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Rattenprinzessin

Von der Suche nach schwarzen Beeren
von

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Karten spielen

„'Kostja' Peppino Saccharja Giovanni, Sehr erfreut.“, meinte der Mann ohne die Spur eines Lächelns und knotete dann Marcs Fesseln auf. „Yuk... Disgustoso...!“, murmelte er in Anbetracht der schmierigen Stoffstücke. Marcs Gehirn bemühte sich, seine faszinierte Paralyse abzuschütteln. Aber erst einige Sekunden später hörte es auf, sich gegen die Erkenntnis zu weigern, dass der Südländer ihn gerade mit seinem Namen angesprochen und dann auf Französisch begrüßt hatte.
 

„W-wo-... Wa-a-?“, stotterte er mühsam.

„Ich schlage vor, Sie nehmen direkt eine ordentliche Dusche, sobald wir in London sind.“, fuhr der Fremde bestimmt, aber freundlich fort und warf die Fetzen weg, ehe er ein Taschentuch aus seinem Mantel zog und sich damit die Finger etwas abwischte. Marc blinzelte ihn noch immer starr an, was Kostja dazu bewog, die Augenbrauen fragend zu heben.

„Was?“, fragte er. Noch immer sprach er Französisch, und das so gut wie akzentfrei.

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, wanden sich die Worte endlich aus Marcs Kehle frei. „Und was ist mit den Obdachlosen passiert? Haben Sie sie getötet? Warum sind Sie eigentlich nicht tot? Was ist mit Ihrem-“ „Ehi!“, unterbrach ihn Kostja. „Genug Fragen auf einmal! Und ich hatte schon gehofft, Sie wären jemand der schweigsamen Sorte.“ Den letzten Teil in sich hinein grummelnd, ließ er sich in den Schneidersitz sinken und angelte mit spitzen Fingern (offenbar fühlte er immer noch den Schmutz der Stofffetzen daran kleben) eine leicht zerknüllte Packung Zigaretten aus seiner Brusttasche. „Ich beantworte Ihnen was ich kann. Der Rest geht Sie nichts an.“ Marcs Blick senkte sich fast schuldbewusst auf den Bauch des Südländers, der noch immer vom Stoff des Mantels verdeckt wurde. „Gut.“, er streckte seine Hände abwechselnd aus und ballte sie zu Fäusten, um sie von ihrer Fesselverkrampfung zu erlösen, und kurz setzte er dazu an, sich die lädierten Handgelenke zu reiben – ließ es dann aber bleiben, denn auch er meinte den schmierigen Dreck auf den Gelenken regelrecht zu spüren. Als er Kostja wieder ins Gesicht sah, zündete dieser sich gerade eine Zigarette an. „Kann ich wenigstens auch eine bekommen?“, meinte Marc. Der Südländer bohrte ihm seinen dunklen Blick in die Augen. „Solange man seine Lunge noch zum Atmen benutzt, hat Rauch darin nichts verloren.“, brummte er und stand auf, Marc keine Zeit für eine Antwort lassend.
 

„Also, Ihre Fragen... Ich werde dafür entlohnt, Sie gesund in London abzuliefern. Natürlich wurde mir dafür auch Ihr Name genannt. Und die Obdachlosen habe ich durch die Luke geworfen. Keine Sorge, so wie ich die Sache angepackt habe dürften sie mit ein paar gebrochenen Knochen davon kommen.Und da“, er war zur Einladeöffnung spaziert und hatte sich dagegengelehnt, nun lächelte er den Franzosen düster an. „beginnt auch schon der Teil, der Sie nichts angeht.“ Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in den sich verdunkelnden Himmel hinaus.

Marcs Gedanken tanzten in schnellen Wirbeln durch seinen Kopf.

„Aber... woher wussten Sie, dass ich diesen Wagon nehmen würde?“, fragte er, von etlichen Erkenntnissen wie vom Schlag getroffen. „Sie können nicht nach mir eingestiegen sein, ich weiß, dass kein Container mehr danach hierher verladen wurde! Nur die beiden Obdachlosen kamen noch nach, sonst betrat niemand mehr den Wagon vor der Fahrt, es wäre mir aufgefallen! Und wer hat Sie engagiert?“ Wie von selbst waren seine Hände an seinen Kopf gewandert, und seine Finger gruben sich durch sein dunkelblondes Haar, als suchten sie darin die Antworten auf diese Fragen.

Kostja seufzte, was eine Rauchwolke zwischen seinen Lippen hervorströmen ließ. „Von meinem Auftraggeber habe ich nur die Anzahlung und die Initialen. 'M.H.'“, antwortete er. „Und M.H. hat auch die Anweisung hinterlegt, in diesen Container zu steigen und mich in diesen Wagon verladen zu lassen. Vermutlich wurde dafür, dass wir beide in den selben Wagon geraten... Sorge getragen.“ Er hatte den dunkeläugigen Blick nach draußen gewandt und schaute dabei zu, wie sein Zigarettenrauch vom Fahrtwind brutal aus der Luke gerissen wurde. „Bewusst werden Sie sich sicher nicht erinnern können, aber irgendjemand wird Ihnen wohl einen Tipp gegeben haben.“
 

Das Gesicht des jungen Mannes tauchte wieder vor Marcs innerem Auge auf, und er runzelte die Stirn. „Mein Traum...“ Der Südländer schaute zu ihm hinüber.

„Da haben wir es wohl?“, fragte er nach. „Eine unbewusste Erinnerung vielleicht?“

„Nein.“, widersprach Marc und schüttelte den Kopf. „Vielleicht gute Intuition oder was weiß ich. Aber auf jeden Fall ein Traum. Die Szene spielte sich in einem Hostel ab, aber da war ich zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht.“ Seine Stimme klang fest vor Überzeugung. Obwohl dieser Traum so realistisch gewirkt hatte – nun, im Nachhinein, kam er ihm unsinniger als jeder vorherige vor.

Kostja runzelte leicht die Stirn, hob dann aber eine Augenbraue wie ein Detektiv, dem gerade eine Reserve-Theorie über den Hergang der Tat in den Sinn kam. „Wo waren Sie denn dann?“, fragte er fast sanft.

„Auf einem Flughafen.“, erwiderte Marc sicher. Ihm wurde Kostjas Blick unangenehm – er fühlte sich ein wenig wie ein Kind, das gerade wegen seines Glaubens an den Weihnachtsmann belächelt wurde.

„So. Warum?“

„Ich musste eine Freundin verabschieden.“ Der Franzose kehrte mühsam die Erinnerungsfetzen zusammen und sprach dann erst weiter. Die Ereignisse im Zug hatten mit ihrem Schrecken das Gestern vollkommen in den Hintergrund rücken lassen. „Sie wollte nicht richtig gehen... ich musste sie überreden.“

Kostja zog so tief an der Zigarette, dass sie die letzten paar Millimeter bis zum Filter auf einmal zu verglühen schien.

„Da bin ich aber mal neugierig, wie Sie sie überredet haben.“, meinte er in einem Tonfall, der eher dezent gleichgültig klang. Wieder wallte leichte Abneigung in Marc auf – er fühlte sich wütend und unangemessen klein in der Nähe des merkwürdigen Südländers. Aber gerade das hetzte ihn genügend auf, um diesem zu antworten.

„Vielleicht klang es ein wenig pathetisch...“, brummte er, „aber ich meinte zu ihr, sie werde es irgendwann bereuen, wenn sie nicht ginge.Vielleicht nicht gestern, vielleicht nicht heute, aber bald und dann für den Rest ihr-“ Er wurde abrupt davon unterbrochen, dass Kostja den Kopf in den Nacken geworfen und begonnen hatte, laut und herzlich zu lachen. Derart laut und herzlich, dass es Marc schon an und für sich tiefe Angst einflößte, stand es doch in heftigem Kontrast zu der bisherigen Kühle des Südländers.

„Was?“, fragte er, erschrocken und wütend. „Was ist denn so lustig daran?!“ Doch der Fremde schüttelte nur lachend den Kopf und schnippte den glühenden Zigarettenstummel aus der Luke.

„Nichts.“, meinte er. „Es passt vermutlich gut zu Ihnen, so etwas zu sagen, sonst hätten Sie es nicht getan.“ Er stellte das laute Lachen zugunsten eines leiseren Schmunzelns ein, bevor er etwas aus dem Container angelte und wieder zu Marc trat.

„Was halten Sie von einer Runde Scopa, bis wir ankommen?“, meinte er, seinem Schützling einen Stapel leicht vergilbter Karten hinhaltend, deren Bilder sich sehr deutlich von denen der französischen unterschieden. „Das Spiel kenne ich nicht.“, erwiderte Marc missmutig. „Dann bringe ich es Ihnen eben bei. Zuerst sollte man die Zahlenwerte der verschiedenen Karten wissen...“, begann Kostja zu erklären und setzte sich zu ihm.
 

So wenig Marc seinen neuen Begleiter auch leiden mochte – dem Fremden haftete einfach eine unerträgliche, kühle Aura der Erfahrung und Kompetenz an, die dem Franzosen selbst das stete Gefühl gab, unzulänglich zu sein – Kostja schaffte es, das Raubopfer mithilfe von Scopa und dem vorhergehenden Gespräch von seinem Schrecken über den Raub zu befreien. Genauso wie von vielen kleineren Fragen, die Marc noch kurz zuvor auf der Zunge gebrannt hatten. Dafür lag eine tiefer in ihm, die freudig im heimlichen Wissen um ihre Antwort glühte. M.H. Natürlich – der Auftraggeber musste Mad Hatter sein! Offensichtlich führte der Weg zu ihr tatsächlich in die Großstadt hinein... Die Erwartung, sie bald wiederzusehen, ließ Marcs Gedanken immer wieder in die Ferne driften. Gern hätte er die Herzdame des Kartenspiels angeschaut, um sich das spinnwebbehangene Mädchen an ihre Stelle zu denken, aber das neapolitanische Blatt des mutmaßlichen Italieners besaß nur männliche Figurenkarten, und die vier „Farben“ - Schwerter, Keulen, Krüge und Münzen – ließen auch nicht gerade Romantik aufkommen.
 

Wie veranschlagt dauerte es nicht mehr allzu lange, bis der Zug in London am Bahnhof eintraf. Erst verursachte das leise Panik bei Marc, welcher nun entdeckt zu werden fürchtete und eigentlich erwartet hatte, vorher abzuspringen. Doch Kostja beruhigte ihn mit einigen beiläufigen Gesten und machte noch schnell einen Zug, der ihn über die zum Siegen benötigte Elf-Punkte-Grenze katapultierte und somit gewinnen ließ, bevor er Marc bat, still zu sein, und die Karten seelenruhig einsammelte und sortierte.

Die für das Ent- und Beladen zuständigen Arbeiter betraten den Wagon nach und nach, aber sie schienen die beiden Männer überhaupt nicht zu bemerken. Stattdessen tatschten sie in der Luft herum wie Pantomimen, die weitere Container darzustellen hofften, und beschwerten sich brummelnd über zuviel Arbeit, während Marc und Kostja hinter ihnen völlig unbemerkt den Wagon verließen. Erst als Kostja sich ein Stück von der Luke entfernte, hörte Marc überraschte Laute aus dem Wagon, und einige Satzfetzen der Kategorie: „Ja bin ich denn...? Ich war mir vollkommen sicher-“ in plattestem Englisch. Langsam war ihm sein Begleiter nicht mehr nur unangenehm, sondern geradezu unheimlich, und er hoffte inständig, Kostjas Auftrag würde bald abgeschlossen sein. Ja, der Italiener hatte ihn beschützt, und nicht einmal etwas von dem fast geraubten Geld eingestrichen – sogar die Kreditkarte lag wieder wohlbehalten in Marcs Portemonnaie – aber der Gedanke, dass dieser scheinbar unantastbare Mensch sich plötzlich gegen ihn wenden könnte, war für Marc ein Quell unerträglich tief reichenden Misstrauens, und nur leichte Wut als Oberfläche konnte es verbergen.



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