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Vom Schreiben und Träumen

Eine Sammlung von Kurzgeschichten
von

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Ich bin zu Hause

I'm seeing so much clearer

Looking through your eyes

I could never find a safer place

Even if I tried
 

Das laute, quietschende Geräusch von befahrenen Schienen dringt vom gekippten Fenster hinein in meine Ohren. Das Rattern des Zuges auf den Gleisen ist beinahe genauso unrhythmisch wie das Pochen meines Herzens. Immer wieder höre ich es ungeduldig gegen meine Brust schlagen, als hielte es einen Hammer in Händen und drösche ununterbrochen wie ein Feind auf mich ein, und es wird und wird nicht besser. Mit zusammengepressten Beinen sitze ich in der zweiten Klasse, spiele nervös mit meinen leicht verschwitzten Fingern und werfe ab und zu einen Blick nach draußen. Hinter der hässlich zerkratzten Glasscheibe, in welche anstößige Beschimpfungen eingeritzt worden sind, erstreckt sich eine graue, eintönige Ende Herbst-Landschaft, die den Beginn des bevorstehenden kalten Winters ankündigt. Ein tobender Wind poltert durch die blätterarmen Äste und lässt sie heulen wie ein kleiner, nach seiner Mutter schreiender Säugling. Brutal peitscht er die Regentropfen gegen die Fensterscheibe, an der sie sich wie eine dünne Linie entlang ziehen und das kühle Glas benetzen. Zugleich höre ich, dass die Tropfen wie kleine Wurfgeschosse auf das Dach des Zuges einschlagen, und bei jedem Aufprall hallt ein dumpfes Plätschern durch den Wagon.
 

Ich hasse solches Wetter. Ich hasse den Regen. Und ich hasse es, wenn der Winter vor der Tür steht. Doch noch viel mehr hasse ich, dass ich hier in diesem Zug sitze, beinahe alleine, mir vielleicht mit noch drei, vier weiteren Fahrgästen den großen Wagon teile, und die Zeit einfach nicht vergehen will. Ständig werfe ich einen Blick auf meine silberne Armbanduhr, die er mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hat, und stelle immer wieder aufs Neue fest, dass die Zeiger mir einen Streich spielen wollen - nur eine einzige, winzige, unbedeutende Minute ist vergangen. Doch ich weiß, es wird noch über eine Stunde dauern, bis der Zug an der Station, an der ich aussteigen muss, hält - ich werde noch verrückt vor lauter Warten!
 

Fünf Minuten sind vergangen. Unbedeutend.

Ich mag es nicht mehr, hier auf heißen Kohlen zu sitzen und diesem miesen Wetter meine Aufmerksamkeit zu schenken - es gibt so viel Wichtigeres!

Ungeduldig schlurfe ich mit den Fußzehen in meinen weißen Turnschuhen herum und verhake die mittlerweile schweißgebadeten Finger miteinander. Noch immer macht mein Herz keine Anstalten, endlich Ruhe zu geben und seinen lästigen Hammer einzupacken, mit dem es mich bald noch in den Wahnsinn treibt.

Und gleichzeitig fühle ich mich schrecklich einsam. Als wäre ich hier alleine mit den Fahrgästen, die mir fremd sind, in diesem Wagon gefangen, und die Aussicht auf Flucht erscheint hoffnungslos, was mir ein weiterer Blick auf die nicht vorankommenden Uhrzeiger nur bestätigt.
 

Zehn weitere Minuten sind vergangen. Nicht nennenswert.

Um das laute Plätschern auf dem Dach und das noch viel lautere, nervenraubende Pochen meines Herzens zu übertönen, packe ich meinen mp3-Player aus meiner Handtasche und stecke mir ungeschickt die Hörer in die Ohren. Ich schalte ihn an und suche verzweifelt nach irgendeinem hörenswerten Lied, doch ich finde keines. Immer wieder drücke ich mit zittrigem Zeigefinger weiter, weiter und weiter, und die Liedtitel sausen wie zusammenhanglose Buchstaben an meinem Augenpaar vorbei, wirken wie unlesbare Hieroglyphen, die in meinem chaotischen Kopf einfach keinen Sinn ergeben wollen. Schließlich gebe ich die Suche auf und drücke wahllos auf Play, in der Hoffnung, bei der riesigen Auswahl einen Glückstreffer gelandet zu haben.

>I've decided now on every thing for everyone…<, dröhnt es mir durch die Gehörgänge, und mit einem Mal bemerke ich, dass Musik gerade überhaupt keine gute Lösung für mein Problem ist. >...well the nails that slide...< Außerdem habe ich dieses Lied noch nie wirklich leiden können... >…I am left alone and still remains the bitter taste of you…<

Einmal tief durchatmend, mache ich das Gerät wieder aus, ziehe mir ein wenig grob die Kopfhörer aus den Ohren und verstaue den mp3-Player wieder in meiner Tasche.

Zwecklos. Nicht einmal mit Musik lässt sich die Zeit totschlagen. Ich möchte endlich raus hier! Raus aus dieser gottverdammten Einsamkeit!
 

Dreißig weitere Minuten sind vergangen - ich kann es kaum fassen.

Obwohl das Wetter mich nicht interessiert, schaue ich resigniert aus dem Fenster. Der Wind ist stärker geworden, vom Regen ganz zu schweigen. Hoffentlich hat er einen Regenschirm mitgenommen. Hoffentlich friert er nicht. Hoffentlich holt er sich keine Erkältung. Und hoffentlich kommt der Zug endlich an meiner gewünschten Station an, damit er nicht mehr länger warten muss.

Ich konnte Warten noch nie ausstehen. Doch der heutige Tag macht mir klar, wie lästig es in Wirklichkeit sein kann. Im Wartezimmer des Zahnarztes darauf zu warten, bis man nach einstündigem Herumsitzen aufgerufen wird... und darauf zu warten, endlich wieder bei ihm sein zu können... Das ist gar kein Vergleich. Bitte, Zeit, vergeh‘ schneller und erlöse mich endlich!
 

Die letzten zwanzig qualvollen Minuten sind am Uhrzeiger vorbeigezogen - meine Nerven liegen blank...

Die Nervosität packt mich und lässt mich gedankenverloren an meinen Fingernägeln kauen. Meine Fußzehen schlurfen unermüdlich weiter auf der Schuhsohle herum, und das Pochen meines Herzens dröhnt schmerzend in meinem Trommelfell. Meine Augen sind starr aus dem regenbenetzten Fenster gerichtet. Wieder hält der Zug. ‚Hanauer Südbahnhof‘ lese ich auf der Anzeige. Wenige Fahrgäste, unter anderem auch zwei aus meinem Wagon, verlassen den Zug in die langersehnte Freiheit. Gleich bin auch ich dran. Nur noch eine Station... Nur noch eine...

Der Zug fährt noch, aber ich kann es nicht mehr länger ertragen. Ich erhebe mich vom Sitzplatz und bemerke dabei unwillkürlich, dass sich meine Beine wie Wackelpudding anfühlen, auf dem ich stehe und zusammenzubrechen drohe. Doch dies geschieht nicht; ich bleibe aufrecht stehen und greife mit unsicheren Händen nach meinem Koffer, der sich über meinem Haupt auf einer Gepäckablade befindet. Vorsichtig befördere ich ihn zu mir nach unten und schwinge daraufhin eilig meine Handtasche um den Arm. Alles zittert in mir. Meine Finger, meine Knie, meine Füße... Ja, sogar das Blut in meinen Adern.

Eine Ansage ertönt:

‚Nächste Station: Hanauer Hauptbahnhof. Bitte steigen Sie aus - der Zug endet hier.‘

Die Worte ‚Hanauer Hauptbahnhof‘ treffen mich wie ein gleißender Blitz und bahnen sich zuckend einen Weg durch meinen ganzen Körper. Als ich den Griff meines Koffers umfasse und mich zur Tür begebe, bemerke ich, wie schweißgetränkt meine Handfläche ist. Schnell wische ich die unangenehme Feuchte an meiner Jeanshose ab und warte ungeduldig auf das Anhalten des Zuges.

Die Schienen quietschen laut unter meinen Füßen. Der Zug nimmt an Geschwindigkeit ab; langsam tuckert er in die Station ein, auf die ich über eine Stunde lang habe warten müssen. Erwartungsvoll passieren meine Augen die Gesichter der Personen ab, die - sich mit Kapuzen oder Schirmen vor dem Unwetter schützend - draußen stehen und auf ihre Liebsten warten. Und eine dieser Personen, die ich noch immer nicht erspäht habe, wartet auf ihre Liebste. Auf mich.

Noch ein letztes lautes Quietschen verlässt die Gleise, und dann hält der Zug. Bei dem Bremsen wird mein Herz mit einem Mal schwer, unfassbar schwer... Wie ein riesiger Felsbrocken, der in meinem Brustkorb sitzt und schmerzend auf meine Lunge drückt. Ich atme schneller. Unregelmäßiger. Und dann öffnet sich die Tür, und sofort inhaliere ich den süßen Duft der Freiheit, der meine Atemwege... meinen gesamten Körper, ja, sogar meine Seele mit Leben erfüllt.

Ich setze einen Fuß nach draußen und spüre festen Boden unter mir - es fühlt sich unglaublich gut an. Dann huschen meine Blicke wie von selbst durch die kleine Menschenmenge, und als sich auf einmal eine große, mir allzu bekannte Hand in die Höhe hebt und darauf eine wohlklingende, männliche Stimme das Geschwätz aller anderen übertönt und meinen Namen ruft

(kein anderer spricht meinen Namen so aus wie er),

wird mein Herz auf einmal leicht wie eine Feder, als wäre der lastende Stein mit einem Mal von ihm herab gebröckelt. Wie von selbst zaubert sich ein Lächeln auf meine zuvor trockenen, verbitterten Lippen, und dass ich gerade mitten im Regen stehe und pitschnass werde, nehme ich nur halbherzig wahr. Sofort eile ich, meinen Koffer hinter mir herziehend, zu ihm, und ein herzliches Lächeln ziert sein blasses Antlitz. Seine nussbraunen Augen blitzen erwartend auf, und dann breitet er die Arme aus, der Schirm, den er schützend über sich gehalten hat, gleitet aus seiner Hand, und ich lasse mich einfach fallen. Fallen... Nicht in den Abgrund, sondern in seine Arme, die sich um meinen Körper schließen und feste an den seinen drücken.

Von Nervosität, zitternden Fingern und schweißnassen Handflächen ist nun keine Rede mehr. Ich fühle mich wohl und aufgehoben und sicher und geborgen. Ein Gefühl, nach dem mein Innerstes so sehnlichst geschrien und verlangt hat. Ein Gefühl, auf das ich vier unerträgliche Wochen habe warten müssen. Und ein Gefühl, das ich zum Glücklich sein brauche. Das Gefühl, das mich wissen lässt:

Ich bin zu Hause.

Und als hätte er meine Gedanken gelesen, bewegen sich seine Lippen und formen folgende Worte, die mich alles andere vergessen lassen:
 

„Willkommen zu Hause, Schatz.“
 

And I'm here to stay

Nothing can separate us

And I know, I'm ok

You cradle me gently

Wrapped in your arms....
 

I'm home
 

---
 

Schmiiierig kitschig. Es ist mir fast peinlich. xD

Die kursiven Einschübe sind Liedtextfetzen von Fireflights "Wrapped in your Arms".

Das Lied, das die Protagonistin im Zug hört, ist „The Cell“ von The Butterfly Effect.
 

Liebe Grüße,

Fujouri



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2009-09-05T14:53:32+00:00 05.09.2009 16:53
Dass deine Sätze handwerklich einwandfrei gestaltet sind, steht außer Frage. Vielleicht war es ein Fehler das Lied während des Lesens zu hören, denn irgendwie wollte der Text nicht dazu passen - was er ja auch nicht muss, davon mal abgesehen.
Für meinen Geschmack wirken die Sätze teilweise etwas steril; dass du in der Ich-Form schreibst, unterstreicht das Ganze irgendwie. Die Nervosität will einfach nicht zu mir überspringen.
Der Text ist fantastisch und gut geschrieben, das Gefühl, welches am Ende übermittelt werden sollte, kommt aber bei mir nicht an.
Da ich nicht weiß - noch nicht - wie und was du sonst schreibst, kann ich auch sonst nicht viel dazu sagen.
Bei diesem OS hätte ich weniger auf das "richtige" schreiben und die perfekte Ausdrucksweise geachtet, als auf das Widerspiegeln des Chaos, welches sie auf dieser Fahrt empfinden mag. Vor allem da es um das Thema Liebe geht.

>der Zug endet hier.
Das ist vielleicht kein Fehler, es ist nur das was ich denke. Es ist komisch. Ein Zug hat ein Ende und einen Anfang. Und das, was hier endet, ist die Fahrt. ^^

>Erwartungsvoll passieren meine Augen die Gesichter der Personen ab,...
Das ist eine Stelle, die mich stutzen ließ. Ich passiere etwas, gehe daran vorbei, wie auch immer. Aber Gesichter abpassieren finde ich nicht schön.

Viele Grüße,
Gaemon
Von:  Ditsch
2009-07-05T12:14:56+00:00 05.07.2009 14:14
Awww, wie süß >////<
Gefällt mir gut, und ich finde, das Thema hast du auf jeden Fall gut umgesetzt ^____^

Allerdings finde ich, dass die Geschichte sich ein bisschen hinzieht. Na klar, ihr ungeduldiges Warten muss irgendwie gezeigt werden, aber meiner Meinung nach hättest du das trotzdem etwas kürzer fassen sollen.

Dein Stil hat mir aber sehr gut gefallen: (fast) fehlerfrei und auch sehr realistisch und detailliert beschrieben.
Diese zwei Sachen fand ich ein wenig merkwürdig:
>>...spüre festen, steinigen Boden unter mir...<<
Ich finde das Wort "steinig" hier unpassend. Das lässt irgendwie an kleine Kieselsteine oder so denken, nicht an einen gepflasterten Bahnsteig. Außerdem hört es sich in meinen Ohren so an, als wäre sie barfuß, weil sie ja durch die Schuhe nicht so viel von dem Untergrund spürt, außer dass er eben fest ist.

Und das hier:
>>...eine wohlklingende, warme, aber männliche Stimme...<<
Ist "wohlklingend und warm" und "männlich" ein Widerspruch? =D Erscheint mir seltsam ^^"

Aber ne nette, kleine Geschichte ^___^

Ditsch


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