konsequenzen hervorrief, die Madeleine gefährdeten. An dem Glas nippend wie ein kleines Mädchen kuschelte sie sich mit geschlossenen Augen an ihn und legte seinen rechten Arm um sich. Während er stoisch auf ihren blassblonden Schopf herab schaute fragte er sich unwillkürlich, ob diese Geste ihm ebenso sehr galt wie der Verführungsversuch zuvor – oder, mit anderen Worten: Ebenso wenig.



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