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Parasitäre Lebensform

Schuldig & Aya
von

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Inkubation

Jeder Mensch ist allein. Der Mensch ist eine Insel. So heißt es...

Insel. Ein viel zu idyllischer, positiver Begriff, um die Menschen zu beschreiben. Eine Insel, das assoziiert irgendwie Karibik, Ruhe, Erholung. Einsamkeit im positiven Sinne. Nicht die Einsamkeit, die einen erdrückt, einen langsam den Verstand verlieren lässt, einen in den Tod treibt.
 

Schwachsinn! Natürlich war er nicht allein. Nicht in dem Sinne, dass niemand da war. Es waren ständig Leute da. Die Welt wimmelte von ihnen. Und er war froh, wenn er vor ihnen Ruhe fand. Wenn er allein sein konnte. Einsam war er ohnehin.

Ob jemand sich in seiner Nähe befand und ihm auf die Nerven ging oder nicht. Das spielte keine Rolle.
 

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er in den Ort kam und von dem bizarren, fahlgelben Licht der Straßenlampen umgeben wurde.

Natrium. Die Farbe war so alltäglich und dennoch war es für ihn wohl die seltsamste Farbe der Welt. So unbeschreiblich hässlich. Abstoßend. Und dennoch irgendwie beruhigend. Alle Dinge nahmen durch dieses Licht völlig andere Farben an, als sie bei Tageslicht zeigten.

Menschliche Haut wirkte soviel blasser, fast tot. Die meisten kräftigen Töne wurden entstellt.

Zu schwachen Brauntönen. Aber sie wirkten niemals gesund, sondern nur verblasst, verfallen, siech.
 

Jetzt wurden die Lampen von flackernden Schleiern umgeben. Brach sich das kränkliche Licht in Tausenden von zitternden Tropfen, die vom schwarzen Himmel fielen. Die Außenwelt schien verschwommen durch die Frontscheibe.

Dann war der winzige Ort schon wieder vorbei. Alles war dunkel. Die Scheibenwischer nur huschende Schatten, die es nicht schafften, die Sicht wesentlich zu verbessern. Alles war trübe.
 

In unbewohnten Gegenden, im Dunkeln, wirkte Regen so normal. Aber dort, in diesem Licht, wirkte er falsch, unnatürlich, unerwünscht. Das Wasser, das vom Himmel stürzte, verwandelte die Straßen in flache Flüsse, verbannte die Menschen in ihre Häuser.

Nicht, dass sie diese sonst um diese Zeit verlassen hätten, aber allein die fehlende Möglichkeit hatte etwas beklemmendes. Als hätte die Natur ein wenig Macht zurückgewonnen. Oder niemals verloren. Wie eine Ahnung von kommendem Unheil.
 

Er seufzte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Was dachte er da nur? Warum...

Seine Gedanken wurden von einer Bewegung unterbrochen, die er in den Augenwinkeln wahrnahm. Ein Schatten, der sich in der Nähe der Straße bewegt hatte, eine menschliche Silhouette.
 

Der Gedanke an einen Menschen, bei diesem Wetter, um diese Uhrzeit unterwegs, war irreal, grotesk. Er suchte die Umgebung mit Blicken ab, sah aber nichts mehr.

Vielleicht hatte er nicht richtig gesehen. Ein Hirngespinst, mehr nicht. Sein Verstand war überspannt. Wie sollte es auch anders sein, wenn er ständig über so seltsames Zeug nachdachte. Außerdem war er müde. Es war nicht mehr weit bis nach hause.

Er lenkte seinen Wagen weiter aus dem Ort hinaus, über Felder, die jetzt düster dalagen.
 

Sein Haus stand etwas außerhalb, nur ein paar Minuten mit dem Auto, aber in dieser Gegend gab es keine Straßenbeleuchtung. Er bremste den Wagen ab und verließ die Straße, hielt vor dem kleinen Haus und stellte den Motor ab. Blieb noch einen Moment sitzen und starte auf die Regentropfen, die mit ungeminderter Stärke auf die Frontscheibe prasselten, dieses typische Geräusch von Regen verursachten. Ein angenehmes Geräusch. Wunderschön.
 

Vermutlich das einzig Gute an diesem Tag.

Es dauerte eine Weile, bis er sich entschloss, ins Haus zu gehen. Nicht, dass es eine Rolle spielte, aber schon wieder überfielen ihn diese trüben Gedanken. Vielleicht würde er sich drinnen irgendwie ablenken können.
 

Er stieg aus und schloss den Wagen ab. Nur aus Gewohnheit. Er glaubte nicht wirklich, dass bei diesem Wetter Autodiebe unterwegs waren.

Auf den zehn Metern bis zur Haustür wurde er völlig durchnässt. Es störte ihn nicht weiter. Er schloss in aller Seelenruhe auf und betrat das Haus.

Es war dunkel, aber er machte das Licht nicht an. Er kannte die Räume ohnehin auswendig, hatte keine Lust, sich blenden zu lassen. Die Düsternis war ihm angenehm.
 

Auch im Haus konnte man den Regen hören. Ein feines Rauschen, ein kratzendes Klopfen an den Scheiben. Dazu das leise Ticken der Uhr rechts von ihm.

Abgesehen von einem Wecker hatte er nur eine große Wanduhr im Wohnzimmer. Sie wollte nicht richtig zu den anderen Möbeln passen. Außerdem ging sie meist falsch. Sie war noch vollständig mechanisch und er vergaß ab und zu, sie aufzuziehen. Ohnehin war sie nicht sonderlich genau. Aber das störte ihn nicht. Wenn er die genaue Uhrzeit wissen wollte, konnte er auch auf seinen Computer sehen.

Er bewegte sich nahezu lautlos durch den Raum. Er hatte kein bestimmtes Ziel, wirkte aber trotzdem nicht unsicher.
 

Ein lauter Knall durchbrach plötzlich die Ruhe im Zimmer. Er zuckte heftig zusammen. Einen Augenblick lang schien sein Herzschlag auszusetzen. Auch das Ticken der Uhr und das Prasseln des Regens schienen für einen Moment unterbrochen worden zu sein. Innerhalb weniger Sekunden war er wieder bei der Eingangstür. Sah sich mit schnellen Bewegungen um. Die Tür war geschlossen. Wahrscheinlich hatte er sie offen gelassen und sie war zugefallen. Allerdings hatte er das Gefühl, nicht mehr allein hier zu sein.

Irgendjemand war da.
 

Eine Bewegung ließ ihn herumfahren, sich nochmals umsehen. Er starrte sein eigenes blasses Spiegelbild in der Fensterscheibe eine Zeitlang an, bevor er sich wieder beruhigt hatte.

Verwirrt schüttelte er den Kopf. Er war doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

Seltsam. Vermutlich sollte er wirklich besser schlafen gehen, bevor er noch völlig paranoid wurde.
 

Er wandte sich ab und wollte gerade gehen, als es an der Tür klopfte.
 

~*~
 

Was war nur mit der Welt los? Hatte sich jetzt alles gegen ihn verschworen? Von einem Tag auf den anderen, und zwar buchstäblich, war alles aus den Fugen geraten. Sein ganzes beschissenes Leben war an einem Punkt angelangt, an dem er nur noch Überdruss und puren Hass auf den Rest der Welt verspürte. Kein besonders angenehmes Gefühl, aber es hielt ihn immerhin aufrecht.
 

Nicht, dass er sich beschweren oder in Selbstmitleid versinken wollte. Sein Leben war auch vorher nicht gerade großartig gewesen, aber nun hatte es ganz klar den entgültigen Tiefpunkt erreicht.
 

Natürlich ließen sich seine Depressionen vor allem auf den Umstand zurückführen, dass er klitschnass war, erbärmlich fror und vermutlich wie ein Schwein blutete. Das war in Regen und Dunkelheit allerdings nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen. Dafür sprachen allerdings die äußerst lebhafte Erinnerung an zwei auf ihn zufliegende 9-MM-Geschosse und die Schmerzen.
 

Eine Weile lenkte er sich damit ab, seine Wunden genauer zu definieren. Bei der ersten Kugel hatte er ziemliches Glück gehabt. Durch eine wohl äußerst geschickte Drehung seines Körpers war sie an einer Rippe abgelenkt worden oder zumindest hatte es sich so angefühlt. Die andere allerdings steckte noch immer in seiner Schulter und gab sich bei jeder noch so kleinsten Bewegung die größte Mühe, seinem Schlüsselbein Guten Tag zu sagen.
 

Unter Einwirkung von einem interessanten Gemisch aus Adrenalin und eher zufälligerweise schon vorsorglich eingenommener anderer Substanzen hatte er es immerhin noch bis aus seiner Wohnung und in sein Auto geschafft.
 

Die Fahrt zum nächsten Krankenhaus hatte er dann allerdings in Anbetracht der Besucher' verworfen. Unterwegs zu einer Klinik etwas weiter außerhalb der Stadt hatte jedoch der Drogencocktail seine Wirkung verloren und was sich bisher nur als schwaches Ziepen und unangenehmer Druck bemerkbar gemacht hatte, war langsam aber sicher unerträglich geworden.
 

Nach einer knappen Stunde Fahrt, war er dann im Straßengraben wieder zu sich gekommen und konnte wahrscheinlich froh sein, dass er überhaupt noch mal aufgewacht war. Aber undankbar, wie der Mensch an sich und er im besonderen nun einmal war, hatte er sich keineswegs darüber gefreut. Es war aber auch wirklich ein wenig zuviel verlangt, wenn man sich darüber freuen sollte, mitten im Nirgendwo mit einer verreckten Karre und in einem mehr als angeschlagenen Zustand im strömenden Regen aufzuwachen und langsam zu verbluten.
 

Er hatte dann aber festgestellt, dass er noch halbwegs laufen konnte und, dass durch die Regenschleier ab und zu der Umriss eines Hauses zu erahnen war, also hielt er darauf zu. Mit letzter Kraft, hätte er fast gedacht, aber so eine grässlich klischeehafte Redewendung wollte er nicht mal denken.
 

Dann schon lieber, dass sich Gott oder die Götter oder seinetwegen auch Fortuna, die Schlampe, anscheinend fest vorgenommen hatten, Schuldig heute noch unter die Erde zu bringen oder zumindest auf den besten Weg dahin.
 

Der würde er aber einen Strich durch die Rechnung machen. Nicht so sehr, weil er in seinem Dasein nichts geschafft hatte, worauf er stolz war, das war eher so eine nebensächliche Tatsache, sondern eher, weil er verdammt stur war. Und nachtragend.

Er wollte es diesen anscheinend lebensmüden Spinnern heimzahlen, dass sie seine Wohnung zerstört und seinen anbetungswürdigen Körper derart demoliert hatten. Das durfte nur er selbst.
 

Die würden noch ihr blaues Wunder erleben, wenn er wieder auf der Höhe war. Niemand tat so etwas ungestraft. Er würde sie langsam und qualvoll zugrunde gehen lassen. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren oder was sie von ihm wollten, aber sie hatten sich definitiv mit dem Falschen angelegt.
 

Wenn er nur endlich dieses verfluchte Haus erreichen würde! Er war inzwischen schon ziemlich nah, bewegte sich aber in einem Tempo fort, dass selbst eine Schnecke wohl nur belächelt hätte.
 

Plötzlich tauchten hinter ihm Scheinwerferlichter auf. Ein Auto näherte sich und er ging unwillkürlich so schnell er konnte weiter weg von der Straße, stolperte und fiel in den Gaben zwischen der Fahrbahn und dem angrenzenden Feld.

Durch den Regen hatte sich dort schon eine ganz ansehnliche Menge schlammigen Wassers gesammelt. Nicht, dass es einen großen Unterschied machte, nasser hatte er ohnehin nicht mehr werden können, aber es brachte ihn doch dazu einen Moment in den schwarzen Himmel zu sehen, aus dem unermüdlich dichter Regen fiel und zu überlegen, ob es sich denn lohnte, noch einmal aufzustehen.
 

In einem scheiß Straßengraben zu ersaufen war aber eine zu demütigende Art zu sterben. Das brachte ihn dann dazu, wieder aufzustehen, was mit ziemlichen Schmerzen verbunden war.

Allerdings waren sie nicht so stark wie erwartet, was vermutlich an der Kälte lag. Eine weder sonderlich beruhigende noch tröstende Überlegung.
 

Von dem Auto, das ihn so erschreckt hatte, sah er nichts mehr, also lief er elend langsam weiter auf das Haus zu, hoffend, dass dort jemand war, der ihm helfen konnte oder ihn zumindest in ein Krankenhaus bringen.
 

Nach einer ihm schier endlos scheinenden Zeit, erreichte er die Haustür und klopfte an.
 

~*~
 

Das Licht im Haus ging an und die Tür wurde von einem etwas gehetzt wirkenden jungen Mann mit nassem, roten Haar geöffnet. Er starrte erst ungehalten, dann maßlos erstaunt auf die Person vor der Tür.
 

Der starrte ebenso fassungslos zurück, während ihm das Regenwasser beständig von den langen, in trockenem Zustand orangeroten Strähnen lief.
 

Der Besitzer des Hauses fasste sich zuerst wieder, setzte einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck auf oder besser gesagt, erneuerte ihn wieder und ging in Verteidigungsstellung, während er sein Gegenüber nicht einen Moment aus den Augen ließ.

"Du!" Es klang halb wie ein Knurren, halb wie ein Vorwurf.
 

Schuldig brauchte etwas länger, um mit allen Konsequenzen zu erfassen, wer da vor ihm stand und warum, um alles in der Welt, von allen Menschen auf dieser gottverdammten Insel, er ausgerechnet auf diesen treffen musste. Irgendwer hatte da einen verflucht beschissenen Sinn für Humor. Das war ja wohl die blanke Ironie. Er atmete einmal tief durch, so gut das eben mit einer Kugel in der Schulter möglich war.
 

Okay, jetzt bloß keinen Fehler machen, keine schnelle Bewegung und nichts Falsches sagen, sonst wäre er schneller tot, als er "Katana" sagen konnte. Nichts gegen Aya, aber nach Schuldigs leicht subjektiv gefärbter Einschätzung, handelte es sich bei diesem um einen besessenen Irren.

Umgekehrt war das aber scheinbar genauso, wie er jetzt merkte. Ein kleiner Lichtblick, den er, wenn er geschickt vorging, für sich nutzen konnte.
 

Es kostete ihn wirklich Mühe, sein Grinsen aufzusetzen und er hoffte nur, dass man es ihm nicht anmerkte. "Ich darf doch reinkommen?", fragte er, während er eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten. Er musste einfach aus dem Regen raus. Und außerdem wäre der Andere wenn er im Haus zusammenbrach gezwungen, irgendetwas zu tun. Da war immerhin die, wenn auch geringe Chance, dass er ihm half. Wenn er vor der Haustür umkippte war es wohl wahrscheinlicher, dass er einfach draußen in der Sintflut liegengelassen wurde.
 

Aya war jetzt dazu übergegangen, ihn aus sicherer Entfernung von zwei Meter

Mindestabstand ausdruckslos zu mustern. Die langen Haare waren, wie auch der Rest des Körpers, klitschnass und verdreckt. Sie klebten ihm verfilzt und angeklatscht im Gesicht. Mit seiner Stirn musste er irgendwo gegen geschlagen sein, denn es zeichnete sich dort eine bläulich gefärbte Beule scharf gegen die unnatürlich blasse Haut ab.

Der Telepath trug nur ein dünnes, kurzärmliges Hemd und eine Hose, deren Farbe nicht mehr erkennbar waren und die ihm wie seine Haare an der Haut klebten.

Sein Atem ging flach und keuchend, er zitterte erbärmlich und wirkte im ganzen so mitgenommen, dass Aya sich wunderte, wie er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.
 

Schuldig folgte dessen Blick, der letztendlich an Schuldigs Schuhen hängen blieb und dem Rinnsal aus Schlamm, Blut und Regenwasser, dass sich von dort über den naturweißen Teppich ausbreitete und einen wachsenden Fleck hinterließ.
 

"Ähm... schöner Teppich...", murmelte Schuldig beinahe verlegen.

Aya sah ihm in die Augen und zog die Augenbrauen hoch. "Was tust du hier?"
 

Oh Mann, was hätte Schuldig jetzt für tolle Sprüche klopfen können! Nur leider war er dazu momentan nicht in der Verfassung. "Wie sieht's denn aus? Ich geb' meinem Blut mal Ausgang, weil es sich so langweilt."

Oh, ging ja doch. Kam sogar ziemlich überzeugend.

Schon erstaunlich.
 

Aya zuckte nur cool mit den Schultern. "Wenn das so ist... Aber nicht auf meinem Teppich. Raus hier!"
 

In diesem Augenblick aber war es mit Schuldig vorbei. Trotz seinem Vorsatz, eisern Haltung zu bewahren, knickten seine Beine unter ihm weg. Sein Kopf fühlte sich plötzlich gleichzeitig sehr schwer und seltsam leer an, er sah für ein paar Sekunden schwarze Karomuster vor seinen Augen tanzen, die sich immer mehr verdichteten, sein Gleichgewichtssinn setzte aus und er kippte um.
 

Aya stand einfach nur völlig überrumpelt daneben. Eine ganze Zeit lang tat er gar nichts, starrte auf den Bewusstlosen oder besser durch ihn hindurch. Dann seufzte er, ließ sich auf die einen Sessel in der Nähe fallen, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Augen und blickte dann wieder auf das schlammige Bündel Mensch zu seinen Füßen.
 

Er erinnerte ihn, so verwahrlost und halbtot, wie er da lag, stark an den angefahrenen Hund, den er als Kind mal aufgesammelt hatte. Er hatte sich rührend um das Tier gekümmert, nächtelang danebengesessen und um sein Leben gebangt. Als es aufwachte hatte das blöde Vieh ihn gebissen und war den Tag darauf auf nimmer Wiedersehen verschwunden. Soviel dazu.

Na gut, beißen würde Schuldig wohl nicht... Obwohl...
 

Aber seine Gedanken schweiften ab. Er sollte sich an die Tatsachen halten. Er musste eine Entscheidung treffen und zwar möglichst bevor sie ihm von höheren Mächten abgenommen wurde. Mal sehen, was hatte er denn für Optionen.
 

A: Schuldig helfen.

Contra: Ein bisher noch nicht abzusehender Aufwand und ziemlich wahrscheinlich sein Tod nach Erwachen des Telepathen, als Rache für das Vereiteln dieser schrägen Weltuntergangsnummer vor über einem Jahr.

Pro: Na ja, eigentlich nichts. Vielleicht das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben. Wobei zu bedenken war, dass man hier einem Menschen half, dessen Karma vermutlich schlechter war, als das von Jack the Ripper.
 

B: Schuldig verbluten lassen oder vielleicht auch noch ein bisschen nachhelfen,

gewissermaßen aus Mitleid.

Pro: Ein Problem weniger auf dieser Welt.

Ein gewisses Maß an Befriedigung.

Das gute Gefühl, das Richtige getan zu haben, da es sich hier um einen Menschen handelte, dessen Karma vermutlich schlechter war, als das von Jack the Ripper.

Er glaubte nicht, dass irgendjemand ihn vermissen würde.

Contra: Das endgültige Ende seines neuen Teppichs. (Übrigens nicht weit entfernt, wenn er sich nicht bald entschied.)

Niemand, der ihm den Schaden ersetzte. (In seinem derzeitigen Job verdiente er wirklich schlecht.)

Einen toten Telepathen in der Wohnung. Trotz langjähriger Berufserfahrung mit Leichen hatte Aya leider keine Ahnung, wie man eine verschwinden ließ. Na ja, er könnte sie in seinem Garten vergraben, aber erstens würde das wahnsinnige Arbeit machen und zweitens hatte er keine Ahnung, ob sich eine verwesende Telepathenleiche im Boden nicht negativ auf den Gedeih seiner Rosen auswirken würde.

Sein Vorsatz, nie mehr jemanden umzubringen.
 

Fazit: Sechs zu fünf gegen Schuldig. Eigentlich nur sechs zu viereinhalb.
 

Aya seufzte abermals und holte den Erste-Hilfe-Kasten aus seinem Auto. Entweder hatte er ein zu weiches Herz oder er war lebensmüde. Er tippte mal auf Zweiteres.
 

*************************
 

Und ob Schuldig nicht schon längst verblutet ist,

ob Aya seinen Entschluss bereut,

wie sein Leben nach Weiß so aussieht

und warum man niemals einen Telepathen in seine Wohnung lassen sollte,

das und noch viel mehr (was ihr niemals wissen wolltet) erfahrt ihr im nächsten Teil.

Déjà vu

Schuldigs Bewusstsein dämmerte langsam dahin. Das erste, was er wahrnahm, war das viel zu helle Sonnenlicht, das ihm ins Gesicht fiel und ihn geweckt hatte. Das zweite warenhöllische Schmerzen, in der gesamten rechten Körperhälfte, als er sich wegdrehen wollte.
 

Er wurde schlagartig hellwach. Er lag auf dem Sofa, mitten in dem Wohnzimmer, in dem er gestern nacht zusammengebrochen war. Er konnte sich nicht wirklich dazu bringen, es als Ayas Wohnzimmer zu bezeichnen.

Das war unmöglich. Dann würde er nämlich nicht mehr leben. Was er aber nach seiner nicht unbedingt fundierten Einschätzung tat.
 

Die einzige logisch Erklärung war, dass der Hausherr nicht Aya war und er gestern Abend nur halluziniert hatte. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich, aber er wollte nicht weiter darüber nachdenken, denn wenn er jetzt Wahnvorstellungen von Aya analysierte, täten sich ganz neue Abgründe auf. Sein Leben war schon so beschissen genug.

Er hatte genug Probleme, auch wenn die Kugel in seiner Schulter offenbar nicht mehr dazugehörte. Zum Beispiel...
 

Er überlegte einen Moment. Nein, wenn er davon ausging, dass die Typen, die gestern in seiner Wohnung gewesen waren, ihn hier nicht fanden, war da eigentlich nichts Dringliches.

Er musste halt nur versuchen, eine Weile hier zu bleiben und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Gut, das klang schwierig.
 

Er lauschte mal, wer so zu Haus war. Oh, offenbar keiner. Na ja, das machte im Grunde nichts. Er brauchte kein "Fühl' dich wie zu Haus", um sich wie zu Hause zu fühlen.

Er setzte sich auf. Allerdings war das nicht sehr vorsichtig gewesen, denn vor seinen Augen tanzten wieder diese nervigen Muster und eine leichte Übelkeit breitete sich in seiner Magengrube aus. Nach einigen Minuten wurde es aber besser und Schuldig wankte erst mal ins Badezimmer. Das heißt, erst öffnete er die Tür zur Küche, aber der zweite Versuch führte ihn dann ans Ziel.
 

Dort lehnte auch ein Erst-Hilfe-Kasten an der Wand und nachdem er dann geduscht und die Verbände gewechselt hatte, saß er in der Küche und plünderte den Kühlschrank. Blutverlust machte ihn immer hungrig.

Er überlegte gerade, warum zur Hölle, es in diesem Haus keinen Fernseher gab, als er von draußen Motorengeräusche hörte sowie einen Schwall von wüsten Verwünschungen. Die allerdings nicht laut, sondern nur gedacht.
 

Er verschluckte sich fast an seinem Kaffee. Diese Präsenz kam ihm doch verdammt bekannt vor. Dann hatte er also nicht deliriert. Scheiße auch. Jetzt war er verwirrt. Warum hatte der ihn am Leben gelassen? Und nicht nur das, ihn sogar gerettet?
 

Aus Ayas Gedanken bekam er im Augenblick nicht viel heraus. Der Rotschopf war viel zu sehr mit seinen nicht sehr netten Monologen über Autos, reißende Abschleppseile, wassergefüllte Straßengräben und Telepathen, die zu dämlich waren, auf der Straße zu bleiben, beschäftigt.
 

~Hey, versuch du mal, mit ner Kugel in der Schulter Auto zu fahren.~, unterbrach Schuldig diese Ausführungen mental.

Einen Augenblick stockten Ayas Gedanken. Dann hatte er sich offenbar von seinem Schrecken erholt und antwortete trocken. /Hab' ich alles schon mal durch. Und ich bin nicht in einen Straßengraben gefahren./
 

~Angeber!~

In dem Moment betrat Aya die Küche, durch eine Tür, die direkt zum Garten hinausging und warf Schuldig seine Tasche vor die Füße. Das Ding war offen und Aya warf einen angewiderten Blick hinein. "Das sieht aus, als hättest du deine Nachttischschublade da reingeleert."
 

Schuldig nickte, während er sich wieder unbesorgt seinem Frühstück zuwandte. Wenn der Rotschopf ihn gestern nicht umgebracht hatte, würde er es jetzt auch nicht tun.

"Hatte nicht viel Zeit zum Packen." Es war durch das gleichzeitige Essen nicht leicht zu verstehen. "Wo hast du die her?"
 

"Hm.", brummte Aya nur.

Gut, vielleicht auch eine etwas dumme Frage, denn wo sollte Aya sie schon her haben. Den Rest kramte er aus dessen Gedanken.
 

"Du hast meinen Wagen abgeschleppt? Bist du jetzt unter die Samariter gegangen? Bist du ein gelber Engel?"

"Hä?" Tja, die Werbesprüche deutscher Automobilclubs gehörten offensichtlich nicht zu Ayas Allgemeinbildung, aber wen wunderte das schon, der hatte ja nicht mal einen Fernseher.
 

"Also hör mir mal zu: Ich mach das hier nicht aus Freundlichkeit. Je eher der Wagen wieder fährt, umso eher bin ich dich wieder los."

Ach, so lief der Hase. Schuldig setzte ein extrem fieses Grinsen auf und schaute zu Aya hoch.

"Och, das ist aber gar nicht nett. Erst schmetterst du jeden Versuch, einer netten Unterhaltung ab und dann willst du mich auch noch loswerden? Ich glaub, ich möchte lieber noch ein bisschen bleiben."
 

"Wie bitte? Hast du Kopfverletzungen, oder was? Ich bin weder Mutter Theresa noch ein Hotel."

Schuldig fand den abstrusen Gedanken, hier eine Weile unterzutauchen immer unterhaltsamer, je länger er Ayas Gedanken verfolgte, die alle auf eine Frage hinausliefen:

/Warum hab ich ihn nicht einfach liegen gelassen?/
 

"Siehst du...", sagte Schuldig, bedächtig kauend. "Das hab ich mich auch schon gefragt. Bin ganz Ohr."

Aya gab etwas von sich, das wie ein Knurren klang und verließ die Küche. In seinen Gedanken fand Schuldig keine richtige Antwort, sondern nur bittere Selbstvorwürfe und die Erwägungen des vergangenen Abends.
 

"Ey, es ist nicht sonderlich nett, mich mit einem Hund zu vergleichen. Aber ich bin ehrlich erstaunt, dass du fünf Punkte gefunden hast, die für mich sprechen. Obwohl ich deinen Vergleich mit Jack the Ripper nicht ganz nachvollziehen kann. Ich hab noch nie ne Prostituierte getötet. Das erklärt aber alles immer noch nicht deine Entscheidung.", brüllte er durch die nur angelehnte Küchentür durchs Haus.
 

/Okay, sagen wir einfach, ich hab ein neues Leben angefangen und will es mir nicht gleich wieder von dir versauen lassen, weil du in meinem Wohnzimmer verblutest. Ich hatte gestern Abend übrigens ein ganz starkes Déjà-vue.

Das letzte mal, als mein Leben in die Brüche gegangen ist, hat's auch mit deinem Auftauchen angefangen./
 

~Äh... Und deshalb lässt du mich am Leben? Das ist absolut total unlogisch.~

Irgendwo im Haus knallte eine Tür oder eine Faust gegen eine Wand. Das war nicht so genau zu sagen.
 

/Sag mal, legst du's darauf an, dass ich dich umbringe?/

~Nicht wirklich. Du hast keine Chance. Tja, Gelegenheit verpasst, würd' ich sagen.~

/Warum bist du eigentlich ausgerechnet hier?/

~Zufall, denk' ich mal.~
 

"Oh Metze du, Fortuna.", sagte Aya trocken, der in diesem Augenblick wieder die Küche betrat.

"Hä?"

"Hamlet."

"Metze?"

"Veraltet: Hure/Schlampe. Tu was für deine Allgemeinbildung!"

"Cool, so was ähnliches hab ich gestern auch gedacht."

"Oh Gott, ich erschieß mich."
 

Aya machte sich schweigend Tee.

Schuldig sah ihn verblüfft an. "Wie denn? Gar nicht mehr wütend?"

"Was erwartest du? Soll ich die Wände hochgehen? Werd' ich dich dann los?"

"Nein, aber es wär' unterhaltsamer. Sag mal, warum hast du keinen Fernseher?"

"Weil ich nicht fernsehe."
 

Schuldig war ehrlich schockiert. "Bist du überhaupt ein Mensch?"

"Komische Frage... gerade von dir." Aya sah ihn über den Rand seiner Teetasse hinweg an.

"Hey, sag das nicht, so was nehm' ich sehr persönlich!"

"Ach, selber schon mal gezweifelt? Der Verband ist übrigens schlecht gemacht."

"Hallo? Versuch du dir mal mit Schulterverletzung einen Verband anzulegen!"

"Hab ich alles schon durch. Bei mir sah das besser aus."

"Echt, du nervst."

"Prima. Gehst du?"
 

Schuldig grinste ihn nur besonders breit an. "Nicht vor Freitag."

"Wieso? Was ist Freitag?"

"Da kommt meine Lieblingsserie."

"Besser als gar nichts. Was hast du da eigentlich an?"

"Ähm... Ich konnte meine Sachen nicht finden. Die Hose ist aus deinem Schrank. War ganz schön schwer, eine passende zu finden. Du hast einfach keinen Geschmack."

"Du warst an meinem Schrank."

Schuldig konnte hören, wie Aya in Gedanken langsam bis zehn zählte. Und dann bis zwanzig.
 

Bevor er weiterkam, unterbrach ihn Schuldig. "Was hast du eigentlich mit meinen Sachen gemacht?"

"Weggeworfen."

"Spinnst du? Ich mochte die. Besonders das Hemd."

"Es hatte Löcher, es war schlammig und vollgesogen mit Blut. Das geht nicht mehr so einfach raus. Und bevor du fragst: Die Hose, ich hab nachgesehen, war früher mal weiß. Das wird nicht mehr."

"Du solltest dir echt einen Fernseher kaufen und ein bisschen Waschmittelwerbung gucken. Das geht alles wieder raus."

"Hast du schon mal Wäsche gewaschen?"

"Okay, eins zu null für dich."
 

Aya nickte kurz, stand dann auf und machte sich zum Gehen fertig. Schuldig sah ihm etwas verwundert dabei zu. "Wo willst du hin?"

"Arbeiten."

"Du arbeitest?"

"In was für einer Welt lebst du eigentlich?"

"Und was soll ich solange machen?"
 

Aya blickte ihn finster an. "Am besten verschwinden. Aber da du das ja wohl nicht tun wirst, kannst du den Teppich saubermachen!"

"Keine Lust."

"Ach, mach doch, was du willst. Ich geh." Sprach's und knallte die Küchentür hinter sich zu.
 

~*~
 

Boah, war das langweilig!

Hier gab es aber auch absolut gar nichts, womit man sich ablenken konnte. Keine Zeitschriften, kein Radio, keinen Fernseher. Schuldig war sogar schon auf die Idee gekommen, im Auto Radio zu hören, aber Aya war mit seinem zur Arbeit und Schuldigs eigenes Auto war immer noch Feuchtgebiet.
 

Fast eine Stunde hatte er noch damit verbracht, in Ayas Schrank nach einem akzeptablen Pullover zu suchen. Mann, der Typ hatte Sachen... in denen sah vermutlich nur ein Mensch auf der Welt gut aus und das war Aya. Fast schon unheimlich...
 

Er hatte sich schließlich nach langem Probieren einen weiten schwarzen Pullover geliehen.

Das hatte zumindest den Vorteil, dass man eventuelle Blutflecken nicht sehen würde - nicht, dass das Schuldig ein schlechtes Gewissen gemacht hätte...
 

Jetzt lag er auf Ayas Bett und rauchte. Das war vor allem in Anbetracht seiner immer noch schmerzenden Schulter mitunter das Beste, was er machen konnte. Und dem Qualm nachzusehen, wie er zur Zimmerdecke aufstieg, war zwar nicht besonders spannend, aber bevor er sich dazu hinreißen ließ aus purer Langeweile den Teppich sauber zu machen...
 

Sein Blick wanderte zum Bücherregal. Nein, so verzweifelt war er auch wieder nicht!

Ayas CD-Sammlung gab auch nichts her. Da lohnte es sich nicht mal den Computer anzuschmeißen.

Halt! Natürlich, der Computer! Vielleicht geschahen noch Zeichen und Wunder und Aya hatte Internet. Da gäbe es dann auch Ablenkung...
 

Schuldig sprang auf und saß nur Sekunden später im Wohnzimmer, wo er ungeduldig wartete bis der Computer hochfuhr.

Der Bildschirm wurde blau und es erschien ein kleines graues Fenster.

~Aya, wie ist dein Passwort?~
 

~*~
 

"Guten Tag. Haben Sie auch Bücher von Konsalik?"

Aya atmete tief durch und zwang sich zu etwas, das stark an ein Lächeln erinnerte. "Nein, seit gestern immer noch nicht. Überhaupt haben wir hier nur die Bücher von ihm, die Sie uns gestiftet haben."

Die alte Dame strahlte. "Welche sind das denn?"

Aya ratterte die fünf Titel auswendig runter. Er machte das öfters...
 

Die alte Dame hörte aufmerksam zu, sah dann aber etwas enttäuscht aus. "Nein, ich glaube, die habe ich alle schon mal gelesen."

"Anzunehmen. Es waren einmal Ihre Bücher..." Aya unterdrückte wie immer den Impuls, die Frau anzuschreien. So hartnäckig sie auch war, sie konnte nichts dafür - das sagte er sich jedenfalls immer wie ein Mantra vor, wenn er mit ihr redete.
 

~Aya, wie ist dein Passwort?~

/Auch das noch! Lass mich in Ruhe! Verschwinde!/

~Ja ja, ich dich auch. Wer kann nichts wofür?~

/Ich! Was hab ich denn verbrochen?/

~Sagst du's mir jetzt freiwillig oder muss ich's mir holen?~

/Konsalik. Und jetzt verschwinde! Am besten aus meinem Haus!/

~Vergiss es, ich fang grad an, mich richtig heimisch zu fühlen.~ Der Telepath lachte noch über Ayas Entsetzen bei diesen Worten, verschwand dann aber.
 

"Was haben Sie? Sie sehen so abwesend aus. Als ob Ihnen schlecht ist."

Aya schüttelte den Kopf und strich sich mit einer fahrigen Geste die Haare aus der Stirn. "Nein, es ist nichts. Nur Tinitus."

"Ja ja, davon hab ich gehört... das kommt vom Stress. Zu meiner Zeit gab's so was noch nicht. Die Jugend von heute isst ja auch immer so schlecht... Sie sehen auch so dünn aus. Wir hatten ja damals nicht viel, aber Essen war immer..."
 

Aya ließ die Alte reden und sich resigniert auf seinen Bürostuhl fallen. Was für ein öder Job.

Fast jeden Tag kamen die selben Leute vorbei und nervten ihn. Die Oma fragte ständig nach denselben Büchern, er konnte es schon nicht mehr hören. Und dann die Idioten, die mit ihm darüber diskutierten, ob es denn jetzt einen Unterschied machte, wenn sie ein Buch eine Woche oder ein Jahr behielten und die partout keine Strafe zahlen wollten. Seine Kollegen riefen bei solchen Fällen immer ihn...
 

~So ein Blödsinn! Das ist nicht dein Passwort!~

/Ach... wirklich nicht?/

Den darauf folgenden Schwall bösartiger Gedanken und einiger wirklich plastischer Gewaltphantasien quittierte Schuldig nur mit einem mentalen Grinsen. Aya kochte vor Wut und Schuldig genoss es, zu sehen, dass er absolut nicht wusste, wie er den Telepathen loswerden konnte.
 

~Ach übrigens kannst du auf dem Heimweg noch ein paar Sachen einkaufen. Ich könnte ein paar neue Klamotten brauchen. Die in meiner Tasche sind fast alle nass geworden und außerdem hab ich keinen Pullover eingepackt.~

/Ich soll dir Pullover kaufen?!/

~Ja klar! Das Wetter ist nicht das Beste und ich muss zugeben, dass ich gesundheitlich doch etwas angeschlagen bin.~

/Wen interessiert das? Verreck doch!/
 

~Tststs... du bist sehr unhöflich! Kein Wunder, dass du sonst keine Gäste hast.~

/DU. BIST. GANZ. BESTIMMT. K E I N !!! GAST./

~Wie auch immer. Wo war ich? Ach so: Zigaretten, dann müsstest du noch was zu essen kaufen und... ach ja, eine Zahnbürste - falls du nicht willst, dass ich wieder deine benutze.~

/Wieder?!/

Schuldig sah interessiert zu, wie Ayas Wut noch weiter zunahm, dann wurde der Kontakt einfach unterbrochen.
 

Moment! Was war denn da los? Er stellte ihn augenblicklich wieder her.

~Hey, was sollte das denn?~

Aya, der noch immer um Beherrschung kämpfte, um nicht Amok zu laufen und zu tun,

wonach ihm im Moment zumute war - nämlich sämtlichen Anwesenden und möglichst auch seinem Hausbesetzer den Kopf abzuschlagen und danach die gottverdammte Bibliothek in Brand zu stecken - stutzte. /Was sollte was?/ knurrte er gereizt.

~Du hast gar nicht bemerkt, dass du - ... Vergiss es. Da war nichts. Viel Spaß noch bei der Arbeit.~
 

~*~
 

Schuldig schaltete den Computer wieder aus und sah nachdenklich aus dem Wohnzimmerfester in das trübe Grau des Himmels. Er war sich sicher, dass Aya ihn grad rausgeworfen hatte. Das hatte bisher nur Brad geschafft. Wenn Aya besser werden sollte, konnte das noch gefährlich für ihn werden...
 

Aber er konnte jetzt wirklich nicht hier weg. Erst musste er herausfinden, was die Typen in seiner Wohnung oder von ihm gewollt hatten. Nicht, dass er - wäre er damals nicht so zugedröhnt gewesen - nicht mit ihnen fertig geworden wäre, aber wo die herkamen, gab's sicher noch mehr und das war ihm dann doch eine Nummer zu groß.
 

Das Problem war nur, dass er sich ausnahmsweise mal keiner Schuld bewusst war. Gut, er war bei diesem komischen Drogenboss gewesen und hatte seine Wohnung ein bisschen auf Vordermann gebracht - als kleine Rache für den miesen Stoff quasi... - aber das konnte es eigentlich nicht sein. So eine Bagatelle war kein Grund, ein Mordkommando zu schicken, nicht mal bei solchen Typen.

Und nach Polizei hatten die auch nicht ausgesehen...
 

Scheiße! Wo war er da wieder reingeraten? Wenn er Pech hatte, war das wieder eine dieser ganz sensiblen Versuche, ihn für irgend so eine scheiß Organisation anzuwerben. Seit er nicht mehr bei Schwarz war, hatten ihn echt die schrägsten Typen angequatscht. Das ging von

lateinamerikanischen Revoluzzern, Contrarevoluzzern und Contracontrarevoluzzern über diverse Regierungen bis hin zu Weltherrschaft anstrebenden Sekten.

Nein danke. Nicht schon wieder.
 

Er fragte sich sowieso, woher die alle wussten, dass er noch am Leben war. Hatte da irgendjemand Flyer verteilt?
 

Egal. Jedenfalls war es ganz gut, eine Weile unterzutauchen, bis die Lage sich etwas beruhigte oder er zumindest herausgefunden hatte, was da los war.

Was ihn wieder zu seinem eigentlichen Problem brachte.
 

Aya und seine erschreckender weise erwachte Resistenz. Er kramte eine neue Zigarette heraus. Das Anzünden dauerte ein wenig, weil diese beschissenen Streichhölzer offenbar eher aus einem Scherzartikelladen stammten als aus einem normalen Geschäft - oder sie waren einfach schon etliche Jahre alt, sodass die Köpfchen immer abbröselten, statt sich zu entzünden.
 

Und sein neues Feuerzeug hatte Aya wahrscheinlich zusammen mit seinen Klamotten weggeschmissen. Oder er hatte es gestern verloren.

Endlich flammte doch eines der Streichhölzer auf und Schuldig zog gierig den Rauch in seine Lungen. Gott, nichts zu tun, machte ihn immer schrecklich nervös.
 

Also. Was war zu tun?

Er musste verhindern, dass Aya seine Fähigkeit bemerken und weiter ausbauen konnte.

Es war sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand herausfand, wo er jetzt war und so wie die Situation lag, konnte Aya ihn auch kaum rauswerfen. Aber wenn er, Schuldig, die Kontrolle verlieren würde, säße er ganz schnell auf der Straße - oder der Rotschopf käme auf die Idee, seine guten Vorsätze fahren zu lassen.

Schuldig grinste schief. Na ja, auf die Idee war er ja schon gekommen. Er wusste nur noch nicht, wie gut seine Chancen standen...
 

*******************
 

Und was Schuldig jetzt zu tun gedenkt,

ob Aya einem Nervenzusammenbruch entrinnen kann,

wie es Aya-chan so geht

und was Aya in seiner Freizeit macht,

das und noch viel mehr (was ihr niemals wissen wolltet) erfahrt ihr im nächsten Teil.

Minenfelder

"Einen schönen guten Tag und danke für Ihren Einkauf bei-"

Die Kassiererin stockte beim Runterrattern ihres einstudierten Textes, als sie den extrem genervten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers sah.

Obwohl 'genervt' es nicht ganz traf, 'mörderisch' wäre wohl die bessere Bezeichnung gewesen.
 

Der gutaussehende junge Mann, der da auf der anderen Seite des Strichcodelesers stand, hob die Hand - einen Moment lang hatte die arme Frau Angst, er hätte eine Pistole und ihr letztes Stündlein hätte jetzt geschlagen - und knallte seinen Einkauf auf das Warenband.
 

Die Verkäuferin starrte einen Augenblick perplex auf die beiden Zahnbürsten und die Tütensuppe, bevor sie sie mit zitternden Händen über den Laser zog.

Sie musste sich zweimal räuspern, ehe sie mit schwankender Stimme den Preis nennen konnte. "Das macht dann-"
 

"Stimmt so." Der Fremde schnappte sich sein Zeug, knallte einen Schein aufs Band und verließ geradezu fluchtartig den Supermarkt.
 

~*~
 

Konnte der seinen Scheiß nicht selber kaufen?

Was bildete sich dieser unverschämte Hund von einem heruntergekommenen Junkie eigentlich ein? Er stand einfach ungebeten von den Toten auf, machte Stress, versaute den Teppich und anstatt sich einfach zu bedanken und abzuhauen - okay, er hätte sich nicht mal bedanken müssen, abhauen hätte völlig gereicht! - anstatt also einfach nur auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden, nistete sich diese Zecke bei ihm ein!
 

Eine leere Coladose hatte das Pech zwischen Aya und seinem Auto zu liegen und wurde in hohem Bogen gegen die nächste Wand gekickt.

Und wie sollte er ihn bitteschön loswerden? Der war doch schlimmer als Schimmel!

Aya hatte sich schon heute Morgen zähneknirschend eingestehen müssen, dass er absolut nichts gegen den Telepathen unternehmen konnte.
 

Bei einem normalen Menschen hätte er natürlich einfach die Polizei rufen können, aber bei Schuldig erschien ihm das keine wirklich gute Idee zu sein. Wer konnte schon sagen, was dieser Irre mit den Typen anstellen würde? Mal ganz davon abgesehen, dass sich in ihm da ein Hauch von Mitleid für die Polizisten regte, wollte er sich den Ärger, den Schuldig hundertprozentig heraufbeschwören würde wirklich nicht zumuten - zumal die Erfolgsaussichten gegen Null gingen, optimistisch betrachtet.
 

Umbringen konnte er ihn auch nicht. Nicht wegen seines lächerlichen Vorsatzes. Inzwischen war er soweit, dass er ihn speziell für Schuldig mit Freuden über Bord geworfen hätte. Nein, so hart das auch war: Schuldig hatte absolut Recht gehabt. Gelegenheit verpasst. Schließlich hatte er annähernd zwei Jahre seines Lebens mit dem Versuch verbracht und war - wie er gestern Abend erfahren hatte - offensichtlich doch gescheitert. Schuldig war einfach zu schnell, um ihn auf herkömmliche Art zu ermorden.
 

Vielleicht könnte er ihn vergiften...

Ein versonnenes Lächeln ersetzte Ayas finstere Miene, als er diese Möglichkeit in Betracht zog, während er sich ans Steuer seines Wagens setzte und den Parkplatz verließ.

Aber nein, alles nur schöne Tagträume! Da war nämlich dieser eine, winzige Haken, der solche Pläne schon im Keim erstickte: Schuldig konnte seine gottverdammten Gedanken lesen!
 

Wie sollte man denn jemanden umbringen, wenn man nicht mal mit List und Tücke...

Außer er könnte Schuldig irgendwie dazu bringen, ihm zu vertrauen...

Der Wagen wäre fast von der Straße abgekommen und ließ ein erschrockenes Hupen hören, als Aya seinen Kopf aufs Lenkrad knallte.
 

So ein Blödsinn! Wie sollte das denn bitteschön gehen? Der Schwarz - oder Ex-Schwarz - war doch mindestens genauso misstrauisch wie er selbst. Und falls er den Plan nicht von Anfang an durchschauen würde, wäre da immer noch das Problem, dass das VERDAMMT LANGE dauern würde. Bis dahin wäre Aya dann sicher schon in der Klapse - oder bei dem Versuch draufgegangen, Schuldig doch umzubringen, quasi im Affekt.
 

Gott, er war ja jetzt schon das reinste Nervenbündel!

Seine Kollegen hatten ihn nach Hause geschickt, nachdem er einen Zwölfjährigen angeschrieen hatte, der sein Buch vor drei Tagen hätte abgeben sollen.
 

Schuldig war noch nicht mal 24 Stunden da, aber Aya war ständig gereizt, weil er immer befürchtete, diese arrogante Stimme wieder zu hören. Außerdem hatte er das Gefühl, ununterbrochen überwacht zu werden. Wer konnte schon sagen, wann dieser Psychopath wieder in seinen Gedanken herumspionieren würde?

Kurz und gut: er hatte schon jetzt eine handfeste Paranoia und der Tag, an dem er brabbelnd in einer Gummizelle sitzen würde, war nicht mehr weit entfernt, wenn das so weiterging.
 

Das schlimmste an Schuldig war, dass man keine Chance hatte, ihn einfach zu ignorieren. In gewisser Weise erinnerte er an eine Baustelle. Selbst wenn man sich Watte in die Ohren stopfte und so dem Lärm der Presslufthämmer entgehen konnte - da war dann immer noch der beißende Gestank von Teer.

Nein, der Vergleich war doch etwas an den Haaren herbei gezogen: Schuldig war viel schlimmer!
 

Eigentlich blieb ihm nur, auszuziehen. Aber das hieße ja Kapitulation und wenn etwas absolut nicht drin war, dann das! Das war SEIN Haus und da konnte nicht einfach so ein dahergelaufener Telepath kommen und ihn vertreiben! Wer war er denn, dass er so was mit sich machen ließe?!
 

Immerhin war da die - wenn auch unwahrscheinliche - Möglichkeit, dass Schuldig das mit seiner Lieblingsserie ernst gemeint hatte und er tatsächlich am Freitag gehen würde. Heute war Dienstag, also nur noch zwei, drei Tage und er wäre Schuldig los. Vielleicht war die ganze Sache aber auch nur eine besonders fiese Art, ihn zu quälen, indem Schuldig ihm erst Hoffnungen machte und dann doch blieb... das wäre dann geradezu perfide.
 

Aya hätte diese Vermutung nur zu gerne seiner wachsenden Paranoia zugeschrieben, aber ehrlich gesagt passte so was ganz gut zu Schuldig.

Gott, warum hatte dieses kranke Hirn sich eigentlich in den Kopf gesetzt, bei ihm zu bleiben?

Vielleicht brauchte Schuldig ja keinen besonderen Grund, um andere mit Freuden in den Wahnsinn zu treiben, aber es wäre dennoch denkbar, dass doch mehr dahinter steckte.
 

Wenn er den Grund für Schuldigs 'Besuch' herausfinden konnte, hatte er vielleicht die Möglichkeit, diesen zu beheben... Es widerstrebte ihm zwar zutiefst, Schuldig bei IRGENDETWAS zu helfen - man denke nur daran, was er das letzte mal davon gehabt hatte - aber noch schlimmer konnte es ja eigentlich kaum werden.

Verfluchte Scheiße! Da fällte man einmal eine irrationale Entscheidung!

Gottverdammt, es hatte sechs zu fünf gestanden! GEGEN Schuldig! DAGEGEN !!! Er hätte es doch besser wissen müssen! Die Rosen hätten das schon verkraftet...
 

Das Auto blieb mit einem Ruck stehen und gab ein langes, gequältes Hupen von sich. Es dauerte einen Moment, bis Aya seinen Kopf endlich wieder vom Lenkrad hob.

Zu spät. Das half jetzt auch nichts mehr.

Er musste sich irgendwie beruhigen. Schuldig freute sich doch, wenn er ausrastete. Darauf war der doch aus!

Aber nein. Er würde ruhig bleiben.

Eiskalte Überlegenheit. Ruhe. Gelassenheit. Selbstbeherrschung. Totale Kontrolle.

Er würde bis Freitag aushalten.
 

Und wenn diese Zecke, diese Schmeißfliege, dieser widerliche Parasit dann nicht ginge...

dann würde seine Rache furchtbar sein! Dann würde Aya zu einem Wesen werden, gegen das Abyssinian aussehen würde wie ein Schmusekätzchen! Er würde den Zorn Gottes bei weitem in den Schatten stellen! Er würde...

... am Freitag noch genauso machtlos sein wie heute.

Aya brach den Gedanken ab und schlug seinen Kopf lieber noch ein paar mal gegen das Lenkrad.

Es fing schon an. Er wurde wahnsinnig.
 

~*~
 

Schuldig saß auf dem Teppich, neben sich einen Eimer, in der Hand einen Lappen und wischte halbherzig auf dem braunschwarzen Fleck herum.

Wozu einen Langeweile so treiben konnte...

Aber behaupten, dass er hier fast vor Spannung umkam, konnte er jetzt auch nicht gerade. Blut und Schlamm ergaben zusammen offensichtlich eine Mischung, die nicht nur wunderbar in weiche, naturweiße Teppiche einzog, sondern diese dann auch hoffnungslos verklebte und sich dann gar nicht mehr von den zusammengepappten Fasern trennen wollte.

Nach einer halben Stunde Reiben war der Fleck blasser, aber auch um einiges größer geworden und Schuldig hatte so das leise Gefühl, dass ihm das niemand - und schon gar nicht Aya - danken würde.
 

Aya... Gott, er hatte ja noch nie viel über den Weiß nachgedacht, aber nachdem er einen Tag lang sein Haus durchwühlt hatte, war er sich ziemlich sicher, dass dieser nichts aber auch gar nichts zu verbergen hatte - bis auf die Killer-Sache. Aber das zählte nicht.

Himmel, der Typ hatte echt ein langweiliges Leben. Eigentlich sollte er Schuldig dankbar sein, dass da mal ein bisschen Leben rein kam... ins Leben...

Oh Gott, jetzt litt sogar schon Schuldigs Humor unter Langeweile.
 

Na ja, wie auch immer, der Deutsche hatte sich jedenfalls schweren Herzens vorgenommen, Aya nicht mehr bis zur Weißglut zu reizen zumindest nicht absichtlich. Na ja, er würde sich Mühe geben. Schließlich musste er ja jetzt eine Weile mit Aya auskommen - ob er wollte oder nicht. Und solang dieser nicht allzu wütend war, passierte bei ihm offenbar nichts in punkto Telepathenabwehr und das sollte auch möglichst lange so bleiben.

Der Unterhaltungswert seines kleinen Landurlaubs nahm scheinbar stetig ab...
 

"Was glaubst du, was du da machst?" Juchu! Aya war zu Hause. Und mit ihm die Lebensgefahr. Na ja... mehr oder weniger. Aber wenigstens würde er sich jetzt vorerst nicht mehr zu Tode langweilen.

Schuldig stand auf und besah sich den Teppich, dann zuckte er die Schultern. "Tja... den Fleck vergrößern. Aber ich schwöre dir, das war nicht so geplant."

"Kannst du eigentlich irgendwas?"
 

Oh Mann. Warum hatte Schuldig sich nur vorgenommen, Aya nicht mehr zu ärgern? Diese Frage schrie doch praktisch nach einer zweideutigen Antwort!

Aber Schuldig würde stark bleiben. Aya machte das extra. Bestimmt. "Ich kann Leute dazu bringen, mir Geld zu schenken... oder ihre Kreditkarten samt Geheimzahl. Das reicht zum Leben."

"Was willst du dann noch hier?"
 

Aya ging in die Küche und fing an, die Suppe zu kochen, Schuldig folgte ihm und setzte sich an den Küchentisch.

Er riskierte einen Blick in den Geist des Rotschopfes. Der schien sich einigermaßen beruhigt zu haben, zumindest dachte er nicht mehr ununterbrochen an Mord und Totschlag. Also kein Grund für Schuldig so übervorsichtig zu sein. Trotzdem ging er nicht weiter auf die Frage ein, sondern richtete das Augenmerk auf wichtigere Themen.
 

"Hast du mir Zigaretten mitgebracht? Meine sind alle. So ungefähr seit zwei Stunden."

"Nein. Aber ich hab dir ne Zahnbürste gekauft."

"Und? Was hab ich davon? Soll ich die rauchen?"

"Hier wird nicht geraucht."

"Nicht geraucht?! Willst du mich umbringen?"

"Muss ich darauf antworten?"
 

"Ja, schon klar. Aber das sind echt unfaire Mittel! Du kannst mich doch nicht auf Entzug setzen. Das ist Folter. In diesem ganzen beschissenen Haushalt gibt es nichts außer Langeweile. Ich brauche Abwechslung. Kauf dir nen Fernseher! Und ein Radio oder

zumindest eine anständige CD!"

"Wenn hier irgendwas Folter ist, dann dein Gequatsche! Es zwingt dich doch niemand, hier zu bleiben. Im Gegenteil."

"Sei doch nicht so feindselig."
 

"FEINDSELIG?! Ja was erwartest du denn? Du tauchst hier mitten in der Nacht auf, bist dreister weise noch immer am Leben und wenn ich dich in einem Anfall geistiger Umnachtung wieder zusammenflicke, dann höre ich kein 'Danke', nein, im Gegenteil! Ich hab einen nervigen Telepathen an der Backe, der nicht nur meinen Kühlschrank leer frisst, meine Kleidung trägt, meine Zahnbürste benutzt, sämtliche Schränke durchwühlt und meine Wohnung zuqualmt: Nein, er weigert sich auch noch hartnäckig zu gehen und wirft einem dann - und das setzt dem Ganzen die Krone auf - FEINDSELIGKEIT VOR! WIE STELLST DU DIR DENN DA BITTE MEINE ANGEMESSENE REAKTION VOR?!"
 

Schuldig sah den brüllenden Aya vor sich perplex und - wie er widerwillig zugeben musste - ein wenig eingeschüchtert an. Mist, das hatte er doch vermeiden wollen. Dass Aya bei so einer Kleinigkeit aber auch gleich derartig austicken würde...

"Ähm... Danke?"

Jetzt war es an Aya völlig verdattert rumzustehen. "Was?"

"Na ja... Danke. Für das Zusammenflicken. Das war... na ja, dumm... aber moralisch sehr... vorbildlich... nehm' ich an."

Aya starrte den Deutschen, der da so lässig grinsend vor ihm saß, fassungslos an. Hatte der sich eben bedankt? Oder hatte es doch Nebenwirkungen, wenn man mit dem Kopf aufs Lenkrad schlug?

Ja sicher, Schuldig hatte ihn praktisch im selben Atemzug noch beleidigt, aber er hatte sich bedankt. Aya war sprachlos und wandte sich wieder seiner Suppe zu.
 

Schuldig beobachtete fasziniert, welche Wirkung seine Worte hatten. Wow, mit so durchschlagendem Erfolg hatte ja nun echt keiner gerechnet - eher mit einem weiteren Wutanfall. Aya zu verwirren war schwieriger, aber fast noch lustiger, als ihn zu ärgern.

Für eine Weile sagte keiner etwas. Aya kochte Suppe und Schuldig grinste vor sich hin.
 

"Du kennst das Wort 'moralisch'?", durchbrach Aya nach einer Weile die Stille. Er ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte er sich von diesem so locker dahingesagten 'Danke' nur so den Wind aus den Segeln nehmen lassen?

"Ja, hab's vor kurzem mal nachgeschlagen..." Schuldig grinste schief. "Hab ich dir schon gesagt, wie umwerfend ich deinen Humor finde?"

/...Ruhe...Gelassenheit...Selbstbeherrschung...Kontrolle.../
 

Schuldig zog es vor, jetzt still zu bleiben und aufs Essen zu warten. So wie sich das anhörte, wirkte Ayas Verblüffung nicht lange und er wurde langsam wieder wütend.

Diese cholerischen Anfälle waren bestimmt nicht gut für den Blutdruck. Schuldigs Grinsen wurde breiter und er konnte sich nur mit äußerster Mühe davon abhalten, Aya darauf hinzuweisen. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass seine gut gemeinten Ratschläge in diesem Fall keine Beachtung finden würden...
 

Es war aber auch so ziemlich unterhaltsam den Gedankengängen seines Gastgebers zu folgen.

Nicht unbedingt schmeichelhaft aber unterhaltsam.

Aya dachte gerade darüber nach, wie er ihn los werden konnte. Schuldig stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, das der Rotschopf nicht die geringste Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. Er wirkte echt verzweifelt, zog sogar in Erwägung, Schuldig zu-

Der Telepath wäre fast vom Stuhl gekippt, als er das hörte. "Moment mal. Du willst mir helfen?"
 

Aya, der so unvermittelt in seinen Gedanken unterbrochen wurde, zuckte zusammen und warf Schuldig einen finsteren Blick zu. "Von 'wollen' kann hier überhaupt nicht die Rede sein."

"Ja, bla bla... aber du würdest?"

Aya blieb stumm und starrte noch ein bisschen finsterer in die Suppe. Konnte sein Leben eigentlich noch schlimmer werden?

"Ach weißt du, schlimmer geht immer."

"Hör gefälligst auf, meine Gedanken zu lesen!" Aya schaltete den Herd aus und knallte die Suppe auf den Tisch, dass ein Schwall auf die Tischdecke niederging. Dem Topf folgten Teller und Löffel, die wahrscheinlich auch eine sanftere Behandlung verdient hätten. Schuldig war ja ehrlich verblüfft, dass Aya überhaupt für ihn mitdeckte.
 

"Ich frag mich, wieso sich das immer alle so einfach vorstellen. Ich mein, wenn du ein paar Meter entfernt wärst, okay. Aber so ist das als würde Musik laufen und du sagst mir, ich soll weghören. Das ist ungefähr so bequem, als müsste ich mir ständig die Ohren zuhalten."

"Wen interessiert's denn bitte, ob du es bequem hast?"

"Und wen interessiert's, ob ich deine Gedanken kenne?"

Die beiden starrten sich finster an, bevor sie beschlossen, sich gegenseitig so gut es ging zu ignorieren, und in wutgeladenem Schweigen ihre Suppe löffelten.
 

Aya dachte immer noch darüber nach, wie er Schuldig loswerden konnte und war dabei mit Beleidigungen nicht gerade zimperlich. Hallo? Telepath anwesend! Konnte Aya sich nicht ein bisschen zurücknehmen? So was laut zu denken war doch grob unhöflich!

Langsam wurde sogar Schuldig wütend. Er neigte ja normalerweise dazu, die Dinge nicht so ernst zu nehmen und sich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen, aber Aya nervte ihn langsam wirklich. Wie konnte man nur so unflexibel sein? Es konnte doch wohl kaum so ein riesiges Problem sein, einen alten Bekannten mal für ein paar Tage bei sich aufzunehmen!
 

Und Schuldig hatte sich doch auch wirklich zuvorkommend - ja, geradezu unauffällig - verhalten. Meinte der denn, ihm gefiel es, hier festzusitzen? Hier gab's doch echt nichts, aber davon jede Menge. Wenn er es sich aussuchen könnte, wäre er auch lieber nicht angeschossen

worden. Aber man musste halt auch manchmal Kompromisse eingehen...
 

"Gut."

Schuldig sah auf.

Aya hatte sich offensichtlich wieder im Griff und sah ihn misstrauisch an. Er zögerte einen Moment, holte dann aber tief Luft und fragte: "Warum zum Teufel bist du hier und was muss ich tun, damit du wieder verschwindest?"
 

"Ach, die Tour schon wieder. Das kannst du vergessen! Ich hab mich wirklich wahnsinnig bemüht, dir nicht au die Nerven zu fallen. Ich habe mich bei dir bedankt. Denk ja nicht, dass mir das so leicht fällt! Ich hab nichts kaputt gemacht, obwohl mir langweilig war. Mehr noch: Ich habe sogar alles wieder mehr oder weniger an seinen Platz geräumt. Ich hab sogar den scheiß Teppich geputzt, obwohl ich für solche Arbeiten ja wohl absolut überqualifiziert bin. Also tu nicht so, als ob du unter meiner Anwesenheit in irgend einer Weise leidest! ICH WAR NÄMLICH BIS EBEN NOCH WAHNSINNIG NETT !!!"
 

Aya saß mit versteinerter Miene da und starrte Schuldig an. Er hatte ihn noch nie wütend erlebt. Normalerweise war er immer irritierend ruhig, schien allem und jedem nur mit einem herablassenden Lächeln zu begegnen. Und jetzt schrie er hier rum, war sogar aufgestanden.

Aya sah ihn nachdenklich an und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. "Bist du fertig? Erzählst du mir jetzt, wer dich angeschossen hat und warum du mein Haus nicht verlassen willst?"
 

Schuldig erstarrte. Dann stand er auf einmal direkt vor Aya, stützte sich rechts und links von ihm auf der Rückenlehne ab und beugte sich soweit vor, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt und blitzten gefährlich. "Hast du eigentlich keine Angst, dass ich dich umbringe?", zischte er ungehalten.
 

Aya hatte sich nicht geregt. Er sah Schuldig nur nachdenklich an. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Telepathen, wenn er sich derartig aus der Ruhe bringen ließ. Natürlich konnte das am Nicotinentzug liegen, aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter. Aya wollte ihn jedenfalls nicht noch provozieren, indem er noch länger schwieg.

"Nein, ehrlich gesagt habe ich keine Angst. Es machte auf mich auch eher den Eindruck, als würdest du meine Hilfe brauchen."
 

Schuldig starrte in die violetten Iriden, die ihn immer noch kühl musterten und fragte sich, was um Himmels Willen hier falsch gelaufen war.

Warum war er auf einmal derjenige, der total überreagierte und noch wichtiger: Warum zum Teufel war Aya plötzlich so scheiß ruhig?

Wie konnte der auf einmal so verdammt selbstsicher sein, wo doch er, Schuldig, scheinbar alle Trümpfe in der Hand hielt?

"Du irrst dich!" Schuldig zwang sich zu einem überlegenen Grinsen, bevor er sich abstieß und die Küche verließ.
 

Hilfe... So ein Blödsinn! Mit diesen Typen - egal, wer sie waren - würde er auch ganz sicher ohne Ayas Hilfe fertig werden. Das wäre ja noch schöner, wenn er jetzt immerzu winselnd zu seinen Ex-Feinden kriechen und um Hilfe bitten müsste, sobald irgendjemand ihm dumm kam. Falls es jemals soweit kommen sollte, würde er sich ja vorher erschießen! Noch tiefer konnte man dann ja kaum noch sinken.
 

Er verschwand in Ayas Schlafzimmer und ließ die Tür laut hinter sich zuknallen. Wenn Aya auf Streit aus war, sollte er nur versuchen, dieses Zimmer wieder zurück zu erobern, aber so lebensmüde würde er ja wohl kaum sein.

Und tatsächlich machte Aya keinen Versuch, Schuldig zu folgen. Er hatte sich den Küchenstuhl zum Fenster gedreht und sah gedankenverloren hinaus.

Es hatte wieder angefangen zu regnen, nur ganz leicht, aber ausdauernd. Er saß noch lange da und sah zu, wie es langsam dunkel wurde.
 


 

**************************
 

Na ja... das ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen.

Also erfahrt ihr das nächste mal,

wie es Aya-chan so geht,

was Aya in seiner Freizeit macht

und wer seine Nachbarn sind.

Hoffe ich jedenfalls...

Missverständnisse?

Schuldig lag auf dem Rücken und starrte aus dem Fenster in den Himmel, der seine Farbe langsam von blauschwarz über grünlichgrau zu blendend hellgrau wechselte. Irgendwann zwischen khakischwarz und mittelgrau hatte auch das Nieseln aufgehört.
 

Wann war er das letzte mal so früh aufgewacht? Morgendämmerung war nun wirklich keine Zeit zum aufstehen. Dann schon eher zum Schlafengehen.

Er warf einen Blick auf den Wecker, der neben dem Bett stand. Halb sieben. Jetzt lag er hier schon fast zwei Stunden wach. Er konnte es wohl vergessen, noch mal einzuschlafen.
 

Fluchend stand er auf. Seine rechte Seite tat immer noch weh, würde sie wohl auch noch eine ganze Weile...

Er schlurfte zum Bad und warf im Vorbeigehen einen Blick ins Wohnzimmer. Die Couch war leer. Falls Aya heute Nacht dort geschlafen hatte, war er schon aufgestanden und hatte aufgeräumt. Auch Lappen und Eimer, die Schuldig gestern einfach liegen gelassen hatte, waren weggeräumt worden.

Ob der Fleck noch da war, konnte Schuldig von hier nicht erkennen.
 

Er konzentrierte sich kurz, suchte nach Ayas Gedanken. Der war offenbar schon lange auf und jetzt befand er sich im Garten, wo er seine Rosenbeete für den Winter mit Tannenzweigen abdeckte. Das schien ihn zu beruhigen, er dachte gar nicht an seinen ungebetenen Gast, sondern wirkte fast zufrieden.

Gut. Musste sich Schuldig wenigstens nicht wieder all seine angeblichen Fehler, schlechten Eigenschaften und warum es so unerträglich war, ihn in seiner Nähe zu haben, in Schleife anhören.
 

Es stimmte schon: Schuldig nahm keine Rücksicht auf andere. Und er sagte den Leuten liebend gern, was sie nicht hören wollten. Aber es interessierte ja auch niemanden, ob es ihn nicht vielleicht verletzte, was so über ihn gedacht wurde. Und da gab es kein Er hat es nicht so gemeint'...
 

Schuldig unterbrach sich in diesen sinnlosen Gedanken und schlurfte missmutig ins Bad.

Das war doch auch Schwachsinn. Als ob ihn noch irgendwas verletzen könnte. Es war ihm doch scheißegal, was man über ihn dachte. War doch sowieso immer das gleiche...
 

Wenn irgendjemand mal was nettes über ihn denken sollte, das nicht in Richtung Sex ging, müsste sich Schuldig ja drei rote Kreuze in den Kalender machen. Liebe... das war doch Blödsinn, eine lächerliche Illusion, an der die Leute nur festhalten konnten, weil sie blind waren, die Wahrheit nicht sahen. Aber Schuldig sah sie, er war ja nicht wie die anderen Idioten. Er wusste, dass es in Wahrheit nur Egoismus gab...
 

Vor dem Spiegel zog er sich vorsichtig den Pullover aus. Er versuchte, besonders seinen rechten Arm so wenig wie möglich zu bewegen. Immer wenn er ihn anhob, tat nicht nur seine Schulter, sondern auch seine Rippe höllisch weh.

Was er sah, gefiel ihm nicht im geringsten. Er hatte schlecht geschlafen und so sah er auch aus. Die Verbände hatten sich bedenklich gelockert und wo sie direkt über der Wunde lagen, schimmerte es rot.
 

Er hätte sie gestern Abend noch wechseln müssen. Aber er hatte ja nicht mal seine Klamotten ausgezogen, sondern einfach nur wütend an die Zimmerdecke gestarrt bis er nach Stunden irgendwie eingeschlafen war.

Mit wenigen Handgriffen, hatte er die Binden gelöst. Aya hatte schon Recht, die Verbände waren schlecht gemacht.

Schuldig besah sich die Wunden. War ganz okay... es heilte.
 

Dann holte er sich neues Verbandszeug aus dem Erste-Hilfe-Kasten, der immer noch hier deponiert war, und hatte dann auch nach mehreren Anläufen und noch mehr Flüchen wieder irgendwie alles verbunden. Sah nicht gut aus.

Schuldig schnaubte unwillig.
 

Besser ging's eben nicht. Und er würde Aya bestimmt nicht bitten, ihm das abzunehmen, nur weil der das ja ach-so-toll konnte. Wahrscheinlich würde der das sowieso nicht machen.

Blödsinn. Ganz bestimmt würde er das nicht machen.

Auf dem Waschbeckenrand lag eine originalverpackte Zahnbürste. /Danke, Aya!/
 

~*~
 

Als Aya wieder ins Haus kam, hörte er Schuldig aus dem Bad fluchen. Na der war ja gut drauf morgens...

Egal. Er hatte sowieso nicht vorgehabt, noch länger hier zu bleiben. Es war zwar noch ein bisschen früh, um zur Bibliothek zu fahren, aber er ging trotzdem.
 

Heute Nacht hatte er kaum geschlafen und deshalb hatte er jetzt auch echt nicht die Nerven, sich wieder mit Schuldig zu streiten. Würde ja sowieso nichts bringen.

Der Typ sah doch gar nicht ein, dass er störte. Oder es war ihm egal. Das Wort 'Privatsphäre' hatte er jedenfalls ganz sicher noch nie gehört...
 

Auf dem Weg zu seinem Wagen, kam er an Schuldigs Auto vorbei, das - innen immer noch reichlich nass und schlammig - auf einem Rasenstück hinterm Haus stand. Soweit er das beurteilen konnte, war es nicht kaputt, eben nur mit Wasser vollgelaufen. Aber vielleicht war dabei ja die Elektronik beschädigt worden...
 

Aya zuckte nur mit den Schulter.

Was ging ihn das an. Er hatte sich weiß Gott genug Arbeit mit dem Deutschen gemacht, um seinen Wagen würde er sich nicht auch noch kümmern.
 

Er wollte schon gehen, als ihm ein silbernes Glitzern knapp unter dem Fahrersitz auffiel.

Im ersten Moment dachte er an eine Waffe. Dafür schien der Gegenstand zwar ein bisschen klein zu sein, aber vielleicht wurde sie ja nur vom Schlamm verdeckt.
 

Als er ihn aber unter dem Sitz hervorzog, stellte der Gegenstand sich als harmloses Feuerzeug heraus. Es sah so aus, als wäre es aus Silber, aber angesichts des Gewichts tippte Aya doch eher auf irgendwas Billigeres.

Es funktionierte nicht. Das war allerdings nicht sonderlich überraschend, schließlich hatte es eine Nacht lang im Wasser gelegen.
 

Außerdem war es ein ganz besonders hässliches Exemplar. Was Aya beim ersten Blick darauf für ein etwas misslungenes Rankenmuster gehalten hatte, stellte sich bei genauerer Betrachtung als eine ziemlich detailreiche Darstellung, ineinander verschlungener, nackter Körper heraus.
 

Handwerklich sah die Prägung auch sehr professionell aus, trotzdem ein scheußliches Ding.

Wer wollte denn auf einem Gebrauchsgegenstand wie einem Feuerzeug einen Haufen sich räkelnder Menschen habe?

Na ja, vermutlich Schuldig. Wem sollte es auch sonst gehören?
 

Aya steckte es in seine Manteltasche, er würde es ihm bei Gelegenheit zurückgeben.

Allerdings nicht jetzt. Schuldig am frühen Morgen war einfach zuviel verlangt.

Also machte sich der Rotschopf langsam auf den Weg in den Ort. Und zwar tatsächlich langsam, da er weder einen Schlüssel für die Bibliothek hatte, noch Lust, ewig davor zu warten, bis jemand kam, der aufschloss.
 

~*~
 

Sein Arbeitstag verlief ruhig. Sehr ruhig. Nach einem Vormittag ohne die Konsalik-Oma, andere nervende Kunden und sogar ohne dass Schuldig sich meldete, hatte Aya wirklich gute Laune.

Das heißt, Außenstehende hätten seine Stimmung sicher nicht als solche aufgefasst, hätten behauptet, er wirke mürrisch, bestenfalls nicht unzufrieden, aber wer ihn einigermaßen kannte, konnte es eventuell erkennen.
 

Als die Mittagspause heran war, schien sogar mal wieder die Sonne und Aya beschloss, ein paar Schritte zu laufen. Auf dem Weg kam er an der Apotheke vorbei und kaufte dort gleich neues Verbandszeug für Schuldig.

Es hatte ja keinen Sinn, die ganze Zeit mit dem Schicksal zu hadern. Davon würde Schuldig nicht verschwinden und er würde sich nur selbst fertig machen. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund war er gerade verhältnismäßig gut auf Schuldig zu sprechen, vielleicht, weil er ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen oder gesprochen hatte...
 

Jedenfalls kam ihm auf einmal die Idee, dem Deutschen etwas mitzubringen. Mit ein bisschen Glück könnte er dann vielleicht eine Art Waffenstillstand aushandeln. Und wenn Schuldig gut gelaunt wäre, vielleicht könnte Aya ihn dann glatt zum Gehen überreden. Wer konnte schon sagen, was in Schuldigs Kopf vorging?
 

Ja, wer konnte das schon? Aya seufzte. Er wusste, wie verrückt diese Hoffnungen waren und dass ihn nur seine wachsende Verzweiflung dazu trieb, sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Schuldig war stur. Er würde genau so lange bleiben, wie er es wollte und dabei war es völlig egal, was Aya tat.

Aya wollte nicht weiter darüber nachdenken und sah sich lieber in der Apotheke um. Sollte er Schuldig vielleicht Schmerzmittel mitbringen? Das wäre doch mal ein Geschenk, das man wirklich brauchen könnte...
 

Er verwarf diesen Gedanken, als ihm der Inhalt von Schuldigs Tasche wieder in den Sinn kam, in der sich unter anderem auch ein Vorrat an Tabletten unterschiedlichster Art befunden hatte, der vermutlich ein halbes Jahr für mehrere Rheumapatienten gereicht hätte.
 

Wenn er so darüber nachdachte sah das aus, als würde der Telepath die Dinger essen wie andere Leute Süßigkeiten. Aber seit er bei ihm war, hatte er ihn noch gar keine Tabletten nehmen sehen... Na ja, es war ja auch nicht gerade so, als hätte er ihn pausenlos beobachtet.

Letztendlich konnte ihm ja Schuldigs Tablettenkonsum auch so was von egal sein!
 

Er wollte seine ohnehin sehr seltsame Aktion schon abbrechen und mit dem Verbandszeug zur Kasse gehen, als sein Blick auf die Nikotinkaugummis fiel. Aya erinnerte sich wieder an das Theater wegen den Zigaretten und nahm eine Packung mit. Nicht, dass er plötzlich Verständnis für Schuldig hatte, aber ein Telepath mit Entzugserscheinungen war ganz bestimmt nicht das, was er sich wünschte.
 

Auf dem Rückweg erstand er noch schnell eine Tageszeitung und saß dann pünktlich zum Ende der Mittagspause wieder hinter seinem Schalter.

Manchmal fragte er sich ernsthaft, was er überhaupt in diesem Kaff verloren hatte.
 

Tatsächlich war das immer gerade dann der Fall, wenn in der Bibliothek mal wieder gar nichts los war und alle sich irgendwie beschäftigten, ohne dass das, was sie taten, groß Sinn machte. Alibiarbeit, wie zum Beispiel Bücher von A nach B tragen und sie so umzusortieren, dass sie wieder in halbwegs alphabetischer Reihenfolge standen. Denn wie auch der Ort selbst, war die Bücherei lächerlich winzig und den ansässigen Besuchern ohnehin jedes Buch bekannt, zumindest vom Sehen her. Neue Bücher gab es auch nicht wirklich oft und sie fielen zwischen den abgestoßenen Buchrücken der anderen sofort ins Auge. Wenn man etwas suchte, brauchte man maximal zehn Minuten, um es irgendwo aufzutreiben.
 

Aya verstand sowieso nicht, warum man drei Leute brauchte, um das Ding zu betreiben (außer ihm arbeiteten dort noch ein älterer Mann ganztags und eine Studentin halbtags), aber es war eine gute Möglichkeit, um Geld fürs Nichtstun zu bekommen.
 

Außerdem erinnerte es ihn ans Koneko. Ihm war immer schleierhaft geblieben, warum der Blumenladen nie als Tarnbetrieb aufgeflogen war. Bei genauerem Hinsehen konnte ein so kleines Geschäft mit fünf Angestellten doch gar nicht lukrativ sein. Vor allem wenn man bedachte, dass einer nur mit der Kundschaft flirtete, der Nächste sie eiskalt ignorierte, zwei von ihnen zwar verkauften, aber auch ständig Blumen verschenkten und die Oma den ganzen Tag nur rumsaß. Damals hatten sie auch einen Großteil der Öffnungszeit einfach damit zugebracht, Pflanzen hin- und herzuschleppen, um Tätigkeit vorzutäuschen.
 

Der Ex-Killer fragte sich mal wieder, wie es den anderen wohl ging. Er hörte nicht allzu oft etwas von ihnen, aber nach den Mails, die er ab und an bekam, ging es ihnen wohl ganz gut.

Sie waren damals nicht gerade begeistert gewesen, als er Weiß verlassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen. Und inzwischen fragte er sich auch, ob das eine gute Idee gewesen war.
 

Gut, er hatte den Job nie gemocht - wie sollte das auch gehen? - und hatte nachdem Aya wieder aufgewacht und bei ihm war auch keinen Grund mehr, weiter zu machen.

SZ war Schnee von Gestern, Schwarz angeblich tot - zu dem Thema sollte Omi vielleicht doch noch ein paar Recherchen anstellen... - kurz: das Gute hatte gesiegt... mehr oder weniger... zumindest hatten sie verhindert, dass das Böse siegte. Na ja, ein gesundes Unentschieden eben.
 

Aya-chan hatte die Schule abgeschlossen und war dann ins Ausland gegangen, um Ausbilderin für Blindenhunde zu werden. Sie hatte sich während der Zeit in der sie im Koma lag nicht verändert. Umso klarer wurde ihm bewusst, dass er ein völlig anderer Mensch geworden war. Es gab keinen Ran mehr.
 

Und deshalb hatte er sich entschieden, ein neues Leben anzufangen, als seine Schwester Japan verlassen hatte. Er hatte auch tatsächlich geglaubt, dass es klappen würde. Dass er irgendwann wieder ein normales Leben führen könnte.
 

Aber besonders in letzter Zeit beschlichen ihn Zweifel. Er hatte immer noch nichts mit dem Menschen gemein, der er einmal gewesen war. Ran...

Dem hätte diese Kleinstadt gefallen. Er hätte sich mit seinen Kollegen hier angefreundet, statt sie auf Abstand zu halten. Ran würde wahrscheinlich auch nicht ganz allein in einem Haus leben, wo es im Umkreis von zehn Kilometern nur zwei oder drei Nachbarn gab. Ran wäre sowieso nicht mehr allein. Weil Ran nicht so ein verkorkster, gefühlskalter Mensch war.
 

Aber zum Teufel! Er war immer noch Aya. Und sein Leben hier war nicht weniger deprimierend als das in Tokyo.

Aya blätterte die Zeitung durch, um sich abzulenken. Zugunglück, leichtes Erbebeben, eine Firmenfusion und ein Bericht über irgendeine Demonstration standen auf der Titelseite.

Außerdem hatte man irgendwo eine Leiche aus dem Meer gefischt. Aya fragte sich einen Moment, wie geschmacklos man sein musste, um das Foto einer Wasserleiche in die Zeitung zu setzen. Die von der Presse wurden auch immer schlimmer. Hauptsache, es war möglichst schockierend...
 

Er überflog noch den einen oder anderen Artikel, bis ihn das Klingeln des Telefons aufblicken ließ. Der Alte schwirrte irgendwo zwischen den Regalen herum und ließ sich nicht blicken, und die Studentin saß in der Nähe an einem Tisch, stempelte unerklärlicherweise irgendwas - Aya hatte keinen Schimmer, was zum Geier das sein konnte - und sah ihn auffordernd an. Na gut, dann würde er eben rangehen.
 

"Guten Tag."

"Hi, Ran! Wie geht's dir?"

"Hallo, Aya." Der Rotschopf lächelte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Schwester rief ihn nur selten während der Arbeit an, aber hier störte das eigentlich keinen.

Warum auch? Es gab ja eh nichts zu tun.

"Stör ich dich bei der Arbeit?"

"Nein, gar nicht. Zwischen acht und fünf ist hier nie viel los. Wie läuft's in der Schule?"

"Ach, ganz gut. Die meisten Hunde sind klüger als die Schüler... Und bei dir?"

"Nichts besonderes."

"Wirklich nicht?" Ihre Stimme hatte irgendwie etwas lauerndes.

"Nein. Eigentlich-"

"Och, O-nii-chan. Du könntest mir ruhig auch mal was von deinem Leben erzählen! Wenn ich dich anrufe, hab ich hinterher immer das Gefühl, dich die ganze Zeit nur zugetextet zu haben, weil du kaum was sagst."

"Na ja, es passiert eben einfach nicht viel."

"Wirklich nicht?" Wieder dieses Lauern.

Aya hob eine Augenbraue. "Kann es sein, dass du auf was bestimmtes hinaus willst?"

So war es offensichtlich. "Wer ist Schuldig?", platzte Aya-chan heraus.

Der Rotschopf wäre fasst vom Stuhl gekippt. "Woher weißt du denn von Schuldig?"

"Ich hab eben mit ihm telefoniert. Ich hab mich in der Uhrzeit vertan und dachte, du wärst schon Zuhaus... Ist doch auch egal. Wer ist das? Er hat gesagt, er wohnt jetzt bei dir?"

"Ach, hat er das?"

"Du willst es mir wirklich nicht erzählen, oder?"

"Nein, eigentlich versuche ich, so wenig wie möglich an Schuldig zu denken."

"Wieso denn das? Er klang doch ganz nett."

"Ist er aber nicht."

"Dann versteh' ich ehrlich gesagt nicht, warum du ihn bei dir wohnen lässt."

Aya sah aus, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. "Versteh' ich auch nicht..."

"Aber er ist nicht zufällig..."

"Was?!"

"Ähm... na ja... was er so gesagt hat, einiges hörte sich an, als ob..."

"..."

"Weißt du, Ran... Du kannst es mir ruhig sagen, wenn ihr... Also, ich hab nichts dagegen. Ich freu mich doch, wenn du nicht mehr allein bist. Wirklich."

"..."

"Ran? Bist du noch dran? ... Ran?"

"Ja, bin noch da."

"Ähm... hab ich was falsches gesagt? Hattet ihr vielleicht Streit?"

"Na, so könnte man's auch nennen...", murmelte Aya entgeistert. Was hatte dieser

geisteskranke Spinner seiner Schwester denn erzählt? "Also, Aya... egal, was er dir erzählt hat, es ist alles Blödsinn."

"Aber er wohnt doch bei dir...", Aya-chan war jetzt doch ein wenig verwirrt. "Ich mein, er ist doch ans Telefon gegangen. Oder nicht?"

"Weißt du, Aya, ich kann dir das jetzt nicht erklären. Ich ruf' dich irgendwann im Lauf der Woche zurück. Tschüß!"

"Ja okay, aber-", meinte Aya-chan noch verwundert.

Aber Aya hörte sie schon gar nicht mehr, war schon halb aus der Bibliothek raus, nachdem er der stempelnden Studentin, die ihn die ganze Zeit belauscht hatte noch zugerufen hatte, dass es sich um einen Notfall handele und er sofort gehen müsse. Sie nickte nur und wandte sich wieder ihrer Pseudobeschäftigung zu.
 


 

***********************
 

Und warum der Besuch einer Nachbarin Aya zur Kapitulation bringt,

wie Schuldig auf einen radikalen Kurswechsel reagiert

und wer diese Nacht auf dem Sofa schlafen muss,

das erfahrt ihr im nächsten Teil.

Waffenstillstand

Der Wagen sprang rumpelnd über eine besonders große Delle, als Aya ihn ohne Rücksicht auf Verluste über die Landstraße jagte. Er schaffte den Heimweg in Rekordzeit, bog mit quietschenden Reifen in seine Einfahrt ein und war schon aus dem Wagen gesprungen, keine Sekunde, nachdem er gehalten hatte.
 

Er stampfte wutschnaubend zum Haus, warf die Tür hinter sich zu - und erstarrte bei dem Bild, was sich ihm da bot. Schuldig saß mit seiner 68jährigen Nachbarin auf dem Sofa und sie tranken Tee und plauderten nett miteinander!

Einen Moment hatte Aya einfach nur das Gefühl, im falschen Haus zu sein. Aber nein! Das war sein Haus... Er war halt nur im falschen Leben.

Verlor er jetzt endgültig den Verstand oder sah er da tatsächlich Schuldig, einen Telepathen und Auftragskiller, in seinem Wohnzimmer sitzen und mit Makani-san Tee trinken?
 

In diesem Moment wurde der Rotschopf entdeckt und Schuldig grinste ihn fröhlich an.

"Aya! So früh schon zurück?"

Makani-san stand auf und verbeugte sich leicht. "Guten Tag, Fujimiya-san."

Aya starrte sie völlig perplex an, verbeugte sich aber automatisch auch. "Guten Tag."

/WAS MACHT SIE HIER?!/
 

Schuldig grinste. "Makani-san kam hier vorbei als ich grade im Garten war und ich habe sie auf einen Tee eingeladen.", erklärte er unschuldig, "Du hast doch sicher nichts dagegen?"

"Nein, sicher nicht." /Ich bring dich um./

Ayas Lächeln wirkte zwar etwas gezwungen, aber alles in allem bewunderte Schuldig seine Selbstbeherrschung. ~Ich weiß... deshalb habe ich ja eine Zeugin eingeladen.~
 

Aya hatte äußerste Mühe, das Knurren noch rechtzeitig als Räuspern zu tarnen. "Ich darf mich doch sicher dazu setzen."

"Ja sicher, ich hol dir eine Tasse und setze noch neuen Tee auf.", meinte Schuldig zuckersüß.

Er drückte Aya auf die Couch und wollte schon in der Küche verschwinden, als Aya wieder aufsprang.

"Warte, ich helfe dir." Das manische Glitzern in seinen Augen gefiel Schuldig gar nicht.
 

"Nein, nein, nur keine Umstände." Er schob Aya wieder aufs Sofa. "Du bist doch gerade erst nach Haus gekommen. Unterhalte dich doch lieber mit Makani-san, sie ist eine wahnsinnig charmante Frau."

"Schuldig-san! Sie sind mir ja einer!", flötete die ältere Dame und schickte Schuldig ein strahlendes Lächeln hinterher, als dieser in der Küche verschwand. "Ach, ist er nicht ein zauberhafter junger Mann?"

"Ist er das..."
 

"Aber ja!" Der sarkastische Unterton in Ayas Worten war seiner Nachbarin offenbar völlig entgangen. "Dass er so freundlich war, mich auf einen Tee einzuladen... wo er doch so schwer verletzt ist und sich noch schonen muss..."

"Schonen?"

"Na ja, er hat es mir ja erzählt... dieser schreckliche Autounfall. Schlimme Sache. Aber bei dem Verkehr heutzutage ist das ja auch kein Wunder..."

"Autounfall?"

"Aber ja, ich habe ihn danach gefragt, als ich die große Beule an seinem Kopf gesehen habe. Und dann auch noch an Rippen und Schulter verletzt. Ist das nicht furchtbar?"
 

Aya nickte ernst. "Ja furchtbar." /Hörst du zu? Du wirst noch ganz andere Verletzungen haben, wenn ich erst mal mit dir fertig bin!/

Das Bild eines breiten Grinsens blitzte in Ayas Bewusstsein auf. ~Nicht doch.~

"... unheimlich nett von Ihnen."
 

Aya sah Makani-san verständnislos an. "Was ist nett von mir?"

Die Dame strahlte ihn an. "Ach, Sie sind immer so bescheiden! Natürlich war es nett von Ihnen, dass Sie Schuldig-san eingeladen haben, eine Weile bei Ihnen zu wohnen, als ihm die Ärzte empfohlen hatten, zur Erholung aufs Land zu ziehen."
 

Aya überlegte gerade, was er darauf erwidern sollte, als das arme Unfallopfer grinsend in der Küchentür erschien, auf dem Tablett eine weitere Tasse und eine volle Kanne Tee.

"Entschuldigt bitte, dass ich euch habe warten lassen." Zuvorkommend schenkte Schuldig Makani-san nach ("Ach, Sie sind ja so ein höflicher junger Mann!") und reichte auch Aya eine Tasse, der diese mit einem Haifischlächeln entgegennahm und höflich dankte. /Falscher Hund!/
 

Schuldigs Grinsen wurde noch ein wenig breiter. Er goss sich selbst noch Tee ein und setzte sich dann neben Aya aufs Sofa. "Aya, schmeckt dir der Tee? Möchtest du vielleicht noch Zucker?"

"Nein danke." /Du bist so tot!/
 

Makani-san runzelte ein wenig verwirrt die Stirn. "Aya? Ist Ihr Vorname nicht Ran?"

~Ach, du heißt jetzt wieder Ran? Das muss einem doch gesagt werden...~

"Richtig, es ist auch nur... so eine Art Spitzname."

"Ja genau." Schuldig war offensichtlich bestens gelaunt und legte Aya einen Arm um die Schultern. "Der stammt noch aus der Zeit, als wir zusammen studiert haben. Aber eigentlich haben Sie Recht, es wirkt ein wenig albern. Nicht wahr, Aya? Ich sollte dich besser Ran nennen. Du hast doch nichts dagegen?"

"Nicht doch..." /UNTERSTEH DICH !!!/
 

"Ach, Sie haben zusammen studiert?" Makani-san lächelte und wandte sich Aya zu. "Sehen Sie, Schuldig-san wollte mir gerade erzählen, wie Sie sich kennen gelernt haben, als Sie hereinkamen."

Aya machte sich mühsam beherrscht von Schuldigs Arm los. "So. Wollte er."

"Ja sicher. Aber das war nicht beim Studium, da kannten wir uns ja schon eine Ewigkeit. Nicht wahr, Ran-chan? Aber möchtest du es ihr nicht erzählen?"
 

Aya funkelte den Deutschen böse an. "Nein, nein, du kannst das viel besser erzählen, als ich."

"Ach, er ist immer so zurückhaltend, nicht wahr?"

Schuldig nickte ernst, während er weiter Ayas Gewaltphantasien betrachtete. "Ja, geradezu schüchtern."

Makani-san lächelte. "Den Eindruck habe ich auch."

"Ja, so war er schon immer. Schon zu Kindergartenzeiten..."
 

Und während Schuldig weiter von ihrer gemeinsamen Jugend phantasierte und Makani-san gebannt lauschte, gab sich Aya geschlagen.

Es gab offenbar Dinge, gegen die man einfach nichts tun konnte, die man über sich ergehen lassen musste, während man hoffte, dass der Schaden nicht allzu groß werden würde. Dazu gehörten Naturkatastrophen, bestimmte Krankheiten - und offenbar auch Schuldig.

Aya lehnte sich zurück, ließ Schuldig reden und trank schweigend seinen Tee.
 

~*~
 

Nach einiger Zeit hatte sich Makani-san verabschiedet und Schuldig und Aya hatten sie noch bis vor die Tür gebracht. Nachdem die Eingangstür mit einem leisen Schnappen ins Schloss gefallen war, sah Aya Schuldig noch einen Sekundenbruchteil lang böse an, dann drehte er sich wortlos um und ging ins Wohnzimmer zurück.

Schuldig blickte verdutzt hinterher.
 

Was war denn nun kaputt? Keine Morddrohungen, keine Handgreiflichkeiten, keine wüsten Beschimpfungen, nicht mal in Gedanken? Seltsam. Sehr verdächtig. Hatte er wirklich einfach aufgegeben?

Na ja, schlauer war's ja, denn psychologische Kriegsführung war ganz klar Schuldigs Terrain. Da hatte Aya keine Chance.
 

Als Schuldig ins Wohnzimmer zurückkam, sah er Aya im Sessel sitzen. Er hatte sich ein Buch geholt und las. Schweren Herzens beschloss Schuldig, dass er es erst einmal gut sein lassen würde und legte sich auf die Couch.

Nachdem er zwei Tage lang auf Fernsehentzug war und nicht einmal Musik hören konnte, erschien ihm Ayas Buch unwahrscheinlich spannend. Außerdem hatte dieser eine angenehme Art zu lesen. Im Gegensatz zu anderen Leuten überflog er nicht nur den Text oder las jeden zweiten Satz mehrmals oder stockend oder - was am schlimmsten war kommentierte ständig gedanklich das Gelesene. So was konnte einem echt auf die Nerven gehen, wenn man jemandem beim Lesen zuhörte.
 

Es handelte sich um einen ziemlich blutigen Thriller. Schien wirklich interessant und spannend. Allerdings hatte Schuldig ein bisschen Schwierigkeiten, sich in die Handlung einzufinden, immerhin war Aya schon halb durch. Nachdem er nach etwa einer Stunde immer noch nicht hinter einige Zusammenhänge gestiegen war, beschloss er, einfach mal nachzufragen.
 

"Aya? Sag mal, kam da vorher schon mal irgendwas zu dieser Tante, die zuerst umgebracht wurde? Und wie hat das mit den Morden überhaupt angefangen? Die sprechen da ständig von irgendwelchen Indizien und ich hab keine Ahnung, was sie schon wissen und was nur der Leser weiß."
 

Aya sah kurz vom Buch auf und warf Schuldig einen überraschten Blick zu. "Du hast die ganze Zeit zugehört?"

"Hm."

"Ah... Nja, also die 'Tante' ist die Tochter des Polizisten. Angefangen hat es einfach so und vom letzten Mord wissen nur die Leser."
 

"Aha." Schuldig konnte es ja kaum fassen. Wie...? Und vor allem warum...? War der jetzt plötzlich handzahm geworden? Einfach so? Nach dieser Aktion?

Hm... Obwohl, eigentlich war es ganz gut, sich mal nicht über jede Kleinigkeit zu streiten.

War so viel entspannender, als sich die ganze Zeit anzubrüllen. Da fragte er sich nur, warum Aya so... na ja eben freundlich war.
 

Ob er mal nachfragen sollte? In seinen Gedanken konnte er es im Moment nicht lesen, weil er wieder las. Aber vielleicht wäre er dann wieder sauer und wenn er jetzt so auf der Couch lag und nichts tat, merkte Schuldig, dass es ihm doch ziemlich schlecht ging. Das lag keineswegs an seinen Verletzungen, sondern vielmehr daran, dass er seit über 24 Stunden keine Zigaretten mehr hatte. Er hob seine linke Hand vors Gesicht und betrachtete sie eingehend. War da nicht ein leichtes Zittern?
 

Aya, der ihn aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, legte sein Buch zur Seite. "Ich hab dir übrigens Nikotinkaugummis mitgebracht."

Ah! Schuldig bekam es langsam wirklich mit der Angst zu tun. Das war ihm eindeutig unheimlich. Irgendwas stimmte doch da nicht!
 

Was war es, was da im Sessel saß und was hatte es mit Aya gemacht? Andererseits... er könnte auch aufhören, sich den Kopf darüber zu zerbrechen und es einfach behalten. War eh viel netter. Es sah auch nicht so aus, als wäre das ein fieser Racheplan. Zumindest konnte er keine dahingehenden Gedanken finden. Aber er traute dem Frieden nicht. Er setzte sich auf.
 

"Bist du gar nicht mehr böse?"

Aya holte tief Luft. "Ich wollte dir einen Waffenstillstand vorschlagen."

"Ja? Aber du denkst nicht einmal mehr schlecht von mir, schmiedest keine Pläne und so weiter..."

"Tja, ich geb mir halt Mühe, ihn einzuhalten. Mich würde das nerven, wenn ich mir ständig mitanhören müsste, wie mich jemand beschimpft..."
 

Ja, Hallo? Schuldig hätte sich nicht gewundert, wenn sein Unterkiefer wie im Comic auf den Fußboden gefallen wäre. "Aber vorhin beim Tee wolltest du mich doch noch umbringen..."

Aya zuckte mit den Schultern. "Das war, bevor mir aufgegangen ist, was du bist. Nämlich ein menschliches Phänomen. Man kann gegen dich ungefähr soviel ausrichten, wie gegen Dauerregen. Und da ich deinen Besuch gerne an Körper und vor allem Geist unbeschadet überstehen würde..."
 

Schuldig grinste. "Dann war die Aktion mit Makani-san ja doch nicht ganz umsonst."

"Aber nein. So hatte ich doch das Vergnügen, alles über unsere gemeinsame Kindheit zu erfahren.", meinte Aya sarkastisch. "Ich muss dir wahrscheinlich schon dankbar sein, dass du ihr nicht den gleichen Scheiß erzählt hast, wie meiner Schwester. Und wo wir schon mal beim Thema sind: Was hast du ihr eigentlich erzählt?"
 

Ayas Stimme klang etwas drohender, aber er war immer noch ruhig. Wirklich unheimlich. Vielleicht war er Schuldig in Sachen psychologischer Kriegsführung doch ebenbürtig.

"Aber ich hab doch gar nichts gesagt. Das war das gleiche, wie bei Makani-san. Ich erwähne, dass ich jetzt bei dir wohne und nur anderthalb Andeutungen später gehen die Gedanken von ganz allein in die Richtung. Obwohl, bei Aya-chan war ich mir nicht so sicher. Sie ist zum Gedankenlesen wirklich etwas zu weit entfernt."
 

"Dann glaubt Makani-san also auch, dass..."

"Jepp."

"Grins nicht so blöd! Du machst das doch mit Absicht!" Aya rieb sich die Schläfen und musste sich ungeheuer anstrengen, um seinen Vorsatz, nichts Negatives über Schuldig zu denken, nicht zu brechen. Aber es klappte. Gerade so, aber immerhin. Schuldig verfolgte fasziniert Ayas Gedanken. "Das ist beeindruckend."
 

"Sag mal, verfolgst du damit eigentlich irgendwelche Absichten?"

Die Frage klang etwas gepresst, aber mit Ayas Wut wurde es nicht schlimmer. Schuldig sollte sich die Antwort wahrscheinlich gut überlegen. Er dachte meistens nicht viel darüber nach, bevor er etwas sagte, aber vielleicht war es dieser Waffenstillstand echt wert. Immerhin würde das gewaltig Nerven schonen. Und, nicht zu vergessen, Aya hatte immer noch den Nikotinkaugummi und Schuldig schlimme Entzugserscheinungen. In Anbetracht dieser Tatsachen...
 

Verkniff sich Schuldig die Gegenfrage ("Wieso? Interessiert?"), die ihm auf der Zunge lag ganz und das Grinsen halb. "Darf ich die Aussage verweigern?"

Aya nickte resigniert. Er hatte es schon bereut, dass er nachgefragt hatte. "Ist wahrscheinlich besser so."
 

Sie saßen schweigend da. Nach einer Weile meinte Schuldig: "Du hast den Fleck weggemacht..."

"Ich mag den Teppich halt." Er fasste Schuldig scharf ins Auge. "Also stimmst du dem Waffenstillstand zu? Die Bedingungen sind Folgende: Ich behandle dich wie einen Gast, solange du dich wie einer benimmst."
 

Schuldig hatte leichte Zweifel, ob er wusste, wie man sich als Gast benehmen musste, aber er konnte es ja mal versuchen. Zu verlieren hatte er nichts. "Okay."

Aya nickte, stand auf und ging in den Flur. Er kam mit der Zeitung und den Nikotinkaugummis wieder und legte sie auf den Tisch. Dann setzte er sich wieder in seinen Sessel. "Gut. Verrätst du mir jetzt, warum du hier bist?"
 

Schuldig schnappte sich so schnell wie möglich die Kaugummis, fummelte hektisch die Packung auf und warf erst mal zwei ein. "Na ja, wie gesagt, das ist Zufall. Ausgerechnet hier haben die Drogen aufgehört zu wirken und der Wagen ist im Graben gelandet. Wenn ich gewusst hätte, dass du hier wohnst, wär' ich wahrscheinlich ein Haus weitergegangen." Er stockte einen Moment und erinnerte sich wieder an Montagnacht. "Oder nein, ich glaub, das hätte nicht geklappt. Muss Schicksal sein."
 

Aya verdrehte nur die Augen, ging aber nicht weiter darauf ein. "Und wie kam es, dass du überhaupt angeschossen wurdest?"

"Irgendwelche Typen kamen in meine Wohnung und haben auf mich geschossen."

Aya sah ihn zweifelnd an. "Einfach so? Und du konntest sie nicht kalt machen, sondern musstest fliehen?"

Schuldig grinste schief. "Na ja, man muss dazu sagen, dass ich nicht mit Besuch gerechnet hatte und nicht unbedingt im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte war..."
 

Der Rotschopf schüttelte nur resigniert den Kopf. In seinem Geist setzte sich langsam ein Bild dieses Abends zusammen: Schuldig ist völlig breit, muss aus seiner Wohnung fliehen, setzt seinen Wagen in den nächsten Graben und - voilá! - blutet seinen, Ayas, Teppich voll.
 

"Hey! Du tust so, als ob das mein Fehler wäre!", protestierte Schuldig gegen diese doch etwas verzerrte Version des Tatherganges.

"Und wer waren diese Typen, die dich angegriffen haben?"

"Das ist es ja gerade. Ich habe keine Ahnung."

"Wie das? Irgendeinen Grund muss es doch haben, wenn plötzlich ein Mordkommando in deiner Wohnung steht."

"Ach nee!" Soweit war Schuldig auch schon gewesen. "Das Problem ist eben, dass da ziemlich viele Leute in Frage kommen. Vielleicht wollten sie mich aber auch nur anwerben... Echt, ich weiß es nicht."

"Dich anwerben? Indem sie auf dich schießen?", meinte Aya skeptisch.

Schuldig zuckte die Schultern. "Wäre nicht das erste Mal. Wirklich erstaunt wäre ich, wenn's mal jemand über E-Mail versucht."

"Dann passiert dir sowas öfters?"

"Tja, bin halt beliebt.", grinste Schuldig.

"Und du willst jetzt hier untertauchen, bis sich das Problem von selbst gelöst hat?"

"Genau." Schuldig lehnte sich auf der Couch zurück und grinste Aya an. "In diesem Kaff werden sie mich bestimmt nicht suchen. Und niemand hat gesehen, wie ich hier angekommen bin."
 

~*~
 

Nachdem sie Abendbrot gegessen hatten - und das in einer geradezu erstaunlich friedlichen Stimmung - hatte sich Aya wieder in seinen Sessel gesetzt und las, während Schuldig auf der Couch lag, leicht gelangweilt zuhörte und einen Kaugummi nach dem anderen kaute.
 

Irgendwann war der Telepath dann eingedöst. Er hatte heut ja auch echt zu wenig geschlafen.

Erst als das Geräusch der sich öffnenden Schlafzimmertür zu ihm durchdrang, wachte er wieder auf.

"Halt, halt, halt! Was machst du da?" Schuldig war aufgesprungen und stand jetzt dem etwas verwirrten Aya gegenüber, der schon im Pyjama war und offenbar nicht wusste, was der Deutsche jetzt schon wieder wollte.

"Schlafen gehen. Es ist kurz nach elf."

"Meinetwegen. Aber das Schlafzimmer gehört mir!"

"Erzähl nicht so einen Blödsinn!", meinte Aya ärgerlich. "Mein Haus, mein Schlafzimmer. Du kannst auf der Couch schlafen."

"Nein! Ich hab das Zimmer gestern rechtmäßig erobert. Außerdem bin ich dein Gast und verletzt. Ich krieg' das Bett!"

"Vergiss es!"

"Nein!"
 

Aya seufzte und ließ die Klinke der Schlafzimmertür los. "Okay. Wir regeln das wie Männer." Er trat einen Schritt auf Schuldig zu und funkelte ihn entschlossen an. "Wir knobeln!"

/Hä? Knobeln?/ Schuldig ließ sich nichts anmerken und blitzte zurück. "Okay."

Aya nickte kurz.
 

Schuldig konnte es nicht so recht glauben. War Aya jetzt komplett verrückt? Welcher normale Mensch würde denn mit einem Telepathen knobeln?

Na ja, ihm konnte das ja egal sein. Er würde das Schlafzimmer bekommen und könnte im Bett schlafen...

"Also, dann los."
 

Sie standen sich gegenüber, beide finstere Entschlossenheit im Blick.

"Schere, Stein..."

Schuldig las Ayas Gedanken: Er dachte an Papier, dann müsste er also nur Schere nehmen.

"... Papier!"

Schuldigs Grinsen verschwand. Aya hatte die Hand zur Faust geballt.

Stein? Was sollte denn das?
 

"Na dann, gute Nacht. Das Sofa lässt sich aufklappen, darin ist ne Decke und ein Kissen."

Schuldig starrte seine Hand an und konnte es nicht glauben. Stein? Wie...

"Hey! Du hast geschummelt! Du hast an Papier gedacht! Wie kannst du an Papier denken und dann Stein nehmen? Das ist Betrug!"
 

Aber Aya hörte ihm schon gar nicht mehr zu und war in seinem Schlafzimmer verschwunden.

Schuldig blieb vor der Tür stehen.

~Aya?~

/Was?/

~Deine Couch ist wahnsinnig unbequem!~

/Ich weiß./

~Und dein Bett ist doch ziemlich groß...~

/Vergiss es! Find dich damit ab und lass mich schlafen!/

Schuldig grinste. ~Hab dich nicht so. Hast du etwa Angst, dass ich über dich herfalle?~

/Lass die blöden Witze und geh schlafen!/

~Oder befürchtest du, dass du über mich herfällst?~
 

Die erwartete wütende Antwort blieb aus. ~Aya?~ Schuldig stand für einen Moment verblüfft lauschend da. Und langsam ging es ihm auf: Er war schon wieder rausgeflogen.

Wie machte Aya das? Der dürfte das nicht können!

Ob er wusste, dass er das konnte? So langsam machte Schuldig sich Sorgen. Wenn Aya ihn jetzt schon bei 'Schere-Stein-Papier' schlug, sollte er vielleicht noch mal überdenken, wer hier die Fäden in der Hand hielt.
 

Schuldig versuchte noch ein paar mal, die Verbindung wieder herzustellen, schaffte es aber nicht mehr. Vielleicht lag es nur daran, dass er müde war. Vielleicht hatte Aya gar nichts damit zu tun, dass der Kontakt abgerissen war.

Ja klar! Und vielleicht würden demnächst die Pinguine das Fliegen lernen und den Schwalben Konkurrenz machen.

Schuldig versetzte dem Türrahmen einen wütenden Tritt und stapfte dann zum Bad. Egal, was es war, er konnte nichts dagegen tun. Also würde er jetzt erst mal schlafen gehen - auf der Couch.
 

***********************
 

So. Ist doch schon mal ganz gut, oder?

Und ob diese friedliche Koexistenz von Dauer ist,

warum Schuldig sich fest vornimmt, Aya nicht zu mögen,

wie sich ein Telefongespräch zwischen Aya-chan und Schuldig anhört

und wer Schuldig als Anhalter mitnimmt,

das und noch ein bisschen mehr erfahrt ihr im nächsten Teil.

Aufgeflogen

Es war Donnerstag, es war halb zwölf und Aya war vor mindestens vier Stunden zur Arbeit verschwunden.

Schuldig war gerade erst aufgewacht, stand jetzt unter der Dusche und holte sich einen runter.

Sein Liebesleben litt ganz schön unter seinem Aufenthalt hier. Na ja, er war in vielerlei Hinsicht auf Entzug.

Vielleicht könnte er ja was mit Aya anfangen...
 

Er unterbrach den Gedanken. Nein, nein, nein! Aya war gar nicht gut!

Schuldig hatte sich eigentlich immer an den Grundsatz gehalten, in eine Beziehung nie mehr zu investieren, als das Geld für ein paar Drinks und ein Kondom. Aya rumzukriegen dagegen, würde wahrscheinlich nur in Arbeit ausarten und noch dazu viel Zeit kosten.
 

Außerdem musste er sich eingestehen, dass er vor Aya ein gewisses Maß an Respekt empfand. Das passierte ihm nicht oft. Aber es gab ja auch nicht viele Menschen, die mit ihm fertig wurden und Aya war in dieser Hinsicht schon ziemlich beeindruckend. Die Fähigkeiten, die sich da abzeichneten, waren Schuldig nicht geheuer.

Jedenfalls musste er aufpassen. Mit Leuten zu schlafen, die man respektierte war gefährlich, da konnte alles möglich passieren...
 

Und dann war da ja auch noch diese Kleinigkeit, dass Aya ihm das Leben gerettet hatte. So sehr Schuldig sich auch darüber wunderte und so sehr sich Aya in den vergangenen Tagen gewünscht hatte, er hätte es nicht getan, Fakt war doch, dass Schuldig ohne ihn ziemlich tot wäre. Es war geradezu erschreckend, wie sehr Schuldig sich dazu zwingen musste, nicht dankbar zu sein.

Und dann sah er auch noch gut aus...
 

Scheiße, das konnte sich noch zu ernsthaften Emotionen auswachsen. Und das wäre dann ja wohl wirklich nur noch erbärmlich und deprimierend! Vor allem, weil der Rotschopf ja so gar nichts von Schuldig wissen wollte. Es wäre viel einfacher, Aya einfach weiterhin zu hassen.

Aber der hatte ja seit gestern nicht einmal mehr eine Beleidigung gedacht!

Wie sollte denn Schuldig damit fertig werden?
 

Als er das Bad verließ, hatte er noch immer keinen Schimmer, was er machen sollte. Am besten wäre wahrscheinlich, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. War da nur sein kleines Yakuza-Problem oder wer auch immer die Typen waren. Vielleicht, wenn er das Problem schnell lösen konnte...
 

Bis dahin musste er halt aufpassen, dass er nicht anfing, Aya tatsächlich zu mögen.

Das würde er schon schaffen. So schwierig konnte das ja wohl kaum sein, schließlich konnte Schuldig die meisten Leute, denen er so begegnete, nicht leiden und das machte ihm ja auch überhaupt keine Schwierigkeiten...
 

Er saß gerade am Küchentisch und frühstückte, als das Telefon klingelte. Aya hatte eins von den Dingern, die man durch die ganze Wohnung schleppen konnte und die man immer erst ewig suchen musste, wenn sie mal klingelten.

Zumindest jetzt war das kein Problem, weil das Telefon auf dem Küchentisch direkt vor Schuldigs Nase lag.
 

"Hallo?"

"Hi, hier ist Aya.", meldete sich eine fröhliche Mädchenstimme am anderen Ende der Leitung. "Bist du's, Schuldig?"

"Ja. Wer sonst? Dein Bruder arbeitet doch um die Zeit."

"Ja, ich weiß."

"Wolltest du mit mir sprechen?"

"Na ja, vor allem wollte ich hören, ob du noch da bist. Ran klang gestern so sauer am Telefon... Ich hoffe, du hattest keinen Ärger wegen mir?"
 

Schuldig grinste. Mit Aya-chan zu telefonieren war lustig. Er versuchte möglichst betrübt zu klingen. "Na ja... Ich musste auf der Couch schlafen."

"Oh... tut mir leid." Sie klang wirklich zerknirscht.

"Schon okay..."

"Hm... und was machst du so, wenn Ran arbeitet?"

"Mich langweilen. Jetzt gerade frühstücke ich."

Aya-chan lachte. "Ich auch, aber bei euch muss es doch schon nach zwölf sein."

Schuldig zuckte mit den Schultern. "Spar' ich mir das Mittag."

"Du könntest doch Ran in seiner Mittagspause besuchen, wenn du dich langweilst."

Schuldig hätte fast laut gelacht bei der Vorstellung, wie der Rotschopf darauf reagieren würde. "Ach, ich weiß nicht... du weißt ja, wie er ist..."

Aya seufzte. "Ja, ja... ich weiß."
 

Schuldig unterhielt sich noch eine Weile mit ihr, wobei er versuchte, so wenig Missverständnisse wie möglich aufzuklären, und als sie dann auflegte, hatte Schuldigs Laune sich ganz erheblich verbessert.

So. Und nachdem er jetzt wieder ein bisschen was für Ayas guten Ruf getan hatte, was jetzt?

Sein Blick fiel auf die Zeitung, die wohl Aya auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Er blätterte darin herum und überflog die Schlagzeilen. Zugunglück, leichtes Erbebeben, Firmenfusion, Demo...
 

Oh, da hatte man irgendwo ne Leiche aus dem Meer gezogen. Schuldig betrachtete das Foto.

Seit wann druckten die Bilder von Wasserleichen in Zeitungen ab? Da konnte einem ja das Frühstück vergehen. Echt, der Typ da hatte auch schon mal besser ausgesehen...
 

Schuldig stutzte. Irgendwie kam der ihm bekannt vor. Hatte er den nicht schon mal gesehen? Der Telepath dachte einen Moment nach.

Ja, klar! Der war doch damals bei diesem komischen Drogenheini gewesen, dem Schuldig vor ein paar Tagen einen Besuch abgestattet hatte. Nervöser Typ nicht äußerlich, aber seine Gedanken... Junge, Junge, hatte der Schuldig genervt! Und als Schuldig mit umdekorieren angefangen hatte, war er getürmt...

Schuldig warf noch einen Blick aufs Foto. Tja, so sah man sich wieder. Die Welt war klein.

Warum sie den wohl kalt gemacht hatten? Na ja, konnte ihm eigentlich egal sein.
 

Was ihn wirklich störte, war der wahnsinnig langweilige Nachmittag, dem er jetzt entgegen sah. Er sollte wirklich mal raus. So groß war das Risiko, dass er hier gesehen wurde ja auch nicht. Außerdem wollte er sich Zigaretten kaufen. Diese blöden Kaugummis waren doch bestenfalls Placebos.

Ein Schuldig-typisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er an Aya-chans Worte dachte. Ja, eigentlich könnte er mal Ran besuchen...
 

~*~
 

"Ist das der Wagen?"

Der Mann im schwarzen Trenchcoat zog einen Zettel hervor und verglich das Nummernschild mit den Angaben, die er sich dort notiert hatte. "Wahrscheinlich, so viele gibt's hier nicht von der Sorte. Aber das Nummernschild ist viel zu verdreckt und vom hier aus kann ich auch nicht viel sehen."
 

Der Privatdetektiv nickte und beschleunigte den Wagen, der in Schrittgeschwindigkeit die Straße entlanggefahren war. Er warf einen missbilligenden Blick auf die dunkle Sonnenbrille und die Kleidung des Mannes auf dem Beifahrersitz.

"Ging's nicht ein bisschen unauffälliger?"
 

Über dem rechten Glas der Sonnenbrille erschien eine buschige schwarze Augenbraue, die in starkem Kontrast zu den gebleichten Haaren stand.

"Na, die Sonnenbrille.", erläuterte der Fahrer. "Es ist Ende Oktober. Dir sieht doch jeder auf hundert Meter Entfernung den Schläger an."
 

Gott, warum musste er mit diesem Trottel zusammenarbeiten?

War es nicht auch ohne so einen Klotz am Bein schon schwer genug, einen Typen zu finden, der inzwischen praktisch überall in Japan sein konnte? Na schön... lange, rote Haare, europäisches Aussehen... das fiel auf.

Aber es wäre trotzdem toll, wenn Kaike, dieser zwielichtige Kerl, ihm nicht zusammen mit dem Auftrag, diesen Schuldig zu finden, gleich einen seiner Gorillas mitgegeben hätte.
 

Hoffentlich würden sie ihn bald finden... dieser blondierte Typ nervte ihn gewaltig.

Montagnacht war der Gesuchte hier in der Nähe geblitzt worden aber das hieß ja noch lange nicht, dass er noch hier war.

Wieder einmal fluchte der Detektiv innerlich auf seinen Mann bei der Polizei, weil der ihn nicht schneller informiert hatte.
 

"Gehört das Haus ihm?", wurde er aus seinen Gedanken gerissen.

Er zuckte nur die Schultern. "Nach meinen Infos, hat er nur die Wohnung. Aber vielleicht unter falschem Namen... Ich werd nachher rausfinden, wem's gehört."
 

Sie hatten etwas weiter die Straße rauf gewendet und fuhren jetzt noch einmal an dem Haus vorbei.

Vor dem Wagen, der schräg hinter dem Haus parkte und den man von der Straße aus nur schlecht sehen konnte, stand jetzt ein junger Mann genauer gesagt stand er nicht davor, sondern trat auf die Karre ein. Lange, rote Haare, europäisches Aussehen...

"Bingo!" Der Detektiv hielt an.
 

Der Gorilla beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. "Und der soll gefährlich sein? Wirkt auf mich harmloser als'n Zahnpflegekaugummi..."

"Keine Ahnung... Immerhin ist er fünfen von deiner Sorte entwischt. Mir kann das ja jetzt auch egal sein, mein Auftrag ist erfüllt."
 

Plötzlich sah der junge Mann, der bis eben noch mit seinem Wagen beschäftigt gewesen war auf und direkt zu den Beobachtern herüber. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er auf sie zu ging und es wurde noch breiter, als er an dem Fahrer zuwinkte und ihm ein Zeichen gab, das Fenster runter zu lassen. "Fahrt ihr zufällig in den Ort?"
 

Der Detektiv sah ihn verblüfft an.

Der schien ja gar nicht zu wissen, dass er gesucht wurde.

"Ähm... ja, in den Ort...", stammelte er.

Das Grinsen wurde noch breiter. "Schön. Könnt ihr mich mitnehmen?" Er deutete mit einer Bewegung des Kopfes hinter sich. "Mir ist die Karre verreckt."
 

Der Fahrer brachte nur ein Nicken zustande und der Gesuchte setzte sich auf den Rücksitz.

Eine Weile fuhren sie schweigend. Der Fahrer beobachtete den Langhaarigen im Rückspiegel. Der Typ sah wirklich harmlos aus und irgendetwas schien ihn ungemein zu amüsieren.

Warum der wohl gesucht wurde?
 

~*~
 

Aya lehnte gelangweilt an einem der großen Bücherregale. Für die Verhältnisse, die hier herrschten, war heute geradezu der Bär los. Außer dem Alten wuselten noch drei Jugendliche zwischen den Regalen rum.

Zu tun gab es trotzdem nichts. Die Studentin war wie immer beschäftigt, las in irgendwelchen Listen, von denen Aya keine Ahnung hatten, was darin stand. Vielleicht ihr Inventar an Büchern? Nein, dafür waren sie eigentlich zu lang.
 

Wieder sah Aya auf seine Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis Feierabend...

Komisch. Normalerweise wartete er nicht darauf. Es war ja auch eigentlich egal, ob er sich Zuhause langweilte oder hier. Nur, dass er sich heute nicht langweilen würde, wenn er nachhause kam. Mit einem Telepathen in der Wohnung war das ja auch völlig undenkbar...

Na ja, es war ja nur eine Frage der Zeit, bis der wieder verschwinden würde.

Aya seufzte.
 

Die Jugendlichen waren jetzt ausgeschwärmt und unterhielten sich über die Regalreihen hinweg weiter miteinander.

Die Tür ging auf, da kam noch jemand.

/Mensch, sieben Leute gleichzeitig hier drin! Was sind wir heute gut besucht./

~Mach dir keine Hoffnungen, ich leih mir bestimmt keine Bücher aus.~
 

Aya drehte sich zur Tür um und erkannte Schuldig, der mit einem Grinsen im Gesicht auf ihn zu kam, dann aber plötzlich ziemlich erstaunt aussah.

"Sag mal, hast du eben gelächelt?"

Hä? Gelächelt? Er? "Mach dich nicht lächerlich! Was machst du hier? Ich denke, du wolltest das Haus nicht verlassen."
 

Das Grinsen erschien wieder. "Ich bin sowieso aufgeflogen. Die Typen waren sogar so nett, mich herzufahren." ~Jetzt weiß ich auch, wer mir die Killer vorbeigeschickt hat. Ich hab nur noch keinen Schimmer, was er gegen mich hat.~

"Wirklich nicht?"

"Na ja, ich hab ihm ein paar Möbel kaputt gemacht, aber deshalb schickt man doch keine Killer..."

"Ja, schrei doch noch lauter. Ich glaub, der Alte hat dich noch nicht verstanden."

"Oh... na okay, ich erzähl's dir nachher." Schuldig zuckte die Schultern und grinste wieder.
 

"Hey, weißt du was? Entweder liegt's daran, dass ich lange niemanden mehr belauscht habe, oder Kleinstadtleute sind einfach lustiger als Großstädter. Was die hier so denken... du gehst einmal durch den Supermarkt und schon weißt du, dass die Fleischerin eine Affäre mit dem Bibliothekar hat." Schuldig deutete über seine Schulter hinweg auf den Alten, der immer noch zwischen den Regalen umherirrte.
 

Aya zog eine Augenbraue hoch. "Unglaublich. Aber auch nicht im Mindesten interessant.", meinte er trocken.

Schuldig nickte. "Stimmt. Die Studentin ist viel interessanter."

"Warum denn das?"

"Na ja, sie hat hier nur wegen dir angefangen und obwohl sie dich inzwischen für schwul hält, stellt sie sich gerade wieder vor, wie du nackt aussiehst." Schuldig grinste noch ein bisschen breiter. "Hui, sie hat ne ziemlich gut ausgeprägte Phantasie... ah, Kunststudentin..."

"Guck nicht hin!", brummte Aya.

Schuldig warf ihm nur einen spöttischen Blick zu. "Soll ich ihr mal Guten Tag sagen?"

"Lass es. Was willst du hier?"

"Na, ich wollt nur mal das Nötigste einkaufen. Zigaretten, Discman, CDs..."

"Nicht zufällig auch eigene Klamotten?"

"Nein, ich hab mich schon so an die gewöhnt. Den Pullover mag ich echt gern."

"Ich mag den Pullover auch. Deswegen hab ICH ihn MIR gekauft."

"Aber du willst mir doch jetzt nicht hier vor allen Leuten die Kleidung vom Leib reißen, oder?"

Die Studentin sah auf.

"Willst du mir damit irgendwas sagen oder kommen solche Sprüche bei dir automatisch?"

Schuldig gab sich zerknirscht. "Ich kann absolut nichts dagegen tun."

"Und warum bist du jetzt hier in der Bibliothek?"

"Ich wollte dich besuchen. Und außerdem musst du mich nach Hause fahren."

"Sag mal, kannst du dich nicht teleportieren?"

"Ne, nicht wirklich. Das ist nur ein Blackout beim Gegner. Ich schaff auch nur ein paar Sekunden."

Aya zog eine Augenbraue hoch. "Tja, dann musst du warten. Ich hab noch zu arbeiten."
 

Er machte allerdings keinerlei Anstalten, seinen Platz am Bücherregal aufzugeben. Schuldig schien einen Moment lang auf irgendwas zu warten, dann sah er Aya erstaunt an.

"Hä? Nennst du das arbeiten? Bist du zur Deko hier, oder was? Kannst du nicht einen von den Jugendlichen an die Wand stellen, damit er hier für dich weitermacht?"
 

Einen Augenblick lang zog Aya das ernsthaft in Erwägung. Wenn sogar Schuldig merkte, dass etwas keine Arbeit war, war das schon bedenklich...

"Hey, das hab ich gehört."

"Tschuldigung." Er stieß sich vom Bücherregal ab. "Na gut."

"Wie 'na gut'?"

"Wir gehen." Aya, der schon halb an der Tür war, drehte sich noch mal zur Studentin um, die das Listelesen aufgegeben hatte und sie stattdessen neugierig beobachtete. "Ihr kommt doch auch allein klar, oder?"

Mit einem Schulterzucken als Antwort war Aya zufrieden und stand schon an der Eingangstür. "Schuldig, willst du da Wurzeln schlagen oder kommst du jetzt?"
 

Angesprochener warf der Studentin noch einen bedauernden Blick zu. "Gerade, wo's spannend wurde...", maulte er, folgte Aya aber nach draußen. "Meinst du, ich habe einen schlechten Einfluss auf dich?"

"Sei nicht albern! Steig ein." Aya saß schon im Auto und war gerade dabei, den Motor anzulassen.

"Kann es sein, dass du deinen Job hasst?"

"Kann sein...", brummte Aya, während er den Wagen auf die Straße lenkte. "Schnall dich an!"

"Hör auf, mich rumzukommandieren!", protestierte Schuldig.

Aya zuckte die Schultern. "Dann schnall dich eben nicht an."

Schuldig warf Aya noch einen trotzigen Blick zu, dann zog er den Gurt nach vorn und befestigte ihn.
 

"Also... jetzt, wo sie dich gefunden haben. Gehst du jetzt wieder?"

Schuldig sah Aya erstaunt an. Das hatte ja nicht halb so erfreut geklungen, wie er das erwartet hatte. Aus Ayas Gedanken wurde er allerdings wieder mal nicht schlau. Na ja, wahrscheinlich hatte er sich geirrt. "Ja, du bist mich bald los."

"Hm."

"Was heißt denn 'Hm'?"

"Nichts. Wolltest du mir nicht erzählen, wer dir die Killer schickt und warum?"

"Ach ja. Kaike."

"Der Drogenboss?"

"Du kennst dich gut aus."

"Der stand schon vor einem Jahr auf Kritikers Abschussliste. Man kann ihm kaum was nachweisen."

"Und da lebt er immer noch?"

Aya zuckte die Schultern. "Gegen die andern ist er wohl nur ein kleiner Fisch. Was hat er denn gegen dich?"

"Keine Ahnung. Er reagiert über."

Aya verdrehte die Augen. "Was hast du gemacht?"

"Ich bin in seine Villa eingebrochen und hab ein paar Sachen kaputt gemacht."

Aya warf ihm einen skeptischen Blick zu. "Ein paar?"

"Na ja... die meisten. Ich hatte ziemlich schlechte Laune."

"Warum?"

"Erst bezahlt mich dieser Idiot nicht bar, und wenn ich dann zustimme, dass er mir den Gegenwert auch in Drogen geben kann, versucht er, mich zu bescheißen."
 

Aya sagte nichts dazu, aber Schuldig fühlte sich offenbar aufgefordert, das Problem weiter auszuführen. "Das war so mieser Stoff! Du machst dir ja keine Vorstellung! Ich dachte, ich sterbe. Mir war zwei Tage lang schlecht. Und als es mir wieder besser ging, hatte ich grad nicht so viel zu tun und dachte mir, ich besuch' das Arschloch mal."

"Aha.", sagte Aya, während er sich dachte, dass er so eine haarsträubende Geschichte hätte erwarten müssen. Über das Maß an Wahnsinn, das dahinter steckte, war er trotzdem erstaunt.

Schuldig sah ihn fragend an. "Versteh ich nicht. War doch ne ganz normale Reaktion."

/Kommt drauf an, was man so unter 'normal' versteht.../

"Ja ja... okay, für meine Verhältnisse." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das ist jedenfalls kein Grund, mir erst Killer zu schicken und mich dann auch noch suchen zu lassen. So nötig hat's der Typ nicht, mit Drogen kann man ganz schön Knete machen."

Aya zuckte die Schultern. "Vielleicht hing er an seinen Möbeln?"

"Auf mich wirkte er eigentlich nicht sentimental..."

"Hast du irgendwas mitgehen lassen?"

"Nur sein Feuerzeug. Als Souvenir."

"Du brichst bei ihm ein, nur um alles kurz und klein zu schlagen?"

Schuldig nickte. "Es ging ja gar nicht ums Geld. Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich damit keine Probleme hab. Es ging ums Prinzip."

Aya wühlte in seiner Manteltasche und holte das Feuerzeug raus. Er hatte es bis jetzt ganz vergessen. "Dann gehörte das hässliche Ding also Kaike?"

"Oh, du hast es gefunden." Schuldig schnappte es sich und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.

"Es lag in deinem Wagen im Wasser. Jetzt funktioniert's nicht mehr."

"Hat es sowieso nicht. Ich hab's auch nur behalten, weil mir das Design gefiel."
 

Aya verzog das Gesicht, sagte und dachte dann aber lieber nichts. "Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, können wir in den nächsten Tagen oder vielleicht sogar schon heute mit dem Besuch von Kaikes Schlägern rechnen und du hast keine Ahnung, warum."

"Bei dir klingt das so negativ.", maulte Schuldig.

"Ist es ja auch."
 


 

********************************
 

Und ob die beiden sich auch weiterhin so gut verstehen,

Ob Schuldig es schafft, seine guten (?) Vorsätze einzuhalten

und ob Kaikes Gorillas bei dem Ganzen noch ein Wörtchen mitzureden haben,

das erfahrt ihr im nächsten Teil.

Invasion

Jeder Mensch ist allein...

Aya stand in der Küche und starrte aus dem Fenster, während er auf das Klicken des Wasserkochers wartete. In absehbarer Zeit wäre er auch wieder allein...

Schweigend sah er in den Garten, beobachtete, wie der Wind durch die Krone des Baumes strich, hier und da schon die ersten Blätter mitnahm.

Allein...

Störte ihn das? Nein. Allein zu sein war kein Problem. Es war sogar gut, man wurde nicht von anderen genervt, musste sich nur um sich selbst kümmern.

Das Problem war...
 

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere.

Das Problem war vielmehr, wenn man Leute um sich hatte - nein, nicht einfach Leute: Freunde - und trotzdem allein war. Wenn man es einfach nicht schaffte, sich ihnen zu öffnen. - Und er wusste ganz genau, dass es nicht an ihnen lag. Es lag an ihm.

Nicht einmal Sakura hatte er sich geöffnet. Sie hatte ihn wirklich geliebt, das wusste er. Und es hatte ihn Hoffnung schöpfen lassen. Er hatte ihr von sich erzählen wollen. Von der Schuld, den Albträumen, dem Gefühl der Sinnlosigkeit...

Und dann hatte er sie angesehen und es nicht fertig gebracht, ihr Bild von ihm zu zerstören. Dieses Bild von einem Helden, der für die Gerechtigkeit kämpft...

Sie hatte ihn geliebt. Aber sie hätte ihn nie verstanden.
 

Das Schlimme war, dass er sich nicht einmal mehr erinnerte, wie es war, jemanden wirklich an sich heran zu lassen. Und er war sich auch schon seit einiger Zeit nicht mehr sicher, ob Ran es je gewusst hatte.

Vielleicht war es hoffnungslos. Vielleicht konnte er den Namen und das Leben wechseln so oft er wollte und es würde sich nichts ändern. Einfach, weil er so war, weil er nie anders gewesen war und sich auch nie ändern würde.

Er seufzte, riss sich vom Anblick des rot und gelb gefärbten Baumes los und wandte sich dem Wasserkocher zu. Er war ausgegangen, das Klicken musste er überhört haben.

Das Wasser war aber noch heiß und er goss den Tee auf.
 

Das gedämpfte Fluchen aus dem Bad drang wieder zu ihm durch und erinnerte ihn daran, dass Schuldig gerade seine Verbände wechselte. Wie konnte das denn so lange dauern?

Er ging zum Bad, lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete, wie Schuldig vorm Spiegel stand und konzentriert versuchte, sich nur mit Links einen neuen Verband anzulegen.

Mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln stellte er fest, dass sein schwarzer Pullover offenbar einfach auf den Boden gepfeffert worden war. Wenn der Deutsche schon seine Sachen tragen musste, konnte er dann nicht wenigstens...
 

"Fuck! Warum hält denn diese Scheiße nicht?", unterbrach eben jener Deutsche Ayas Gedankengänge, als die Mullbinden wieder verrutschten und nur noch lose über seiner Schulter hingen.

"Brauchst du Hilfe?"

Schuldig drehte sich überrascht zu Aya um und sah ihn dann verärgert an. "Tu dir bloß keinen Zwang an. Du kannst auch gern weiter zugucken.", erwiderte er bissig.

"Okay." Aya zuckte nur die Schultern. Er konnte auch gut damit leben, Schuldig nicht zu helfen, vor allem, weil er sich selbst wunderte, wieso er überhaupt seine Hilfe angeboten hatte. Also blieb er in der Tür stehen und beobachtete mit einem Hauch von Schadenfreude, wie auch der nächste Versuch, einen einigermaßen haltenden Verband herzustellen, misslang. Der wievielte das wohl jetzt schon war?

"Der fünfte. Mein Schnitt liegt bei sieben." Schuldig setzte sich mit einem genervten Seufzen auf den Wannenrand und sah auffordernd zu Aya hinüber. "Jetzt hilf mir schon und tu nicht so als hättest du noch nie was von Sarkasmus gehört."

Aya hob fragend eine Augenbraue. Warum war der denn so gereizt? Er zögerte noch einen Augenblick, dann ging er zu Schuldig hinüber, rückte die Kompresse wieder gerade über die nur langsam verheilende Wunde an der Schulter und befestigte sie, indem er die Binde fest um Schulter und Oberkörper schlang. Keine zwei Minuten später steckte er das Ende des Verbandes mit einer Sicherheitsnadel fest. Und was war daran jetzt so schwer gewesen?

"Ach, lass mich doch in Ruhe! Mit zwei Händen ist das natürlich kein Problem."

Aya ignorierte Schuldigs Genörgel einfach und wandte sich der Wunde an der Seite zu, die nicht so tief und auch schon viel besser verheilt war. Da konnte er sich den Aufriss mit einer Kompresse sparen und einfach eins von den großen Pflastern raufkleben, die er gestern in der Apotheke gekauft hatte.

"Was denn? Du hast auch Pflaster? Und dann lässt du mich hier mit diesen scheiß Verbänden rumhantieren, ohne was zu sagen?", rief Schuldig ihm hinterher, als er das Bad verließ.

"Gott, hab dich nicht so. Ich hab's eben vergessen. Außerdem ist bei der Wunde, die du an der Schulter hast ein richtiger Verband besser. Und du hattest doch sowieso Langeweile." Beim letzten Satz betrat Aya das Bad wieder, in der Hand eine kleine Tüte mit überdimensionalen Pflastern und weiteren Mullbinden. Ich wundere mich eher, dass du die Tüte nicht von selbst gefunden hast. Sag bloß, du hast seit gestern nicht mehr in meinen Sachen gewühlt." Er ließ sich vor Schuldig auf die Knie sinken, um die Wunde in Augenhöhe zu haben, und fing an, sie zu desinfizieren.

"Nein. Stell dir vor, ich hab tatsächlich versucht, mich an unser Abkommen zu halten."

Schuldig sah zu, wie der Rotschopf eines der Pflaster auspackte und es aufklebte. "Außerdem war es nicht sehr spannend, deine Sachen zu durchsuchen. Wirklich, du hast ein ziemlich langweiliges Leben."

Aya erstarrte mitten in der Bewegung und sah wütend zu Schuldig auf. "Was soll das denn heißen?"

"Na, langweilig eben. Das Gegenteil von aufregend. Kein Stress, keine Freunde, keine Aufgaben, keine Ziele, keine Wünsche, nichts. Du bist einfach nur einsam." Es hatte nicht so verletzend klingen sollen. Schuldig hatte einfach schlechte Laune und niemanden außer Aya, an dem er sie auslassen konnte.

Nur dass es eventuell keine gute Idee war, schlechte Laune ausgerechnet an Aya auszulassen.

Der stand nämlich auf und maß Schuldig mit einem Blick, der alle Bisherigen an Mordpotential noch weit in den Schatten stellte.

Aber dann ging er einfach raus, nur ein Gedanke hing noch in der Luft. Wütend, feststellend, konzentriert und definitiv direkt an den Telepathen gerichtet: /Arschloch./

Schuldig sah ihm total verblüfft nach. Was war das denn gewesen? Hatte er jetzt irgendwas verpasst oder war Aya eben gegangen, ganz ohne Morddrohungen und versuchte Körperverletzung? Nur mit dieser, objektiv gesehen, harmlosen Beleidigung? Dabei hatte er sich bei dem Blick eben innerlich schon auf Mord und Totschlag eingestellt...

Irritiert stand er auf, hob den Pullover auf.

Warum hatte er das eigentlich gesagt? Das war doch total bescheuert gewesen.

Unnötig, kindisch, dämlich. Und war seine Laune jetzt um einen Deut besser? Hatte ihn das jetzt in irgend einer Weise aufgebaut?

Er ging zur nächsten Wand und schlug seinen Kopf dagegen, nahm mit einer gewissen Genugtuung den dumpfen Schmerz in seiner Stirn wahr.

Nein, natürlich hatte er kein schlechtes Gewissen! Warum auch? War doch nicht sein Problem, wenn andere Leute nicht mit der Wahrheit klar kamen. Was hatte er damit zu tun?

Viel entscheidender war doch die Frage, warum er sich nicht besser fühlte. Andern Leuten Dinge zu sagen, die sie nicht hören wollten, war doch sonst immer ein todsicheres Mittel, um Stress abzubauen. Und jetzt fühlte er sich noch schlechter als vorhin...
 

Scheiße! Irgendwas lief hier ganz gehörig falsch.

Schuldig zog sich den Pullover über den Kopf, während er zum Waschbecken herüberging und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Dann stützte er sich schwer auf die glatte weiße Keramik und starrte in den Spiegel, in sein verwirrtes Gesicht, seine müden Augen.

Was war es? Was stimmte hier nicht? Warum hatte er das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben? Warum taten ihm seine Worte leid? Warum...

Moment! Ihm tat nichts leid! Das war ja wohl ganz klar nicht möglich. Reue war Zeitverschwendung, belanglose Heuchelei! Und was sollte es ihn schon interessieren, wie Aya sich fühlte?

Wenn es dem überhaupt etwas ausgemacht hatte... Aber warum sollte es das?

Und wenn schon! Es war ja nun bei Gott nicht so, als ob es ihn interessierte! Aya war ihm doch letztendlich total egal.

Völlig gleichgültig!", erklärte er seinem verwirrten, unsicheren Gegenüber noch mal nachdrücklich. Aber seine Stimme klang wohl nicht sehr überzeugend und sein Spiegelbild wandte nur beschämt den Blick ab.
 

~*~
 

Nichts... keine Wünsche, keine Ziele, keine Freunde...

Mit hastigen Schritten durchquerte Aya die Küche, flüchtete zur Tür. Nur raus hier, weg hier.

Nichts... kein Sinn...

War es wirklich so? War das sein Leben? Nur eine bedeutungslose Ansammlung von Negationen, auf die selbst so ein blöder Junkie und Nichtsnutz verächtlich herabsah?

War es das?

Herbstliche Kälte und blaue Dämmerung brachen über ihm zusammen. Die Sonne war schon hinter den schwarzen Silhouetten der Bäume verschwunden und malte nur noch einige zartrosa Streifen auf die Unterseite der Wolken.

Aya sah gar nicht hin, lief einfach weiter über die Wiese.

Einsam... einfach nur einsam...

War das sein Leben?

Wofür lebte er denn? Wofür kämpfte er?

Er blieb stehen, den Rücken zum Haus.

Er kämpfte nicht mehr. Natürlich nicht. Wofür denn auch? Für wen?

Früher hatte er für seine Rache gekämpft, für seine Schwester gelebt. Und jetzt?

Natürlich war Aya-chan noch da - irgendwo weit weg. Aber brauchte sie ihn denn noch? Sie kam doch zurecht, hatte ihr Leben und rief ihn fast jeden Tag an, weil sie sich Sorgen um ihn machte.

Und? Konnte er irgendetwas für sie tun? Für sie oder für irgendjemanden?

... keine Wünsche, keine Ziele...

War es denn nicht genau so?

Er hatte doch erreicht, was er wollte. Er hatte ihre Eltern gerächt. Und Aya lebte wieder, hatte es irgendwie geschafft, trotz dieser Katastrophe, die da über ihre Familie hereingebrochen war, glücklich zu werden und weiter ihren Traum zu verfolgen.

Er bewunderte sie maßlos dafür, dass sie es scheinbar so mühelos geschafft hatte, weiter zu machen.
 

Er hatte es ihr auch gesagt und sie hatte ihn umarmt und gesagt, dass es auch für sie nicht leicht wäre, dass sie ihre Eltern vermisse. "Aber das Leben geht weiter und ich will nicht zurück bleiben. Das ist alles so traurig und ungerecht, aber niemand kann es ändern. Du musst damit leben und versuchen , dich auf dich selbst zu konzentrieren. Für mich ist das einfacher als für dich.

Du hast schon so lange nur für mich gelebt." Sie hatte ihn fester an sich gedrückt, dann hatte sie sich gelöst und ihm fest in die Augen gesehen. "Wenn ich gehe und glücklich werde... versprich mir, dass du Weiß verlässt und dein eigenes Leben führst."
 

Aya seufzte und sah auf das gelb verfärbte Gras zu seinen Füßen.

Er hatte es doch versucht. Er war hier und führte ein normales Leben. Da gab es nichts verdächtiges, nichts ungewöhnliches mehr, bis auf das Katana unterm Bett. Er ging morgens zur Arbeit und kam abends wieder nach Hause. So machten es alle. Die meisten Menschen lebten so...

Warum war das nur alles so verdammt... ja, was? ... unbefriedigend? Frustrierend?

Nein, er hatte seine Ruhe, konnte sich auf sich konzentrieren, so wie Aya es gesagt hatte.

Ach, das war doch zum Verrücktwerden! Wie lange konnte man sich denn schon glaubwürdig vormachen, dass diese Mischung aus Langeweile, Leere und Einsamkeit, die sein Leben ausmachten, Ruhe war?

Er wollte sich nicht auf sich selbst konzentrieren. Da war nichts. Wer war er denn?

Aya? Abyssinian? Ran?

Aya hatte seinen Zweck erfüllt, der konnte doch sowieso kein normales Leben führen.

Abyssinian war immer unangenehm gewesen, von dem wollte sowieso niemand etwas wissen.

Und Ran?

Ran war über zwei Jahre lang tot gewesen. Er konnte sich kaum noch an ihn erinnern und immer, wenn er versuchte, wieder diese Person zu werden, spürte er nur umso deutlicher, dass er nichts mehr mit ihm gemein hatte.

Ein Geräusch hinter sich ließ ihn herumfahren. Im schwindenden, grünlich blauen Licht der Dämmerung erkannte er Schuldigs Gesicht. Der Ausdruck war ungewohnt. Kein Grinsen, nicht diese überlegene Selbstzufriedenheit, es wirkte verlegen.

Warum war er nicht wütend auf diesen Mann? Warum stand er hier und starrte ihn an, anstatt ihn anzugreifen? Warum konnte er ihm nicht einfach die Schuld geben, an allem, was in seinem Leben schief gelaufen war? Es wäre doch so einfach!

Und Schuldig starrte ihn auch einfach nur an, schien irgendetwas sagen zu wollen, es aber nicht über die Lippen zu bringen. Was war mit dem los? Der redete doch sonst auch pausenlos und ohne nachzudenken.

Wütend riss er seinen Blick von diesem hellen Fleck in der Dunkelheit los und stapfte zurück ins Haus. Nach wenigen Schritten hörte er, dass Schuldig ihm folgte.

Als er in die Küche kam, machte er das Licht an und setzte sich an den Tisch. Der Tee war nicht mehr heiß, aber immer noch warm, als er sich eine Tasse eingoss und langsam anfing zu trinken.

Es dauerte eine Weile, bis Schuldig im Lichtkegel des Küchenfensters erschien und dann zögernd die Tür öffnete. Schweigend setzte er sich an den Tisch und sah sein Gegenüber weiter nachdenklich an.

Was sollte das denn jetzt? War das eine neue Masche, um ihn in den Wahnsinn zu treiben?

Konnte dieser Idiot ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen?

Schuldig wandte den Blick ab. "Ich... hm... tut mir leid."

"Es tut dir leid?", zischte Aya wütend, "Was denn? Dass du hier auftauchst, mir sagst, wie erbärmlich mein Leben ist, und dann einfach wieder gehst? Ich brauch dein Mitleid nicht! Du gehst doch sowieso bald wieder. Was gibt dir also das Recht, irgendeinem Kommentar zu meinem Leben abzugeben?"

"Wär's dir lieber, wenn ich bleibe?"

Aya starrte Schuldig ungläubig an. "Nein, natürlich nicht! Wie kommst du darauf?" Warum sollte er denn bitte diese wandelnde Katastrophe länger in seiner Nähe haben wollen? In nur knapp drei Tagen hatte Schuldig sich hier eingerichtet, als wollte er gar nicht mehr gehen. Er bediente sich dreist an Ayas Kleiderschrank, leerte den Kühlschrank und brachte die ganze Wohnung in Unordnung. Es war zum Verrücktwerden, aber irgendwie...

Aya dachte den Gedanken nicht zuende.

"Ja?" Schuldig sah ihn gespannt an.

"Hör auf damit! Das geht dich nichts an! Hast du eigentlich gar keinen Respekt vor Privatsphäre?"

Schuldig schüttelte nur grinsend den Kopf.

Aya seufzte. Warum fragte er eigentlich? Und warum dachte er ernsthaft über Schuldigs Frage nach? Das war doch Blödsinn. Nur wieder einer von diesen dummen Witzen, mit denen sich Schuldig über ihn lustig machte.

"Nein, das war völlig-" Schuldig stockte. Sein Blick wurde für wenige Augenblicke starr und leer. "Sie kommen. Mehr als ich dachte."

Aya wirkte mit einem Schlag völlig verändert. Alarmiert, kühl und beherrscht. Er sprang sofort auf und war schon auf dem Weg zum Schlafzimmer. "Wie viele?"

"Mehr als das letzte Mal." Schuldig folgte ihm. "Mehr als fünf."

Aya kniete neben dem Bett und holte ein in rotschwarzen Stoff eingeschlagenes Bündel hervor. "Geht's nicht ein bisschen genauer?" Er löste mit schnellen, präzisen Bewegungen die Kordel und befreite sein Katana aus den Stoffbahnen.

"Nein, ich kann sie schwer auseinander halten. Aber es sind ziemlich viele..."

"Wie viel Zeit noch?"

"Eine Minute? Sie steigen gerade aus den Autos."

Mit schnellen Schritten ging Aya in die Küche, wo er die Tür abschloss, und durchquerte dann das Wohnzimmer, um sich dort mit erhobenem Katana wartend neben die Eingangstür zu stellen.

"Du hast nicht zufällig noch ne Waffe für mich?"

Aya drehte sich etwas überrascht zu Schuldig um, der ihm gefolgt war und jetzt nur wenige Schritte hinter ihm stand. "Nein. Höchstens noch Küchenmesser."

Schuldig stöhnte auf. "Dann haben wir keine Chance. Wir sollten besser fliehen, solange das noch möglich ist." Er griff nach Ayas Handgelenk und zog ihn hinter sich her.

"Was soll das werden?"

"Wir gehen zum Hinterausgang und hoffen, dass sie uns nicht folgen."

"Nein." Aya riss sich mit einem Ruck los und funkelte Schuldig wütend an. "Dir mag es ja egal sein, was mit meinem Haus passiert, aber ich habe nicht vor, es mir einfach gefallen zu lassen, wenn eine Horde Leute durchstürmt und hier wer-weiß-was anstellt. Und überhaupt, wo sollen wir denn hin?"

"Ist doch egal! Die haben automatische Schusswaffen und wir haben ein Katana und Küchenmesser. Die sind mindestens zu siebt und wir sind gerade mal zwei." Er wollte wieder nach Aya greifen, der wich aber aus und brachte noch in der selben Bewegung das Katana zwischen sich und Schuldig. Schuldig stutzte als er Ayas Gesicht sah. Kalt, ausdruckslos, berechnend, genau, wie er es von früher kannte.

"Ich. Werde. NICHT. Weglaufen! Wenn du gehen willst, dann geh. Aber wenn du mir in die Quere kommst..."

Die Vordertür flog mit einem Knall auf, dann überschlugen sich die Ereignisse.

Aya fuhr herum, duckte sich unter die Schusslinie, machte ein paar Schritte und erstach den ersten der hereinstürmenden Männer, sodass er kurz hinter der Eingangstür liegen blieb.

Die ersten Schüsse peitschten durch die Luft. Das Holz der alten Wanduhr zersplitterte, zarter Rauch kräuselte sich um das Loch in der Wand, eine Kugel zerriss beinahe geräuschlos die Bespannung des Sofas.

Einer der Männer stolperte über den Toten vor der Tür und die Klinge, die sich zwischen seine Schulterblätter bohrte, beschleunigte seinen Fall.

Noch ehe er den Boden berührte hatte Aya sein Katana auch schon wieder aus dem Brustkorb des Sterbenden gezogen und stürzte sich auf den nächsten Angreifer.

Wieder knallten Schüsse. Aya duckte sich instinktiv, machte gleich darauf einen Satz nach vorn und stieß seinem Gegner das Katana in den Bauch.

Er spürte, wie der Körper vor sich nach unten sackte und sprang einen Schritt zurück.

Hastig sah er sich um, versuchte die Situation neu einzuschätzen und sah direkt in den Lauf einer Pistole. Reflexartig sprang er zur Seite.

Zu langsam. Er hörte den Schuss, spürte, wie er fiel, und dann war ihm, als würde ein Hammerschlag seine Schläfe treffen.

Einen Moment drohte er, ohnmächtig zu werden, zwang sich dann aber die Augen zu öffnen. Er lag auf dem Boden vor einem der Sessel. Der Angreifer stand vor ihm, die Mündung war wieder direkt auf ihn gerichtet. So schnell konnte er nicht ausweichen.

Dann stutzte er. Immer noch kein Schuss? Ruhe?

"Aya! Worauf wartest du? Komm da weg!" Schuldig war plötzlich neben ihm. Seine Stimme klang seltsam, fast panisch. Er zog ihn hastig auf die Füße.

Zu viel Schwung, zu schnell. Aya wurde schwarz vor Augen, sein Kopf dröhnte. Er stolperte, stürzte und hielt sich an Schuldigs Schultern fest.

Der zog scharf die Luft ein, als Aya die Wunde an seiner Schulter traf, schleppte den Anderen aber zur Couch und ließ ihn dahinter fallen.

Keine Sekunde zu früh, denn plötzlich erschallten wieder mehrere Schüsse auf einmal.

Der Typ, der Aya gerade erschießen wollte sah einen Moment lang verblüfft auf die Leere Stelle zu seinen Füßen, dann riss ihn ein Schuss aus Richtung des Sofas von den Füßen.

Schuldig hatte sich eine der Waffen von Ayas Opfern geholt und sich hinter der Couch verschanzt. Eine scheiß Deckung. Und er fragte sich, wie viel Munition er noch hatte.

Von den sieben Killern, die er geschätzt hatte, dürften jetzt nur noch drei übrig sein, aber er spürte noch wesentlich mehr Präsenzen. Und wenn er sich nicht irrte, umrundeten mindestens fünf gerade das Haus, um von hinten angreifen zu können.

Wenn sie es schafften, sah es mit dem Sofa als improvisiertem Wall düster aus. Das war den Angreifern anscheinend auch klar, denn sie starteten keine ernsthaften Versuche, schienen ihn nur in Schach zu halten. Vielleicht waren sie auch nur kurzzeitig verwirrt über das unerklärliche Verschwinden ihrer Opfer.

Schuldig gab noch einen Warnschuss ab, dann warf er einen besorgten Blick auf Aya. Das Blut aus der Wunde seitlich über seinem linken Auge lief ihm übers Gesicht. Seine Haut war ganz bleich, fast schon weiß.

Aber es konnte eigentlich nur ein Streifschuss sein, denn Schuldig nahm immer noch Ayas etwas wirre Gedanken wahr.

~Aya, wach auf! Wir müssen hier weg. Es sind mehr als ich dachte.~

Aya stöhnte auf, versuchte die Augen zu öffnen.

~Ich schwör dir, wenn ich dich hier rausschleppen muss, bring ich dich um!~

Die Gedanken wurden klarer, Ayas Mund verzog sich spöttisch. /Wär' das nicht sehr umständlich?/

Schuldig grinste erleichtert. Aya war also wieder bei Bewusstsein.

Ein lautes Klirren aus der Küche sagte Schuldig, dass man dort offenbar die weniger elegante Art gewählt hatte, ein Fenster zu öffnen.

Er sah sich hektisch nach dem Durchgang zur Küche um. Noch waren sie nicht drinnen. Wie lang noch? Dreißig Sekunden?

Scheiße, die Typen jenseits der Couch hatten auch Verstärkung erhalten und näherten sich vorsichtig.

Schuldig blickte sich nach Fluchtwegen um. Sein Blick blieb am Wohnzimmerfenster hängen.

Von dort war es auch nicht mehr sehr weit bis zu Ayas Wagen...

~Aya?~

Der Angesprochene lag immer noch auf dem Boden vor dem Sofa. /Hm?/

~Was machst du da? Willst du nicht bald mal aufstehen?~

Tatsächlich öffnete Aya die Augen und richtete sich zögernd auf. /Aah, Kopfschmerzen!/

~Schaffst du es allein durchs Fenster und zum Wagen?~

Aya zuckte unsicher mit den Schultern. /Vielleicht.../

Schuldig nickte und konzentrierte sich auf die Präsenzen ihrer Gegner. Nach wenigen

Sekunden hatte er alle.

~Okay, wir 'teleportieren' uns gleich. Wenn ich Jetzt sage, haben wir ungefähr fünfzehn Sekunden.~

Aya nickte. Er kam auf die Füße, hockte sich hin. Sein Körper spannte sich wieder an.

In der Küche war es ruhig geworden. Jetzt waren alle im Haus.

Dann erschallte ein kurzer, bellender Ruf und im Durchgang zur Küche erschienen drei

Männer mit erhobenen Waffen. Noch ehe sie schießen konnten, hatte Schuldig sie ausgeschaltet und sie standen nur noch dumm in der Gegend rum. ~JETZT~

Fünfzehn Sekunden.

Aya rannte zum Fenster und öffnete es hastig, während Schuldig die Killer im Auge behielt.

Sicher war sicher und er wollte nicht überrascht werden, falls einer von ihnen früher wieder aufwachte.

Zehn Sekunden.

Er hörte, wie sich Aya draußen ins Gras fallen lies. /Komm!/

Noch ein prüfender Blick in die Runde, ein paar Schritte rückwärts und Schuldig drehte sich um und flankte durchs offene Fenster.

Sieben Sekunden.

Aya rannte zum Wagen, dicht gefolgt von Schuldig. Fünfzig Meter.

~Ich fahre.~

Zwei Sekunden.

Aya lief zur Beifahrertür und wollte sie öffnen. "Scheiße, die Schlüssel!"

Die Zentralverrieglung knackte und die Tür ging auf. Aya ließ sich auf den Sitz sinken und sah in Schuldigs grinsendes Gesicht.

"Die hab ich mir während deiner Kamikaze-Aktion geholt..."

Schüsse aus dem Haus, Verwirrung, suchende Blicke, die schließlich am offenen Fenster hängen blieben.

Schuldig startete den Wagen und fuhr mit aufheulendem Motor los. Als er auf die Straße fuhr, sah er schon die ersten Killer an der Haustür und hörte gleich darauf Schüsse. Die linke hintere Seitenscheibe wurde von einer Kugel durchschlagen und zerbarst.

Der Wagen jagte weiter die Straße entlang, aber die Verfolger ließen nicht lange auf sich warten. Schon bald sah Schuldig im Rückspiegel aufgeblendete Scheinwerfer näher kommen. Weiter vorne war eine Kurve. Schuldig konzentrierte sich, suchte die Präsenzen, der beiden Fahrer.

Er war erschöpft, aber zwei Leute, das musste noch zu schaffen sein.

Der Wagen neigte sich bedenklich zur Seite, als Schuldig viel zu schnell in die Kurve fuhr.

Im Rückspiegel konnte Schuldig verfolgen, wie die beiden schwarzen Wagen in voller Fahrt weiter geradeaus aufs Feld fuhren und sich einer von ihnen überschlug.

Er schaltete in den vierten Gang und sah zu, wie die Lichtpunkte auf dem Feld immer kleiner wurden und schließlich aus seinem Blickfeld verschwanden.
 


 

*************************
 

Und wohin die beiden jetzt fliehen,

wie Aya plant, seine Wohnung zu rächen

und wahrscheinlich auch, was es mit Feuerzeug und Wasserleiche auf sich hat,

erfahrt ihr im nächsten Teil.

Friedensbewegung

Verzerrt und schlierig zog die Welt an Ayas unfokussiertem Blick vorbei. Seit einer oder zwei Minuten hatten sich gelbliche Farben in die schwarzblauen Grautöne gemischt. Straßenlaternen. Das Rumpeln des Wagens auf dem unebenen Weg hatte ungefähr zur gleichen Zeit aufgehört. Das einzige verbliebene Geräusch war das leise Brummen des Motors und das seichte Rauschen der Heizung.
 

Aya nahm es kaum wahr, verwechselte es die meiste Zeit über mit dem dumpfen Dröhnen in seinem Kopf. Er hatte das Gefühl, als hätte die kurze Strecke, die er vorhin gerannt war, die letzten Kräfte aus seinem Körper gesaugt.

Vielleicht war es so.

Nachdem er sich auf den Sitz hatte fallen lassen, hatte er sich kaum noch bewegt. Erst als die Scheibe hinter ihm zersprungen war, hatte er wirklich realisiert, dass sie fuhren und sich mit fahrigen Bewegungen angeschnallt.
 

Er war müde. Das Dröhnen nervte ihn. Er wollte schlafen, aber Schuldig störte ihn, hielt ihn wach.

Er murrte unwillig, als die Stimme des Telepathen in seinem Kopf ihn wieder aus seinen immer träger werdenden Gedanken riss.

~Ran, bleib wach! Ich fahr zum nächsten Krankenhaus, es dauert nur noch ein paar Minuten.~ Schuldig klang müde und... besorgt? Nein, bestimmt war er nur erschöpft. Aya fragte sich, ob es wohl anstrengend war, die Gedanken anderer zu beeinflussen und ob die Stimme deshalb so leise war.
 

Aber Schuldig hatte den Gedanken wohl überhört. Oder er ignorierte die Frage. Klar, warum sollte er auch irgendetwas von sich erzählen oder dem Feind eine Schwäche eingestehen?

"Krankenhaus? Wozu?"

"Wie 'Wozu'? Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Du hast eine Wunde am Kopf und mit ziemlicher Sicherheit auch eine Gehirnerschütterung."

"Und falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Wir werden von massenweise Killern verfolgt."
 

Nur die Geräusche des fahrenden Autos. Schuldig schwieg und Aya fragte sich, ob er aufgegeben hatte oder es nur nicht für nötig hielt, weiter darüber zu diskutieren. Na ja... so wie er Schuldig einschätzte, keine schwierige Frage. Elender Dickschädel.
 

"Blutet es noch?"

Aya hob die Hand an die linke Schläfe und strich vorsichtig darüber. Warm, feucht, aber auch ein wenig klebrig. "Nicht mehr so stark, es trocknet schon."

Plötzlich war irgendetwas anders. Er fühlte sich seltsam. Nichts beunruhigendes, nichts, was mit der Verletzung zu tun hatte... eher wie... Erleichterung. Aber warum?

Aya runzelte die Stirn, versuchte sich auf das Gefühl zukonzentrieren. Aber es war schon wieder verschwunden. Weshalb... - oder eher woher?
 

Er drehte den Kopf und sah Schuldig halb misstrauisch, halb verwundert an, aber der fuhr einfach weiter, konzentrierte sich auf die Straße.

Nein, wahrscheinlich hatte er sich geirrt...

Er wandte sich wieder dem Fenster zu und beobachtete, wie blaugraue Dunkelheit und fahlgelbes Laternenlicht abwechselnd an ihm vorbeirauschten.

Das war's also mit seinem Neuanfang, seinem normalen Leben. Ein ernüchternder Gedanke.
 

Und doch auf eine seltsame, beunruhigende Weise befreiend.

Er würde es nicht vermissen...

Er schrak vor der Überlegung zurück.

Hatte er denn sein altes Leben vermisst? Hatte er gewollt, dass es so kam? Hatte er es vermisst? Die Aufregung, den Kampf...

... das Töten?

Es war wie ein Rausch gewesen. Nur die lang antrainierten Bewegungen. Kein Denken, kein Fühlen, genau wie früher.
 

Das Adrenalin war durch seinen Körper gejagt, hatte die Wahrnehmung geschärft. Das Gefühl von Kontrolle. Über sich selbst, seinen Körper, die ganze Situation. Er hatte seinen Herzschlag gehört, kraftvoll, aufgeregt, begeistert. Er hatte gespürt, wie das Blut durch seine Venen raste. Er hatte sich lebendig gefühlt!

Er kannte dieses Hochgefühl von früher, nur allzu vertraut war es vorhin wieder über ihn gekommen. Diese seltsame Aufregung, die Überlegenheit.

Und wieder hatte er getötet.
 

Schuld nagte an ihm, Zweifel, Abscheu vor sich selbst, weil er sich lebendig fühlte, während er andere tötete. Er wusste, dass es nicht so war, dass es nur der Kampf war, der das in ihm auslöste, und nicht der Tod seiner Opfer.

Er wusste es. Nur dieses Wissen erlaubte es ihm, weiter zu machen.

Und doch waren da Zweifel.

Was wusste er denn von seinen Opfern? Sie hatten ihn angegriffen, hätten ihn ohne zu zögern getötet, aber rechtfertigte ihn das? War sein Leben denn mehr wert als das der anderen Mörder?
 

Im Kampf war er ein anderer Mensch, er war sich dessen bewusst. Berechnend, kalt, zu allem entschlossen. Besessen, zerstörerisch, wahnsinnig. Dieser Mensch, würde jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte.

Heute Abend... Schuldig wusste gar nicht, wie nahe er davor gewesen war... Aya konnte sein verstörtes Gesicht vor seinem inneren Auge sehen, meinte das vertraute Gewicht des Schwertes in seiner Hand spüren zu können... und die kalte Wut, die in ihm aufgestiegen war, jede Empfindung, jedes Gefühl für Richtig und Falsch verdrängt hatte. Wenn Schuldig eine Falsche Bewegung gemacht hätte, den Ernst der Lage nicht begriffen, die Tür nicht in dem Moment aufgeflogen wäre...
 

Nein, Abyssinian unterschied nicht zwischen Freund und Feind, nur zwischen störend und unwesentlich. War dieser Mensch es wert, ihn zu verteidigen... für ihn zu töten? Wäre es nicht besser, die Anderen würden siegen und diesen Dämon auslöschen?

Aya verbot sich jeden weiteren Gedanken. Auch diese Depressionen waren ihm nur allzu vertraut. Sie kamen immer kurz danach und blieben für unbestimmte Zeit. Er kannte das und wusste, wie er damit fertig wurde:
 

Verdrängung. - Natürlich war es Betrug, eine sichere Methode der Selbstzerstörung. Weil die Erinnerungen spätestens beim nächsten Hit wieder hoch kamen und so das Verdrängen von Mal zu Mal schwerer machten. Längst war Vergessen für ihn kein unterbewusster Prozess mehr. Es war ihm schmerzhaft bewusst, durch und durch erzwungen.

Und es funktionierte nicht mehr - einer der vielen Gründe, warum er Weiß verlassen hatte.
 

Aber daran durfte man eben einfach nicht denken, durfte nicht darüber nachdenken, was man gerade - und schon so oft zuvor - getan hatte. Man musste vergessen. So wie immer.

Und hoffen, dass diese schwärende Wunde nicht allzu bald wieder aufreißen würde...

Aya brach die Gedanken ab. Sich selbst zu analysieren hatte ihm nie geholfen. Da waren viel zu viele Zweifel...
 

Er versuchte, seine Gedanken zu beruhigen, die Leere zu genießen, die sich ausbreitete, wenn er nur auf das allgegenwärtige Rauschen des fahrenden Autos achtete. Er atmete ruhiger, zählte seine Atemzüge und konzentrierte sich wieder ganz auf die Schatten, die an seinem Fenster vorbei zogen.
 

~*~
 

Schuldig musste ein Gähnen unterdrücken, als er den Wagen auf den fast leeren Krankenhausparkplatz lenkte. Er war erschöpft, müde und seine Schulter tat weh. Zum wiederholten Male dankte er in Gedanken Gott - oder seinetwegen auch dem japanischen Verkehrsministerium - dass die Schaltung hierzulande links war.

Er warf Aya einen schnellen Seitenblick zu und stellte erleichtert fest, dass dieser sich gerade abschnallte. Er hatte sich offenbar mit seinem eher unfreiwilligen Krankenhausbesuch abgefunden und stieg ohne ein Wort zu sagen aus.
 

Beide schwiegen auf dem Weg zum Eingang. Es war zuviel passiert, um jetzt darüber zu reden. Oder zu streiten... darauf liefen ja letztendlich so ziemlich alle Unterhaltungen mit Aya hinaus.

Schuldig konnte ein Seufzen gerade noch unterdrücken. Kein Grund, gleich sentimental zu werden.
 

Ja, Ayas Gedanken - soweit er sie noch mitbekommen hatte - beunruhigten ihn, aber er würde den Teufel tun und ihn darauf ansprechen. Aya würde ihn erwürgen, mindestens.

Und warum sollte er überhaupt etwas dazu sagen? Es ging ihn nichts an.

Ein Teil von ihm lachte ihn aus. Seit wann gab es denn für ihn Sachen, die ihn nichts angingen?

Nein wirklich, das war nicht sein Problem. Er war ja schließlich keine Kummerkastentante.
 

Und es war ja auch nicht so, dass er sich Sorgen um seinen Ex-Feind machen würde...

Nein. Nicht um diesen verkorksten, einsiedlerischen, nachtragenden Dickkopf!

... na ja... vielleicht ein bisschen. Vor sich selbst konnte er es ja eigentlich zugeben - nur der Form halber. Ein wenig Sorgen also... leichte Beunruhigung. Nichts weiter. Und solange er, Schuldig, der einzige blieb, der davon wusste, war auch noch alles in Ordnung.
 

Schuldig machte sich nämlich um niemanden Sorgen. Keinen einzigen gottverdammten Menschen auf dieser Welt. Schon aus Prinzip. Das war ja nicht nur eine Imagefrage, sondern eine Lebenseinstellung.

Er konnte sich das Leiden direkt vorstellen: Erst machte man sich ganz harmlos Gedanken um die Probleme eines anderen, dann kamen vielleicht noch zwei, drei Menschen dazu, die man nicht sofort verraten würde, sofern der Preis stimmte, und Schwupps! schon nahm man an Friedensdemos teil, kaufte nur noch umweltfreundliche Produkte, wurde Vegetarier, weil einem die armen Viecher ja ach so leid taten und am Ende dieses Mahlstroms der Selbstlosigkeit standen Patenschaften für Kinder in der Dritten Welt oder für irgendwelche verlausten Affen im scheiß Regenwald oder für Wale, Bäume, weiß der Geier was!

Es war ein gottverdammter Dominoeffekt, da war sich Schuldig ganz sicher. Aber so weit würde es mit ihm nicht kommen! Niemals! Er würde einfach... Genau! Er würde... es nicht zulassen, ganz klar! Und zwar, indem er... hmm... indem er...
 

"Ich hasse Krankenhäuser.", riss ihn Ayas mürrisches Brummen aus den Gedanken.

Schuldig sah ihn überrascht an und grinste dann. "Na, wenn das mal nicht die intimste Äußerung war, die ich je von dir gehört habe..."

Aber Aya tat ihm nicht den Gefallen, sich über die Bemerkung aufzuregen und Schuldig so von seinen Horrorvisionen abzulenken, sondern er schnaubte nur genervt, öffnete die Schwingtür und verschwand dahinter.
 

Schuldig beeilte sich, ihm nach drinnen zu folgen. Nach der Kälte draußen, war die kleine Halle warm, fast schon stickig. Links neben dem Eingang befand sich ein Schalter, in dem eine zierliche Frau, Mitte Vierzig, saß, die sich gerade mit Aya unterhielt.

"... Sie nur diese Papiere ausfüllen, ich werde den Arzt benachrichtigen. Sie können sich solange gern dort drüben hinsetzen." Sie deutete vage in die Richtung einiger gepolsterter Stühle, die zwischen ein paar großen Zimmerpflanzen an der blassgrünen Wand aufgereiht standen. Außer ihnen und der Empfangsdame war der Wartesaal leer.
 

Aya nickte nur und saß wenig später neben einem monströsen Ficus. Schuldig setzte sich daneben, hörte eine Weile zu, wie der Kugelschreiber übers Papier kratzte und dachte bei dem Anblick der grünen Hölle hier drinnen darüber nach, warum um Himmels Willen es Patenschaften für Bäume gab und wie hirnverbrannt es war, Geld für etwas zu bezahlen, das als Möbel viel besser aussehen würde. Die zweite weltbewegende Frage, mit der er sich die Wartezeit vertrieb, war, warum Zigarettenautomaten in Krankenhäusern so verdammt knapp waren. War doch schlecht fürs Geschäft...
 

Eine Schwester erschien neben ihnen und nahm Aya und die Papiere mit. Schuldig widerstand dem Impuls, ihnen zu folgen und wartete. Aya war schon groß und Auftragskiller, der würde das hier auch alleine schaffen. Außerdem würde es ja einen völlig falschen Eindruck erwecken... Schuldig sah sich schon in Birkenstock-Sandalen rumrennen und Blümchen in Gewehrläufe stecken...

Er sollte lieber etwas für seinen sträflichst vernachlässigten Nicotinhaushalt tun. Entschlossen stand er auf und ging auf den Schalter zu.
 

"Entschuldigen Sie..."

Die Frau sah von ihrem Computerbildschirm auf. "Ja?"

"Kann man hier irgendwo Zigaretten kaufen?"

Das freundlich-neutrale Lächeln auf ihrem Gesicht gefror zu einem Ausdruck äußerster Missbilligung, der Schuldig schon Böses ahnen lies. Er unterbrach sie, noch bevor sie zum Reden ansetzen konnte.

"Hör'n Sie. Ich habe nicht gefragt, wo man hier am besten Kokain an Minderjährige verkaufen kann, sondern lediglich, wo zur Hölle es Zigaretten gibt. Und ich habe heute wirklich nicht mehr die Geduld, mich mit Ihnen über Suchtbewältigung zu unterhalten."
 

Der Gesichtsausdruck der Frau wurde noch um einige Stufen abweisender. "Am Parkplatz vorbei die Straße runter, hängt ein Automat.", gab sie sichtlich widerwillig Auskunft. "Aber hier drinnen ist Rauchen verboten!", rief sie Schuldig nach, der schon nach ihrem ersten Satz auf dem Weg zur Tür war.

Sie schüttelte den Kopf über diesen unhöflichen Ausländer und wandte sich wieder den Patientenakten auf ihrem Monitor zu.
 

~*~
 

Aya betrachtete sein Spiegelbild auf den dunklen Fensterscheiben. Der Verband an seinem Kopf schimmerte weiß unter einigen roten Strähnen hindurch.

Drei Stiche. Der Arzt war noch recht jung, er hatte zwar gemeint, dass die Platzwunde eigenartig aussähe, hatte die Geschichte vom Sturz von der Leiter aber ohne weitere Kommentare geschluckt.
 

Leichte Gehirnerschütterung. Kaum zu glauben, dass er wegen diesem Kratzer hier saß und wertvolle Zeit verlor, während aller Wahrscheinlichkeit nach schon massig Killer nach ihnen suchten. Warum war er nicht einfach im Auto geblieben und hatte darauf bestanden, dass dieser Idiot von einem Telepathen weiterfuhr? Warum hatte dieser Trottel überhaupt darauf bestanden, hier anzuhalten? Ihm konnten seine Verletzungen doch egal sein.
 

Der Arzt erschien wieder in dem kleinen Behandlungszimmer. Eine Schwester hatte ihn gerade hinaus gebeten. "So wie es aussieht, habe ich noch einen Notfall. Also, die Fäden müssen in vier oder fünf Tagen gezogen werden. Ansonsten wäre es gut, wenn Sie in den nächsten Tagen etwas Ruhe hätten... nicht so viel bewegen, kein Sport."

Aya hätte fast laut aufgelacht. Ja sicher, er würde sich in den nächsten Tagen schonen. Ob er den Arzt um ein Attest bitten sollte, das er Kaikes Leuten zeigen konnte, wenn sie das nächste Mal angriffen?
 

Er behielt aber einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck bei und nickte nur.

Der Arzt lächelte freundlich, routiniert. "Ich muss jetzt gehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht... Sie finden doch allein zurück?" Er schüttelte Aya die Hand und verließ den Raum wieder.
 

Aya stand von der weißen Liege auf und ging. Das erste, was er sah, als er den Wartesaal betrat, war Schuldig, der seelenruhig unter einem großen "Rauchen verboten"-Schild saß und - Wie sollte es anders sein? - rauchte. Die halb hilflosen, halb mörderischen Blicke, die ihn vom Schalter aus trafen ignorierte er gekonnt. Das heißt, er tat so als würde er sie ignorieren.

In Wirklichkeit - da war sich Aya ganz sicher - registrierte er jeden Einzelnen und amüsierte sich königlich darüber.
 

Aya stutzte. Irgendetwas verwirrte ihn an diesem Bild... er konnte es nicht genau einordnen.

Eigentlich stimmte alles... Schuldig brach eherne Regeln und erfreute sich daran, wie er andere in den Wahnsinn trieb. Soweit nichts Ungewöhnliches.

Es war viel mehr seine eigene Reaktion, die ihn verwunderte. Er war nicht wütend oder genervt, im Gegenteil: es fiel ihm schwer, ein Lächeln zu unterdrücken. Wenn er diese Szene betrachtete, war da ein Gefühl von Vertrautheit, Nachsicht. Und für einen Moment konnte er Schuldig verstehen. Welches Gewicht hatten denn schon solche Kleinigkeiten, solche winzigen Ärgernisse? Besonders in seinem Leben? Konnte man denn - von diesem Blickwinkel aus - die Verbissenheit, mit der die Frau das stickige, leere Wartezimmer rauchfrei halten wollte, anders aufnehmen als mit einem verächtlichen Schulterzucken oder bestenfalls einem amüsierten Lächeln?
 

Aya schüttelte nur verwundert über seine eigenen Gedanken den Kopf, warf der Empfangsdame einen entschuldigenden Blick und Schuldig ein "Komm, wir gehen!" zu und verließ das Krankenhaus geradezu fluchtartig.
 

Auf halbem Weg zum Parkplatz holte Schuldig ihn ein und trottete schweigend neben ihm her zum Auto.

"Wusstest du, dass jede von den Dingern dein Leben um fünfzehn Minuten verkürzt?"

Schuldig nahm einen tiefen Zug, während er Aya spöttisch anfunkelte. "Sehr gut, sollte ich tatsächlich an Lungenkrebs sterben, will ich die letzten Tage sowieso nicht miterleben. Aber ehrlich gesagt", er schnippte seine Kippe weg, während er das Auto umrundete, "halte ich das zurzeit für mein kleinstes Problem."

Aya schwieg, während sie sich wieder ins Auto setzten und weiter fuhren. Ja, das war eine typische Antwort gewesen. Halb ernst, halb sarkastisch und alles in allem ausweichend.
 

War das alles? Konnte man tatsächlich so leben, indem man nichts ernst nahm, alles ins Lächerliche zog? Oder war das nur das Äußere?

Aya betrachtete nachdenklich Schuldigs Profil, auf dem in den regelmäßigen Abständen der Straßenlaternen dunkle Schatten ihre Bahnen zogen. Es war seltsam, wie grundlegend sich seine Ansichten über ihn in nur knapp vier Tagen geändert hatten. Vielleicht sollte ihn dieses Verständnis, das er gerade gespürt hatte, beunruhigen aber das tat es nicht. Vermutlich war es nur Einbildung, aber es gab Augenblicke, da war sich Aya sicher, unter dieser dicken Schicht aus Spott und Zynismus noch etwas anderes zu spüren. Irgendetwas... er wusste nur noch nicht, wonach er da eigentlich suchte.
 

Die Schatten im Profil verschoben sich anders als gewohnt, als Schuldig den Kopf drehte.

Ihre Blicke trafen sich. Schuldig zog fragen die Augenbraue hoch, aber Aya wich dem Blick aus und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

Auch Schuldig war nicht nach einer Unterhaltung zumute, er war so müde, dass es ihm schwer fiel, sich auf die Straße zu konzentrieren. Er wusste auch nicht, wohin sie fahren sollten. Erst mal nur weg. Er hoffte darauf, dass sich der Rest von selbst ergeben würde. Oder besser: er überließ es Aya. Denn wenn er ehrlich war, hatte er nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Aber es brachte auch nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.

Für heute reichte es, zu fliehen und am Leben zu bleiben und morgen konnte man weitersehen.
 

Als Schuldig sich wieder auf die Straße konzentrierte, wandte sich auch Aya ab und sah aus dem Fenster.

Warum hatte Schuldig nichts gesagt? So viele seltsame Gedanken, die da jetzt in seinem Kopf herumspukten, und kein spöttischer Kommentar von Schuldig? Keine anzügliche Bemerkung, keiner von diesen schlüpfrigen Witzen... nichts?

Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Gott, er wäre ja schon froh gewesen, wenn er gewusst hätte, was er von seinem eigenen Verhalten denken sollte. Oder auch nicht...

Also versuchte er sich auf etwas anderes zu konzentrieren, achtete auf das, was außerhalb des Wagens an ihm vorbeizog. Viel war nicht zu sehen. Graue Mietshäuser, die Fenster und Balkone klafften wie schwarze Löcher im Beton. Kaum jemand auf der Straße. Ein mit Graffiti beschmiertes Hinweisschild: Sie waren auf dem Weg zur Autobahn.
 

Die Frage, wo Schuldig eigentlich hin wollte blitzte träge in Ayas Kopf auf, verschwand aber ebenso schnell wieder. Im Moment war das nicht weiter wichtig. Die Autobahnauffahrt. Hunderte roter und weißer Lichter, wie die Ketten am

Weihnachtsbaum. Aya lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe und ließ die monotonen Bilder an sich vorbeiziehen. Er ließ seine Gedanken schweifen, dachte über tausend Dinge nach und doch über nichts. Ein Zustand zwischen Wachen und Dösen, der ihn auf langen Bahn- oder Autofahrten häufig überkam.
 

Erst als der Wagen auf einen hell erleuchteten Parkplatz fuhr, sah er auf und warf Schuldig einen fragenden Blick zu.

"Ich kann nicht mehr. Wenn ich noch zehn Minuten fahre, schlaf ich am Steuer ein."

Aya nickte. "Wie spät ist es?"

"Kurz vor zwei. Lass uns hier bleiben - nur drei, vier Stunden - und dann entscheiden wir, was wir weiter machen."

/Wir? Warum eigentlich?/ Hatte Aya denn irgendeinen Grund, Schuldig zu helfen? Hatte er nicht schon genug getan? Und war es nicht letztendlich auch Schuldigs Schuld, dass eine Bande Killer ihn in seinem eigenen Haus überfallen hatte?
 

"Na komm, oder willst du im Auto bleiben?" Schuldig hatte seine Tür geöffnet. Kalte Luft strömte herein und ließ Ayas Gedanken wieder ein wenig klarer werden.

Er hatte keinen Grund, Schuldig zu helfen... Aber irgendwie konnte er sich auch nicht vorstellen, jetzt einfach zu gehen - nein, wegzufahren, es war schließlich sein Auto - und Schuldig sich selbst beziehungsweise Kaikes Leuten zu überlassen.
 

Er stieg ebenfalls aus. Ein leichter Geruch nach Benzin lag über dem Parkplatz. Während Schuldig den Wagen abschloss, sah Aya sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Eine Tankstelle, etwas weiter entfernt, und das Motel, vor dem sie parkten. Ziemlich schäbig und alles andere als einladend, aber der Gedanke an ein paar Stunden Schlaf war überaus verlockend.
 

Gleichmütig folgte er Schuldig, der schon in dem grauen Klotz verschwunden war. Irgendwie war er immer noch nicht richtig wach. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie Schuldig gegangen war.

Als er den engen Raum betrat, der wohl so etwas wie eine Empfangshalle hätte darstellen sollen, schlug ihm der Übelkeit erregende kalte Geruch von Frittiertem Essen und Zigarettenqualm entgegen.
 

Schuldig stand an der Rezeption und bekam gerade von einem der hässlichsten Menschen, die Aya je gesehen hatte, einen Schlüssel überreicht.

Er sah sich nach Aya um und deutete, als er ihn sah, auf den hinteren Ausgang, auf den er auch gleich zuging. Aya folgte ihm müde.
 

Durch die Hintertür kamen sie wieder nach draußen. Gleich rechts neben der Tür führte eine Treppe außen an der Hauswand entlang nach oben, auf eine Art Galerie, von der aus man zu den einzelnen Zimmern gelangte - hässlich wie die Hölle (Aya fragte sich müßig, ob der Architekt, der das verbrochen hatte, blind oder nur völlig geschmacklos gewesen war.) aber zweckmäßig. Denn so lagen die Zimmereingänge auf der von der Autobahn abgewandten Seite des Hauses und es war beinahe still.
 

Vor einer der Türen blieb Schuldig stehen und schloss auf. Aya stand wartend daneben und bemerkte, wie er leicht zu frieren anfing. Es war doch schon ziemlich kalt und er hatte nicht mal seine Jacke mitnehmen können.

Sie betraten das dunkle, kleine Zimmer, in dem es nicht wesentlich wärmer war, als draußen.
 

Aya sah sich wenig begeistert um. Er hatte ja schon so einige Löcher gesehen, aber das hier...

"Nur ein Bett?" Eine recht neutrale Frage, eher eine Feststellung.

Ein flüchtiges Grinsen huschte über Schuldigs Gesicht. "Ja, und zwar meins." Er ließ sich rückwärts auf das Doppelbett fallen, das daraufhin protestierend knarrte, und gähnte herzhaft.

"Aber ich bin nicht so herzlos wie du. Du darfst auch drin schlafen."

"Wie großzügig." Aya zog in Erwägung, sich einfach ein zweites Zimmer zu nehmen.

Allerdings hatte er kein Geld dabei.

Und der Gedanke, heute Nacht allein in einem dieser schäbigen, kalten Räume zu sein, behagte ihm gar nicht.
 

Also legte er sich neben Schuldig und zog eine der Decken, die zusammengelegt am Fußende lagen über sich. Eine Weile lagen sie schweigend da.

"Schuldig, schläfst du schon?"

"Ja." Die Stimme klang tatsächlich so, als hätte er Schuldig gerade geweckt.

"Hm... ich - ...Danke."

"Was? Wofür?" Schuldig klang ernsthaft verwirrt.

Aya drehte sich verwundert zu ihm um. "Ich denke, du kannst Gedanken lesen."

Schuldig sah irgendwie ertappt aus. "Heute nicht mehr.", meinte er dann trotzig. "Ich hab doch gesagt, ich brauch ein paar Stunden Schlaf."

"Und seit wann-"

"Das geht dich nichts an.", unterbrach Schuldig ihn schnell und drehte sich auf die Seite, weg von Aya.
 

Der zog nur eine Augenbraue hoch. Schuldig schien was das anging ganz schön empfindlich zu sein. Aber das hieß dann wenigstens, dass er seine seltsamen Gedanken auf der Autofahrt nicht mitbekommen hatte. Sehr beruhigend.

"Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.", erklärte Aya.

Schuldig ließ nur ein Grummeln hören und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Dann sind wir quitt..." Er gähnte hörbar. "Und jetzt lass mich endlich schlafen, sonst schmeiß ich dich raus. Himmel, du bist doch sonst auch nicht so mitteilungsbedürftig."

Seifenoper

Aya lag wach und betrachtete die Muster, die die Neonreklame der Tankstelle an die Zimmerdecke zeichnete. Eben war er noch so müde gewesen, dass er fast im Gehen eingeschlafen wäre und jetzt hatte er das Gefühl, kein Auge zutun zu können.
 

Das war doch absurd! Er war müde, erschöpft. Er sollte schlafen. Er wollte.

Aber es ging einfach nicht. Er war jetzt definitiv wach. Das lag bestimmt an der Kälte draußen. Und an der fremden Umgebung. Und an seinen Gedanken, die sich jetzt einfach nicht mehr beruhigen wollten. Sie kreisten pausenlos um die Geschehnisse der letzten Tage. Egal, an welchem Punkt er anfing, nachzudenken, er landete früher oder später immer bei Schuldig.
 

Schuldig, der einem den Teppich versaute. Schuldig, den man verarzten musste. Schuldig, der einen nervte. Schuldig, der für diese ganze beschissene Situation verantwortlich war. Schuldig, der ihm das Leben rettete, der sich um ihn sorgte. Und Schuldig, der das Ganze mit einem dann sind wir ja quitt' abtat... - Ging's noch? Er, Aya, dankte ihm und Schuldig ging einfach so darüber hinweg...
 

Das ärgerte Aya ungemein, auch wenn er nicht genau sagen konnte warum. Vielleicht, weil das so wirkte, als wäre das nur ein Versehen gewesen, als ob es Schuldig nicht wirklich gekümmert hätte, wenn es anders gekommen wäre.

Aber das war es ja gerade. Was sollte es ihm auch ausmachen? Was erwartete Aya denn? Wie sollte denn Schuldig reagieren?
 

Aya stieß verärgert die Luft aus. Er wurde langsam wirklich verrückt. Warum dachte er über derart irrelevante Dinge nach? Schuldigs Verhalten ihm gegenüber war doch jetzt überhaupt nicht von Bedeutung.

Vor allem musste er wissen, wie es von hier weiter gehen sollte. Er musste sich wohl oder übel irgendetwas einfallen lassen. Es war ja nur allzu offensichtlich, dass der Telepath überhaupt keinen Plan hatte. Der wusste ja noch nicht einmal, was eigentlich los war.

Irgendwie musste er herausfinden, was Kaike wollte. Und dann... hm, das musste man dann sehen. Er sollte jetzt wirklich schlafen.
 

Aya schloss die Augen und wartete darauf, dass die Müdigkeit von vorhin wiederkommen würde. Vergeblich. Seine innere Unruhe wuchs nur, bildete einen scharfen Gegensatz zu dem gleichmäßigen Atmen neben sich.

Er seufzte ärgerlich und setzte sich auf, schwang die Beine vom Bett. Hm, wenn er wirklich noch schlafen wollte, sollte er sich vielleicht wenigstens die Schuhe ausziehen. Aber wahrscheinlich konnte er das sowieso vergessen. Warum war er nur so... ja, nervös? Das war doch absolut untypisch für ihn.
 

Ein Geräusch hinter sich brachte ihn dazu, sich umzudrehen. Nein, Schuldig schlief noch, hatte sich nur wieder auf den Rücken gedreht.

Der Anblick versetzte ihm völlig irrationaler weise einen Stich Neid. Kindisch. Aber irgendwie konnte er nicht anders.

Wenn er doch nur auch so seelenruhig schlafen könnte! Schuldig hatte echt die Ruhe weg, ließ sich nicht mal von der Bewegung neben sich stören...
 

Was hatte der Arzt gesagt? Ruhe? Gott, Aya wäre am liebsten aufgesprungen und im Zimmer auf und ab gelaufen. Oder er könnte Schuldig wecken. Einfach nur als Ausgleich. Wenn er nicht schlafen konnte, sollte der Andere auch nicht...

/Reiß dich zusammen! Was sollte so eine kindische Aktion bringen?/ ermahnte er sich selbst in Gedanken.

Stattdessen ging er ins Bad, einen kleinen, nicht gerade sauberen Raum, der durch eine schmale Tür mit dem Schlafzimmer verbunden war, und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, darauf bedacht, den Verband an seiner Stirn nicht nass zu machen.
 

Wenn er sowieso wach war, konnte er die Zeit genauso gut sinnvoll nutzen. Er musste einfach irgendetwas tun. Egal was, alles war besser, als weiter da zu liegen und an die Decke zu starren.

Er verließ das Bad und ging fast geräuschlos zum Telefon, das auf einem Beistelltisch stand, welcher sich den spärlichen Platz an der Wand gegenüber dem Bett mit einem schäbigen Sessel und einem hässlichen Bild teilte.
 

Als Aya sich auf die verschlissenen Polster des Sessels sinken ließ, hatte er den Telefonhörer schon am Ohr und lauschte auf das Tuten in der Leitung. Natürlich würde er zuerst Weiß anrufen. Das war das Naheliegendste und Effektivste, um in kürzester Zeit an möglichst viele Informationen zu kommen.

Es wurde schneller abgenommen, als er eingedenk der späten Uhrzeit erwartet hatte.

"Ja?", meldete sich eine junge Stimme, bei der Aya nicht lange überlegen musste, um sie zuzuordnen.
 

"Omi, hier Aya. Warum bist du um diese Zeit noch wach? Du sollst doch nicht immer die ganze Nacht am Computer sitzen."

"Aya!" Omi überging die pädagogische Anwandlung seines früheren Leaders einfach. "Wo bist du? Geht's dir gut? Was ist los?"

"Woher...?"

"Deine Nachbarin hat die Polizei gerufen. Kritiker hat uns informiert, aber die wissen auch nicht, was los ist."

"Ist der Schaden sehr groß?"

Omi schwieg einen Moment, was Aya in düstere Vorahnungen stürzte. "Na ja, man konnte das Feuer relativ frühzeitig-"

"Lass, ich will's gar nicht hören." Aya sank in den Sessel zurück, fuhr sich mit der freien Hand über die Augen.

"Ich bin gerade dabei, nach dem Besitzer des Wagens zu suchen, der vor deinem Haus stand. Wahrscheinlich haben ihn die Einbrecher zurückgelassen. Ziemlich verdächtig, ich habe nur falsche Angaben gefunden."
 

Ein Lächeln huschte über Ayas Gesicht. Das kannst du lassen. "Ich weiß, wem er gehört. Konzentrier dich bei deinen Nachforschungen lieber auf Kaike. Wahrscheinlich waren das seine Leute."

"Der Drogenboss? Was will der von dir?"

"Ich bin mir nicht sicher. Deswegen ruf' ich ja an."

"Ist das alles?"

"Hm."

"Aya, was ist los?"
 

Aya schwieg, sein Blick ruhte nachdenklich auf der schlafenden Gestalt Schuldigs, von der er im schummrigen Licht nur die groben Konturen ausmachen konnte. Wieviel sollte er Omi sagen? Sicher, je mehr er wüsste, desto schneller könnte er helfen...

"Wem gehört das Auto?" Die fordernde Stimme, die nach unbestimmter Zeit leicht verzerrt aus dem Hörer tönte, riss Aya aus den Gedanken.

"Bitte?"

"Wem gehört das Auto? Du hast eben selbst gesagt, du wüsstest es."
 

Aya schwieg, während er fieberhaft überlegte, ob er darauf antworten sollte oder nicht. Er hatte zwar keine konkrete Vorstellung, wie Omis Reaktion auf die simple Wahrheit ausfallen würde, aber er würde todsicher nicht um eine endlose Diskussion herumkommen. Dafür hatte er jetzt einfach keinen Nerv.

Nach einiger Zeit meldete sich Omi wieder. "Ist ja schon gut. Ich frag nicht weiter, aber dir ist schon klar, dass du mich jetzt neugierig gemacht hast."
 

Aya seufzte. Na fantastisch! Wenn Omi etwas wirklich herausbekommen wollte, dann schaffte er das auch. Aber vielleicht würde ihm das wenigstens die Zeit verschaffen, die er brauchte, um sich ein paar Argumente für sein Handeln einfallen zu lassen. Und es müssten wirklich verdammt gute Argumente sein. Dumm nur, dass ihm so auf Anhieb kein einziges einfiel. "Hör mal, versuch einfach nur rauszukriegen, wo sich Kaike aufhält, was er in den letzten Wochen so getrieben hat und wenn möglich, was er zur Zeit plant, ja?"
 

"Ja, klar, gar kein Problem. Willst du sonst noch was wissen oder wäre das dann alles?" Zu sagen, dass Omi leicht sarkastisch klang, wäre untertrieben gewesen. Verständlich.

"Ich weiß, ich weiß. Versuchst du's trotzdem?"

"Hm. Ich werd sehen, was ich rauskriege. Wie kann ich dich erreichen?"

"Bis morgen früh hier." Aya gab ihm die Nummer des Motels. "Danach meld ich mich bei dir, sobald ich kann."

"Gut. Na dann..."

"Ja... Danke." Aya legte auf, unterdrückte nur mit Mühe ein weiteres Seufzen.
 

So weit, so gut. Und was jetzt? Ob er es nicht doch noch mal mit Schlafen versuchen sollte? Wieder beneidete er Schuldig um seine Ruhe. Der schlief trotz des Gesprächs immer noch wie ein Stein. Toll. Was war auch mit ihm los, dass er so verdammt nervös war? Das konnte einen ja wahnsinnig machen. Nicht zum Aushalten.
 

Mit einem genervten Stöhnen ließ Aya sich neben Schuldig aufs Bett fallen. Es war ihm ziemlich egal, ob der dadurch aufwachte. Eigentlich wäre es ihm sogar ganz recht - trotz der Tatsache, dass das albern war. Dann müsste er ihm wenigstens nicht weiter dabei zusehen, wie der friedlich schlief, während er selber kein Auge zukriegte. Leider kam von dem Telepathen aber keine Reaktion, außer dass er sich vom Rücken auf die Seite drehte und seelenruhig weiterschlief.
 

Aya hätte ja weiter versucht, ihn zu wecken, wenn das nur nicht so kindisch und seiner absolut nicht würdig gewesen wäre. Also zog er sich endlich die Schuhe aus und blieb still liegen. Ob Omi etwas brauchbares herausfinden würde? Und wenn ja, was würden sie dann tun? Er hatte nicht wirklich eine Vorstellung davon, wie sie Kaike loswerden konnten. Ihn umbringen? Schwierig. Aber vermutlich würde es darauf hinauslaufen.
 

Wie Aya es hasste! Er wollte nicht mehr töten. Wollte nichts mehr mit der Unterwelt zu tun haben. Nicht mal unbedingt aus Sentimentalität oder Idealismus, das sicher nicht, sondern einfach nur, weil er es so unglaublich satt hatte. Viele Menschen lebten, ohne auch nur einmal mit solcher Scheiße konfrontiert zu werden und er beneidete sie darum. Er würde auch gerne so ein leichtes, ahnungsloses Leben führen, aber sein spektakulär gescheiterter Versuch hatte ihm ja unübersehbar gezeigt, dass er das vergessen konnte.
 

Aber was konnte er schon tun? Erst mal sehen, wie es weiterging. Und endlich schlafen, wenn das denn überhaupt möglich war, mit Schuldig im selben Bett, der sich gerade zu ihm herumgedreht und die Arme um ihn geschlungen hatte... Moment mal! Na ging's denn noch?

Aya wollte sich schon wütend zu Schuldig umdrehen und ihn anschnauzen, dass er gefälligst seine Finger bei sich behalten solle, aber als er seinen Kopf drehte, sah er, dass dieser immer noch tief und fest schlief. Großartig! Hatte er denn heute nicht schon genug durchgemacht?
 

Nach einer Identitätskrise, einer Schießerei mit Beinahe-Kopfschuss und das alles nach mehreren Tagen Schuldig live sollte man doch meinen, dass es irgendwann reichte. Aber natürlich musste der ihm auch noch auf die Pelle kriechen.

Nach einigen gescheiterten Befreiungsversuchen, musste Aya einsehen, dass er dieser Umklammerung nicht entkam, ohne Schuldig aufzuwecken. Und er würde sich eher erschießen, als das jetzt zu tun. Oder um es einmal so auszudrücken: Ein schlafender Schuldig war ihm in diesem Augenblick, und besonders in dieser Situation, lieber als ein wacher. Er hatte einfach keine Lust auf blöde Witze, zweideutige Bemerkungen und Streitereien.
 

Also blieb er einfach liegen und versuchte weiter einzuschlafen. Eigentlich war es ja auch gar nicht so unangenehm... Stop! Von hier aus keinen Schritt weiterdenken! Das konnte ja nur schief gehen, wenn ein Gedanke so anfing.

Aber irgendwann hörte sogar Aya auf, zu grübeln und schlief einfach ein. Er hoffte nur, dass er vor Schuldig aufwachen würde.
 

~*~
 

Schuldig schlug die Augen auf. Irgendwas hatte ihn geweckt, aber jetzt konnte er nicht feststellen, was es gewesen war. Er brauchte ein oder zwei Sekunden, um das Zimmer als das Motelzimmer von gestern zu identifizieren. Bei Tageslicht sah es noch schäbiger aus. Eigentlich bemerkenswert. Allerdings hatte er nicht lange Zeit, das Zimmer zu bewundern.
 

Der schlafende Rotschopf in seinen Armen lenkte ihn doch etwas ab. Nein, Schuldig würde jetzt auf keinen Fall darüber nachdenken, wie das kam, was es anrichtete und dass er vermutlich mausetot wäre, wenn Aya jetzt aufwachen würde. Mit den klaren Gedanken sah es im Moment sowieso nicht gut aus. Er starrte wie gebannt auf das schöne Gesicht, das im Schlaf, ohne diesen abweisenden Blick und dem verächtlichen Zug um den Mund, so viel weicher wirkte. Erst mit einigen Augenblicken Verspätung bemerkte er, dass er sich dem Gesicht des Schlafenden weiter genähert hatte, seine Lippen sacht auf den leicht geöffneten des Anderen lagen.
 

Der Anblick von erschrocken aufgerissenen, violetten Augen aus nächster Nähe riss ihn aus seinem tranceartigen Zustand. Er schreckte zurück, verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts aus dem Bett. Sein Kopf schlug auf dem Fußboden auf und er hörte hastige Schritte das Zimmer durchqueren und eine Tür zuknallen.
 

Schuldig blieb reglos auf dem durchgelaufenen Teppich liegen. Was war das denn gewesen?

War er denn jetzt völlig durchgedreht? Was hatte er sich denn dabei gedacht? Gut, wahrscheinlich hatte er gar nicht gedacht - Nein, ganz sicher sogar!
 

Er war doch ein Idiot! Aya hasste ihn jetzt sicher noch mehr als vorher und würde auf nimmer Wiedersehen verschwinden - wenn er nicht gleich versuchte, ihn umzubringen. Ein Teil von Schuldig fragte sich zwar, warum ihn das stören sollte, aber es war wirklich schwierig, sich überzeugend vorzumachen, dass es ihm egal war, ob Aya ihn hasste oder nicht, wenn er in einem verdammten, abgewrackten Motelzimmer auf dem beschissenen Fußboden lag und über nichts anderes nachdenken konnte.
 

Und da sage noch einer, leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhten das Denkvermögen. Von wegen. Sein Schädel dröhnte, aber das half ihm nicht ein bisschen. Wahrscheinlich würde es ihm auch gleich wesentlich besser gehen, wenn er dieses dämliche Grinsen von seinem Gesicht kriegen würde, aber das schien festgewachsen zu sein.
 

Vielleicht wäre es an der Stelle schlau gewesen, Ayas Gedanken zu lesen, aber Schuldig hatte mehr als genug mit seinen eigenen zu tun. Er kam nicht mal auf die Idee.

Er versuchte es stattdessen mit einer kleinen Bestandsaufnahme. Vielleicht würde das ja helfen, seine Gedanken wenigstens ein bisschen zu ordnen. Also.
 

Wie fühlte er sich?

Verwirrt vor allem. Und sein Kopf tat weh und seine Schulter meldete sich auch wieder. Aber ansonsten ging es ihm gut, geradezu fantastisch. Mit anderen Worten, viel zu gut, wenn man die Situation bedachte.

Äußerst verdächtig. Lieber weiter zur nächsten Frage.
 

Was war geschehen?

Er war aufgewacht. Okay.

Er hatte Aya angesehen. Halbwegs nachvollziehbar.

Er hatte Aya geküsst. Nicht okay, absolut nicht okay! Riesen Problem!

Und wieso, verdammt noch mal, musste sich das auch so gut angefühlt haben?

Und warum schwirrten ihm die Bilder vom schlafenden Aya noch immer im Kopf rum?
 

Antwort: Ganz einfach. Er hatte jetzt komplett den Verstand verloren und sollte sich so schnell wie möglich einen Arzt mit Couch suchen. Einer, der ihm sagte, dass die Wurzel all seiner Probleme in seiner Kindheit lag und Aya gar nichts - aber auch absolut gar nichts - damit zu tun hatte.
 

Schuldig gab es fürs erste auf, sich verstehen zu wollen. Das führte ja ohnehin zu nichts. Nachher würde er sich noch eingestehen, dass... Nein! Halt! Es reichte!

Da hieß es jetzt, Augen zu und durch. Simple Taktik. Ursachen verdrängen, Tatsachen hinnehmen. Er stand auf, setzte sich aufs Bett und rieb sich den Kopf. Er sah auf die zerwühlten Decken, von denen ungefähr die Hälfte jetzt auf dem Boden lag und unterdrückte nur mit Mühe eine neue Vision vom schlafenden Rotschopf.
 

Was sollte das nun schon wieder? Aya - Nein! Nicht gut! Gefährlich! Wo waren nur all die guten Vorsätze, wenn man sie brauchte? Schuldig verzog das Gesicht und starrte dann doch lieber auf die gegenüberliegende Wand. Das mit dem Verdrängen war gar nicht so einfach. Es war ja leider so was von offensichtlich.

Egal. Die Tatsachen! Es war Freitag morgen, Aya war ins Bad geflüchtet. Den Geräuschen nach zu urteilen, duschte er. Schuldig versuchte, die ausufernden Gedanken zu diesem Thema, die ihn bestürmten, zu ignorieren. Mittelmäßig erfolgreich. Ob es dagegen Medikamente gab?
 

Aber weiter. Wie er Aya inzwischen kannte, würde der ihn entweder bei nächster Gelegenheit killen oder aber so tun, als wäre nichts geschehen - oder beides...

Da Schuldig noch lebte, war Zweiteres sehr viel wahrscheinlicher.

Das Klingeln des Telefons ließ ihn diese Überlegung nicht weiterführen. Nanu? Wer rief denn hier an? Mit einem Schulterzucken hob er ab. Sofort fing am anderen Ende eine Stimme an, zu reden.
 

"Aya? Also ich hoffe, du weißt, was du tust, ich habe nämlich -"

"Bombay?" Autsch! Schuldig schlug sich selbst vor die Stirn. Wieso hatte er das denn jetzt gesagt? Mal wieder kein bisschen nachgedacht. Wenn das langsam zur Gewohnheit wurde, könnte er sich auch gleich ne Kugel verpassen.

"Schuldig?! Dann waren die Infos doch richtig. Ich wollt's ja nicht glauben. Was machst du da, du Bastard? Was ziehst du Aya in die Sache mit rein?"
 

Schuldig entfernte den Hörer etwas von seinem Ohr. Er wollte ja nicht taub werden. Schien ja echt sauer zu sein, der Kleine.

"Kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen? Wenn du schon noch leben musst. Was hast du mit der ganzen Sache zu tun? Für wen arbeitest du? Für Kaike?"

"Mein Gott, nein. Nicht mehr. So weit kommt's noch. Das ist eigentlich mehr eine private Sache, aber schön, dass es dich so interessiert. Ich freu mich übrigens auch, mal wieder was von dir zu hören. Wie geht's denn Restweiß? Immer noch dem verzweifelten Irrglauben an eine bessere Welt verfallen oder geht's inzwischen?"

"Private Sache? Was soll das heißen? Und was hat Aya damit zu tun? Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst..."

"Ich schlottere vor Angst. Ehrlich. Aber ich kann dich beruhigen, er ist nur... na ja, sagen wir mal, zufällig involviert."

"Und was hat das jetzt zu bedeuten?"

"Ach nichts, nur..."
 

Schuldig zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich Aya vor ihm stand und ihn mit unbewegtem Gesicht und undeutbarem Blick ansah. Von den roten Strähnen tropfte Wasser herab und er war nur mit einem Handtuch bekleidet. Anscheinend hatte auch er das Klingeln gehört und war so schnell wie möglich aus dem Bad gekommen. Nur leider nicht schnell genug. Auffordernd hielt er die Hand auf.
 

Schuldig grinste. "Ähm... Ich denke, dass kann er dir alles selbst besser erklären. Ich geb ihn dir mal." Er drückte Aya den Hörer in die Hand. Gott, bei dem Blick konnte einem ja Angst und Bange werden. "Ich bezahl dann schon mal und warte im Restaurant auf dich." Schuldig floh erst mal aus dem Zimmer. Sicherheitshalber nahm er natürlich die Autoschlüssel mit. Nicht, dass sich der Exweiß ohne ihn aus dem Staub machte und er hier an der Raststätte festsaß.
 

~*~
 

Aya blieb im Zimmer stehen und dachte darüber nach, ob er sich in der Lage fühlte, jetzt mit Omi zu reden. Die Antwort war ganz klar nein, aber natürlich hatte Omi die gewünschten Informationen. Ihm war nicht so ganz klar, warum er Schuldig immer noch helfen wollte, aber er hielt sich schließlich doch den Hörer ans Ohr und meldete sich.
 

"Aya, geht es dir gut?" Omi klang ehrlich besorgt.

Ob es ihm gut ging... "Na ja..." Sein Kopf tat nicht mehr halb so weh wie gestern. Er hatte gut geschlafen. War vielleicht nur noch diese Kleinigkeit beim Aufwachen anzumerken. Darüber würde er noch mal in Ruhe nachdenken müssen, aber da Omi so was sicher nicht meinte...
 

"Ich denke schon."

"Was hast du mit Schuldig zu schaffen? Was tust du in einem Motel? Was hast du mit Kaike zu tun?"

Aya seufzte. Er würde wohl nicht darum herum kommen, Omi seine Fragen zu beantworten. "Welche Frage soll ich zuerst beantworten?"

"Wie wäre es mit dem Schwarz, der einfach ans Telefon geht? Ich hab gedacht, ich spinne."
 

Na da war er nicht der Einzige, dachte Aya genervt. "Schuldig ist Montagnacht bei mir aufgetaucht und ich werd ihn nicht mehr los. Ich meine, was soll ich denn tun? Er lässt sich weder rausschmeißen noch umbringen."

"Und was ist jetzt gestern passiert?"

"Was soll schon passiert sein? Ich dachte, du hast recherchiert. Eine Bande Irrer mit Waffen hat mein Haus gestürmt und wir sind geflohen."

"Schuldig und du?"

"Na wer denn sonst? Er meinte, es wären Leute von Kaike gewesen, und dass sie wegen irgendwas hinter ihm her sind."
 

"Hör mal, Aya, das geht dich doch alles nichts an. Komm einfach zu uns, bleib eine Weile, meinetwegen nur solange, bis du was neues gefunden hast und lass Schuldig sich um seinen Kram allein kümmern."

Keine Frage, das klang vernünftig. Aber irgendwie... Immerhin hatte Schuldig ihm das Leben gerettet. Außerdem, wenn er das richtig verstanden hatte, dann hatten Kaikes Leute sein Haus nicht nur demoliert, sondern angezündet. Ohne jeden Grund. Es war nicht so, dass ihn dieser Verlust besonders mitnahm, aber hier ging es ums Prinzip.
 

"Was hast du rausgefunden?"

"Aya, das ist doch bescheuert. Warum willst du ihm helfen?"

"Geht dich das was an?", fauchte Aya. Er wollte nicht darüber diskutieren. Und er wollte diese Frage nicht hören.

"Sei doch vernünftig und halt dich da raus."

"Sagst du mir jetzt, was du weißt oder nicht?"
 

Eine Weile herrschte verbissenes Schweigen in der Leitung. "In den letzten Monaten hat die Polizei verdeckte Ermittler in den Clan eingeschleust.", kam es dann etwas widerwillig. "Sie sollten Beweise sammeln, damit sie endlich was gegen ihn in der Hand haben. Nicht mal unbedingt für den Drogenhandel, sondern nur irgendwas, womit sie ihn drankriegen können. Steuerhinterziehung, Dokumentenfälschung, irgendwas eben. Vor 'ner knappen Woche ist es ihnen dann endlich gelungen, irgendwelche belastenden Informationen von einem internen Rechner zu kopieren. Allerdings sind sie aufgeflogen und der, der den Datenträger hatte, konnte nicht rechtzeitig fliehen. Sie haben ihn dann beim Hafen aus dem Wasser gefischt. Das war der, den sie gestern in der Zeitung gebracht haben. Kaike hat wohl was damit zu tun, dass das Foto abgedruckt wurde. Als Abschreckung, so zu sagen..."
 

"Sehr geschmackvoll..."

"Ja, aber der Typ hat's nötig. Der Datenträger ist nämlich am selben Abend verschwunden, wie der Ermittler. Die Polizei denkt, Kaike hat das Ding, aber nachdem ich weiß, dass er Leute zu dir geschickt hat, glaub ich eher, dass Schuldig es hat mitgehen lassen. Kann das sein?"
 

Aya verdrehte innerlich die Augen. Natürlich konnte das sein. Bei Schuldig konnte er sich inzwischen so ziemlich alles vorstellen. /Schuldig?!/

~Was denn? Musst du so brüllen?~

/Hast du außer dem Feuerzeug bei Kaike noch was mitgehen lassen?/

~Nö. Ich hab dir doch schon gesagt, es ging nur ums Prinzip. Ich bin doch kein Dieb. Was denkst du von mir?~

/Willst du nicht wissen.../

~Tu ich aber. War's das dann oder willst du noch was wissen?~
 

"Aya? Bist du noch dran?", meldete sich Omi wieder.

"Ja. Könnte es ein Feuerzeug sein?"

"Klar. Wenn's groß genug ist, kann man da bequem einen USB-Stick oder so was unterbringen."

"Danke, dann ist alles klar."

"Was ist klar? Hat er wirklich den Datenträger? Was machst du jetzt?"

"Keine Ahnung. Erst mal mit ihm reden, denk ich."

"Lass dich nicht weiter in die Sache verwickeln, ja? Dieser Typ ist gefährlich, Aya!"

"Wer? Schuldig oder Kaike?"

Omi ging nicht weiter auf die Frage ein. "Vermutlich bekommen wir jetzt ohnehin die Mission, Kaike zu erledigen, also mach keine Dummheiten."

"Hm. Na dann Tschüß." Aya legte auf, bevor Omi noch mehr Warnungen anbringen konnte. Er war doch nicht blöd. Etwas unzurechnungsfähig vielleicht, wenn er sich sein Verhalten in den letzten Tagen noch mal durch den Kopf gehen ließ. Aber nicht blöd.
 

Er ging zurück ins Bad und zog sich an. Das erste, was er tun würde war, sich ein T-Shirt oder einen Pullover zu kaufen. Das, was er jetzt wieder trug, war wohl nicht mehr zu retten. Die Kopfwunde oder besser, das austretende

Blut, hatte ihm den Rest gegeben.
 

Wieder im Zimmer, sah er sich noch ein letztes mal um, ob er auch nichts liegen gelassen hatte und ging dann.

Die Eingangshalle sah bei Tageslicht weder größer noch hübscher aus als in der Nacht und auch der Mann an der Rezeption sah noch genau so aus wie gestern, nur dass man bei Licht die gelben Zähne deutlicher sah. Aber wenigstens stank es nicht mehr so.

"Ihr Begleiter ist in Richtung Tankstelle gegangen." Ein irgendwie schleimiges Lächeln entblößte noch größere Teile dieser Trümmerstätte von einem Gebiss.
 

Angesichts dessen und der Betonung des Wortes Begleiter' wuchs in Aya das tiefe innere Bedürfnis heran, dem Typen den Rest seiner traurigen Zahnstümpfe einzuschlagen. Aber er beherrschte sich und ging einfach. Jemanden wegen so was zusammenzuschlagen, wäre dann doch etwas überreagiert gewesen, das war ihm schon klar. Zumal das alles ja auch gar nichts damit zu tun hatte, dass Schuldig ihn geküsst hatte. Da! Er hatte wieder dran gedacht und dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, genau das nicht zu tun. Was hatte dieser Arsch sich nur dabei gedacht? War das jetzt eine neue Art, ihn in den Wahnsinn zu treiben? Aber nicht mit ihm! Er würde ganz einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Gut! Perfekt! Dann müsste er nur noch innerhalb der nächsten paar Minuten rausfinden, wie er sich davon abhalten konnte, ständig daran zu denken.
 

Also über was anderes nachdenken. Was wollte er wegen Kaike tun? Er hatte da ja schon eine Idee. Genaugenommen, seit dem letzten Gespräch mit Omi. Vielleicht nicht besonders vernünftig, aber es würde sein momentan größtes Problem lösen und das war ganz sicher nicht Schuldig.
 

Verdammt! Er hatte schon wieder dran gedacht. Das ging doch nicht so weiter. Dummerweise konnte er sich auch nicht einfach aus dem Staub machen, auch wenn er dazu jetzt wirklich Lust hatte. Aber diese miese Ratte hatte seine Autoschlüssel und er würde den Wagen ganz sicher noch brauchen. Davon abgesehen und auch wenn er es sich nur ungern eingestand, spielte Schuldig in seinem Plan nicht unbedingt eine unwesentliche Rolle.
 

Was ihn wieder zum Ausgangspunkt brachte. Gut, vielleicht war Schuldig doch sein größtes Problem. Was sollte denn das auch? Da hatte er sich in einem Anfall von hoffnungslos geistig umnachteter Hilfsbereitschaft entschlossen, Schuldig zu helfen - ein zweites Mal. Trotz besseren Wissens - und dann machte dieser Idiot alles zunichte. Zugegebenermaßen würde er sich darüber vermutlich nicht so aufregen, wenn er wirklich so selbstlos wäre, aber

Hilfsbereitschaft klang viel besser als Planung.
 

Was dachte sich Schuldig bei so einem Scheiß? Dabei waren sie doch gerade halbwegs miteinander klar gekommen.

Aya schreckte leicht zurück, als sich die Tür des Tankstellenkomplexes nur knapp vor seiner Nase öffnete. Er sollte wirklich darauf achten, wo er hin lief. Und was hatte er da eben schon wieder gedacht? Als ob er wissen wollte, was in Schuldigs Kopf vor sich ging.
 

Er trat ein und sah sich um. Der überdimensionale Bau aus Glas und Metall beherbergte neben der Tankstellenkasse auch noch einen Kiosk und ein Schnellrestaurant, an dessen Decke ein Fernseher hing. Direkt davor Schuldig, der gebannt auf den Bildschirm starrte und eine Anzahl scheinbar grundlos schweigender Leute.
 

Aya setzte sich kommentarlos auf einen freien Stuhl neben Schuldig und versuchte herauszubekommen, was hier los war. Der Telepath reagierte in keiner Weise, bewegte sich nicht einen Zentimeter, die grünen Augen ununterbrochen auf den Fernseher fixiert.
 

Doch gerade als Aya sich bemerkbar machen wollte, bewies Schuldig, dass er doch nicht hypnotisiert war oder ähnliches und redete, ohne sich umzudrehen. "Brauchst gar nichts zu sagen. Ich hab dich schon auf dem Weg hierher nicht überhören können. Eine Wolke wirrer Gedanken umflort dich."

Aya wollte schon widersprechen, als Schuldig ihm das Wort abschnitt. "Mach dir keine Sorgen deswegen, ich hab nicht hingehört. Und ich will mich jetzt auch wirklich nicht damit beschäftigen, also geh einfach, du lenkst mich ab."
 

Aya starrte ihn entgeistert an. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? Der ließ doch sonst keine Gelegenheit aus, in den Köpfen anderer Leute, speziell Ayas herumzuschnüffeln. Und jetzt?

Und von was sollte er ihn nicht ablenken?
 

Der Gedankengang stoppte an dieser Stelle und Aya sah auf den Fernseher, auf Schuldig, auf die viel zu stillen Gäste. Es machte Klack und... "Sag mal, du guckst doch nicht wirklich diese Seifenoper?"

Keine Reaktion. Dann hatte er das mit der Fernsehserie am Freitag ernst gemeint? War ja gruselig. "Kann man das tatsächlich in irgend einer Weise interessant finden?"
 

Aya hatte nicht wirklich damit gerechnet, aber diesmal antwortete Schuldig sogar. "Ja, klar. Das ist wie Leute beobachten, aber man weiß nicht, was sie denken. Ist mal was anderes."

Okay, er hätte nicht fragen sollen. Aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer.

"Ja ja, könntest du jetzt bitte ein paar Meter weggehen, damit ich wenigstens noch das Ende mitbekomme?"

Aya blieb wie erstarrt sitzen. Er war sich nicht ganz sicher, wie er darauf jetzt reagieren sollte.
 

Einerseits zweifelte er im Augenblick an seinem Verstand. An Schuldigs sowieso, aber das war ja nichts neues. Andererseits war er stinksauer. Und zwar auf diese äußerlich ruhige, tödliche Art. Sollte er jetzt erleichtert oder traurig darüber sein, dass er gegenwärtig keine Waffe zur Hand hatte?

Er stand sehr ruhig auf, ging sehr ruhig ein paar Schritte weiter auf die Wand zu und zog den Stecker raus. Bild weg, Telepath wieder da. Das hatte ja schon mal etwas ungemein befriedigendes gehabt. Und nun zum Wesentlichen.
 

~*~
 

Schuldig kam mit einem Schlag zu sich als der Fernseher seinen Geist aufgab. Das konnte doch nicht wahr sein! Warum ausgerechnet...

Ups! Er wusste zwar nicht so genau, was er zu Aya gesagt hatte - es war ja schon erstaunlich genug, dass er dessen Gegenwart überhaupt zur Kenntnis genommen hatte - aber er schien ziemlich sauer zu sein. Beunruhigenderweise hatte er es mal wieder irgendwie fertig gebracht, dass Schuldig seine Gedanken nicht mehr lesen konnte.
 

Aya setzte sich wieder auf seinen Platz und starrte ihn einfach nur wortlos an. Schuldig versuchte, überall hinzusehen, nur nicht in Ayas Gesicht. Wahrscheinlich würde er dann auf der Stelle tot umfallen und das wollte er nicht wirklich. Ihm fiel auf, dass Ayas Haare noch nass waren und ziemlich unordentlich in alle Richtungen abstanden. Auf der Schulter seines Hemdes zogen sich angetrocknete Blutspuren entlang und die Wunde am Kopf sah auch nicht besonders gut aus. Moment. "Du hast den Verband abgemacht?"
 

Aya verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. "Was soll das sein? Besorgnis? Für wie dumm hältst du mich? Lenk nicht ab! Und jetzt gib mir meine Autoschlüssel!"

Schuldig grinste, obwohl ihm nicht wirklich danach war. "Nein, darauf fall ich nicht rein. Ich lass mich doch nicht an 'ner Autobahnraststätte aussetzten."

"Findest du das komisch?"
 

"Was genau jetzt? Dass ich dir deine Autoschlüssel nicht gebe, das mit dem Aussetzen oder die Tatsache, dass du versuchst, mich zu bedrohen, ohne irgendetwas gegen mich in der Hand zu haben?" Schuldig lehnte sich betont lässig zurück, lächelte noch eine Spur breiter.

Aya lächelte jetzt ebenfalls. "Vielleicht, dass du versuchst, mir mein Auto zu klauen, nachdem deinetwegen schon mein Haus zerstört wurde."
 

Schuldig stutzte. Dieses Lächeln war ihm nicht geheuer. Und es passte nicht zu dem, was Aya gesagt hatte. Wollte er ihm ein schlechtes Gewissen machen? Das konnte er sich wirklich nicht vorstellen. Nicht bei dem Rotschopf. Eigentlich passte überhaupt nichts davon zu Aya, zumindest nicht zu dem, was er bisher von ihm erlebt hatte. Verfolgte dieser am Ende sogar ein bestimmtes Ziel mit diesem Gespräch? Aber das hieße ja...
 

Dann wusste Aya also, dass Schuldig seine Gedanken im Augenblick nicht lesen konnte.

Scheiße! Wie sollte er denn ausgerechnet mit Aya reden, wenn er nicht wusste, was der dachte? Das beste wäre es natürlich, wenn er ihm die verdammten Autoschlüssel einfach gab und dann als Anhalter bei irgendjemandem in die Stadt fuhr. Da würde er dann untertauchen - jetzt, wo er wusste, mit wem er es zu tun hatte und wieder halbwegs auf dem Damm war, sollte das kein allzu großes Problem darstellen - und sich, wenn sich die Möglichkeit bot, bei

Kaike für die letzte Woche revanchieren. Das wäre das beste...
 

"Ich geb dir die Autoschlüssel. Aber nur unter der Bedingung, dass du mich noch bis in die Stadt fährst." Warum sagte er das? Er wollte doch Aya so schnell wie möglich loswerden.

Oder etwa nicht?

Mit einem knappen Nicken und einem verschlossenen Blick stimmte Aya zu. Es war also zu spät für einen Rückzieher. Er würde die Autofahrt mit Aya noch hinter sich bringen müssen.
 

Gar kein Problem. Er müsste sich nur zusammenreißen, damit er nicht wieder anfing, endlos über ihn nachzudenken. Und sich... und ihn und sich...

Schlecht gelaunt blieb Schuldig sitzen und grübelte darüber nach, was nur mit ihm los war, während Aya sich etwas zu essen bestellte.
 

Nach Ayas Meinung war das ja schon mal gar nicht so schlecht gelaufen. Einfacher als er gedacht hatte. Er fragte sich flüchtig, warum Schuldig unbedingt bei ihm bleiben wollte, aber egal. Er würde also noch die Autofahrt über Zeit haben, Schuldig dazu zu bringen, ihm bei seinem Plan zu helfen. Natürlich wäre es besser, es jetzt zu versuchen, solang er seine Gedanken nicht lesen konnte. Aya hatte zwar keine Ahnung, wie er den Telepathen daran hinderte, aber er war sich ziemlich sicher, dass dieser ihn im Augenblick nicht lesen konnte. Sonst hätte er bestimmt schon eine Bemerkung gemacht.
 

Schuldig hatte währenddessen das Nachdenken über sich selbst schon wieder aufgegeben. Es führte ja doch zu nichts. Die Kellnerin, die vorhin schon die Bestellung aufgenommen hatte, brachte jetzt das Essen. Sie war etwas irritiert von Ayas blutigem Hemd und der Wunde, das konnte er in ihren Gedanken lesen.
 

Warum hatte er vorhin eine Bemerkung dazu gemacht? Aya hatte recht. Was interessierte es ihn schon, ob dieser Dickkopf mit oder ohne Verband um den Kopf herumrannte? Schuldig unterdrückte ein Seufzen. Natürlich. Besorgnis. Es war nicht anders als gestern, aber aus irgend einem Grund beunruhigte es ihn heute noch mehr. Wahrscheinlich, weil er ausgeschlafen hatte. Vielleicht auch aus einem anderen Grund.
 

Schuldig beobachtete Aya so unauffällig es ging. Er wirkte irgendwie gar nicht so unzufrieden, dafür, dass er auf Schuldigs Abmachung eingegangen war. Hatte er das am Ende sogar erreichen wollen? Dass er ihn begleitete? Aber warum?
 

Würde er eben warten müssen, bis er die Gedanken des anderen wieder lesen konnte. Er wünschte, der Fernseher würde wieder laufen. Das würde ihn zumindest ein bisschen ablenken. Stattdessen dachte er über Kaike nach, und was er wegen ihm tun wollte. Bombay schien ja etwas herausgefunden zu haben. Warum sonst hätte Aya ihn nach dem Feuerzeug fragen sollen? Schuldig ärgerte sich, dass er das Gespräch nicht mitgehört hatte. Warum eigentlich nicht? Weil er es auch später in Ayas Gedanken lesen konnte? Oder doch eher, weil er Aya fragen wollte?
 

"Was?", riss ihn Ayas Stimme aus diesen Fragen.

Schuldig sah ihn verwirrt an.

"Was ist los, dass du mich anstarrst? Ich würde gerne essen, also hör auf damit!", präzisierte Aya seine Äußerung nicht eben freundlich.
 

Schuldig setzte wieder sein Grinsen auf, sagte das erste, was ihm einfiel. "Ich hab mich nur gefragt, was Bombay dir erzählt hat. Ich nehme doch mal an, ihr habt nicht nur über mich geredet oder?"

Aya verengte seine Augen zu Schlitzen, sah Schuldig für den Bruchteil einer Sekunde misstrauisch an, bevor er sich wieder - scheinbar desinteressiert - seinem Essen zuwandte. "Du hast also nicht mitgehört? Und das soll ich dir abkaufen?"
 

Schuldig grinste breiter, zuckte mit den Schultern.

Wieder lächelte Aya beunruhigend. "Das Feuerzeug, das du gestohlen hast, enthält Informationen, die für Kaike gefährlich werden können. Deshalb tut er alles, um es zurückzubekommen."
 

Schuldig versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Nicht wegen des Feuerzeugs, sondern darüber, dass Aya ihm davon so einfach erzählte. Natürlich musste auch Aya klar sein, dass Schuldig es früher oder später auch so herausfinden würde, aber es einfach so zu sagen, passte nicht wirklich zu ihm. Es sei denn, er wollte, dass Schuldig davon wusste. Und zwar noch jetzt. Das konnte wiederum nur bedeuten, dass Aya versuchte, ihn auf diese Weise zu manipulieren.
 

Das war fast schon komisch. Schuldig lachte und lehnte sich wieder zurück, plötzlich wieder gut gelaunt. Aya brauchte ihn also. Das erklärte einiges.

Ruhig erwiderte er Ayas Blick, der zwischen Verwirrung und wachsendem Misstrauen schwankte. "Worüber lachst du?"

"Über dich." Schuldig grinste wieder, ignorierte das zornige Funkeln in den Augen seines Gegenübers. "Weißt du, du bist nicht besonders gut in solchen Spielchen, also sag mir lieber, was du vorhast, vielleicht mach ich ja mit..."

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"Weißt du, du bist nicht besonders gut in solchen Spielchen, also sag mir lieber, was du vor hast, vielleicht mach ich ja mit..."

Ayas Mine blieb ausdruckslos. War ja klar gewesen. Was hatte er auch gedacht, dass das funktionieren würde? Schuldig mit seinen eigenen Waffen zu schlagen war ein Ding der Unmöglichkeit. Er wusste eben nicht, was andere dachten. Speziell, was in Schuldigs Kopf vorging.
 

Wenn er die Sache durchziehen wollte, blieb ihm aber nun nichts anderes übrig, als mit der Wahrheit rauszurücken. An sich kein Problem. Wenn Schuldig ihn nicht so unfassbar arrogant gefragt hätte. Die Herablassung und der Spott, die in seinen Worten mitschwangen, kotzten ihn an. Schuldig machte sich über ihn lustig. So etwas konnte er nicht ertragen. Schon gar nicht von ihm.
 

Er spielte mit dem Gedanken, einfach aufzustehen und zu gehen. Noch hatte er nicht zugegeben, dass er etwas von Schuldig wollte. Aber dann würde es wie eine Flucht aussehen. Nein, es wäre eine Flucht. Kurz entschlossen sah er auf. Sein unnachgiebiger Blick traf Schuldigs spöttischen.

"Ich will Kaike erpressen."
 

Der Spott verschwand aus Schuldigs Augen, wich für einen Augenblick Erstaunen, bevor er wieder so allgegenwärtig zurückkehrte, als hätte er das Grün nie verlassen. "Wenn mich nicht alles täuscht, dann passt das nicht unbedingt zu einem von deiner Sorte."

"Meine Sorte?"
 

Schuldig machte eine wegwerfende Handbewegung. "Die guten Jungs. Du weißt schon..."

"Du meinst also, einen Verbrecher zu erpressen ist schlechter als ihn zu ermorden?"

"Keine Ahnung, da fragst du den Falschen. Ich versteh nichts von... Ethik oder was das sein soll." Ein desinteressiertes Schulterzucken begleitete das amüsierte Grinsen auf seinem Gesicht. "Ich dachte nur, dass ihr etwas gegen persönliche Bereicherung hättet."
 

"Der Typ hat mein Haus angezündet und mich fast ermorden lassen. Ich denke, da ist ein wenig persönliche Bereicherung schon in Ordnung."

"An welche Summe hast du gedacht?"

Aya dachte einen Moment nach. "Zehn Millionen Yen."
 

"Weiß bleibt Weiß!", lachte Schuldig. "Was soll diese bemitleidenswerte Bescheidenheit, du Anfänger?"

Ein nahezu tödlicher Blick von Aya traf ihn, prallte aber an einem erneuten Schulterzucken ab.

"Mag sein, dass dir dein Leben nicht mehr wert ist als diese lächerlichen Peanuts, aber der Typ ist sehr reich und sehr jähzornig. Für mich dürften's da schon ein paar Nullen mehr sein."

"Wieviel willst du denn?"

"Fünf Millionen Dollar sind bestimmt drin. Wahrscheinlich mehr."

"Wie du meinst." Es war Aya egal. Das Risiko blieb das gleiche.

"Töten wir ihn?"

"Nein. Das wäre Raubmord. Das werde ich nicht tun."

"Ehrlich, diese Sache mit der Moral geht mir irgendwie nicht auf. Aber meinetwegen. Auch, wenn das alles viel schwieriger macht." Er schwieg einen Moment. "Nehmen wir mal an, ich mach bei diesem schwachsinnigen Plan mit. Wie stellst du dir das vor?"
 

Aya starrte nachdenklich auf die Tischplatte. "Die Übergabe dürfte das eigentliche Problem sein... Am Übergabeort würden wir kaum überleben... Kaike wird wissen, dass du ihn erpresst und er kennt dich... Die Frage ist, ob er das ganze ernst genug nehmen würde, um das Geld zumindest parat zu haben."

"Ich weiß nicht genau. Wenn man ihm mit der Polizei droht, möglich. Nur leider ist das Ding vermutlich zu nichts mehr zu gebrauchen, nachdem es so lange im Wasser gelegen hat."

Schuldig holte das Feuerzeug aus der Tasche und betrachtete es, als ob ihm das Aufschluss über den Zustand des Datenträgers gäbe.
 

Aya folgte dem Blick des Deutschen. "Davon weiß Kaike ja nichts. Aber es wäre vermutlich trotzdem besser, nachzusehen, ob nicht doch noch etwas zu lesen ist. Wenn man einen kleinen Teil der Informationen der Polizei zuspielt, so dass nicht Kaike selbst betroffen ist, aber etwas, dass zu seiner Organisation gehört..."

"Eine Warnung, meinst du?" Schuldig grinste. "Bleibt die Frage, ob auf dem Ding noch etwas drauf ist oder nicht. Aber angenommen, es geht bis dahin. Wie du schon sagst, am Übergabeort hätten wir kaum eine Chance."

"Wenn er das Geld hat, kann man es ihm auch zu einem anderen Zeitpunkt abnehmen."

"Das wäre aber nicht wesentlich einfacher."

"Aber es wäre wenigstens nicht von Anfang an eine Falle."
 

Schuldig lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. "Wenn ich jetzt auch nur einen Funken gesunden Menschenverstand zeige und ablehne, was machst du dann?"

Aya blieb scheinbar ungerührt. "Du gibst mir meine Schlüssel und ich gehe."

Ja. Genau so würden sie es machen. Sie würden einfach getrennter Wege gehen. "Nein, die Idee gefällt mir.", hörte sich Schuldig sagen und hätte sich noch im selben Moment am liebsten vor den Kopf geschlagen. Aber jetzt war es gesagt und er unterdrückte diesen Impuls, setzte stattdessen ein souveränes Grinsen auf. "Ich denke, das könnte amüsant werden... Gesunder Menschenverstand war sowieso nie mein Ding."

Aya nickte und stand auf. "Lass uns gehen."
 

"Wie? Und das Essen? Willst du nicht bezahlen?"

Ein leichtes Schulterzucken begleitete die Antwort. "Ich habe immer noch kein Geld. Also bezahl du oder lass es sein."

Immer noch grinsend folgte Schuldig ihm nun. "Ehrlich, langsam glaub ich, ich habe doch einen schlechten Einfluss auf dich."

Von Aya kam nur ein verächtlicher Blick. "Lächerlich."
 

Während Schuldig Aya zum Auto folgte, versuchte er, sich darüber klar zu werden, warum er zugestimmt hatte. Zum einen sicherlich, weil die Aktion lustig zu werden versprach. Er hatte sowieso nichts zu tun. Und wenn alles klappte sprang auch einiges an Geld dabei heraus...

Alles Blödsinn. Der Plan, soweit denn überhaupt vorhanden, war lebensgefährlich und er würde mit Aya zusammenarbeiten müssen. Also warum hatte er sich darauf eingelassen? Nur nicht zuviel darüber nachdenken. Er war doch echt blöd, hatte einfach wieder geredet, ohne nachzudenken. Alles Ayas Schuld. Nur weil er sich so merkwürdig verhielt. Jemanden zu erpressen - das passte einfach nicht zu Aya. Egal, was Kaike für ein Mensch war. Und dann war ihm das so wichtig, dass er sich von seiner, Schuldigs, Hilfe abhängig machte. Das machte doch einfach keinen Sinn.
 

Und sein eigenes Verhalten machte noch viel weniger Sinn. Warum ging er darauf ein? Was brachte ihn dazu, so etwas Uneigennütziges zu tun? - Na ja, fast uneigennützig...- Warum wollte er Aya helfen?

Nein, er würde das Wort jetzt nicht denken, ganz sicher nicht.

Dann schon lieber ein bisschen in Selbstmitleid versinken. Er hatte aber auch wirklich Pech. Die Woche hatte einfach beschissen angefangen und auch wenn es kurzzeitig nach Besserung ausgesehen hatte, war alles immer schlimmer geworden. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, einfach im Straßengraben liegen zu bleiben...
 

Am Auto angekommen, kramte Schuldig die Schlüssel aus der Tasche und rannte fast Aya um, der wartend an der Fahrertür stand.

Dieser rettete sich durch ein geschicktes Ausweichmanöver und verlangte dann die Autoschlüssel. Schuldig schüttelte mürrisch den Kopf, was Aya aber nur zu einem unverständigen Stirnrunzeln veranlasste. "Du hast nur einen Arm frei, falls ich dich daran erinnern dürfte."

"Gestern ging's ja auch.", erwiderte Schuldig schulterzuckend.
 

Aya war kurz davor, genervt die Augen zu verdrehen. Was war denn mit dem nun schon wieder los? Erst stimmte er zu, bei der Erpressung mitzumachen. Damit hatte Aya im Grunde nicht wirklich gerechnet. War ja auch bis jetzt ein extrem dürftiger Plan. Und dann benahm er sich so. Aya gab sich ja fast schon Mühe, irgendeinen Sinn hinter dem Verhalten des Telepathen zu erkennen, falls es denn so etwas gab. Er würde Schuldig aber jetzt auf keinen Fall Auto fahren lassen. Immerhin war der hier nicht der einzige, der seltsame Entscheidungen traf. Ein bisschen Ablenkung konnte da nicht schaden.
 

"Gib mir jetzt endlich die Autoschlüssel!" Und, oh Wunder, Schuldig gehorchte. Aya blieb vor Staunen der Mund offen stehen, während Schuldig offenbar schlecht gelaunt um den Wagen herum ging und sich nach einer Weile bemerkbar machte. "Schließt du jetzt endlich auf oder hat du's dir anders überlegt?"

Aya beeilte sich jetzt, die Türen zu öffnen und sie fuhren los.
 

Schuldig saß auf dem Beifahrersitz und brütete schweigend vor sich hin. Natürlich hatte Aya recht. Man konnte zwar mit nur einem Arm fahren, aber es machte ja wenig Sinn, wenn Aya da war. Wenn er ihn ein bisschen freundlicher nach den Schlüsseln gefragt hätte, hätte er sie ihm auch gleich gegeben. Vermutlich.

Er lehnte sich vor und schaltete das Radio ein. Unter normalen Umständen hätte er jetzt irgendwas anderes eingestellt, allein um Aya zu provozieren, aber im Augenblick war ihm nicht danach. Die Musik war ihm eigentlich egal, er wollte nur, dass es nicht mehr so still war. Er würde mal gründlich nachdenken müssen.
 

Zum Beispiel darüber, dass er langsam aber sicher wahnsinnig wurde. Und das lag nicht im Geringsten daran, dass er sich selbst nicht verstand. Nein, das war ja gewissermaßen Normalzustand. Was ihn wirklich nervös machte war, dass er Aya nicht verstand. An sich wäre das auch noch kein Problem gewesen. Von Menschen, die man nicht einschätzen konnte, hielt man sich eben fern. Dieser Grundsatz ersparte einem Unmengen von Problemen. Also warum hielt er sich nicht einfach daran?

Wann war er eigentlich von der Überzeugung abgekommen, dass es sich nicht lohnen würde, etwas mit Aya anzufangen? Und wann genau hatte er angefangen, ihn zu mögen? Warum erfuhr er von so was immer zuletzt? Scheiße!
 

Verdrängung war auf Dauer wahrscheinlich doch keine Lösung. So langsam verwirrte ihn das mehr, als es ihm half... Gut, dann würde er eben aufhören, sich einzureden, dass er lieber möglichst weit weg von Aya wäre. Es war nun mal nicht so. Und das obwohl Aya unfreundlich, kompliziert und stur war und ihn ständig kritisierte. Es war also ganz klar, dass er, Schuldig, ihn... - Er zögerte einen Moment, den Gedanken zuende zu führen. Man konnte es mit dieser gnadenlosen Selbstehrlichkeit auch übertreiben. - ... irgendwie mochte.

Irgendwie... mehr war zurzeit nicht drin.
 

Unabhängig davon, dass er ihn nicht von der Bettkante schupsen würde... Aber das war ja nichts wirklich neues.

Blieb das Problem, dass Aya ihn... Na ja, vielleicht nicht mehr unbedingt hasste, aber zumindest nicht leiden konnte. Mit Schrecken stellte Schuldig von neuem fest, dass ihm das durchaus etwas ausmachte.

Er wollte also, dass Aya ihn mochte? Scheiße, das klang ganz nach diesem widerlichen Menschen, der sich Disneyfilme ansah und um den Regenwald bangte und der nie aus ihm werden sollte. Vielleicht wäre Verdrängen doch besser gewesen. Hier taten sich ja wahre Abgründe auf. Aya sollte ihn mögen! Gott, das wäre ja wohl noch schwerer, als ihn ins Bett zu bekommen. Da hätte er vielleicht noch mit Manipulation... aber so...

Schuldig hatte keinen Schimmer, wie er das anstellen sollte. Er würde sich irgendetwas einfallen lassen müssen. Und solange würde er einfach bei Aya bleiben. Ob es dem nun passte oder nicht.
 

~*~
 

Aya war kaum merklich zusammengezuckt, als Schuldig das Radio angeschaltet hatte. Misstrauisch beobachtete er den Telepathen aus den Augenwinkeln. Wenn der ohne bestimmten Grund, das hieß ohne zu schlafen, so still und nachdenklich war, wirkte das auf Aya immer sehr verdächtig. Kein Grinsen auf dem Gesicht, kein spöttisches Funkeln in den Augen. Warum hatte sich Schuldig einfach so bereit erklärt, ihm zu helfen? Seit ihm der Gedanke vorhin gekommen war, fand er darauf keine zufriedenstellende Antwort. Aber Aya musste zugeben, dass er froh darüber war. Egal, wie man es betrachtete, allein hätte er nicht die geringste Chance, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Mal ganz davon abgesehen, dass Schuldig das Feuerzeug hatte.
 

Auch wenn er es nur ungern zugeben würde, war er Schuldig wirklich dankbar für seine Hilfe. Immerhin tat er das hier nicht nur aus einer Laune heraus. Für ihn ging es hier um sehr viel mehr als um Geld.

"Um was?", riss ihn Schuldigs Stimme aus seinen Überlegungen.

Aya wollte ihn schon anschnauzen, dass ihn das nichts anginge und er nicht ständig seine Gedanken lesen sollte, aber er sagte lieber nichts.
 

Auf Schuldigs Gesicht schlich sich ein zynisches Lächeln. "Glaub nicht, dass ich den Versuch nicht zu schätzen wüsste, aber es ist egal, ob du es jetzt noch sagst oder nicht."

Eine Weile herrschte Schweigen.

"Wir werden Ausrüstung brauchen.", warf Aya zusammenhangslos ein.

Schuldig nickte grinsend. "Außerdem brauchen wir Unterbringung und jemanden, der uns mit dem Feuerzeug weiterhilft. Ich denke mal, dass wir uns da nicht bei Weiß melden wollen, also wenn du keine Vorschläge hast, hätte ich da schon eine Idee."
 

"Aha." Aya klang mehr als skeptisch.

"Dein Enthusiasmus hält sich ja echt in Grenzen."

"Wen wundert's. Aber erzähl."

Schuldigs Grinsen wurde noch breiter. "Nein. Lass dich überraschen."

"Ich hasse Überraschungen. Besonders deine."

"Ich weiß.", meinte Schuldig zufrieden.
 

Aya knurrte und richtete den Blick starr auf die Straße. Ja, keine Frage, der Bastard hatte Spaß.

Arschloch! Auch wenn er froh war, dass er da war - auf diese kranke, verdrehte, fast schon masochistische Art und Weise. Gott, das war einfach nicht gut für seinen Geisteszustand. Omi hielt ihn jetzt sicher auch für wahnsinnig. Kein Wunder, immerhin übernachtete er mit Schuldig in einem Hotelzimmer. Gut, beim ersten Hinhören klang das jetzt nicht so bizarr, aber wenn man mal ganz genau darüber nachdachte, war es das.
 

Hinterrücks stahl sich der Kuss wieder in seine Gedanken. Na toll! Konnte er gut gebrauchen, wenn Schuldig mithörte. Er hatte ja auch schon seit knapp zehn Minuten nicht mehr dran gedacht.

"Möchtest du darüber sprechen?"

"Nein." Aya warf Schuldig einen Blick zu, der ihn in Rauch auflösen sollte, was aber leider nicht funktionierte. Der grinste nur wieder. Hatte er eigentlich zwischendurch mal aufgehört?
 

Das Grinsen wurde noch mal breiter und Aya wünschte sich, es würde explodieren. "Ich dachte ja nur, weil du dich auf die Straße konzentrieren solltest. Ich will ja wirklich nicht deinen Fahrstil kritisieren... aber wenn du über 200 fährst und so überhaupt nicht aufs Fahren achtest, wird mir doch etwas mulmig."
 

Aya trat hart auf die Bremse. Dummerweise war Schuldig angeschnallt. Aber dank des Sicherheitsgurtes dürfte jetzt wenigstens seine Schulter wieder so richtig weh tun. Das gab Aya eine gewisse Genugtuung. Wie sollte er denn vernünftig fahren, wenn dieser Idiot ihn ständig ablenkte?

"Also damit hab ich nun wirklich nichts zu tun.", maulte Schuldig. "... na ja - fast nichts."

Aya fuhr mit nun normaler Geschwindigkeit weiter und schwieg verbissen.

"Nimmst du mir das wirklich so ü-"

Ein Knurren unterbrach ihn.
 

"Okay, okay. Schon kapiert, du willst nicht darüber reden."

Etwa zwei Minuten herrschte Ruhe. Dann: "Weißt du, du müsstest auch mal aufhören, darüber nachzudenken. Du achtest schon wieder nicht auf die Straße und langsam aber sicher geht's mir doch ziemlich auf die Nerven."

Aya drohte zu explodieren und eine kleine, wirklich winzige Stimme der Vernunft, von der Schuldig gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß, warnte ihn, weiterzumachen. Also schwieg er und ließ Aya sich beruhigen - für ungefähr dreißig Sekunden. Mehr war wirklich nicht drin.
 

"Mann, ehrlich! Ich hab dich nur geküsst. Ich will jetzt nicht auf Psychotante machen, aber könnte es sein, dass du ein Problem mi-"

Lautes Hupen unterbrach ihn, als der Wagen die andere Spur schnitt und dabei fast einen fremden Seitenspiegel mitnahm. "Ran, du solltest in diesem Zustand nicht Auto fahren."
 

Ein brutales Herumreißen des Lenkrads ließ den Wagen schlingernd die Spur wechseln, wieder unterlegt von panischem Hupen.

Schuldig dachte sich, dass er jetzt sowieso nichts mehr zu verlieren hatte. Also wäre es zumindest noch Zeit für denkwürdige letzte Worte. "Also, wenn du dir nur nicht sicher bist, ob du es mochtest oder nicht, dann könnten wir gern-" Der Rest ging in einem schmerzhaften Aufstöhnen unter, als der Wagen mit quietschenden Bremsen auf dem Seitenstreifen zum Stehen kam.
 

Einen Moment lang starrte Aya ihn an, als würde er ihn am liebsten in der Luft zerreißen, was vermutlich sogar noch untertrieben war. Schuldig bereitete sich innerlich schon auf einen Angriff vor, als Aya sich mit steifen Bewegungen abschnallte und ausstieg. Die Tür flog schmetternd zu, ein metallisches Knallen bezeugte einen Tritt gegen das Auto. Schuldig beobachtete interessiert, wie Aya mit schweren Schritten ein Stück den Leitplanken folgte.

Eine Notrufseule hatte das ausgesprochene Pech, in der Nähe zu stehen und überlebte diese Begegnung nicht. Schließlich sank er einfach daneben nieder und starrte in den Himmel.
 

Schuldig brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass er noch am Leben war. Er stieg erst einmal aus und rauchte eine.

Während er so an den Wagen gelehnt stand, fragte er sich ernsthaft, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Was trieb ihn nur immer zu solchen Kamikazeaktionen? Es war doch wirklich nicht nötig gewesen, so weit zu gehen. Eigentlich war es nicht mal nötig gewesen, überhaupt etwas zu sagen. Warum konnte er auch seine Klappe nicht halten? Er war doch wohl einer der wenigen Menschen, die reden konnten, ohne auch nur im mindesten zu denken. Aber jetzt war es auch nicht mehr zu ändern. Zumal er auch nicht wirklich von sich behaupten konnte, dass er das Ganze bereute. Irgendwie musste er ja versuchen, Aya aus der Reserve zu locken...
 

Es vergingen etwa zehn Minuten, bis Schuldig es für sicher hielt, sich Aya auf weniger als vier Meter zu nähern. Er schnippte die zweite angefangene Zigarette weg und ging vorsichtig auf den am Boden sitzenden zu. Aya würdigte ihn keines Blickes, saß nur da und starrte weiter durch die vorbeirasenden Autos hindurch.

Einen Moment blieb Schuldig neben ihm stehen und überlegte, was er jetzt sagen sollte. Sie schwiegen eine ganze Weile, bis Schuldig schließlich trocken auflachte. "Aber du musst zugeben, es gibt da eine gewisse Spannung zwischen uns beiden..."
 

Ein völlig entgeisterter Blick aus violetten Augen traf ihn, dann senkte Aya den Blick auf den Boden. "Das ist Hass, du Geisteskranker." Seine Stimme klang rau und irgendwie resigniert.

Mit einem Seufzen erhob sich Aya und ging wieder zum Auto. Als Schuldig ebenfalls dort ankam, saß Aya schon auf dem Beifahrersitz und betrachtete nachdenklich seine Hände. Die Knöchel waren aufgeplatzt und blutig.

Mit einem mal tat es Schuldig doch irgendwie leid. Nicht mal unbedingt, was er gesagt hatte, aber irgendwie...

Er schüttelte den Kopf, als könnte er damit das lästige Gefühl los werden und fuhr weiter.

Aya betrachtete scheinbar ruhig und teilnahmslos die vorbeiziehende Landschaft.

Das Radio spielte irgendeinen schmalzigen Lovesong.

Schuldig würgte ihn ab.
 

~*~
 

Es dauerte noch ein paar Stunden bis sie in Tokyo ankamen. Schuldig gähnte lautstark. Er fühlte sich müde von der eintönigen Fahrt. Es gab doch wirklich nichts langweiligeres als Fahrten auf der Autobahn - Es sei denn, Aya fuhr.

Schuldig grinste und warf einen Seitenblick auf seinen Beifahrer, der jetzt so tat als würde er schlafen. In Wirklichkeit grübelte er seit Stunden über die unterschiedlichsten Dinge nach, sodass Schuldig sich wunderte, dass der Kopf nicht rauchte. Das meiste war ziemlich uninteressantes und unwichtiges Zeug, das den starken Verdacht erregte, nur zur Ablenkung da zu sein.
 

Schuldig hielt an einer annähernd endlos langen Schlange vor einer Ampel. Es war inzwischen früher Nachmittag und der Stadtverkehr war um die Zeit schon fast zum Erliegen gekommen, aber noch ging es, wenn auch stockend, vorwärts.
 

Er hatte beschlossen, dass sie das Auto schnellstmöglich loswerden mussten, sonst könnte Kaike sie vielleicht aufspüren. Und es wäre auch extrem blöd, den gleichen Fehler zweimal zu machen.

Außerdem brauchten sie eine Unterbringung und Waffen. Und ein bisschen Bargeld für Klamotten wäre auch nicht schlecht, immerhin hatten sie bei ihrem etwas übereilten Aufbruch keine Zeit zum Packen gehabt. Schuldig hatte nicht die geringste Lust, sich um all das selbst zu kümmern, also würde er sich bei ein oder zwei Leuten melden, die ihm noch einen Gefallen schuldeten. Bei der Ampel ging es endlich weiter und nur wenige weitere kleinere Staus später rollte der Wagen langsam durch ein Viertel mit riesigen Grundstücken und sauteuren Villen.
 

Vor der hässlichsten und protzigsten von allen hielt er und stellte den Motor ab. Nach dem stundenlangen extrem lauten Rauschen, das von dem zerschossenen Fenster herrührte, war es im Wagen geradezu unheimlich still. Aya öffnete die Augen und sah Schuldig fragend an.

Der setzte wieder sein typisches Grinsen auf. "Die gutbewachte Scheußlichkeit, die du dort siehst, gehört einem gewissen Yashimoto. Er handelt hauptsächlich mit Waffen, hasst Kaike, weil er ihm Konkurrenz macht und es wäre ihm sicher eine Freude, uns zu sponsern."
 

Aya runzelte nachdenklich die Stirn. Irgendwie kam ihm der Name bekannt vor, aber er konnte ihn im Augenblick nicht zuordnen, wurde außerdem von Schuldig unterbrochen, der schon wieder weiterredete.

"Ich hoffe, du hängst nicht zu sehr an dem Wagen. Es wär nämlich besser, wenn das Ding verschwindet. Danach würde ich vorschlagen, dass wir irgendwo in der Stadt einchecken und uns einen Plan ausdenken, damit wir auch nur den Hauch einer Chance haben."
 

Aya zuckte nur mit den Schultern, sah dann zweifelnd zum Haus. "Und du glaubst wirklich, dass er darauf eingeht?" Es klang mehr als skeptisch.

Nun war es an Schuldig mit einem Schulterzucken zu antworten. "Keine Ahnung, aber fragen kostet ja nichts."

Aya wandte sich genervt ab und stieg aus. Was hatte er auch als Antwort erwartet? Warum tat er sich das überhaupt an?
 

Schuldig war ebenfalls ausgestiegen und trat nun neben ihn. "Genau. Das wollte ich ja auch noch wissen. Sagst du's mir jetzt oder muss ich raten?" Er ging weiter zum schmiedeeisernen, überdimensionalen Eingangstor und redete dort kurz mit den Wachleuten, die sie seit ihrer Ankunft misstrauisch beobachtet hatten. Während Schuldig zu Aya zurückkehrte, zog einer von ihnen ein Funkgerät.
 

"Na? Und?"

Aya verschränkte die Arme vor der Brust und maß Schuldig mit einem ausdruckslosem Blick, antwortete aber schließlich. "Das Haus war nicht abbezahlt und die Versicherung wird nicht zahlen. Das heißt, ich bin nicht nur pleite, sondern habe auch noch Schulden."

Schuldig grinste. "Und da kommen Kritiker ins Spiel, die deine Schulden sicher gern bezahlen würden."
 

Aya neigte zustimmend den Kopf, ein bitteres Lächeln auf den Lippen. "Dir ist vermutlich nicht klar, wie viel Zeit und Nerven es gekostet hat, die loszuwerden. Ich habe nicht vor, jemals wieder für sie zu arbeiten. Oder für sonst irgendjemanden in der Branche."
 

Der Wachmann mit dem Funkgerät winkte sie heran, während sich das Tor mit leisem Quietschen automatisch öffnete. Sie wurden kurz auf Waffen durchsucht und dann vorbei gelassen.
 

Auf dem Weg die ewig lange Auffahrt hinauf zum Haus, dachte Schuldig über Ayas Antwort nach. Er konnte das sehr viel besser verstehen als dieser dachte, aber er war schon erstaunt, dass Aya für seine Unabhängigkeit bereit war, zu so drastischen Mitteln zu greifen. Ob er etwas gegen Kritiker hatte? Na, vermutlich nichts bestimmtes. Immerhin war die Organisation ja reichlich zwielichtig und es war auch nicht unbedingt jedermanns Traumjob, Menschen umzubringen, ob nun Verbrecher oder nicht. Selbst aus Schuldigs Sicht war das einzig Lohnende an dem Beruf, dass man eine Menge verdiente, natürlich nur, wenn man sich nicht wie Aya mit seiner komatösen Schwester erpressen ließ. Eigentlich konnte er einem leid tun.
 

Aber Schuldig würde ja jetzt ein bisschen auf ihn aufpassen.

An der Villa angekommen, wurden sie sofort eingelassen und gebeten, in der Eingangshalle zu warten. Während Schuldig sich auf einen vermutlich antiken, seltenen und sicher überteuerten Sessel fallen ließ, von denen eine ganze Menge herumstanden, blieb Aya mitten im Raum stehen. Er fragte sich, wie jemand, der so offensichtlich reich war wie dieser Kerl ein Haus so hässlich einrichten lassen konnte.
 

Schon die Fassade war ja grotesk überladen gewesen, aber die Eingangshalle übertraf das noch bei weitem. Sie wirkte wie lieblos mit all den teuren Sachen vollgestopft. Als hätten all die Möbel und Ölbilder keinen anderen Sinn, als Eindruck zu schinden.
 

~Gar nicht so falsch, du Ästhet.~ Schuldigs spöttische Stimme in seinem Kopf ließ Aya zu ihm herumfahren und ihn wütend anstarren.
 

Schuldig grinste nur. ~Yashimoto hält sich für einen großen Kunstsammler. Er hat von seinem Alten dessen Organisation und ein riesiges Vermögen geerbt und schmeißt das Geld mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zum Fenster raus.~

/Glaubst du deswegen, dass er uns Geld gibt?/

Schuldig nickte. ~Deswegen und weil er ein leichtfertiger Schwachkopf ist. Außerdem schuldet er mir noch was. Ich hab vor ner Weile mal nen kleineren Auftrag für ihn erledigt.~
 

Eine Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters informierte sie, dass sie jetzt empfangen würden und forderte sie auf, ihm zu folgen. Sie wurden durch einige Flure und größere Zimmer geführt, in denen Bilder reihenweise wie Trophäen an den Wänden hingen und kamen schließlich in ein Büro, in dem sich in großen Regalen Unmengen von Büchern befanden, die man wahrscheinlich schon so wie sie jetzt standen mitgekauft hatte.
 

Yashimoto selbst saß hinter einem riesigen Schreibtisch. Er war ein eher kleiner Mann Mitte zwanzig mit schwarzem, im Nacken zusammengebundenem Haar und einem irgendwie lächerlich wirkenden Oberlippenbärtchen. Er begrüßte sie mit unangenehm lauter, schleppender Stimme und einem falschen Lächeln, ohne von seinem Sessel aufzustehen. "Ah Schuldig, nicht wahr? Ich war sehr froh zu erfahren, dass Sie nicht mehr für diesen miesen Gauner Kaike arbeiten."
 

Schuldig grinste nichtssagend. "Es gab Differenzen bei der Bezahlung... Es wird Sie freuen zu hören, dass ich nun einen kleinen Racheakt plane. Aber dazu später, erst einmal muss ich Ihnen zu diesem großartigen neuen Werk in der Eingangshalle gratulieren. Es fügt sich wirklich wundervoll in Ihre Sammlung ein." Aya, der etwas abseits stand, warf Schuldig ob dieser Äußerung einen einigermaßen verständnislosen Blick zu. Ein weiterer Blick auf den zufrieden dreinschauenden Yashimoto zeigte ihm jedoch, dass dieser nur auf diesen Satz gewartet hatte. Er nahm das Kompliment mit einem wohlwollenden Nicken zur Kenntnis, wie einer dieser verhätschelten Hunde Leckerlis.
 

Schuldig musste über Ayas Vergleich lächeln, kam aber nun, wo er die Grundlagen gelegt hatte, gleich zum Geschäftlichen. Er hatte nicht vor, dem anderen Gelegenheit zu geben, ihn endlos mit belanglosen Floskeln zuzulabern und seine Zeit zu verschwenden. Also umriss er grob den Plan und verschwieg, dass dieser grobe Umriss eigentlich alles war, was sie hatten.
 

"Wir bräuchten ein wenig Geld zur freien Verfügung, wenn es geht Waffen und das Auto draußen müsste verschwinden. Außerdem wär's gut, wenn wir in irgendeinem Hotel in der Innenstadt unterkämen.", schloss er schließlich.
 

Yashimotos falsches, lautes Lachen erfüllte für einen Moment den Raum, verstummte aber schnell wieder. "Ich denke, dass ließe sich einrichten." Er sah auf seine Uhr. "Ich habe nicht sehr viel Zeit. Alles weitere wird Nakigawa veranlassen." Er nickte in Richtung des Mannes, der sie hergeführt hatte und die ganze Zeit über bei der Tür stehen geblieben war. Dann erhob er sich und verabschiedete sich schon im Gehen. "Also dann. Schuldig. ..." Er sah Aya, den er erst jetzt bemerkt zu haben schien, fragend an.

"Fujimiya.", antwortete der automatisch.
 

Für den Bruchteil einer Sekunde stockte Yashimotos Bewegung, bevor er sich ganz zu Aya umdrehte. Die trüben, tief liegenden Augen leicht verengt, das falsche Lächeln wieder auf den Lippen. "Aber natürlich. Wie konnte ich Sie nicht gleich erkennen?"
 

Aya erwiderte den Blick mit einer Spur Verwunderung.

"Sie sind einer von Kritikers besten Killern, nicht wahr? Erinnern Sie sich zufällig an meinen Vater?"

Schuldig schien nun sichtlich nervös, während Aya weiterhin ruhig wirkte. "Ich war. Und ja, der Name kam mir gleich bekannt vor."
 

Scheinbar eine Ewigkeit herrschte gespannte Stille in dem Raum und Schuldig wollte schon Aya schnappen und türmen, als Yashimotos Lachen alle, selbst Aya zusammenzucken ließ.

"Ich konnte den alten Drecksack sowieso nie leiden. Hab ihn beerbt. Also dann. Nakigawa, kümmern Sie sich darum!"

Yashimoto verschwand durch eine Seitentür und Nakigawa sah ihm mit zutiefst missbilligendem Blick hinterher, bevor er sich an Schuldig und Aya wandte.
 

~*~
 

Tatsächlich verließen sie später das Viertel in einem neuen Wagen, um zwei Automatikwaffen aus der neuesten Lieferung, fünfhunderttausend in bar und eine Reservierung in einem der teureren Hotels in der Innenstadt reicher.

"Ich glaub das einfach nicht."

Schuldig betrachtete Aya, der jetzt wieder fuhr, spöttisch grinsend. "Bist du immer so misstrauisch, wenn du etwas kriegst?"
 

"Ja. Besonders unter diesen Umständen."

"Tja, dass du aber auch seinen Vater umgebracht hast..." Schuldig schüttelte amüsiert den Kopf. "War ja echt filmreif, wie du ihm geantwortet hast. Ich hab schon gedacht, das geht schief. Na, wer weiß schon, was in anderer Leute Köpfe vorgeht..."

Aya erwiderte nichts.
 

Schuldig besah sich ein paar Augenblicke die Waffen und legte sie dann weg. "Aber dass er uns so viel gegeben hat, wundert mich eigentlich nicht. Der Typ hat keinerlei Bezug zu Geld, außerdem hat er sich damals tierisch über das hässliche Bild gefreut, dass ich für ihn geklaut hab. Wäre wahrscheinlich noch mehr drin gewesen, aber der Auftrag war ziemlich einfach."

Aya kam der Gedanke, dass es leichter gewesen wäre, Yashimoto den Datenträger einfach zu verkaufen.
 

"Ne, das hätte nicht geklappt. Er würde sich niemals offen mit Kaike anlegen, so viel Verstand hat er doch noch." Schuldig verzog verächtlich den Mund. "Und wenn wir nicht mal wissen, was da drauf ist..."

Aya schwieg weiterhin, hörte gar nicht richtig hin. Die erste Etappe hatten sie schon mal erfolgreich hinter sich. Auch, wenn man da nun wirklich nur von mehr Glück als Verstand sprechen konnte. Es war doch erstaunlich, dass Schuldigs planloses Vorgehen, überhaupt zu irgendwas führte.
 

"Hey, hör auf, das als planloses Vorgehen zu bezeichnen! Das ist professionelle Improvisation. Außerdem hab ich sogar schon eine Idee, was wir als nächstes machen."

"Aha." Es klang sehr missbilligend. Was sollte so ein Statement auch? Wie konnte man sich nur so gern reden hören, dass man immer erst großartig Ankündigungen machen musste, anstatt gleich mit der Sprache rauszurücken?

"Sei doch nicht immer so..." Schuldig suchte einen Augenblick lang nach einem passenden Wort, fand aber keins. "Na ja, eben so, wie du bist. Man könnte wirklich glauben, du unterhältst dich nicht gerne mit mir." Das Grinsen war wieder da.
 

Aya sagte dazu nichts.

Schuldig lehnte sich seufzend in seinem Sitz zurück und sah Aya von der Seite an. "Ja ja, ist schon klar. Aber na gut, ich sag's dir." Das Grinsen wurde triumphierend. "Wir gehen einkaufen."

Niedlich?!

Einkaufen gehen?

Aya sah mit völlig unbewegten Zügen zur bunt dekorierten, leuchtenden Decke eines riesigen Einkaufzentrums auf, die in Glas und Stahl manifestiert, sein ganzes Blickfeld ausfüllte. Sein persönlicher Alptraum.
 

Zuerst hatte er ja zugeben müssen, dass es vernünftig und notwendig war, einzukaufen. Und er hatte auch nicht wirklich ein Problem damit. Bis ihm aufgegangen war, dass in Schuldigs Welt das Wort "Einkaufen" etwas anderes bedeutete als in seiner. In Ayas Vorstellung war es in einen Laden gehen und kaufen, was man brauchte. Wie bei Missionen: Rein. Mission erfüllen. Raus. Alles so schnell es geht. Unauffällig. Nervenschonend. - Wörter, die Schuldig nicht kannte.
 

Bei Schuldig, schwante ihm langsam, hieß es in mindestens dreißig verschiedene Läden zu gehen und nach einem Aya schleierhaften Prinzip Sachen in die engere Auswahl zu ziehen, um sie dann nach Stunden vielleicht zu kaufen. Schuldig hatte dieses manische Funkeln in den Augen. Es sprang Aya förmlich an.
 

Auf eine vage und, wie Aya fand, ziemlich abartige Art und Weise, erinnerte es ihn an seine Schwester, die ihn früher auch ab und an zum "Einkaufen" mitgenommen hatte. Er erinnerte sich mit Grauen an seine Shopping-Odysseen. Natürlich hatte es damals nicht an Aya gelegen. Auch nicht daran, dass er Tüten tragen oder stundenlang ewig weit hatte laufen müssen. Laufen und Tragen und Zeit mit Aya verbringen, war okay. Das hatte ihn überhaupt nicht gestört.
 

Was er so an Einkaufszentren hasste, waren eher die Dinge, die er auch sonst schon verabscheute, die aber speziell in modernen Einkaufzentren in gebündelter Form aufzutreten pflegten. Riesige Menschenmassen, Lärm, überfüllte, enge Räume und Unruhe. Eine ganz eigene, wie ihm immer vorkam, extra kultivierte Form der Unruhe. Von der an seelische Grausamkeit grenzenden, schrillen Herbstdeko wollte er mal ganz schweigen. Und von der Kaufhausmusik. Musik sollte in seinen Augen entweder angenehm sein oder interessant, aber nicht so ein nerviges Gesäusel und schon gar nicht in dieser unterschwelligen Lautstärke Marke "unterbewusste, psychologische Beeinflussung".
 

Aya war ja schon mit den Nerven fertig gewesen, als er endlich einen Parkplatz gefunden hatte. Er hatte ernste Zweifel, ob sie das Auto in der Tiefgarage jemals wiederfinden würden.

Er spürte wie Schuldig ihn am Arm packte und weiter durch die Massen schleifte, war aber viel zu sehr in seine Gedanken versunken, um sich groß darüber aufzuregen. Außerdem musste er da jetzt sowieso durch. Er konnte schließlich nicht ewig in dem versifften Hemd rumlaufen.
 

Es war stickig warm und die Menschen drängelten sich nur so aneinander vorbei. Es schien so, als wäre halb Tokyo auf die Idee gekommen, dass es doch toll wäre, die letzten Tage des Sommerschlussverkaufs noch mal zu nutzen und an einem Freitag Nachmittag zusammengequetscht wie die Sardinen mit anderen Idioten mit derselben hirnrissigen Idee bummeln zu gehen. Aya war sich der bestechenden Normalität dieses Gedankengangs durchaus bewusst, weigerte sich aber, das anzuerkennen, angesichts des Armageddons, das sich hier vor diesen seinen Augen abspielte.
 

"Weißt du woran das liegt?"

"Was?" Aya sah Schuldig an, der ihn immer noch am Arm durch die Menge lotste.

"Na das hier." Schuldig deutete mit weit ausholender Geste auf ihr Umfeld, riss dabei einer Frau ihre Tüten aus der Hand, kümmerte sich aber offensichtlich nicht um die bösen Blicke.

Aya sagte gar nichts, fragte sich nur, was der jetzt schon wieder wollte und wie er in diesem Chaos so eine gute Laune haben konnte.
 

Schuldig grinste. "Sieh dir diese Hunderte von Menschen an. Hörst du den Lärm? Etwa die Hälfte von ihnen spricht. Aber alle denken. Na ja, fast alle." Er warf einen bezeichnenden

Blick auf eine Verkäuferin hinter dem Tresen eines Juweliergeschäfts. "Also stell dir erst vor, wie laut das ist."

Aya zog eine Augenbraue hoch. "Aha. Heißt das, wir können gehen?"

Schuldigs Grinsen wurde breiter. "Nö, das heißt, man gewöhnt sich dran. Man lässt sich drauf ein, macht sich ein bisschen locker... Ob du's glaubst oder nicht, man kann sogar Spaß dabei haben. Aber keine Angst, mit dir schaffen wir das auch noch. Schocktherapie, denk ich."
 

Aya erwiderte nichts, spürte aber eine gewisse Unruhe in sich aufkommen. Musste der Fluchtreflex sein. Dumm nur, dass er im Moment keine Chance hatte, zu entkommen, weil Schuldig seinen Arm noch immer umklammert hielt und er auch gar nicht schnell genug hätte wegrennen können, ohne mindestens zwanzig Leute umzurempeln.

Schuldig redete inzwischen weiter, schien sich an Ayas nur peripherem Interesse an dem Gespräch nicht zu stören. "Wegen vorhin: Du hast gedacht, dass etwas, was eigentlich ganz normal erscheint, sich als blanker Wahnsinn entpuppt. Das liegt daran, dass die Welt nicht normal ist."
 

Aya sah Schuldig an, als wäre der nicht mehr ganz dicht und fragte sich, ob er vielleicht von ihm unbemerkt irgendwas genommen hatte.

Schuldig war inzwischen im ersten Laden seiner Wahl angelangt und drehte sich nur noch mal mit beinahe entschuldigendem Gesichtsausdruck zu Aya um. "Ähm... Kaufrausch. Tut mir leid."
 

Mit diesen Worten war dann alles gesagt und Schuldig stürzte sich, Aya im Schlepptau, in den Kampf. Ein erbarmungsloser Kampf, den er bis auf Blut führen würde.

Das Objekt der Begierde: eine leere Umkleidekabine. Die Konkurrenz: zwei Männer, die allein einkaufen gingen. Keine Gefahr. Drei Männer, die von ihren Frauen in die Richtung gelotst wurden. Da hieß es, schnell sein und die Nerven bewahren. Man durfte nicht rennen.
 

Der Trick war, so schnell wie möglich zu laufen, ohne zu rennen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man niemals, unter gar keinen Umständen, zeigen durfte, dass hier Krieg herrschte. Man rannte nicht, niemals, nach einer Umkleidekabine. Man näherte sich ihr ruhig. Unauffällig. Es musste absolut natürlich wirken.
 

Selbstverständlich hätte Schuldig seine Gegenspieler auch manipulieren können. Aber erstens war das auf die Dauer viel zu anstrengend und zweitens machte es so viel mehr Spaß. Mit einer brillanten, über Jahre des exzessiven Shoppings perfektionierten, bewährten und überhaupt unübertrefflichen Hochgeschwindigkeitsschlendertaktik und einem eleganten Ausweichmanöver um das Hindernis schlechthin, einen zwischen den engen Reihen der Kleidungsständer stehenden Kinderwagen, kam er, Schuldig, der selbsternannte Meister des Kaufhausslaloms, als erster an der Kabine an und schubste Aya hinein.
 

Die Euphorie angesichts dieses ohne Übertreibung grandiosen Sieges nahm ihm fast den Atem, das Adrenalin jagte nur so durch seine Venen und überhaupt war das besser als kiffen.

Weder Ayas finsterer Blick konnte daran viel ändern, noch seine abfälligen Gedanken. Schuldig gab es ja zu, dass er das alles vielleicht ein bisschen sehr ernst nahm und sich vielleicht auch nicht so besonders gut unter Kontrolle hatte und sich möglicherweise auch etwas seltsam aufführte, aber eigentlich war ihm das scheißegal. Was er Aya auch gleich sagte und hinzufügte, dass er ihm jetzt Sachen zum Anprobieren bringen würde, dann hätten sie wenigstens für Aya schon mal alles, denn der hätte ja keine Ahnung, worauf es beim Einkaufen wirklich ankäme und würde wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch kriegen, bevor er auch nur das erste Teil ausgesucht hätte. Danach würde dann Schuldig für sich was suchen, das könne etwas länger dauern, aber man hätte ja Zeit und Geld und Aya müsse ihm da auch nicht helfen. Mit einem finalen "Keine Sorge, ich mach das schon." verschwand Schuldig dann fürs erste in den Untiefen der Herrenbekleidung.
 

Nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, war Ayas erster Reflex, die Kabine sofort wieder zu verlassen, aber als er einen Blick nach draußen warf, wo Schuldig zwischen all den Leuten schon nicht mehr zu sehen war, beschloss er zu warten und stand erst mal etwas perplex in der Kabine. Was war denn das gewesen? Er war sich nicht so richtig sicher, was er von einem ohne Punkt und Komma redenden Schuldig, der mit einem irren Glitzern in den grünen Augen kindisch begeistert das Kaufhaus unsicher machte, halten sollte. Er konnte nicht sagen, dass es ihn besonders erstaunte. Es nervte auch nicht mehr als Schuldig ihn sonst nervte. Er machte sich auch keine Sorgen um Schuldig, dann schon eher um die anderen Kunden. Es war einfach so unglaublich absurd, was hier geschah, dass er keine Worte fand.
 

Und irgendwie, er traute es sich ja kaum, es laut zu denken, fand er das Ganze amüsant. Auf jeden Fall schaffte er es nicht, sich weiter über den Sommerschlussverkauf zu ärgern oder wütend auf Schuldig zu sein. Eigentlich war er erstaunlich selten wütend auf Schuldig. Nicht mal heute auf der Autobahn war er wirklich wütend auf ihn gewesen. Vielmehr auf sich selbst, weil er mit einem verfluchten Kuss nicht klarkam. Weil Schuldig recht hatte und seine Klappe nicht halten konnte. Aber irgendwie war das doch etwas anderes.
 

Und er hasste Schuldig nicht, hatte es in dem Moment bemerkt, als er es aussprach. Er fand nicht mal mehr eine schlechte Eigenschaft an Schuldig, die Hass rechtfertigte. Er fand zwar auch keine überwältigend gute, konnte aber nicht leugnen, dass er Schuldig mochte oder dieser ihm zumindest nicht egal war.

Nicht dass Aya diese Tatsache irgendwie verunsicherte -

Es machte ihn schlicht und ergreifend völlig fertig. Schuldig, das war ja wohl klar, war so ziemlich der letzte Mensch, zu dem man irgendeine emotionale Bindung aufbauen sollte.

Und das war so weil...
 

Also, das war eben einfach so. Punkt. Schuldig war verantwortungslos, notorisch kriminell, launisch, gefährlich, verwirrend, impulsiv, unberechenbar und zynisch.

Was der Deutsche auch sagte, es klang fast immer auf die eine oder andere Weise herablassend, verspottend oder zumindest, als würde er sein Gegenüber nicht ganz ernst nehmen.
 

Obwohl. Bei ein oder zwei Gelegenheiten, hatte er ernsthaft geklungen. Nachdem sie vor Kaikes Leuten geflohen waren. Da hatte Aya fast den Eindruck gehabt, er wäre besorgt. Und dann... ja, dann noch kurz vor dem Angriff. Als Schuldig ihn gefragt hatte, ob er nicht bleiben sollte. Aya hatte es als eine von Schuldigs stichelnden Bemerkungen abgetan, aber eigentlich konnte man sich bei Schuldig nie sicher sein, wie ernst er etwas meinte, was er sagte.

Noch so eine schlechte Eigenschaft.
 

Und natürlich die bei Weitem schlimmste Eigenschaft von allen, die einen mehr als jede andere davon überzeugen sollte, dass die Gegenwart von Schuldig nur schädlich sein konnte: Er konnte Gedanken lesen. Wie bitteschön sollte man dagegen ankommen?

Er beschloss, darüber weiter nachzudenken, wenn Schuldig mal nicht in unmittelbarer Nähe war. Musste er jetzt also nur noch irgendwas finden, womit er sich ablenken konnte.
 

... Der Spiegel an der Wand hatte einen Kratzer. Er reichte seinem Spiegelbild genau vom rechten Auge zur Fingerspitze der linken Hand. Wie interessant. Und der orangerote Vorhang hatte ein Brandloch von einer Zigarette. Hm... orangerot und Zigarette hatte schon wieder fast zu viel mit Schuldig zu tun. Dann lieber noch ein bisschen über den zerkratzten Spiegel nachdenken. Spiegel, Spiegel... Fiel ihm dazu irgendwas ein? Nicht wirklich. Nichts, womit er sich beschäftigen wollte.
 

"Womit willst du dich nicht beschäftigen?", schreckte ihn Schuldigs neugierige Stimme auf.

"Geht dich nichts an."

"Ja und?"

Wie, ja und? Erwartete Schuldig irgendwie eine Fortsetzung dieses Gespräches, wenn man denn so ausgesprochen vermessen sein wollte, es als solches zu bezeichnen? Warum fragte er überhaupt ständig so was? Konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

"Ich versuch doch nur, mich mit dir zu unterhalten. Als ob ich was dafür könnte, dass du nur über Sachen nachdenkst, über die du nicht reden willst."
 

Na war das ein Wunder, wenn er darüber nicht mal nachdenken wollte? Aber bitte. Aya zuckte mit den Schultern. "Der Spiegel hat einen Kratzer."

"Und darüber hast du nachgedacht, ja?" Schuldig grinste.

Aya wandte seine Aufmerksamkeit lieber dem Berg Klamotten zu, den Schuldig angeschleppt hatte. Wollte der den ganzen Laden leer kaufen?
 

Schuldig verdrehte die Augen, hatte aber seine etwas überdrehte gute Laune offensichtlich noch nicht verloren. "Du musst ja nicht alles kaufen. Also dann. Ich geh dann schon mal für mich gucken." Und weg war er wieder.

Mit einem äußerst skeptischen Blick betrachtete Aya die Sachen. Na gut. Die waren gar nicht mal so schlecht... Entgegen allen Erwartungen. Könnte man tragen.

Es dauerte nicht lange, bis er sich entschieden hatte und die Umkleidekabine verließ. Wieder etwas genervt schob er sich durch die Menge, fand tatsächlich noch irgendwo Socken und Unterwäsche und musste auch nur eine knappe viertel Stunde anstehen, bis er endlich bezahlen konnte.
 

Fein. War ja ganz gut gelaufen. Aya musste zugeben, dass das ohne Schuldig viel länger gedauert hätte. Fragte sich nur, wo der jetzt steckte. Und ob er überhaupt noch in diesem Laden war. Ein paar Minuten blieb Aya noch stehen und sah sich suchend um, dann gab er es auf. Hatte ja doch keinen Sinn. Erstens kam er sich blöd vor, wenn er hier mit seinen Tüten rumstand und den wogenden Massen den Weg versperrte, zweitens hatte er seit heute Morgen nichts mehr gegessen und hatte dementsprechend Hunger und drittens würde Schuldig ihn schon finden, denn zu irgendwas musste Telepathie ja gut sein. Außerdem wollte er nicht wirklich Schuldig beim Einkaufen beobachten. Es gab Dinge, die musste man sich nun echt nicht antun. Was er dazu heute schon gesehen hatte, reichte.

Dieser Überlegung folgend verließ er den Laden und machte sich auf die Suche nach einem Restaurant.
 

~*~
 

Schuldig tauchte erst Stunden später wieder auf, als es schon zu dämmern begann und unter dem Glasdach die Lampen angingen. Er hatte eine Menge zu schleppen, obwohl er sich, wie er fand, noch sehr zurückgehalten hatte. Außerdem hatte es ganz schön gedauert, bis er Aya gefunden hatte. Dass der sich irgendwo reingesetzt hatte, statt hinter Schuldig herzurennen, war ja klar, damit hatte Schuldig ja gerechnet. Aber warum ausgerechnet am hintersten Tisch im Restaurant, wo man ihn garantiert nicht sah, wenn man nur so reinguckte? War doch mal wieder typisch. Er wäre schon fast vorbeigerannt, als er im letzten Moment die Präsenz gespürt hatte.
 

Aber was soll's. Schuldig setzte sich grinsend an den Tisch, ließ seine diversen Tüten neben sich fallen.

Aya sah von seinem Essen auf. "Warum hast du dir nicht gleich nen Koffer gekauft?"

"Warum versteckst du dich hier?"

"Ist nicht meine Schuld. Es war kein anderer Tisch frei."

Schuldig zeigte auf den Teller. Isst du das noch?"

"Ja. Gerade eben, in diesem Augenblick." Er blickte Schuldig misstrauisch an. "Ich habe eine Ewigkeit darauf gewartet. Glaub bloß nicht, dass ich dir was abgebe."
 

Schuldig sah ihn fast verzweifelt an. "Ran, ich verhungere! Bitte! Ich habe seit heute morgen nichts mehr gegessen."

"Ich weiß. Ich auch nicht. Und hör auf, mich so zu nennen."

"Wie? Ran?" Es klang ehrlich erstaunt. "Wie soll ich dich denn nennen?"

Aya brummte irgendwas Unverständliches vor sich hin.

"Ist dir eigentlich klar, dass es praktisch keine Themen gibt, über die du sprechen willst?"

Aya schob ihm mit einem Ruck den Teller vor die Nase. "Hier. Und jetzt hör auf, mich zu nerven."

"Glaubst du, du kannst mich einfach so mit Essen ablenken?", fragte Schuldig gespielt vorwurfsvoll, fing dann aber schnell an zu essen. Nicht, dass Aya es sich noch anders überlegte. ~Du kannst auf diese Weise höchstens Zeit gewinnen.~

"Könntest du damit aufhören? Ja du hast recht. Ich will nicht mit dir reden. Schon gar nicht über mich. Wenn du irgendwas von mir wissen willst, kann ich sowieso nicht verhindern, dass du es in meinen Gedanken liest. Aber hör auf, mich ständig zuzulabern." Schuldig unterbrach sein Essen und sah Aya ernst an. "Dir ist es also egal, wenn ich deine Gedanken lese, solange ich dich nicht damit konfrontiere und du dich nicht damit auseinandersetzen musst?"

Aya nickte.

"Ah. Na gut." Der ungewohnt ernste Ausdruck verschwand aus Schuldigs Gesicht, so schnell er gekommen war und wurde vom Grinsen ersetzt. "Pech für dich, dass ich nicht deine Gedanken lesen, sondern lieber mit dir reden will." Er aß seelenruhig weiter.

"Warum?" Aya hatte sich zurückgelehnt, die Arme vor dem Körper verschränkt und fixierte ihn aus zu Schlitzen verengten Augen.

~Ist dir eigentlich klar, wie verkorkst du bist? Ich finde, du kannst unmöglich so bleiben.~

"Ach, du willst mir nur helfen? Warum nur hab ich das nicht gleich bemerkt? Aber mal abgesehen davon, dass ich dir nicht glaube. Was geht's dich an?"

~Zuerst bin ich mit einer Frage dran. Hasst du mich wirklich?~

"Das ist kein Spiel."

~Ach nein?~

"Nein. Aber wenn du's unbedingt wissen willst, ich hasse dich nicht."

~Warum?~

"Zuerst meine Frage. Deine Spielregeln."

~Ich hab keine Ahnung warum, aber ich fürchte, ich mag dich.~

Aya zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Gib mir mein Essen zurück!"

Schuldig grinste wieder. ~Soll das ein Versuch sein, mich abzulenken?~

"Nein, das soll ein Versuch sein, mich abzulenken."

Schuldig zuckte mit den Schultern und schob ihm wieder den Teller rüber. ~Bitte, ist eh kaum noch was da. Aber zurück zu meiner letzten Frage. Warum hasst du mich nicht?~

"Warum fragst du mich so was?"

~Ich sag doch, ich will dir nur helfen. Ich könnte's ja auch so rausfinden, aber dadurch weißt du es dann noch lange nicht.~

"Da. Genau deshalb. Du kannst nichts dafür. Du bist einfach so. Und jetzt sag mir, warum du nicht sprechen willst."

"Ist dir aufgefallen, ja? Das ist eigentlich nur, weil es die Leute an den Nebentischen so schön irritiert, wenn du Selbstgespräche führst."

"Siehst du, das meine ich. Du kannst nichts dafür. Du bist ein Idiot."

Sie wurden von einem Kellner unterbrochen, der herumging und die Kerzen auf den Tischen anzündete.

"Ui, Kerzenlicht, wie romantisch."

"Hast du was am Kopf?"

"Nein, du bist nur gerade so offen und freundlich, da muss ich doch sehen, wie weit ich gehen kann."

"Das sollten wir auslassen." Aya legte das Geld hin, schnappte sich seine Sachen und stand auf.

Schuldig folgte ihm.

"Einlassen wäre besser."

"Worauf?"

"Mit mir."

"Ich schlage vor, wir laden unsere Sachen im Hotel ab und gehen dann wegen dem Feuerzeug zu wem-auch-immer. Oder ist es dafür schon zu spät?"

"Deine Themenwechsel waren auch schon mal eleganter. Aber nein, sie wird um die Zeit rum erst wach."
 

~*~
 

Ihr Hotelzimmer stellte sich als riesige Suite heraus. Schuldig meinte nur, dass Yashimoto als Yakuza unfähig wäre und nur halb so schlau, wie er aussähe und keinen Geschmack hätte, aber immerhin könne man ihm keinen Geiz vorwerfen. Außerdem ließe er sich leicht manipulieren.

Aya war das ziemlich egal. Er wollte endlich wissen, was auf dem Datenträger noch an verwertbaren Informationen war, damit sie mit dem Planen anfangen könnten.
 

Zwischen sieben und acht Uhr fuhren sie dann los. Ihr Ziel war ein größeres Wohngebiet etwas weiter außerhalb der Stadt. An einem der zahlreichen Klingelschilder stand in krakeliger, lateinischer Schrift 'BANG Inc.', das Gebäude war ziemlich marode und das Treppenhaus dreckig.

Schuldig hatte einfach irgendwo geklingelt und jetzt standen sie vor einer Tür im neunten Stock. Aya hob die Hand zur Klingel, als Schuldig grinsend den Kopf schüttelte und meinte, Klingeln hätte sowieso keinen Sinn und den Bewohner telepathisch rief.
 

Als sich die Tür nach einigen Minuten öffnete, wusste Aya auch wieso, denn aus der winzigen Wohnung warfen sich ihnen nur so die Bässe in Trommelfell zerfetzender Lautstärke entgegen. In der Tür stand eine in viel zu große, dunkle Klamotten gekleidete Gestalt, die sie mit einer knappen Geste hereinbat. Schuldigs Aussage zufolge handelte es sich um eine Frau, was aber zumindest auf den ersten Blick nicht offensichtlich war. Kurzes, rabenschwarzes Haar fiel zerzaust in ein blasses Gesicht, das zur Hälfte von einer Schutzbrille verdeckt wurde. Das Alter war schwer zu schätzen, aber angesichts der Kleidung und der Musik handelte es sich wahrscheinlich um einen Teenager.
 

Sie durchquerten die Wohnung, die hauptsächlich in schwarz gehalten und gut schallisoliert war. Überall verteilt lagen ausgebaute Teile von Elektrogeräten, Kisten voll Gerümpel und Gefäße mit Gefahrenaufschriften herum. In einer abgelegeneren Ecke stapelten sich leere Fastfoodverpackungen und Plastikflaschen. Am Herz dieser Behausung, dem Computer angekommen, wurde als erstes die Musik auf Gesprächslautstärke heruntergedreht, dann wandte sich die Gestalt an Schuldig.
 

"Was willst du hier? Crawford hat mich schon gewarnt, dass du kommen würdest, aber er wollte mir nicht sagen, warum."

Schuldig grinste. "Dann hat er's bestimmt nicht gewusst. Wann war er denn da?"

"Vor zehn, zwölf Tagen. Hat mich irgendwelchen technischen Schnickschnack bauen lassen. Langweiliges Zeug, aber er hat gut bezahlt. Er meinte, ich soll dich grüßen und du solltest in nächster Zeit nicht wegfliegen."

"Komiker. Wie geht's ihm? Macht er immer noch die Hochfinanzen unsicher?"

"Nicht doch. Alles völlig legal."

"Als ob das einen Unterschied macht."
 

"Wer ist er?" Sie deutete mit einem Nicken auf Aya, während sie die Schutzbrille abnahm. Schuldigs Grinsen bekam etwas triumphierendes. "Sagt dir der Name Abyssinian was?"

Sie maß Aya kurz mit einem abschätzenden Blick. "Erzähl das deiner Großmutter."

"Du glaubst mir nicht?"

"Erstens sieht der Typ nicht aus wie ein Killer und zweitens würde er ganz sicher nicht mit dir hier auftauchen, wenn er es wäre."

"Ich bin es auch nicht mehr.", mischte Aya sich jetzt ungeduldig ein. "Schuldig, könntest du mal den Smalltalk abwürgen und zum Punkt kommen?"

Schuldig ignorierte diese Aufforderung völlig und sein Grinsen nahm nie gekannte Ausmaße an. "Siehst du. Er ist es."
 

Die junge Frau sah Aya jetzt wieder an, in ihrem Gesicht war immer noch Unglaube und eine gewisse Enttäuschung zu erkennen. "Hm. Ich hab ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Und gefährlicher... aber er ist irgendwie nur niedlich... - Na egal. Freut mich, Sie kennen zu lernen." Sie zeigte ein sympathisches Lächeln und gab Aya die Hand. Der stand mit versteinerter Miene da und erdolchte die Hand mit Blicken. Niedlich?! Was sollte er denn davon halten? Und überhaupt: Er war gefährlich!
 

Er war sich nicht sicher, ob er sie würgen oder ihr die Hand reichen sollte. Immerhin wurde man nicht tagtäglich in einem Atemzug begrüßt und beleidigt, aber bei Schuldigs Bekanntschaften sollte es ihn ja eigentlich nicht erstaunen.

"Also, was willst du nun?", wandte sie sich wieder an den grenzdebil grinsenden Schuldig, als klar wurde, dass Aya die Hand wohl eher abbeißen würde, als sie zu schütteln.
 

Schuldig musste einen Moment suchen, bis er das Feuerzeug in irgendeiner Tasche fand. "Da ist wahrscheinlich ein Datenträger drin. Du sollst gucken, ob da was drauf ist."

Sie schnappte sich das Ding und sah es sich an. "Dürfte kein Problem sein. Hast du eine Ahnung, wie's aufgeht?"

Schuldig schüttelte den Kopf.
 

"Na dann muss ich mir das erst mal genauer ansehen. Macht es euch solange gemütlich." Sie trat energisch auf eine verschüttete Couch zu und fegte kurzerhand alles was darauf lag auf den Boden. Aya und Schuldig setzten sich hin, während sie sich an einen Arbeitstisch mit Lampe und Lupe setzte und anfing, das Feuerzeug mit allerlei winzigen Haken und Drähten zu bearbeiten. "Was wollt ihr mit den Daten?"

"Kaike erpressen."

Sie hielt einen Moment in ihrer Arbeit inne. "Mein Ex arbeitet für den. Könntet ihr den umbringen?"

"Ich fürchte, wir werden keine Zeit für so was haben."

Sie zuckte mit den Schultern. "Tja. Dann müsst ihr mich eben bezahlen. Ich glaub, ich hab's."

Es klickte leise und der Kopf des Feuerzeugs ließ sich lösen. Sie ging damit zum Computer und schloss den Rest an. "Och, das ist viel zu leicht. USB-Anschluss."

"Sah es irgendwie beschädigt aus? Es hat nämlich ne Weile im Wasser gelegen."

"Nein, ich glaub nicht. Scheint wasserdicht gewesen zu sein, aber mal sehen." Sie rief die Dateien auf dem Bildschirm auf. "Scheint alles in Ordnung zu sein." Sie tippte ein bisschen auf der Tastatur herum, lachte dann auf. "Die sind ja nicht mal verschlüsselt. Das wär's dann. Brauchst du sonst noch was?"

"Wie kontaktiert man ihn am besten?"

"Keine Ahnung. Ich würd ihm nen Brief schicken. Zeit und Ort der Übergabe, geforderte Summe, Foto vom Datenträger und vielleicht noch nen kleinen Ausdruck, um ihn zu überzeugen."

"Sag mal, willst du nicht vielleicht mitmachen?"

"Auf gar keinen Fall. Ich bin doch nicht lebensmüde. Ich druck euch das jetzt aus und dann könnt ihr gehen. Oder wollt ihr noch was kaufen?"

"Was hast du denn da?"

"Nicht viel. Sprengsätze laufen schlecht, seit ich im Vorstrafenregister bin. Ich mach jetzt mehr auf Elektronik und Hacken, aber für mein persönliches Vergnügen bastle ich noch ab und zu was. Steht alles da hinten rum." Sie deutete auf eine Tür.

Schuldig sah Aya fragend an. "Brauchen wir Sprengsätze?"

Aya überlegte kurz und nickte dann. "Könnte helfen."
 

~*~
 

"Also, was hast du wegen Kaike vor?"

Sie waren zurück im Hotel. Schuldig lümmelte auf einer hoteltypischen neutralsandfarbenen Couch, Aya saß ihm gegenüber in einem farblich zur Couch passenden Sessel.
 

Während der Fahrt hatte Schuldig sich die ganze Zeit über mit Fragen, die die Erpressung betrafen, zurückgehalten, weil er stattdessen Aya davon überzeugen wollte, mit ihm auszugehen. Er hatte für sich beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, wenigstens einmal mit Aya zu schlafen. Allerdings fehlte diesem die richtige Begeisterung, zumindest ließ sich das aus dem völligen Ignorieren sämtlicher verbalen Annäherungsversuche schließen. Er wurde nicht mal mehr wütend, sondern dachte über seine Rosen nach, ob Kaikes Leute sie wohl zerstört hätten, warum ausgerechnet die teuren englischen so verdammt anfällig für Blattkrankheiten sein mussten und welche Düngung optimal sei. Schuldig fand das irgendwie deprimierend.
 

Bei der Frage nach Kaike stieg Ayas Kooperationsbereitschaft allerdings schlagartig an.

"Na ja, ich hab noch mal drüber nachgedacht und eigentlich wäre es möglich, dass die

Übergabe reibungslos abläuft."

"Und deswegen haben wir jetzt Sprengsätze gekauft?" Na toll! Jetzt sprach Aya also wieder mit ihm. Musste er sich so was echt gefallen lassen?

"Die sind für Plan B, wenn es doch nicht glatt geht."
 

"Könntest du da etwas präziser werden?" Schuldig kam der Gedanke, dass Aya vielleicht wirklich einfach nicht auf ihn stand. Vielleicht stand er ja gar nicht auf Männer. Andererseits... Müsste er dann nicht wenigstens auf Frauen stehen? Nein, er war sich sicher, dass Aya auf Männer stand und jemand, der ihm widerstehen konnte, musste sowieso erst noch geboren werden. So. Wie hatte er nur einen Moment daran zweifeln können? Aya war anscheinend auf die Dauer nicht gut für sein Selbstbewusstsein.
 

"Wir brauchen einen wirklich guten Übergabeort. Hast du irgendeine Idee?"

Hä? Was? Übergabeort? Musste er jetzt über so was unwichtiges nachdenken? Aber na gut.

"Weiß nicht. Eine Stelle, die gut zu überblicken ist, wo wir aber möglichst schnell verschwinden können?"

"Also keine Idee. Zwei Stunden außerhalb von Tokyo gibt es eine Brücke, da ist nicht besonders viel Verkehr..."

Ach, Aya hatte also schon einen Vorschlag und riss ihn nur so zum Spaß aus seinen Gedanken. "Warum nicht?", murmelte er missmutig.
 

"Hm." Aya war etwas verwundert, dass Schuldig nun auf einmal so mürrisch klang, nachdem er ihn die ganze Autofahrt über mit eindeutig zweideutigen Sprüchen zuschütten durfte und sich dabei wahrscheinlich großartig amüsiert hatte. Aber er würde sich davon jetzt nicht ablenken lassen. Sein Blick fiel auf die Karaffe mit Wasser, die neben ihm auf einem edel anmutenden Beistelltischchen stand. "Du würdest die Übergabe machen. Kaike weiß, dass du nicht leicht reinzulegen bist. Vielleicht versucht er gar keine Tricks."
 

Nicht leicht reinzulegen?! Schuldig sah empört auf. Was sollte das denn heißen? So an sich klang es ja nach einem Kompliment. Aber eigentlich war er gar nicht reinzulegen. ... Na ja, vielleicht doch. Wenn er gerade unkonzentriert war. Oder leichtsinnig. Oder sonst irgendwelche Fehler machte...

Egal, er würde das jetzt einfach als Kompliment nehmen. "Und wenn doch?"
 

"Dann merkst du es schnell genug. Ich werde mich mit deiner Hilfe in die Wachmannschaft einschleusen, die er mitnehmen wird. Wenn es nicht so läuft, wie es soll, zünde ich die Sprengsätze zur Ablenkung, schnappe mir das Geld und hoffe, dass alles gut geht."
 

Moment, was hatte Aya jetzt noch gleich gesagt? Er hat Plan B erklärt, oder? Warum musste er Schuldig auch ablenken, indem er so aufreizende Sachen tat, wie atmen oder ein Glas Wasser trinken. Halt, Moment, irgendwas an dem Gedankengang war komisch, aber Schuldig kam im Augenblick beim besten Willen nicht darauf, was. "Klingt nach einem ausgeklügelten Plan.", versuchte er möglichst neutral zu antworten. Das konnte bei ihm so ziemlich alles bedeuten.
 

Aya war sich demzufolge auch nicht ganz sicher, wie er diesen Satz deuten sollte. Er zuckte nur mit den Schultern und stellte das Glas ab.

Schuldig war wild entschlossen, sich jetzt wieder auf den Plan zu konzentrieren. "Und wenn alles gut geht? Was dann?"

"Wir machen einen Treffpunkt aus."
 

So, genug konzentriert. Es müsste doch rauszufinden sein, ob der andere wirklich so uninteressiert war, wie er vorgab. Wie schaffte Aya es nur, in seiner Gegenwart immer nur über so dämliches Zeug nachzudenken?

Er gab sich Mühe, besonders fies zu grinsen. "Warum sollte ich da hin kommen?", fragte er provozierend.

Aya schien leider wenig beeindruckt. "Jeder Plan hat eine Schwäche."

Schuldig stutzte. "Du vertraust mir.", stellte er überrascht fest. Er war wirklich erstaunt. Und irgendwie auch vage erfreut. Aya vertraute ihm, wie schön. Aber brachte ihn das irgendwie weiter? Nein. Vielleicht sollte er mal ausprobieren, ob man Aya mit Taten besser aus der Reserve locken könnte.
 

In einer unbewussten Geste verschränkte Aya die Arme vor dem Körper, rutschte kaum merklich tiefer in seinen Sessel. "Als ob mir was anderes übrig bliebe...", verteidigte er sich.

Warum ging Aya auf eine simple Feststellung hin so in die Defensive? Das war ja mal interessant. Da musste Schuldig doch gleich mal nachbohren. "Das ändert nichts an der Tatsache. Du hast keinen Grund dazu. Du bist doch sonst immer so vernünftig." Er war aufgestanden, beugte sich nun über den Sessel, in dem Aya saß, die Arme an der Rückenlehne abgestützt. Es war erst wenige Tage her, dass sie in einer ganz ähnlichen Situation gewesen waren.
 

Doch Ayas Reaktion war die gleiche. Er blieb ruhig sitzen und sah Schuldig durchdringend an. "Ach, bin ich das? Wenn ich vernünftig wäre, hätte ich Weiß niemals verlassen. Ich hätte mir kein Haus in diesem blöden Nest gekauft und dir die Tür in dem Augenblick vor der Nase zugeschlagen, in dem ich dich erkannt habe. Und mal davon abgesehen, ist es kein Zeichen von gesundem Menschenverstand, mehr als zwei Monate in dieser Bibliothek zu arbeiten." Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
 

Wenn Schuldig schon nicht wusste, was er von dem Gesagten halten sollte, haute ihn das Lächeln völlig um. Er beugte sich weiter zu ihm herunter, sein Blick auf diese undeutbaren Augen gerichtet. Ihre Lippen berührten sich, sanft zuerst, dann leidenschaftlicher, als Schuldigs Zunge seinen Weg zwischen Ayas Lippen fand, dessen Mundhöhle erkundete. Er hätte schwören können, das Aya kurz davor gestanden hatte, den Kuss zu erwidern, als...
 

"Was soll das?" Aya schob ihn weg, hielt ihn mit ausgestreckten Armen auf Abstand.

Schuldig grinste. "Ich dacht nur, einen Tag, der so schön angefangen hat, müsste man auch gebührend ausklingen lassen." Im nächsten Moment hätte er sich für diesen dämlichen Spruch ohrfeigen können. Erst denken dann sprechen. Himmel, wann würde er das endlich mal schnallen?
 

Aya sprang wütend auf und stieß Schuldig weg. Was tat er denn? Das war doch absehbar gewesen. Er hatte es ja förmlich provoziert. Und dann hätte er den Kuss auch noch beinah erwidert. Ja, war er denn von allen guten Geistern verlassen?
 

Schuldig saß heute zum zweiten Mal auf dem Fußboden. Irgendwie kam ihm das doch verdammt bekannt vor. Er schaffte es allerdings diesmal, Ayas Gedankengang wenigstens halbwegs mitzuverfolgen. An der entscheidenden Stelle meldete er sich dann zu Wort. "Ha! Also doch! Wenn es dir gefallen hat, dann sag mir bitte mal, warum ich jetzt hier sitze."
 

Aya sah ihn völlig entgeistert an. "Ich habe nicht vor, mit dir zu schlafen.", informierte er Schuldig sachlich.

Hä? Hatte er da was verpasst? Plante man so was neuerdings wie Zahnarztbesuche? War Aya denn bescheuert? "Was soll das heißen? Hast du ein Problem damit, dass du auf Männer stehst oder-"

"Nein. Ich hab ein Problem damit, dass ich auf dich stehe.", fiel Aya ihm ins Wort.
 

Schuldig hatte ein wenig Schwierigkeiten, diese Aussage in einen Kontext zu bringen, also gewann er erst mal Zeit, indem er vom Boden aufstand. Gut. Jetzt war ihm immer noch nicht klarer, was in Ayas Kopf vorging und dessen im Moment ziemlich wirre Gedanken halfen ihm da auch nicht wirklich. Also rettete er sich in die universalste aller Fragen. "Hä?"
 

Aya fuhr sich genervt mit der Hand über die Augen und seufzte, blieb aber weiterhin an eine Wand gelehnt stehen, möglichst weit von Schuldig entfernt. "Also gut, fangen wir einfach an. Was willst du von mir?"

"Ist das nicht offensichtlich?"

Wieder seufzte Aya. "Okay, ich werde die Frage präzisieren. Willst du mich nur fertig machen oder meinst du es ernst?"

Schuldig sah ihn fragend und ratlos an. Wie jetzt? Fertig machen? Hä? Was ernst meinen? Redeten sie eigentlich über das gleiche? War es nicht eben noch um Sex gegangen? Und wann genau hatten sie das Thema gewechselt?
 

Aya unterdrückte nur mit Mühe ein erneutes Seufzen. Man sollte doch wirklich meinen, es wäre einfach, sich einem Telepathen verständlich zu machen, aber dem war offensichtlich nicht so. Gut, vielleicht lag das auch an ihm. Wenn er nicht mal sich selbst gegenüber ehrlich war, wie sollte Schuldig ihn da verstehen? "Empfindest du irgendwas für mich? Ich nämlich schon und das ist schlimm genug, auch ohne dass du mit mir spielst." Da! Er hatte es ausgesprochen. War er denn wahnsinnig?
 

Schuldig stand andächtig schweigend da. Das kam jetzt irgendwie überraschend. Aya konnte es wirklich verdammt gut verbergen, wenn er jemanden mochte. Auch vor sich selbst. Wie sollte Schuldig denn damit klar kommen? Obwohl... Moment mal! War das nicht genau das, was er sich gewünscht hatte? Er wollte doch, dass Aya ihn mochte... liebte. Was auch immer.
 

Er hörte Schritte im Zimmer, die sich verdächtig der Tür näherten. Als er aufblickte sah er Aya an eben dieser stehen. Ja, was war denn nun los? Warum wollte der denn gehen? Schuldig hatte doch noch gar nicht auf seine Fragen geantwortet.

Er holte Aya ein, kurz bevor er die Tür erreicht hatte und stellte sich ihm in den Weg. "Wo willst du hin?"

Aya verschränke wieder die Arme, wich aber seinem Blick aus. "Unter diesen Umständen: Mich betrinken, denke ich. Was dagegen?"
 

Schuldig wurde jetzt erst klar, wie verzweifelt Aya war. Das war doch wohl ganz klar emotionale Erpressung! "Ja, ich hab was dagegen! Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen! Ich meine, erst denkst du ständig darüber nach, wie sehr du mich hasst und wie du mich am besten loswirst, dann denkst du überhaupt nicht mehr über mich nach oder nur noch ganz selten und dann plötzlich so was. Und das alles, nachdem du mir das Leben gerettet hast. Wenn es so weiter geht, dreh ich durch. Du weißt schon, dieser ganze Mist mit den Baumpatenschaften und so..."
 

Aya starrte Schuldig etwas verwirrt an, was an den leicht gehobenen Augenbrauen zu erkennen war.

Schuldig starrte ebenso verwirrt zurück. Was hatte er da eigentlich gesagt? Er konnte sich nicht so gut erinnern, hatte ganz sicher nicht weiter darüber nachgedacht und sehr sinnvoll schien es nach Ayas Gesichtsausdruck zu schließen auch nicht gewesen zu sein.
 

"Was erzählst du da eigentlich?" Aya versuchte an Schuldig vorbei zur Tür zu kommen.

Obwohl es seiner Meinung nach ziemlich sinnlos war, versuchte Schuldig es zu erklären. "Es ist eine Kettenreaktion. Ganz furchtbar. Du verstehst das nicht, du bist einer von den Good Guys, aber ich mag es nun mal, böse zu sein. Mir gefällt das Image. Und da kann ich philanthropische Anfälle und den ganzen anderen sentimentalen Mist wirklich nicht gebrauchen."
 

Aya hatte innegehalten. "Okay. Wovon redest du, warum erzählst du mir das und was hat es mit mir zu tun?" Nein! Das wollte er doch alles gar nicht wissen. Oder doch? Wollte er nicht nur so schnell wie möglich aus diesem Zimmer? Was sollte Schuldig ihm schon zu sagen versuchen? Der wollte bestimmt nur Zeit gewinnen, um ihn doch noch umzustimmen. Genau das war's. Leider würde er Erfolg damit haben, also sollte Aya jetzt wirklich verschwinden.

Blieb nur das Problem, dass Schuldig immer noch im Weg stand und scheinbar nicht vorhatte, auch nur ein Stück nachzugeben.

Beziehungsweise

Schuldigs Verstand versuchte ihm inzwischen zu erklären, dass es absolut hoffnungslos war und er Aya endlich gehen lassen sollte, weil es sonst nur Ärger gab.

- Was Schuldig nur noch mehr davon überzeugte, dass er genau das nicht wollte. Seit wann hätte denn bitteschön sein Verstand was zu melden? Vor allem, wenn ein gewisser anderer Teil ihn gerade darauf aufmerksam machte, dass Aya unglaublich sexy aussah, wenn er verwirrt war.
 

Also Entscheidung ganz klar gegen Gehenlassen. Nur, wie sollte er das anstellen? Irgendwas sagen? Aber was? Er bekam langsam das dumpfe Gefühl, dass Reden sie irgendwie nicht weiterbrachte.

Viel mehr fürchtete er, komplett verrückt zu werden, wenn er auch nur noch eine Sekunde lang über etwas anderes nachdenken musste, als über Ayas Haut und wie gut sie sich anfühlen würde.
 

Gerade in diesem Moment wurde es Aya zu bunt und er ging zum Angriff über, indem er versuchte, an dem Telepathen vorbei zur Tür zu gelangen. Keine sehr erfolgversprechende Aktion und auch nicht unbedingt durchdacht ausgeführt. Denn kaum hatte er das Hindernis, sprich Schuldig, umrundet, wurde er von eben diesem ergriffen und befand sich nun mit dem Rücken zur Tür, Schuldig ziemlich nah vor ihm.
 

Ganz klar zu nah. Obwohl, na ja... Aber das war jetzt überhaupt nicht die Frage, sondern warum diese verdammte Tür nach innen aufging und Aya demzufolge den Fluchtweg versperrte.

Aya fluchte innerlich und sah auf.

Warum starrte der Deutsche ihn so an? Aya konnte diesen Gesichtsausdruck, diesen Blick aus den grünen Augen nicht deuten, spürte nur, wie er ihn gleichzeitig erschreckte und anzog. Schuldigs Finger zogen eine kribbelnde Linie über sein Gesicht, als er ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, jagten ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Sein Atem ging schnell und sein Herz schlug viel zu laut.
 

Verdammt, das war Schuldig. Ausgerechnet Schuldig. Milliarden Menschen auf der Welt und dann ausgerechnet Schuldig. Immer noch konnte er sich nicht von dem Blick dieser Augen losreißen. Das war es! Schuldig hypnotisierte ihn! Immerhin war er Telepath, wer konnte schon sagen, zu was er sonst noch so fähig war.
 

Schuldig lächelte. Nicht sein gewöhnliches, verächtliches Grinsen, es war völlig anders. Herausfordernd? Nachsichtig? Sein Haar kitzelte leicht über Ayas Wange, als er sich weiter vor beugte und ein heiseres Flüstern an Ayas Ohr erklingen ließ. "Zu was ich fähig bin? Möchtest du es wissen?" Seine Hand berührte wie zufällig Ayas Hüfte, strich von dort aus bedächtig höher.

Er fühlte Schuldigs Atem, der ebenso schnell und schwer wie sein eigener ging. Er erschauderte. Okay, was waren noch mal gleich die Gründe für...
 

Seine Gedanken versiegten, als er Schuldigs Lippen auf den seinen fühlte, seine Zunge, die sanft darüber strich. Aya hörte sich selbst seufzen. Er war kurz davor, einfach nachzugeben. Diese Lippen, die Hände, die er auf seinem Körper spürte, das war so genau das, was er wollte.

Aber verdammt noch mal, das war Schuldig! Schuldig, der nichts ernst nahm, der immer nur spielte, der nicht auf seine Frage geantwortet hatte. Schuldig, der nicht bleiben würde.

Er sollte sich das nicht antun. Am besten wäre es, zu gehen, diese ganze blöde Erpressung abzubrechen und Schuldig nie wieder zu sehen. Er müsste ihn nur noch einmal wegstoßen. So wie eben, wie heute morgen.
 

Aber er zögerte. Diese Nähe, diese Wärme halfen einfach viel zu gut gegen die Einsamkeit viel zu gut, um von Dauer zu sein und viel zu gut, um es nicht noch schlimmer zu machen, wie ihm sein Verstand zuflüsterte. Aber dieses höhnische Zischen verlor sich, schmolz dahin.

Und als er eine Hand in Schuldigs Nacken legte und den Kuss erwiderte, spielte das auch keine Rolle mehr. Später vielleicht, aber daran wollte er jetzt nicht denken. Es war ja auch unwichtig gegen Schuldigs Geschmack und das Gefühl, wenn ihre Zungen sich aneinander rieben, gegen die Finger, die sanft an seiner Wange ruhten und gegen die erhitzte Haut seltsam kühl wirkten.
 

Er trat vor, zerstörte auch den letzten Abstand zwischen ihnen, und Schuldig zog ihn in eine enge Umarmung. Aya verlor sich in der Wärme, konzentrierte sich nur auf den Kuss und auf die Hand, die seinen Nacken liebkoste und ihm heiße Schauer über den Rücken sandte. Er hätte nicht sagen können, ob Minuten oder Sekunden vergangen waren, als sie den Kuss lösten und sich schwer atmend in die Augen sahen. Kein stummes Zwiegespräch, keine Fragen. Aya erinnerte sich vage, dass da eben noch Fragen gewesen waren, viele, wichtige Fragen. Aber ihm wollte keine mehr einfallen. Er war froh darüber, es war so befreiend, einmal nicht zu zweifeln.
 

Er begann, die obersten Knöpfe von Schuldigs Hemd zu öffnen, aber seine Bewegungen wurden immer fahriger, als sich dessen Küsse Stück für Stück seinen Hals entlang brannten und die leicht rauen Hände unter sein T-Shirt wanderten und am Hosenbund entlang sanft über Bauch und Rücken strichen.
 

Schuldig ließ seine Hände höher wandern, genoss die Hitze und die leichte Gänsehaut, die seine Berührungen auslösten. Als seine Hände die Schultern erreichten, löste er sich widerwillig von Ayas Hals, um ihm das T-Shirt über den Kopf ziehen zu können. Kaum war der Mund unter dem schwarzen Stoff wieder zum Vorschein gekommen, fing er ihn schon mit dem eigenen ein.

Aya war erst ein wenig überrumpelt, als er die Zunge des anderen wieder an seinem Lippen spürte, erwiderte den Kuss aber leidenschaftlich, noch bevor Schuldig ihm das T-Shirt ganz über das Gesicht geschoben hatte. Ohne den Kuss zu lösen, ließ er die Arme nach vorn sinken und zog Schuldig näher, ließ das T-Shirt hinter ihm achtlos fallen.
 

Während Schuldigs Hände sich ausgiebig seinem nun nacktem Oberkörper widmeten und ihm fast den Atem nahmen, scheiterte er am letzten Knopf von dessen Hemd, der sich standhaft weigerte, durch das Knopfloch zu rutschen. /Himmel! Zieh endlich dieses verdammte Hemd aus!/ murrte Aya und schob Schuldigs Zunge demonstrativ zurück in dessen Mund.
 

Schuldig hätte sich ja dagegen gewehrt, wenn er nicht hätte grinsen müssen. ~Endlich ein vernünftiger Gedanke.~ antwortete er spöttisch, während er sich hastig aus dem störrischen Kleidungsstück schälte und Ayas Mund zurückeroberte. Ob der Knopf jetzt doch nachgab oder abriss, konnte Aya nicht erkennen, aber es hätte ihm in dem Augenblick schwerlich gleichgültiger sein können. Seine Hände strichen neugierig über die leicht dunklere Haut von Schuldigs Schultern und Brust, wobei sie das handtellergroße Pflaster, das neben dem rechten Schlüsselbein klebte, einigermaßen großzügig ausließen.
 

Schuldig stöhnte auf und überlegte gerade, wie er Ayas Hose am besten los werden konnte, als ihm auffiel, dass dieser nicht mehr so ganz bei der Sache war.

Aya strich mit leicht abwesendem Blick über die warme Haut, seine Lippen verharrten auf Schuldigs. Er fühlte sich komisch. Nicht schlecht, nur irgendwie eigenartig. Lust und Erregung vermischten sich in ihm mit irgendetwas, das er erst jetzt bemerkt hatte. Schuldigs Stimme in seinem Kopf hatte ihn irgendwie darauf aufmerksam werden lassen. Es waren fast dieselben Gefühle, aber irgendwie ungewohnt und anders.
 

~Magst du es?~

Schuldigs Stimme holte ihn aus seinen Überlegungen und ließ ihn aufsehen. Es klang irgendwie nervös und er meinte, einen Hauch von Unsicherheit herauszuhören.

/Bist du das?/

Der Telepath nickte leicht und wartete auf Ayas Antwort.

/Hm, ich denke schon./

Aya spürte, wie sich Schuldigs Mund zu einem Lächeln oder einem Grinsen verzog das konnte er nicht ausmachen. Aber was er sah, war das Aufblitzen in den grünen Augen, als Schuldig ihn küsste. ~Dann versuch jetzt bloß nicht, abzulenken!~ flüsterte es in seine Gedanken, während er wieder näher an den warmen Körper gezogen wurde. Und er ließ es geschehen, schmiegte sich bereitwillig enger an die weiche Haut, die sich so gut gegen seine anfühlte.
 

Aya intensivierte den Kuss, ließ seine Zunge Schuldigs Mundhöhle erforschen, sie sanft über Lippen und Gaumen streifen. Die Augen hatte er geschlossen, bemerkte aber nun, wie er von Schuldig mit sanfter Gewalt in Richtung Bett geschoben wurde. Eng umschlungen legten sie etwa die Hälfte des Weges zurück.
 

Schuldig unterbrach den Kuss, um Luft zu holen und sah Aya ins Gesicht, der ihn mit geröteten Wangen und ebenfalls etwas außer Atem anblickte, die violetten Augen herausfordernd und verlangend. Der Anblick machte ihn fast wahnsinnig. Er beugte sich über Ayas Schulter, biss leicht in die weiße Haut, reizte sie mit seiner Zunge. Er spürte, wie Ayas Hand auf seinem Rücken kreisend unter seinen Hosenbund wanderte und machte sich nun selbst an dessen Reißverschluss zu schaffen, nachdem er den obersten Hosenknopf geöffnet hatte. Seine Fingerspitzen tasteten sich über Ayas Bauch hinab unter seine Unterhose, fuhren dessen wachsenden Erregung auf und ab.

Lustvoll stöhnend legte Aya einen Arm um Schuldigs Hals. Er zog ihn weiter rückwärts zum Bett, wobei ihm seine nun offene Hose über den Hintern nach unten rutschte.
 

Schuldig leistete keinen Widerstand, versuchte sich nur noch näher an Aya zu drücken, während er ihm die Unterhose herabschob. Plötzlich spürte er, wie Aya einen überraschten Laut ausstoßend nach hinten fiel, weil mit heruntergelassener Hose rückwärts laufen nicht so einfach war und sich an ihm festklammerte. Schuldig verlor ebenfalls das Gleichgewicht und wurde von Aya mit hinabgezogen, wo allerdings ihr Aufprall sanft vom Bett abgebremst wurde, das sie noch gerade rechtzeitig erreicht hatten.
 

Aya lag keuchend auf dem Rücken halb auf dem Bett und rutschte langsam runter, weil er Schuldigs Gewicht, der offensichtlich sehr bequem auf ihm lag in der Position nicht halten konnte. "Autsch.", sagte er betont und erreichte, dass Schuldig endlich mal die Hand aus seiner Hose nahm und sich, eine Entschuldigung murmelnd, von ihm runterrollte.
 

Aya setzte sich auf und rückte richtig aufs Bett. Dann beugte er sich vor, um sich seine Stiefel und die unglückselige Hose auszuziehen. "Au!", klang es wieder durch das Zimmer, diesmal zweistimmig und echter. Schuldig, der Aya entweder helfen wollte oder schon wieder was anderes geplant hatte, war mit seinem Kopf im Weg gewesen. Aya hielt sich grummelnd die Hand an die Stirn und ließ sich aufs Bett zurückfallen. "Mach du, ich hab heut kein Glück.", seufzte er, während es um seine Mundwinkel verdächtig zuckte.
 

~*~
 

Das gedämpfte Rauschen der Dusche drang vom Bad her ins Zimmer. Schuldig lauschte darauf, während er noch vor sich hindämmerte. Er konnte sich irgendwie nicht dazu durchringen jetzt schon richtig aufzuwachen, dafür war es einfach zu gemütlich unter der warmen Decke. Und das dämmriggraue Licht, das durch die Fenster fiel, sah auch nicht unbedingt vertrauenserweckend aus. Eher nach nassem Herbstwetter...
 

Er lauschte auf eventuellen Regen, konnte aber nur die Dusche hören. Seine Gedanken verließen das Thema Wetter, dass ihn ohnehin nur mäßig interessierte und wandten sich anderen Dingen zu. Wenn er jetzt aufstehen würde, wie stünden die Chancen, Aya noch zu erwischen, bevor der mit Duschen fertig war? Er versuchte abzuschätzen, wie lange Aya schon duschte, kam aber zu keinem Ergebnis. In dem Moment verstummte das Rauschen und die Frage hatte sich somit ohnehin erledigt.
 

Nur wenige Augenblicke später kam Aya zurück ins Zimmer, die feuchten Haare nach allen Seiten abstehend und ein Handtuch um die Hüften. Schuldig ärgerte sich, nicht aufgestanden zu sein.

"Ran, komm wieder ins Bett.", murmelte er in sein Kissen. Er hätte schwören können, dass da eben ein Lächeln über Ayas Gesicht gehuscht war. Trotzdem ignorierte Aya die Aufforderung eiskalt und schüttelte nur ungläubig den Kopf.
 

"Du hast dich seit ich ins Bad gegangen bin nicht einen Millimeter bewegt.", stellte er fest.

Schuldig grummelte irgendwas unverständliches, bevor er sich dazu durchrang, den Kopf zu heben. "Wie spät ist es?"

Aya zuckte die Schultern. "Halb acht? Weiß nicht genau."

Schuldig stöhnte und sein Kopf fiel umgehend wieder zurück ins Kissen. Er beobachtete träge, wie Aya zu den Einkaufstüten ging, die in der Nähe der Sitzgruppe standen, und anfing, sich die Kleidung zusammenzusuchen. Das Handtuch fing langsam aber sicher an, seinen Unmut auf sich zu ziehen.
 

"Komm zurück.", versuchte er es noch einmal.

Aya drehte sich zu ihm um, während er die Schilder von der Jeans riss, die er sich aus einer der Tüten genommen hatte. "Willst du nicht langsam aufstehen?"

"Nein.", gähnte Schuldig. "Viel zu früh. Können wir heute nicht einfach im Bett bleiben?"

"Und was ist mit Kaike?" Aya ließ das Handtuch fallen, um sich Unterhose und Jeans anzuziehen.

"Scheiß auf Kaike.", sagte Schuldig jetzt wesentlich wacher. "Komm her!"

Aya verdrehte sie Augen. "Steh endlich auf! Wir haben heut noch jede Menge zu tun."

"Wie kannst du nur so hartherzig sein?"
 

Aya seufzte und kam dann zu Schuldig herüber, wo er sich auf den Bettrand setzte.

"Also schön.", sagte er in versöhnlichem Ton, "Was muss ich tun, um dich aus dem Bett zu kriegen?"

Das Grinsen, das sich auf Schuldigs Gesicht schlich, war ganz und gar nicht mehr verschlafen.

"AUS dem Bett.", betonte Aya noch mal.

"Gott! Du bist so unromantisch.", grummelte Schuldig und führte zugleich die erste Bewegung des Tages aus, indem er Aya auf sich zog und ihn küsste.
 

Der war nicht mal ansatzweise überrascht, musste aber zugeben, dass Schuldig zu küssen eine durchaus angenehme Art war, den Tag zu beginnen. Zu angenehm vielleicht. Schuldigs Vorschlag, den Tag im Bett zu verbringen, erschien Aya mit jedem Augenblick verlockender.

/Nein, es gibt jetzt wirklich wichtigeres!/ ermahnte er sich selbst, wobei er auch gleich den Kuss löste und auf Sicherheitsabstand ging - zusammen mit Schuldigs Decke.
 

"Was könnte denn bitte wichtiger sein?", nörgelte Schuldig ernsthaft ratlos und warf abwechselnd Aya und seiner Decke sehnsüchtige Blicke zu.

"Sei nicht albern! Ich will die Übergabe so schnell wie möglich hinter mich bringen und dann verschwinden. Solange Kaikes Leute nach uns suchen, ist es hier nirgends sicher."

Schuldig setzte sich auf und fuhr sich mit einer Hand durch die verwirrten Haare, während er noch mal herzhaft gähnte. "Ach, vergiss die Erpressung doch einfach.", meinte er missmutig. "Wir könnten schon heute Abend an einer Strandbar auf irgendeiner netten Südseeinsel sitzen und es uns gut gehen lassen."
 

Aya sah ihn eine Sekunde lang verwirrt an. "Woher der plötzliche Sinneswandel? Wolltest du dich nicht noch bis vor kurzem an Kaike rächen?"

"Nein, du willst dich rächen. Dich, dein Haus und dein 'normales Leben'. Und ich hatte nichts dagegen, wegen meiner Wohnung, meiner Schulter und der ganzen Unannehmlichkeiten, aber...", Schuldig zuckte kurz mit den Schultern. "Na ja, ich bin nun mal nicht besonders nachtragend. Irgendwie fühl ich mich auch entschädigt. Und wenn ich die Wahl habe zwischen Urlaub und blutiger Rache, muss ich nie lange überlegen."

Aya nickte nur und schwieg einen Moment. "Wenn das so ist...", meinte er dann kühl. "Aber ich brauche das Geld."

"Wozu? Wegen den Schulden für dein Haus? Das ist doch albern. Wir verschwinden von hier und dann-"

"Hör auf! Du verstehst das nicht." Ayas beherrschter Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. "Du lebst nur auf Kosten anderer. Aber ich werde das nicht tun. Ich bleibe niemandem etwas schuldig. Weder meiner Bank, noch Kritiker. Und am aller wenigsten dir." Für einen Moment hielt er Schuldigs Blick noch fest, dann wandte er sich ab und ging zu den Einkaufstüten, um ein T-Shirt und einen Pullover herauszusuchen.
 

Schuldig saß etwas verdattert da und haderte mit dem Schicksal. Es gab doch nun wahrhaftig genug hübsche, dumme Menschen auf der Welt. Also warum um Himmels Willen, hatte er sich nicht einen davon ausgesucht? Nein, es musste ja der komplizierteste sein, der sich weit und breit finden ließ. Ausgerechnet Aya! Beziehungsweise Ran... Gott, da fing es ja schon an.

Er seufzte. "Du machst dir immer alles so schwer. Wenn man dich so denken hört, könnte man nach einer Weile wirklich auf die Idee kommen, das Leben wäre gar nicht so einfach wie es ist."

"Nichts ist einfach und das willst du partout nicht verstehen." Aya zog sich mit wütenden Bewegungen das schwarze T-Shirt über und griff nach dem dunkelblauen Pullover. "Ich musste hart für meine Unabhängigkeit kämpfen. Und für dich werde ich sie genauso wenig wieder aufgeben, wie für Weiß."
 

Schuldig nickte nur kommentarlos und verschwand dann ins Badezimmer. Was konnte er denn dazu auch sagen? Aya legte es doch darauf an, sich das Leben schwer zu machen.

Sie würden diese Erpressung also durchziehen. Stress für nichts und wieder nichts, seiner Meinung nach. Aber solange es Aya besänftigen würde...

Außerdem: Je eher sie das hinter sich hatten, desto eher könnte er mit Aya die Kurve kratzen. Philippinen, Fidschi-Inseln, Seychellen... Nach dieser Woche konnte er echt mal wieder Urlaub vertragen. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Der Gedanke an Palmen, Nichtstun und Aya am Strand munterte ihn wieder auf.
 

Dass Aya heute morgen so distanziert, fast schon aggressiv war, bedrückte ihn doch mehr, als es eigentlich sollte. Offensichtlich fühlte er sich durch Schuldig bedroht, was dieser nicht wirklich nachvollziehen konnte.

Aber vielleicht lag es auch nur am Stress. Wieder ein Punkt, der für baldigen Urlaub sprach.

Schuldig beschloss, nicht weiter darüber nachzugrübeln - das machte Aya schon für zwei - und warf seinem Spiegelbild ein fröhliches Grinsen zu, bevor er ein Handtuch aus dem Regal auf den Boden neben der Dusche warf und dann unter dem warmen Wasser lieber noch eine Weile seinen Karibik-Gedanken nachhing.
 

~*~
 

Als er wieder in das luxuriöse Hotelzimmer trat, stieg ihm gleich Kaffeeduft in die Nase. Ein Blick durch den Raum zeigte ihm, dass der niedrige Tisch bei der Sitzgruppe mit Geschirr gedeckt worden war, das auf den ersten Blick teuer schrie. Die Einkäufe standen in Reih und Glied vor dem Bett und an ihrer Stelle belegte ein mit Frühstück beladenes Serviertischchen den Platz neben der Couch.

"Hach, es geht doch nichts über Zimmerservice." merkte Schuldig in überschwänglichem Tonfall an. "Sag mal, haben die die Taschen nach Größe geordnet?"
 

Aya, der bis jetzt reglos vor einem der riesigen Fenster gestanden hatte, wandte sich vom tristen Grau der Stadtkulisse ab und sah zu, wie Schuldig die meisten der Tüten auf das Bett leerte, offenbar auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Er hatte nicht das Gefühl, dass Schuldig auf seine Frage tatsächlich eine Antwort erwartete und so schwieg er.
 

Erleichtert stellte er fest, dass Schuldig gut gelaunt war. Das hatte er eigentlich nicht erwartet. Genau genommen hatte er die letzten zehn Minuten damit zugebracht, sich Entschuldigungen zu überlegen - sehr erfolglos übrigens, Entschuldigungen gehörten ganz klar nicht zu seinen Stärken. Aber es tat ihm leid, dass er Schuldig vorhin so abgekanzelt hatte. Genau wie der ganze sinnlose Streit. Er hatte jedes Wort so gemeint, wie er es gesagt hatte, aber darum ging es ihm auch nicht. Es wäre einfach nicht nötig gewesen.
 

Er beobachtete niedergeschlagen, wie Schuldig nach und nach die gesuchten Kleidungsstücke fand und sich dann anzog.

Schuldig... Himmel, da kam was auf ihn zu! Trotzdem schlich sich bei dem Gedanken doch ein warmes Gefühl ein, das für wenige Sekunden ein Lächeln auf sein Gesicht zauberte.

Aber wie lange konnte das gut gehen?
 

"Meinst du, die hätten das Frühstück auch ans Bett gebracht?", unterbrach Schuldig Ayas Gedanken.

"Nicht, solange ich hier wohne." Aya ging zum Tisch hinüber und goss Kaffee in beide Tassen, ehe er sich in einen der Sessel setzte.

"Du hast einfach keinen Sinn für die kleinen Freuden im Leben.", versetzte Schuldig leichthin und ließ sich in den Aya am nächsten stehenden Sessel fallen. "Also, da du so wild entschlossen bist, Kaike um sein Geld zu bringen, weihe mich doch bitte in deine Pläne ein. Was steht denn heute auf dem Programm, das nicht noch ein, zwei Stunden hätte warten können?"
 

Aya schwieg einen Moment und trank einige winzige Schlucke Kaffee, um festzustellen, dass dieser noch viel zu heiß war. Er stellte die Tasse zurück auf den Tisch und sah wieder zu Schuldig hinüber. "Als erstes müssten wir zum Übergabeort und dort die nötigen Vorbereitungen treffen. Dann müssen wir Kaike den Brief schicken und einige Stunden vor der Übergabe muss ich mich bei ihm einschleusen."
 

Schuldig ließ von seinem Croissant ab und sah Aya einigermaßen verständnislos an. "Einschleusen?"

"Ja, ich habe es dir doch gestern erklärt. Plan B."

Schuldig dachte einen Moment lang darüber nach, was es mit Plan B auf sich hatte, kam aber zu keinem Schluss. "Hilf mir doch mal auf die Sprünge, ich war gestern nicht so ganz bei der Sache."
 

Aya nickte nur kommentarlos. "Ich werde in Kaikes Wachmannschaft sein und wenn die Übergabe nicht glatt geht, die Sprengsätze zünden, um für Ablenkung zu sorgen, und dann mit dem Geld verschwinden.", wiederholte er dann geduldig.

Schuldig sah nicht sonderlich begeistert aus. "Das ist gefährlich."

Aya nickte wieder, ging aber nicht näher darauf ein.
 

Schuldig fing an, sein Croissant mit Marmelade zu bestreichen, während er über den Plan nachdachte. Nicht gerade ein Geniestreich, wenn er ihn mal mit denen von Crawford verglich, aber auch keine allzu großen Risiken. Nur die Sache mit Aya gefiel ihm nicht. Das hieße eine große räumliche Trennung während der Übergabe. Wenn alles glatt ging, machte das keinen Unterschied, aber bei Gefahr würde er ihm erst spät helfen können.

Er seufzte, als ihm klar wurde, dass er Aya nicht davon abhalten konnte.
 

"Also gut, wann soll die Übergabe stattfinden?"

"Heute nacht."

Schuldig nickte. Es machte keinen Sinn, das Ganze weiter hinauszuschieben. Davon wurden die Risiken nicht kleiner, sondern eher noch größer. Außerdem hatte Aya Recht: Kaikes Leute suchten immer noch nach ihnen und würden sie auch eher früher als später finden.
 

Er beschloss, erst mal nicht weiter darüber nachzudenken. Wenn man schon so früh aufstehen musste, sollte man wenigstens das Frühstück genießen. Also tauschte er seinen Teller mit dem Croissant gegen Ayas aus und fing an, ein zweites mit Marmelade zu bestreichen.

Aya hob seinen Blick von der Kaffeetasse, die bis jetzt scheinbar seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und sah erst den Teller und dann Schuldig irritiert an. "Was...?"

"Frühstück, Ran.", erklärte Schuldig mit nachsichtiger Geduld, "Wenn schon nicht im Bett, dann doch wenigstens mehr als Kaffee."
 

Aya starrte ihn noch einen Augenblick lang an, dann murmelte er ein "Danke." und fing an zu essen. Eigentlich hatte er keinen Hunger, er frühstückte nie besonders ausgiebig. Schuldig hätte ihn ruhig fragen können, ob er überhaupt etwas haben wollte... auch wenn es irgendwie... nett war. Aber es war albern, er hätte das auch gut selbst machen können. Na gut, das hätte er nicht gemacht, weil er ja auch keinen Hunger hatte... aber jetzt schmeckte es eigentlich ganz gut.
 

Eine Weile widmeten er und Schuldig sich schweigend ihrem Frühstück. Aya nippte grübelnd an seinem Kaffee, wobei seine Gedanken immer wieder zu Schuldig wanderten, was er aber zu vermeiden versuchte.

Dieser schien mit Essen beschäftigt, warf dem grübelnden Aya aber immer wieder Blicke zu und runzelte ab und zu leicht die Stirn. Aya eine Freude zu machen war offenbar nicht so einfach, wie man meinen sollte. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war bei Aya schon einfach? Daran würden sie unbedingt noch arbeiten müssen.
 

Durch die Bewegung aus seinen Gedanken gerissen, hob Aya den Blick und sah Schuldig mit misstrauisch verengten Augen an. "Liest du schon wieder meine Gedanken?"

Schuldig zog die Augenbrauen hoch und erwiderte den durchdringenden Blick aus den violetten Augen mit seinem unschuldigsten, ahnungslosesten Lächeln. Nicht sehr erfolgreich offensichtlich.
 

"Vergiss es. Das nehm ich dir nicht ab. Du bist einfach ein viel zu schlechter Schauspieler."

Das Lächeln wandelte sich zu einem amüsierten Grinsen. "Reicht ja, wenn einer von uns das perfektioniert hat, ne?"

Aya stand auf. "Wir fahren zuerst zum Übergabeort, sehen uns dort um und platzieren die Sprengsätze." Er würde auf keinen Fall nachfragen, was der Telepath mit seinem letzten Satz gemeint hatte.

"Ach, das musst du nicht, ich kann es dir auch so sagen: Ich bin ein paar Tage bei dir und lerne mindestens sechs verschiedene Menschen kennen. Du hast eine Maske für deine Schwester, für deine Kollegen, für deine Nachbarin. Wird dir eine heruntergerissen, kommt die nächste zum Vorschein. Wird ein Verhaltensmuster durchschaut, fängst du an, ein anderes vorzuspielen. Aber du bist nie ganz du selbst, das ist schon irgendwie irritierend."
 

Aya, der gerade nach seinem Mantel greifen wollte, hielt in der Bewegung inne. "Warum sollte ich das tun?", fragte er ohne sich zu Schuldig umzudrehen.

"Weil du andere von dir fernhalten willst." Schuldig sagte es fast schon gelangweilt, als wäre es die selbstverständlichste Tatsache der Welt.

"Und das ist so weil..." Ayas Stimme klang spöttisch.

"...du Angst hast?", schlug Schuldig vor.

Aya schnaubte ärgerlich. Die Behauptung war lächerlich. Vor was sollte er Angst haben? Er nahm seinen Mantel und zog ihn an. "Beeil dich. Ich will los."
 

Schuldig stand auf und suchte sich seine Jacke, ohne noch etwas zu sagen. Er folgte Aya als dieser das Hotelzimmer verließ. Wenn er eines gelernt hatte, dann, dass es keine wirklich gute Idee war, Aya zu sehr in die Enge zu treiben. Der einzige Grund, warum er noch so ruhig war, war dass er Schuldig offensichtlich nicht glaubte. Noch nicht. Aber so viel, wie Aya im Moment nachdachte, konnte das ja noch kommen.
 

Mal davon abgesehen war die Frage, wovor Aya eigentlich Angst hatte, schwierig zu beantworten. Eine komplexe, irrationale Angst, durch scheinbar vernünftige Argumente gestützt, ein fragiles, geradezu kunstvolles Gebilde von Einsamkeit und Schuldgefühlen, das Aya sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte.

Schuldig war selbst von seinem Wunsch überrascht, es unbedingt durchschauen zu wollen. Eigentlich war es einer seiner ehernen Grundsätze, sich nicht ernsthaft mit den psychischen Problemen anderer Leute auseinander zu setzen, aber bei Aya würde er eine Ausnahme machen.
 

Er musste nur noch herausfinden, wie er das Problem am besten anpackte. Doch wenn sie erst mal weg wären und ihre Ruhe hätten, würde ihm schon was einfallen. So schwer konnte das auch nicht sein, immerhin hatte Aya es ja gestern schon mal geschafft, den ganzen Mist zu vergessen. Ein gutes Zeichen und, wie Schuldig grinsend für sich feststellte, eine glänzende Motivation für ihn, diesen Prozess zu unterstützen.
 

"Hör auf, mich so anzustarren."

Schuldig zog verwirrt die Augenbrauen hoch. "Wie?"

Sie standen inzwischen im Fahrstuhl nach unten und er hatte gar nicht bemerkt, dass er Aya angesehen hatte.

"Mit diesem Grinsen."

Schuldig hörte auf zu grinsen. "Was stimmt damit nicht?"

"Ich hasse es.", stellte Aya nur ruhig und bestimmt fest.
 

Schuldig schwieg einen Moment und sah zu, wie die Zahlen an der Fahrstuhlwand nacheinander aufblinkten und erloschen. "Weißt du, ich will dir da keine Vorschriften machen, das ist ja gewissermaßen deine Sache...", setzte er dann an und klang dabei für seine Verhältnisse ungewohnt ernst. "Aber rein traditionell jetzt: Leute in unserer Situation sollten netter zueinander sein. Ich verlang ja nicht viel, mir ist schon klar, dass das schwierig für dich ist. Aber wenn dir was Nettes durch den Kopf schießt, könntest du es zum Beispiel ruhig auch mal sagen."
 

Der Fahrstuhl kam mit einem hellen Pling in den Tiefgaragen unter dem Hotel an und Aya flüchtete ohne einen weiteren Blick an Schuldig vorbei zum Auto.

Schuldig setzte sich auf den Beifahrersitz und versank in grimmigem Schweigen. Er war sich nicht sicher, was ihn mehr ankotzte. Die Tatsache, dass Aya ihn wie den letzten Dreck behandelte, oder der Umstand, dass er sich das gefallen ließ. Es war zum verrückt werden. Da hatte er Ayas Manöver durchschaut und konnte absolut nichts dagegen tun.
 

Es war ein Test. Aya versuchte, die Beziehung zu sabotieren, bevor sie überhaupt angefangen hatte und falls er Erfolg hätte, wäre er in all seinen Zweifeln bestätigt. Schuldig wäre am Scheitern der Beziehung schuld, weil er sowieso nie vorhatte, bei ihm zu bleiben, und Aya könnte sich unglücklich und selbstzufrieden in seine Einsamkeit zurückziehen, seine Wunden lecken und mit diesem weiteren Beweis für die Enttäuschungen, die im Leben lauerten, sein Misstrauen pflegen. In etwas abgewandelter Form war das für gewöhnlich Schuldigs Taktik. Er hatte sich irgendwie daran gewöhnt, dass er der gefühlsgestörte in seinen Beziehungen war.
 

Aber seinen Rotschopf würde er damit nicht durchkommen lassen. Er ließ sich nicht so einfach manipulieren. Na schön, Aya machte das nicht mit Absicht, sondern unterbewusst, es war eine von diesen Masken, von denen Schuldig gesprochen hatte. Und nur deswegen würde Schuldig es zähneknirschend über sich ergehen lassen. Deswegen und weil er diesen Mann wollte. Und zwar ganz und gar. Aya sollte ihm gehören, ihn lieben, bei ihm bleiben. Freiwillig. Warum das so war, war ihm ein Rätsel, aber er konnte es offensichtlich nicht ändern.
 

Ein Spiel. Ja, natürlich war es das, aber der Einsatz war zu hoch, um es nicht ernst zu nehmen. Er würde Aya nicht aufgeben.

Langsam kehrte Schuldig wieder zu seiner gewohnten Gelassenheit zurück und trieb sich ein wenig in Ayas Gedanken rum. Dem tat es leid, dass er so feindselig war. Aya empfand das Schweigen als unangenehm, wusste aber nicht, was er sagen sollte.

Schuldig ließ ihn schmoren und sah weiter grimmig aus dem Fenster. Nicht, weil er sich so sehr danach fühlte, sondern einfach nur als Rache, weil Aya ihn in solche Verwirrung stürzte. Allerdings wurde ihm das schnell langweilig und genau genommen war er Aya auch nicht wirklich böse. Eine Weile beschäftigte er sich damit, aus dem Fenster zu gucken.
 

"Wo willst du hin: Auf die Philippinen, die Seychellen oder doch lieber auf die Fidschi-Inseln?", fragte Schuldig aus heiterem Himmel, nachdem sie eine knappe Stunde Fahrt schweigend zurückgelegt hatten.

Aya sah ihn völlig perplex an.

"Okay, also vielleicht doch lieber die Malediven."

Aya fing an, zu überlegen, wovon zur Hölle Schuldig eigentlich sprach.

"Na wovon schon? Wohin wir fliegen, wenn wir Japan verlassen.", erklärte Schuldig mit einem Seufzen.
 

"Wir?", fragte Aya ruhig und jede Emotion aus seiner Stimme verbannend.

Schuldig nickte. "Davon war ich eigentlich ausgegangen."

"Zusammen?" Aya warf ihm einen seltsamen Blick zu.

"Nun ja. Ja."

"Warum?" Aya war sichtlich erstaunt. Er hatte trotz des Streits am Morgen nicht wirklich darüber nachgedacht, was er nach der ganzen Sache machen wollte. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, musste er zugeben, dass er gerade das bewusst vermieden hatte.

"Na weil...", begann Schuldig, gab dann aber die Suche nach einem vernünftigen Grund als aussichtslos auf und zuckte nur die Schultern. "Mir gefällt die Idee. Ich hab doch gesagt, ich mag dich."
 

Aya antwortete nicht, sah nur weiterhin starr auf die Straße.

"Und mal davon abgesehen, dass du mich sowieso nicht loswirst, ist es dir doch auch lieber, als wieder allein zu sein.", fügte Schuldig hinzu.

"Woher willst du das wissen?"

"Na schön. Dann sag einfach, dass dir die letzte Nacht nichts bedeutet hat und es dir lieber wäre, wenn wir nach der Sache hier getrennte Wege gehen."

Aya holte tief Luft. "Die letzte Nacht hat mir nichts bedeutet und es wäre mir lieber, wenn wir nach der Sache hier getrennte Wege gehen.", sagte er kühl.
 

Schuldig sah ihn einen Augenblick lang erschrocken an und ließ sich tief in seinen Sitz zurücksinken. "Autsch.", stellte er nüchtern fest. Er schwieg für einige Sekunden, dann durchbrach sein leises Lachen die Stille. "Es ist unglaublich, wie gut du lügen kannst. Ich hätts dir fast geglaubt."

Aya seufzte resigniert, bevor sich ein Lächeln auf seine Lippen schlich, das aber sofort wieder verschwand. "Wir fahren auf keinen Fall auf eine Insel."
 

~*~
 

"Ran!", rief Schuldig über die Brücke zum gegenüberliegenden Geländer. "Was hast du denn eigentlich gegen Südseeinseln?!"

Er fragte das nicht zum ersten mal, und dementsprechend genervt sah Aya von dem Sprengsatz auf, den er gerade an einer der kräftigeren Stahlstreben befestigte. "Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich will da einfach nicht hin."
 

Ein einzelner Wassertropfen traf Schuldigs Gesicht und ließ ihn aufsehen. Der graue Himmel machte den Eindruck, als könnte es jeden Augenblick anfangen zu regnen. Das auch jetzt noch dämmrige Licht fraß alle Farben und stanzte die kahle Stahlkonstruktion der Brücke gestochen scharf und dunkel in die Landschaft.

Sie hatten festgestellt, dass der Verkehr wegen Straßenbauarbeiten weiträumig umgeleitet worden war, was aber diesen Ort für ihre Übergabe nur noch perfekter machte.
 

"Aber warum denn nicht?", fragte er nach, während er seinem Sprengsatz wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen ließ.

"Was soll ich da? Auf solchen Inseln gibt es nichts außer Touristen."

"Doch. Es gibt noch das Meer, kilometerlange Sandstrände, Sonne, Palmen und leckeres Essen."

"Ich schwimme aber nicht gern, bekomme leicht Sonnenbrand und hege keine besondere Vorliebe für Palmen gegenüber anderen Bäumen.", stellte Aya klar. "Also gibt es für mich absolut keinen Grund, ausgerechnet auf eine Südseeinsel zu fahren."
 

"Ach Quatsch, ich wette, wenn wir erst mal da wären, würde es dir gefallen.", maulte Schuldig.

Aya hatte seinen Sprengsatz befestigt und sah jetzt auf. "Schuldig, ich war schon mal auf einer Südseeinsel, es hat mir nicht gefallen und folglich weiß ich ganz genau, dass es mir auch diesmal nicht gefallen wird."

"Wann warst du da?", fragte Schuldig einigermaßen verwundert.

"Im Urlaub mit meiner Familie. Ist schon eine Ewigkeit her.", antwortete Aya mit unbewegtem Gesicht.

"Ah. Und was war daran so schlimm?"

"Es war ein Katastrophe. Ich hatte Sonnenbrand, wäre fast ertrunken und war die letzte Woche krank, was übrigens am leckeren Essen lag."
 

Schuldig hatte Schwierigkeiten, sich Aya mit einer Lebensmittelvergiftung vorzustellen. Er war bis jetzt eigentlich beinahe überzeugt gewesen, dass es nichts gab, was Aya umwerfen konnte. Das Eingeständnis menschlicher Schwächen und dass Aya ihm überhaupt einmal etwas über sich erzählt hatte, ließ ihn lächeln. "Und wo würdest du gern hinfahren?"

Aya zuckte die Schultern.

"Okay, lass es mich anders formulieren: Gibt es überhaupt einen Ort, der dir eventuell, vielleicht, möglicherweise gefallen könnte?"

Aya schwieg, während er ernsthaft über diese Frage nachdachte, ohne zu einem Schluss zu kommen, da ihm nur reihenweise Orte einfielen, die ihm ganz klar nicht gefielen.

"Du bist so ein negativer Mensch!", stellte Schuldig fest.
 

Aya brummte nur etwas unverständliches, bevor er sich abwandte und ans Geländer gelehnt die kleinen Strudel beobachtete, die sich um die Brückenpfeile herum bildeten.

Schuldig konzentrierte sich noch ein letztes mal auf seine Arbeit und war dann auch mit wenigen Handgriffen fertig. Er ging zu Aya herüber und blieb dann dicht neben ihm stehen.

Einen Moment lang betrachtete er das kühle Gesicht mit dem abgewandten Blick nachdenklich, dann schlich sich ein warmes Lächeln auf sein Gesicht. "Na schön, vergessen wir die Südsee fürs erste. Was hältst du von Island? Heiße Quellen, Geysire, Vulkane aber alles unter einer dicken Eisschicht, die nur ganz selten an wenigen Stellen taut."
 

Aya schwieg einen Moment und warf Schuldig dann von der Seite her einen abschätzenden Blick zu. Diese Augen, denen nicht einmal das trübe Licht etwas von ihrer Farbe nehmen konnte, blitzten ihn verschwörerisch an. Ohne es zu bemerken erwiderte er das Lächeln kurz.

"Vielleicht doch nicht ganz so selten.", korrigierte Schuldig zwinkernd.

Aya neigte leicht den Kopf. "Und du? Was willst du dort? So ganz ohne Strand und Palmen..."

Schuldig zuckte lachend die Schultern, schloss Aya in die Arme und küsste den verblüfften Rotschopf leicht auf die Nasenspitze. "So misstrauisch? Was soll ich da schon tun? Schnee schmelzen natürlich. Und wenn ich fertig bin, fang ich an Papageien zu züchten."

Löwenhöhle

Aya war verwirrt. Und das war noch harmlos ausgedrückt. Schuldig verhielt sich nicht so, wie er es erwartet hatte. Er hatte gedacht...

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber sicher nicht, dass Schuldig _nett_ war. Das war nicht sehr hilfreich und würde ihn nur dazu bringen, sich noch weiter zu verlieben. Und das wollte er nicht. Oder doch?
 

Warum konnte Schuldig sich nicht einfach ein einziges Mal so verhalten, wie man es von ihm erwartete?! Es wäre sicher viel einfacher nach kurzer Zeit von einem arroganten, oberflächlichen Schuldig verlassen zu werden, als nach längerer von einem freundlichen...
 

Aya seufzte unmerklich und hoffte, dass Schuldig, der sich auf dem Beifahrersitz zurückgelehnt hatte, wirklich schlief und nicht nur so tat.

Ob er auch im Schlaf Gedanken lesen konnte? Wohl eher nicht. Irgendwie war das gruselig... na ja, oder beunruhigend.
 

Aber vielleicht - wenn es halten würde... Für einige Zeit zumindest. Es wäre vielleicht gut...
 

~*~
 

Es war kurz nach zwölf, als Aya und Schuldig die Hotelsuite wieder betraten. Obwohl ihre Fahrt zur Brücke und zurück nicht ganz so lange gedauert hatte wie gedacht, machte sich Aya Sorgen, ob sie heute noch alles schaffen konnten. Ihm wurde bewusst, dass er es einfach nicht gewohnt war, in einem so kleinen Team zu arbeiten. Irgendwie war er bei dem Zeitplan von Weiß-Maßstäben ausgegangen. Überhaupt hatte er ja mit der Planung nie sehr viel zu tun gehabt.
 

Schuldig war erst mal ans Telephon gestürzt, um das Mittagessen aufs Zimmer zu bestellen, sah aber jetzt zu Aya hinüber. "Wir könnten das Ganze immer noch auf morgen verschieben.", warf er möglichst beiläufig ein. "Es ist sowieso nicht gut, so viel an einem Tag zu tun."

Aya überging die Einmischung in seine Gedanken großzügig - getreu seinem Vorsatz, netter zu Schuldig zu sein - und rechnete nach. Wenn sie den Brief jetzt schrieben, konnte er spätestens halb drei bei Kaike sein. Übergabe gegen Mitternacht, dann hätten sie für Vorbereitungen noch knapp zehn Stunden Zeit.
 

Er schüttelte entschlossen den Kopf. "Das ist zu schaffen." Er wollte das hier hinter sich bringen, so schnell es ging.

"Was willst du essen?"

Aya winkte nur ungeduldig ab. "Reicht die Zeit für Kaike, um das Geld zusammen zu bekommen?"

Schuldig zuckte die Schultern. "Er hat immer größere Beträge Zuhaus, falls er plötzlich das Land verlassen muss. - Ja hallo, die 21 und die 13 bitte, aber mit der Beilage von Nummer sieben, dazu eine doppelte Portion 42 mit ein wenig 17 und den Wein des Hauses... auf Zimmer 372."
 

Aya sah Schuldig leicht irritiert an. "Was hast du da gerade bestellt?"

Schuldig zuckte die Schultern und zwinkerte Aya verschwörerisch zu. "Ich lass mich überraschen. Wenn's eklig aussieht, kann man's immer noch zurückschicken."

Aya verdrehte die Augen, ging aber nicht darauf ein. "Woher weißt du das mit Kaikes Geld?"

"Ich bin Telepath."
 

Aya stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte und ging zum Sekretär hinüber. Dieser war ebenso wie alle Möbelstücke in dieser Suite aus dunklem, sehr edel anmutendem Holz gearbeitet und schien eher als Schmuck, denn als Gebrauchsgegenstand genutzt zu werden.

Trotzdem, als Aya ihn aufklappte fand er neben einem kleinen Stapel Briefpapier, einem fein ziselierten Becher mit Brieföffner, Schere und einigen Stiften darin, und sogar ein Kaligraphie-Set vor.
 

"Edel.", kommentierte Schuldig, der zu Aya herübergekommen war und ihm jetzt über die Schulter guckte.

Aya nickte nur und setzte sich auf den gepolsterten Stuhl, der vor dem Sekretär stand. Er nahm eines der Blätter vom Stapel, griff dann nach einem der Stifte, einem schweren Füllfederhalter, und begann zu schreiben.
 

"Sehr geehrter...?" Schuldig runzelte die Stirn, ließ sich dann aber von Ayas Hals ablenken, den er da so überaus verlockend vor sich hatte. Sein Gesicht näherte sich langsam der zarten Haut. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch und die leichte Wärme, die Ayas Nacken ausstrahlte, riefen ihm die letzte Nacht sehr nachdrücklich ins Gedächtnis zurück. Fast ohne sein Zutun legten sich seine Lippen federleicht auf die Stelle, wo die ersten roten Härchen sich von der reinweißen Haut abhoben.
 

Aya erschauderte, ließ sich aber offensichtlich nicht so einfach von seinem Vorhaben abbringen. Er schrieb, wenn auch nicht ungerührt, so doch wenigstens entschlossen weiter, während Schuldig selbstvergessen hinter ihm stand, sich leicht auf der Lehne von Ayas Stuhl abstützte und sein bestes tat, keine Stelle auf Ayas Hals ungeküsst zu lassen.
 

Nach einigen Minuten ließ Aya den Stift sinken und Schuldig zog ihn an seinen Schultern zu sich, bis er die begehrten Lippen erreichen konnte. Er ließ sich Zeit, platzierte kleine Küsse auf Unterlippe und Mundwinkel bis Aya den Kopf auf seine Schulter legte, eine Hand in seinen Nacken schob und den Kuss intensivierte.
 

Als sie sich nach einiger Zeit wieder voneinander lösten, griff Aya geschäftig auf den Schreibtisch und hielt Schuldig den Brief vors Gesicht. Den mehr als irritierten Ausdruck quittierte der Rotschopf mit einem spitzbübischen Lächeln, das Schuldig ihm nie zugetraut hätte.

Widerwillig nahm Schuldig das Blatt entgegen und richtete sich auf, ohne aber seine freie Hand von Ayas Schulter zu nehmen.
 

Er überflog den Brief. "... bitten höflichst...? ... hochachtungsvoll, die Erpresser?!", fragte er schließlich und sah Aya an, als zweifelte er ernsthaft an dessen Verstand.

Aya runzelte die Stirn und neigte nachdenklich den Kopf. "Na ja, vielleicht klingt es ein bisschen förmlich...", räumte er ein.

"Ein bisschen?!" Schuldigs Gesichtsausdruck wechselte von zweifelnd zu fassungslos. "Mal' doch gleich Blümchen und Häschen an den Rand. Wir sind doch hier nicht bei Disney! Das Ding können wir so nicht abschicken. Kaike weiß, dass ich dahinter stecke! Das würde mir meinen Ruf ruinieren!"
 

"Welchen Ruf?", fragte Aya leicht genervt. Okay, er hatte halt keine Erfahrung mit Erpresserbriefen, aber wer hatte ihn denn bitteschön die ganze Zeit abgelenkt? Und mal ehrlich: Ein bisschen Höflichkeit konnte doch wohl nicht schaden. Also warum regte sich Schuldig so auf?
 

"Welchen Ruf!", rief Schuldig jetzt fast beleidigt aus. "Meinen Ruf eben. Rücksichtslos, respektlos, skrupellos, unbarmherzig. Dur erinnerst dich?"

"Vage." Aya sah ihn nur mit erhobenen Augenbrauen an und schien nicht besonders beeindruckt.

Schuldig änderte die Taktik. "Stell dir vor, ich hätte euch vor zwei Jahren so einen Brief geschrieben, hättet ihr Schwarz dann noch ernst genommen?"
 

Aya zog Schuldigs Hand mit dem Brief zu sich heran und überflog den Text noch mal mit gerunzelter Stirn, dann warf er einen abschätzenden Blick auf Schuldig, dann noch einen auf den Brief. Schließlich schlich sich ein amüsierter Ausdruck auf sein Gesicht, dann zuckte er aber nur die Schultern. "Wir haben euch sowieso für wahnsinnig gehalten, so ein Brief hätte uns nicht erschüttert. - Aber gut...", er nahm Schuldig den Brief aus der Hand, um ihn wieder auf die Arbeitsfläche zu legen und darin herumzustreichen. "Wir ersetzen 'hochachtungsvoll' durch 'mit freundlichen Grüßen' und 'freuen uns, sie zur angegebenen Zeit begrüßen zu dürfen' durch 'erwarten Ihre werte Anwesenheit um' und so weiter. Wäre das in Ordnung?"
 

Schuldig sah Aya fassungslos an, während ihm ein ganz und gar abwegiger Gedanke kam. "Sag mal, verarschst du mich?"

Aya sah ihn mit einer Mischung aus engelshafter Unschuld und vollkommenem Unverständnis an, die Schuldig mit beeindruckender Geschwindigkeit von der Richtigkeit seines Verdachtes überzeugte.
 

Es klopfte und Aya stand schnell auf, um zu öffnen. Draußen stand ein junger Mann, der in die Hoteluniform gekleidet war und nun einen der auf Hochglanz polierten Speisewagen an Aya vorbei ins Zimmer schob.

Routiniert förderte er eine Tischdecke, Teller, Gläser und Besteck aus dem Inneren des Wagens zu Tage und fing an, mit präzisen Handgriffen den Tisch einzudecken.
 

Schuldig war inzwischen an den Wagen getreten und hob nacheinander die glänzenden Edelstahlglocken über den Tellern an, wobei er seine Entdeckungen telepathisch an Aya weiterleitete. ~Gebackene Ente. Lecker, das war auf jeden Fall eine gute Wahl.~
 

Aya fragte sich zwar, wo da die Wahl gewesen war, amüsierte sich aber insgeheim über das konsternierte Gesicht des Kellners, der es offensichtlich missbilligte, wenn die Gäste sich nicht an die Regeln hielten und abwarteten, bis er das Essen servierte.
 

~Hm.~, ließ sich Schuldig vernehmen, während er die zweite Glocke anhob. ~Gebratene Forelle mit... Makkaroni?... na ja, mal was anderes.~

Als nächstes hob er eine kleinere Glocke an und wich zwei Schritte zurück. "Wer hat da bitte in den Pudding gerotzt?!"
 

Der Kellner ließ vor Schreck ein Messer fallen und wandte sich mit entsetztem Gesicht zu Schuldig um. "Das tut mir furchtbar leid, es..." Er war jetzt an den Wagen getreten und sah mit gerunzelter Stirn in die Schüssel. "Das ist... Auster.", stellte er dann verwirrt fest, bevor er einen kleinen Notizblock aus der Tasche zog und las, wobei sich die Falten auf seiner Stirn noch vertieften. "42... Mousse au Chocolat... mit... 17...", er blätterte noch einmal durch das Heft und nickte dann. "Ja. 17, das sind Austern."
 

Schuldig wedelte nur unwillig mit der Hand. "Was soll das? Was ist das für ein Hotel? Warum schickt man den Gästen hier Mousse au Chocolat mit Austern?"

Der Kellner zuckte zusammen und blätterte noch hastiger durch seine Zettel. "Nun ja, es tut mir leid... aber es sieht so aus, als hätten Sie das selbst bestellt."

"Seien Sie nicht albern! Wer würde schon Mousse au Chocolat mit Austern bestellen?", fauchte Schuldig.
 

Der Kellner wollte gerade den Mund öffnen, aber Schuldig unterbrach ihn sofort. "Genau! Niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat. Die Hotelleitung sollte eventuell mal in Erwägung ziehen, einen nicht Hörbehinderten mit der Bestellungsannahme zu betrauen. Mousse au Chocolat mit Austern! Es ist nicht zu glauben! Was man sich in diesem Hotel bieten lassen muss!" Schuldig ging inzwischen wild gestikulierend im Zimmer auf und ab und mimte den Choleriker, während der Kellner zerknirscht neben dem Wagen stand und Aya an der Wand nahe dem Ausgang lehnte und die ganze Szene scheinbar desinteressiert beobachtete.
 

"Ist es denn zu viel verlangt," fuhr Schuldig in seinem Monolog fort, "ist es denn wirklich und wahrhaftig zu viel verlangt, auch nur einen denkenden Menschen in der Küche zu beschäftigen? Nur einen, dem es komisch vorkommt, Austern in eine Süßspeise zu werfen?! HimmelHerrgottnochmal", fluchte Schuldig auf deutsch und schüttelte den Kellner, der den offensichtlich verrückten Gast jetzt eindeutig entsetzt anstarrte. "Ist das zuviel verlangt?, frag ich:"
 

Der unglückliche Kellner schüttelte panisch den Kopf.

"Sehen Sie?", sagte Schuldig mit einem Anflug von Zufriedenheit, bevor er seinen Weg durch die Suite wieder aufnahm. "Es ist doch nun wirklich machbar, den Gast - der ja schließlich König ist, und ich hoffe, das ist Ihnen klar - den Gast also vor dem wirklich unappetitlichen Anblick von grauweißen, glibberigen Meeresgetieren in Schokoladendesserts zu bewahren. Wie sieht denn das aus?! Rotz - Sie müssen meine Ausdrucksweise verzeihen - ist bei diesem Anblick ja wohl noch die weitaus angenehmste Assoziation. Mousse au Chocolat mit Austern! Es verschlägt mir die Sprache!", behauptete Schuldig entgegen allen Tatsachen. "Was man sich hier bieten lassen muss! GottimHimmelnochmaldasgehtaufkeineKuhhaut! Ran, mein Schatz, was sagst denn du dazu? Ist es nicht eine Zumutung, was einem hier serviert wird? Ist es nicht furchtbar, dass man hier eine klare und durch und durch eindeutige Bestellung abgibt und dann SOWAS bekommt?"
 

Aya zog nur bezeichnend eine Augenbraue hoch. Erstens dachte er nicht im Traum daran, Schuldig die Show zu stehlen und zweitens: Schatz'?! Von dem mein' mal ganz zu schweigen. Dem Kellner, der wohl auf ein wenig Unterstützung gehofft hatte, nützte das allerdings nichts. Schuldig nickte zustimmend, als hätte Aya etwas sehr richtiges gesagt und warf die Arme in die Luft. "Sehen Sie? Auch ihm fehlen die Worte! Es ist ja auch skandalös, wie man uns hier zu vergiften versucht!", hielt er dem Kellner vor.
 

Dieser nahm seinen Mut zusammen, um die Ehre des Hotels zu verteidigen. "Von vergiften kann aber keine Rede sein, die Austern sind ganz sicher frisch.", wagte er einzuwerfen.

Schuldig erstarrte mitten in der Bewegung und kam dann sehr langsam und sehr bedrohlich auf den Kellner zu. Einen Moment starrte er ihn nur an, bevor er mühsam beherrscht fragte: "Sie verlangen doch nicht allen Ernstes, dass ich DAS", er deutete angewidert auf die Schüssel, "esse?!"
 

Dem Kellner war völlig schleierhaft, wann, wie und ob er das verlangt hatte. Aber er war inzwischen so verwirrt, dass er nur weiter in panischer Angst vor diesem Irren den Kopf schütteln und irgendwelche Entschuldigungen murmeln konnte.

"Und das soll ein Fünf-Sterne-Hotel sein, wo arme, unschuldige, nichtsahnende Gäste gezwungen werden, ihre Nachspeise mit Glibber zu essen? Wo sich die Köche mit dem Mousse au Chocolat verlustieren?! Ich bitte Sie, das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Das ist skandalös! Was glauben Sie, wird die Gewerbeaufsicht dazu sagen?! Aber das wollen wir noch sehen... Und jetzt verschwinden sie mit diesem Zeug!"
 

Schuldig drückte dem zitternden Kellner die Schüssel in die Hand und schob ihn zur Tür, die ihm Aya mit unbewegtem Gesicht aufhielt. "Und halten Sie Ihre Köche in Zukunft davon ab, in den Nachtisch zu masturbieren!", brüllte Schuldig über den Flur, woraufhin eine Gruppe von Gästen, die gerade am Aufzug wartete, erstarrte und dann mit hastigem Geschnatter ihr Entsetzen zum Ausdruck brachte. Der Kellner erbleichte, schien kurz vor einer Ohnmacht, wankte dann aber hastig davon.
 

Schuldig stapfte wütend ins Zimmer zurück und warf die Tür hinter sich zu. Er verbeugte sich formvollendet in Ayas Richtung, bevor er in Gelächter ausbrach und mit tränenden Augen an der Tür hinabsank. "Das... ist immer... wieder... komisch!", keuchte er völlig atemlos und krümmte sich vor Lachen. "Hast du... dieses...", eine neue Lachsalve erschütterte ihn, "hast du dieses...", er kam einfach nicht weiter. "Gesicht!", keuchte er.
 

Auf Ayas Gesicht zeigte sich tatsächlich ein Lächeln, während er leicht verständnislos auf den japsenden Schuldig herunterblickte. So langsam machte er sich Sorgen, dass der Telepath noch ersticken könnte.

Er sah auf Schuldig hinab, legte den Kopf schief und beobachtete ihn mit fast wissenschaftlichem Interesse.

"Du bist total irre.", stellte er dann bestimmt, aber mit freundlicher, sanfter Stimme fest. "Aber es ist doch eine ziemlich aufwändige Art, das Trinkgeld zu sparen.", fügte er dann nach einigen Sekunden hinzu, was Schuldig in erneutes Gelächter stürzte.
 

Schließlich ging Aya weg und nahm sich die Ente vom Wagen. Er setzte sich an den nicht ganz vollständig gedeckten Tisch und fing an, zu essen. Schuldig, der sich nach einigen Momenten doch wieder eingekriegt hatte und dem Erstickungstod somit entkommen war, kam herüber und nahm sich den Fisch vom Wagen und setzte sich zu Aya an den Tisch.
 

"Du machst das öfters?", fragte Aya, bevor ein Stück Ente in seinem Mund verschwand.

Schuldig nickte. "Gelegentlich. Damit konnte man Crawford immer wahnsinnig machen, du glaubst gar nicht, wie der Service darunter leidet." Er grinste. "Ah, und du kannst dir nicht vorstellen, wie genial Farf die Böser Cop'-Rolle drauf hatte. Da bin ich nichts gegen."

"Das ist kindisch und völlig albern.", stellte Aya fest.

"Nicht wahr? Und es macht Spaß." Schuldigs Grinsen wurde noch ein wenig breiter. "Aber wir können natürlich auch gern mit dem Spaß für Erwachsene weiter machen..."
 

Aya schüttelte lächelnd den Kopf. "Du bist unmöglich." Er merkte selbst, dass seinen Worten jede Schärfe abging und runzelte die Stirn. Vielleicht konnte man sich sogar an sexuelle Belästigung gewöhnen...

"Belästigung?!" Schuldig hätte sich fast an seinem Fisch verschluckt. Er blitzte Aya böse an, dieser blitzte fast ebenso beleidigt zurück, weil Schuldig mal wieder seine Gedanken kommentierte.
 

Einen Moment lieferten sie sich ein stummes Duell, dann huschte ein hinterhältiges Grinsen über Schuldigs Gesicht. Er kam zu Aya herüber, nahm ihm ohne die Miene zu verziehen den Teller ab und kniete sich dann vor den Sessel.

"Das ist schade.", meinte er, den Blick bedauernd auf Ayas Knie gesenkt. Seine Hand streichelte scheinbar gedankenverloren über Ayas Oberschenkel. "Ein Missverständnis. Du hast heute nacht so wenig belästigt gewirkt... Tut mir leid."
 

"Du versagst kläglich, wenn du versuchst, unschuldig zu wirken.", sagte Aya trocken.

Aber es amüsierte ihn. Die Stimmung war so entspannt und friedlich... liebevoll - aber er scheute sich, das Wort zu denken. Zu viele Verwicklungen, zu kompliziert. Liebe war für ihn, der alle, die er liebte, verloren oder verloren geglaubt hatte, immer mit Schmerzen verbunden.

Aber Frieden war gut. Entspannung.
 

Er ließ seine Hand durch Schuldigs Haare streichen und bemerkte erst jetzt - mit einiger Verspätung, wie er vermutete -, dass die grünen Augen ihn beobachteten. Der Blick war so durchdringend wie immer, als könnte der Andere direkt in seine Seele sehen.

Und das konnte er ja auch, wurde Aya wieder einmal bewusst, und wie immer erfüllte ihn der Gedanke mit Unbehagen und einem unangenehmen Gefühl von Unterlegenheit. Hastig wich er dem Blick aus. Er hatte zwar bemerkt, dass er Schuldig auf falsche Fährten bringen oder auch gelegentlich ganz aussperren konnte, aber das war nicht viel.
 

"Du bist besser, als du denkst.", hörte er Schuldigs leise Stimme. "Die Menschen sind sehr unterschiedlich, einige lassen sich ganz leicht manipulieren und einige sind eher wie du." Er richtete sich weiter auf und suchte wieder Ayas Blick. "Würdest du mir glauben, wenn ich dir verspreche, dich nicht zu manipulieren?"

"Jetzt im Augenblick?" Aya lächelte schief. "Im Moment würde ich dir fast alles glauben."

"Und das macht dir Angst..." Schuldig seufzte. "So misstrauisch. Und dabei hast du gestern gesagt, du vertraust mir."

"Was Geld angeht, was die Übergabe angeht... ja. Du brauchst kein Geld und du hättest nichts davon, mir zu schaden." /Aber ich hasse es, die Kontrolle zu verlieren./, setzte Aya in Gedanken hinzu.
 

"Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf. Gegen deine Persönlichkeit ist der gordische Knoten ein harmloses Wollknäuel und ich halte nicht viel von der Schwertmethode.", versuchte Schuldig die Stimmung wieder aufzulockern.

"Und was soll das bedeuten?"

Schuldig zuckte scheinbar unbesorgt die Schultern. "Dass ich mich wahrscheinlich hoffnungslos verheddert habe, ehe ich alle Fäden in der Hand halte. Aber du kannst mich ja zum Trost noch mal küssen..."
 

~*~
 

~In dem Trakt da hinten sind die Aufenthalträume für die Wachmannschaft.~ Schuldig deutete auf einen Flügel des riesigen Anwesens.

Gerade hatten sie den hohen, aber ansonsten nicht gesicherten Zaun um Kaikes Grundstück überquert. Sie waren hinter einem Haufen von Schiefersteinen in Deckung gegangen, von dem im Sommer wahrscheinlich ein kleiner Wasserfall in den davor angelegten Teich plätscherte.

Jetzt war das Wasser ausgestellt und der Teich lag in dem grauen Tageslicht wie eine trübe Bleiplatte.

~Er hat ziemlich viel Security, weil er keine Kameras mag. Die paar an den Eingängen hat gerade ein unaufmerksamer Mitarbeiter mit einer Tasse Kaffe auf dem Schaltpult lahmgelegt...~ Schuldig erlaubte sich ein schadenfrohes Grinsen.
 

Aya ließ seinen Blick schnell übers Gelände schweifen, suchte es automatisch nach möglichen Kamerastandorten und Wachleuten ab. Es war sehr groß, aber durch mehrere kleinere und größere Wasserflächen, Baumgruppen und Pavillons aufgelockert. Im Sommer musste der Garten großartig aussehen...

~Ehrlich, du hast viel zu lange in diesem Blumenladen gearbeitet.~

Aya schnaubte nur unwillig, dann huschte er zur nächsten Deckung, einem breiten rosenumrankten Torbogen.
 

Schuldig folgte den fließenden Bewegungen mit bewunderndem Blick. Eigentlich schade, dass er Aya nicht mit dem Katana erleben würde, aber das lag wahrscheinlich immer noch in dessen Wohnung.

Er sah sich noch einmal nach Wachen um und lief dann zu Aya, presste sich neben ihm in die welken Rosenblätter.
 

Einige unerfreuliche Gedanken erreichten Schuldig. ~Kaike hat gerade den Brief bekommen.~, informierte er Aya.

Die zweite, überarbeitete Version des Briefes wohlgemerkt. Wesentlich nüchterner und um etliche Floskeln ärmer. Aya war das ziemlich egal gewesen.

/Gut./, erwiderte der Rotschopf lapidar und warf Schuldig einen kurzen Blick zu, bevor er mit einer knappen Kopfbewegung auf den Seiteneingang wies. /Ist der bewacht?/

Schuldig sah konzentriert in die Richtung und nickte dann. ~Eine Wache. Das ist gut.~
 

Dicht gefolgt von Aya rannte er zur Tür hinüber und klopfte dann. Einige Augenblicke blieb alles still, dann hörte man, wie aufgeschlossen wurde. Die Tür öffnete sich und der Wachmann steckte verwundert den Kopf hinaus.

"Wer-", brachte er gerade noch heraus, bevor er ohne ersichtlichen Grund in sich zusammensank.

Aya zuckte zusammen. /Hast du ihn umgebracht?/

~Sei nicht albern, weißt du wie weh das tut? Jemanden über Telepathie zu töten ist ungefähr so praktisch, wie ihn durch die eigene Hand hindurch zu erschießen. Der hier wacht irgendwann wieder auf.~
 

/Wann?/, wollte Aya nur wissen.

~Was weiß ich... zehn, fünfzehn Stunden, er ist nicht mehr der Jüngste.~

Aya nickte und packte den Wachmann an den Schultern. /Leg irgendwas in den Türspalt und dann nimm die Füße./

Schuldig nahm dem Uniformierten kurzerhand den Schlüssel ab und ließ die Tür zufallen, dann schleppten sie ihn eilig zu einer großen, dichten Tanne mit auf den Boden reichenden Ästen und rollten ihn darunter, bis er nicht mehr zu sehen war.
 

/Und wo krieg ich jetzt so eine Uniform her?/, fragte Aya währenddessen. Eigentlich hatte er sie dem Wachmann klauen wollen, aber der war klein und dick - abgesehen davon, dass er irgendwie komisch roch.

~Du bist ganz schön zimperlich.~

/Halt die Klappe, die hätte mir sowieso nicht gepasst. Außerdem könnte man mit diesem Aftershave Insekten vernichten./, verteidigte sich Aya.

Schuldig grinste ihn an, zuckte dann aber die Schultern. ~Also noch ein kleiner Abstecher in die Umkleideräume.~
 

Er sah sich um und wartete noch einen Wachmann ab, der ein Stück entfernt über den Rasen ging und hinter dem Haus verschwand, dann rannte er wieder zur Tür, Aya dicht auf den Fersen.

Drinnen musste er sich erst orientieren, schlug dann aber ziemlich zielsicher den richtigen Weg ein. Sie hatten wohl so etwas wie den Dienstboteneingang genommen und gingen jetzt an der Küche und einigen verschlossenen Türen mit der Aufschrift "Lagerräume" vorbei. Aus einem Raum, der mit "Kontrollzentrum" beschriftet war, drang Geschrei. Irgendwas von Idioten, Kaffeetassen, teurer Elektronik und Reparaturkosten...
 

~*~
 

"Mist, was ist denn jetzt los?" Omi tippte wie wild auf seinen Laptop ein, aber das Kamerabild kam nicht wieder.

"Bombay? Stimmt irgendwas nicht?", meldete sich Ken über Funk. Das Headset knackte leise.

"Ich bin rausgeflogen.", antwortete er.
 

Sie hatten gestern den Auftrag bekommen, Kaike zu töten, ganz wie er vermutet hatte. Sie hatten es schnell geschafft, das interne Überwachungssystem anzuzapfen. Es waren ungewöhnlich wenige Kameras, sodass sie sich entschlossen hatten, vor Ort zu bleiben. Auch um bereit zu sein, sobald sich eine Gelegenheit ergab, an Kaike heranzukommen, wenn dieser sein Anwesen verließ. Omi selbst befand sich mit seiner Ausrüstung in einem Café vielleicht zwei Kilometer von Kaikes Anwesen entfernt, die anderen beiden beobachteten das Anwesen.
 

"Woran könnte es liegen?", wollte Yohji wissen.

Omi tippte weiter auf den Tasten herum, ohne dass das Bild wiederkam. "Hm. Entweder haben sie ein verdammt gutes System, um Hacker abzuwehren oder ihnen ist schlicht und einfach ihre Technik abgestürzt." Er musste einsehen, dass es nichts brachte und fuhr den Computer kurzerhand runter. "Es hat keinen Sinn, die Kameras waren sowieso nur am Eingang. Ich komm näher ran und nehme einen Beobachtungsposten am hinteren Teil des Gebäudes ein." Mit schnellen, routinierten Bewegungen packte Omi den PC in einen gepolsterten Rucksack und schnallte ihn sich um.
 

"Bei euch irgendetwas zu sehen?"

"Nichts. Aber es wimmelt nur so vor Sicherheitskräften.", meldete sich Yohji.

"Bei mir auch nichts."

Omi seufzte. Bei seiner Recherche gestern hatte er herausgefunden, dass die Anzahl der Sicherheitskräfte vor etwa einer Woche verdoppelt worden war. Gerüchten zufolge hatte es einen Überfall oder so etwas gegeben. Vielleicht hatte es etwas mit der Polizeiaktion gegen ihn zu tun, sehr viel wahrscheinlicher mit Schuldig, aber Omi hatte nichts genaueres darüber herausfinden können. Auf jeden Fall schien es Kaike erschreckt zu haben, sodass das Anwesen für einen direkten Angriff einfach zu gut gesichert war.
 

~*~
 

Die Umkleideräume fürs Personal waren schnell gefunden. Es waren mehrere, da hier offenbar alle Angestellten uniformiert waren. "Umkleide, Security" war leer, ein eher kleiner, fensterloser Raum, dessen einzige Möblierung aus grauen Spinden und einer Bank bestand.

"Leih mir mal dein Messer."

Schuldig reichte es Aya und der begann, einen Spind nach dem anderen damit aufzubrechen, bis er schließlich einen gefunden hatte, in dem eine passende Uniform hing.
 

"Hm... Ich zieh mich um und du stehst solang schmiere.", meinte Aya, während er seine Jacke auszog.

Schuldig lehnte sich gegen die Tür und grinste ihn an. "Okay."

"Willst du dazu nicht auf den Gang gehen?"

Das Grinsen wurde noch breiter. "Ich kann das auch so."

Aya murmelte noch irgendwas von Spanner, entschloss sich dann aber, Schuldig zu ignorieren, weil eine Diskussion sowieso nichts gebracht hätte.
 

Die blaugraue Uniform war doch ein bisschen zu groß, aber nicht so, dass es wirklich aufgefallen wäre. Nachdem er nirgendwo Schuhe gesehen hatte, zog er sich einfach wieder seine Stiefel an und sah dann zu Schuldig rüber.

"Ehrlich, ich mag dieses Grinsen nicht. Das sieht aus, als wolltest du mich auffressen.", beschwerte er sich stirnrunzelnd.
 

Schuldig blinzelte und warf ihm einen leicht verständnislosen Blick zu, bevor das Grinsen in etwas abgeschwächter Form wieder auf seinem Gesicht erschien. "Vernaschen, nicht auffressen. Aber ich fürchte, das muss warten. Kaike hält sich zur Zeit im Wohntrakt auf, in seinem Büro. Links den Gang runter und dann immer geradeaus. Bleib am Besten in der Nähe des Ausgangs. Bevor ich gehe, werd' ich den Sicherheitschef noch davon überzeugen, dass er dein Gesicht kennt." Er nahm eine zur Uniform passende Mütze aus einem der Spinde und setzte sie Aya auf. "Und lass die auf, damit du nicht so auffällst, ich kann nicht jedem hier einreden, dass er dich schon mal gesehen hat."
 

"Man könnte meinen, du machst dir Sorgen.", sagte Aya spöttisch, während er sich die Mütze zurechtrückte. "Wie war das mit dem unbarmherzigen, rücksichtslosen Killer?"

Schuldig sah ihn finster an und dachte über Baumpatenschaften und den Weltfrieden nach. "Hab ich dir schon gesagt, dass ich Plan B hasse?"

"Neunundzwanzig Mal allein auf der Autofahrt hierher.", meinte Aya trocken und fischte nach einem Tannenzweig, der sich in Schuldigs Haaren verfangen hatte. "Aber wir treffen uns doch spätestens morgen Abend wieder. Vielleicht früher."
 

"Du machst dir wohl gar keine Sorgen um mich?", fragte Schuldig vorwurfsvoll.

/Dir darf einfach nichts passieren!/, dachte Aya, schüttelte aber nur trotzig den Kopf und ging zur Tür. "Unkraut vergeht nicht.", sagte er und verließ den Umkleideraum.
 

~*~
 

"Siberian, kannst du den Eingang sehen?"

"Ja. Es sieht so aus, als würden die Securities das Gelände absuchen."

"Bei mir auch. Seit ungefähr einer halben Stunde. Sie ziehen sich schon wieder zurück."

"Wo bist du, Balinese?"

"Westflügel, ich kann von hier aus die Garagen sehen. Gehen wir rein?"
 

Omi zögerte. Die Wachleute wirkten alarmiert und außerdem waren es verdammt viele. "Habt ihr einen Hinweis, wo sich Kaike aufhält?"

"Nein, er kann praktisch überall im Haus sein."

Scheiße, so könnten sie nicht gezielt angreifen.

"Wir warten.", entschied Omi. Er kletterte noch ein wenig höher in dem Baum, auf dem er saß und suchte eine einigermaßen bequeme Stellung auf dem Ast.

Es dämmerte schon, vielleicht hätten sie im Dunklen eine Chance.
 

Wieder knackte es in seinem Headset.

"Und worauf warten wir?", fragte Yohjis Stimme zögernd.

Omi seufzte. "Auf eine Gelegenheit..."

Yohji antwortete nicht, aber Omi war sich ziemlich sicher, dass er mit der Antwort alles andere als zufrieden war. Wieder seufzte er. Dieser Hit verdiente den Namen eigentlich nicht. Sie waren kaum vorbereitet, hatten kaum Informationen über Kaikes Gewohnheiten und nichts, was Omi wirklich einen Plan nennen wollte.
 

Er hätte sich mehr Zeit lassen müssen. Eine Woche, oder auch zwei, das war nicht zuviel, um solch eine Aktion vorzubereiten. Und wie viel Zeit hatte er gehabt? Kaum zwei Tage.

Aber er machte sich Sorgen um Aya. Er hatte sich nicht wieder gemeldet. Ein sehr schlechtes Zeichen, wenn man bedachte, dass er es nicht nur mit Kaike sondern auch mit dem Schwarz-Telepathen zu tun hatte.

Wie leichtsinnig konnte man sein, mit so einem zusammen zu arbeiten? Der war als Feind wesentlich zuverlässiger!
 

Er unterbrach seine Gedanken und konzentrierte sich auf den Garten. Hatte er da gerade eine Bewegung gesehen? Angestrengt beobachtete er das Gelände, versuchte zwischen den diffusen Schatten einer kleinen Baumgruppe eine Gestalt auszumachen. Die dunkler werdenden Schatten der Bäume verschwammen langsam in der restlichen Umgebung, es war kaum etwas zu erkennen.
 

Da! Ein Schatten löste sich aus den Bäumen und huschte auf den Zaun zu, kletterte mit geschickten Bewegungen hastig darüber und verschwand dann kurz aus Omis Blickfeld. Also doch keine Einbildung. Wer war das? Ein Eindringling? Der Grund, warum die Wachmänner das Gelände durchsucht hatten?
 

Omi brauchte der Gestalt nicht zu folgen, denn sie kam direkt auf ihn zu. War er entdeckt worden? Schnell schob er sich noch näher an den Baumstamm.

Die Gestalt überquerte einen Weg, mehr einen Trampelpfad, der von hier durch den Wald führte. Dort war es ein wenig heller als unter den Bäumen. Omi erkannte den Mann. Schuldig.

Was machte der Schwarz hier? Offensichtlich war er allein, also wo war Aya?
 

Schuldig stockte mitten in der Bewegung und sah zu dem Anwesen zurück. Omi folgte dem Blick, konnte aber nichts Auffälliges erkennen. Er sah wieder zurück zu dem Schwarz, erwartete halb, dass dieser ihn bemerkt hatte und das Ganze nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war. Aber nein, er stand immer noch auf dem Weg und starrte hinüber. Er machte einige Schritte in die bereits eingeschlagene Richtung, dann wendete er abrupt und ging wieder zurück zum Zaun. Dort blieb er stehen und eine Weile lang passierte nichts.
 

Omi runzelte die Stirn. Was machte Schuldig da? Hatte er ihn nicht bemerkt?

Er hörte Schuldig irgendwas sagen. Vielleicht fluchte er, Omi konnte es nicht verstehen. Aber der Tritt, den Schuldig dem Zaun versetzte, bevor er sich wieder umwandte, überzeugte ihn davon, dass er richtig lag.

Der Telepath ging jetzt zielstrebig auf eine bestimmte Stelle zu, die er auch das letzte Mal schon anvisiert hatte und zog Laub und Zweige von einem Strauch, der sich jetzt als Auto zu erkennen gab.
 

Er stieg ein, startete den Motor - und tat nichts. Omi runzelte die Stirn.

Was macht der hier?, fragte er sich einmal mehr.

Der Motor ging wieder aus, Schuldig stieg aus, ein oranger Lichtpunkt leuchtete auf.

Was zur Hölle? Wollte der jetzt fahren oder hier bleiben? Konnte der nicht endlich verschwinden und auf der Fahrt eine rauchen?
 

Omi wartete angespannt, darauf gefasst, jeden Augenblick entdeckt zu werden. Aber entweder interessierte sich Schuldig nicht dafür, wer hier im Baum saß, oder er war aus irgendeinem Grund abgelenkt.

Als er aufgeraucht hatte, zögerte er noch einen Moment, bevor er endlich ins Auto stieg und sich dann schließlich langsam, mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf dem schmalen Weg zu entfernen. Der Pfad wurde offenbar nicht oft befahren, die Äste der Bäume schabten an beiden Seiten über den Lack des Wagens.
 

Omi atmete auf, als er das Motorengeräusch endlich nicht mehr hören konnte.

"Hier Bombay. Kommen!"

"Was ist los?"

"Schuldig hat das Anwesen gerade verlassen. Er fährt durch den Wald in Richtung Hauptstraße."

Einen Moment herrschte Schweigen, dann: "War Abyssinian bei ihm?"

"Nein, er war allein. Glaub mir, Balinese, ich hätte ihn erwähnt, wenn er da gewesen wäre.", antwortete Omi leicht gereizt.
 

"Soll ich versuchen, ihm zu folgen?", schaltete sich Ken ein. "Ich kann ihn wahrscheinlich einholen."

Omi biss sich auf die Unterlippe. Wer war wichtiger, Kaike oder Schuldig?

"Bleib, Kaike ist das Ziel, er hat Priorität."
 

~*~
 

Schuldig verharrte im Schatten einiger Weiden und sah sich nach Wachleuten um. Inzwischen waren sie weg, aber noch vor zehn Minuten hatte es hier nur so von ihnen gewimmelt.

Nicht zu sehen. Er rannte zum Zaun, kletterte schnell hoch und war mit einem Satz im Schatten der Bäume. Der Wald, der sich hier anschloss, war nicht sonderlich dicht, aber in dem Dämmerlicht, das inzwischen herrschte, dürfte er hier vom Haus aus nicht mehr zu sehen sein.
 

Seine Anspannung löste sich ein wenig und er ging auf den Wagen zu, den sie vorhin hier versteckt hatten. Sie hatten fast fünfzehn Minuten gebraucht, um das Aoto abzudecken. Es war zwar unwahrscheinlich, dass auch der Wald kontrolliert wurde, aber man musste ja kein unnötiges Risiko eingehen.

Warum hatten die Security das Gelände durchsucht? Er hatte vorhin nicht wirklich darüber nachdenken können, hatte vielmehr zu tun gehabt, sie sich vom Leibe zu halten, aber jetzt beunruhigte es ihn doch.
 

Natürlich gab es harmlose Gründe. Der Erpresserbrief sah nicht gerade so aus, als sei er mit der Post gekommen, die Kameras waren ausgefallen. Alles gute Gründe für Kaike, um den Wachdienst zu alarmieren. Ein noch besserer Grund wäre allerdings ein einzelner Eindringling, den man schon erwischt hatte. Kaike würde wissen, dass Schuldig noch in der Nähe sein musste.
 

Abrupt wandte Schuldig sich um und ging zurück zum Anwesen. Vorm Zaun blieb er stehen und suchte nach Ayas Gedanken. Es war schwierig, zwischen all den Wachleuten einen einzelnen Menschen zu finden. Himmel, wie viele hatte Kaike denn hier? Sicher mehr als früher. Damals, als Schuldig hier noch unbehelligt ein und aus gehen konnte, waren es nur fünfzehn, höchstens zwanzig gewesen.
 

Dann hatte er ihn plötzlich gefunden. ~Ran, geht's dir gut?~

/Was- Schu? Bist du immer noch hier? Sie haben das Gelände durchsucht. Haben sie dich gefunden? Brauchst du Hilfe?/

Schuldig lächelte. ~Man könnte meinen, du machst dir Sorgen.~, imitierte er Ayas spöttischen Ton von vorhin. ~Aber nein, ich bin draußen. Hat nur etwas länger gedauert. Und du bist nicht entdeckt worden?~

/Was glaubst du? Ich bin Profi./
 

~Friede! Ich hab nichts gesagt.~, beschwichtigte er grinsend.

/Verzieh dich endlich! Ich muss mich konzentrieren. Wenn ich hier Löcher in die Luft starre, falle ich sicher auf./

~Du hast ein Herz aus Stein.~

/Besser als ein Kopf aus Holz./

~Willst du mich los werden?~

/Erfasst. Mach dich nützlich, wir sehen uns bei der Übergabe./
 

Aya ignorierte Schuldig und richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Umgebung.

"Elender Dickschädel!", murmelte Schuldig und versetzte dem Zaun einen Tritt. Auf dem Weg zum Auto konzentrierte er sich weiter auf Ayas Gedanken. Oh Gott ja, es war albern. Und genau genommen eine gefährliche Unaufmerksamkeit, sich selbst so abzulenken, aber vielleicht dachte der Rotschopf ja doch noch irgendwas Nettes über ihn oder - ach, egal. Er wollte sich einfach nicht von ihm trennen.
 

Trotzdem befreite er jetzt den Wagen von der Tarnung.

Plan B ist scheiße, dachte Schuldig trotzig, als er den Motor anließ. Aya fragte sich gerade, ob er schon weg wäre. Das war das Einzige, was er im Zusammenhang mit Schuldig dachte, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Aufgabe.
 

Schuldig schaltete den Motor ab und stieg wieder aus. Er kramte kurz nach einer Zigarette und zündete sie sich an. Aya hatte an ihn gedacht. Ganz von alleine. Okay, nicht unbedingt romantisch, aber das hatte er ja auch nicht wirklich erwartet. Oder? Na ja, gehofft, aber nicht erwartet. Aber Ran hatte an ihn gedacht! Das zählte doch.
 

Oh Mann, kam nur ihm das so vor, oder war dieser Gedankengang tatsächlich so erbärmlich? Es wurde immer schlimmer. Er konnte sich nicht auf seinen Job konzentrieren, vernachlässigte den wichtigsten Menschen in seinem Leben - sich selbst - und nun auch noch diese grenzdebilen Gedankengänge.
 

Aber andererseits war es toll. _Aya_ war toll. Er war anmutig, faszinierend, begehrenswert. Berauschend und entspannend, hinreißend, traumhaft, wundervoll.

Umwerfend, unvergesslich, unwiderstehlich. Punkt. Wo wir gerade bei grenzdebilen Gedankengängen waren. Die Zigarette war auch noch nicht aufgeraucht.

Schuldig spielte mit dem Gedanken, jetzt einfach wieder reinzugehen, sich Aya zu schnappen und die Erpressung Erpressung sein zu lassen.
 

Wie standen die Chancen, dass Aya ihm das verzeihen und freiwillig mit ihm in ein Flugzeug steigen würde?

Schlecht... ganz schlecht, wenn er genauer darüber nachdachte. Keine gute Idee.

Schuldig warf seufzend die Kippe weg und stieg wieder ins Auto.
 

*******************************
 

Und wie die Übergabe so läuft,

wer sich in der folgenden Nacht so alles auf einer gewissen Brücke rumtreibt

und ob Aya es vielleicht doch noch schafft, seinen unerschütterlichen Pessimismus zu überwinden,

das erfahrt ihr im nächsten Teil.

Übergabe

Aya saß auf einer der Bänke, die in dem schmucklosen Laderaum des schwarzen Transporters angebracht waren. Ihm gegenüber saß der Leiter der Wachmannschaft, ein sehniger Mann unbestimmbaren Alters, der ihn vorhin mit leicht irritiertem Blick aufgefordert hatte, hier einzusteigen.
 

Im Moment wirkte er aber kein bisschen misstrauisch, wie Aya beruhigt feststellte. Er sah zwar mit über Jahren antrainierter Wachsamkeit aus dem dunkel getönten Heckfenster des Wagens, um eventuelle Verfolger frühzeitig zu bemerken, wirkte aber ansonsten entspannt. Da war auch nichts. Die Straße, die sie hinter sich ließen, tauchte schon nach wenigen Metern wieder ins Dunkel ein, ohne dass die Lichter eines anderen Wagens dieses monotone Bild zerstört hätten.
 

Auch die anderen Securities wirkten nicht angespannt. Wieso auch, dieser Auftrag war schließlich nicht gefährlich. Eine Übergabe, ein Mord, ein Exempel, mehr war das nicht. Und das Kopfgeld war nicht schlecht.

Es waren keine Schwierigkeiten zu erwarten, sie waren ja in der Überzahl. Sechs Männer hier im Wagen und zwei weitere in Kaikes Limousine, die vor ihnen fuhr. Eigentlich ein Sicherheitsrisiko, dass Kaike mitkam, aber er hatte sich nicht davon abhalten lassen. Aya hatte den begründeten Verdacht, dass Kaike persönlich etwas gegen Schuldig hatte.
 

Also acht gegen zwei, wenn Aya Kaike mitrechnete. Aber die Chancen standen gut, Schuldig und er hatten noch einige Trümpfe im Ärmel, mit denen Kaike nicht rechnete. Und sie waren beide besser ausgebildet als diese Wachleute. Im Notfall traute Aya es sich zu, auch ohne sein Katana und nur mit diesem kleinen Dienstrevolver bewaffnet, mit dreien von ihnen fertig zu werden.
 

Ohne diesen kleinen Winkelzug und die Sprengsätze würde er ihre Überlebenschancen trotzdem deutlich geringer einschätzen.

Was sollte Kaike denn davon abhalten, sie einfach über den Haufen schießen zu lassen, wenn sie so blöd wären, nicht wenigstens für Verwirrung zu sorgen?
 

Der Wagen rumpelte durch eine Reihe von Schlaglöchern, an die sich Aya von der Autofahrt heute Vormittag noch erinnern konnte - allerdings erinnerte er sich an die gefederte Polstersitzversion davon. Egal, ihm konnte es nur Recht sein, wenn Kaikes Leute schon durch die Fahrt kampfunfähig waren.
 

Jedenfalls mussten sie jetzt kurz vor der Brücke sein. Anderthalb Stunden zu früh, wahrscheinlich wollte Kaike ihnen eine Falle stellen. Nun, das würde nicht klappen - zumindest sofern Schuldig es geschafft hatte, sich loszueisen und nicht immer noch sinnlos bei Kaike Grundstück rumlungerte. Aya lächelte innerlich. Vielleicht auch äußerlich, er wusste es nicht genau, aber in dem dunklen Laderaum war das auch nicht so wichtig.
 

Er war froh gewesen, als er Schuldigs Stimme gehört hatte, erleichtert. Erst da war ihm klar geworden, dass er sich tatsächlich Sorgen gemacht hatte, während das Gelände durchsucht wurde.

Natürlich war diese Sorge völlig albern. Schuldig kannte sich auf Kaikes Grundstück einigermaßen aus und war zudem noch Telepath, ein Killer, dem nicht mal Weiß beigekommen war. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm etwas passierte, war also praktisch null. Trotzdem - er war froh gewesen.
 

Der Wagen hielt und Aya stieg zusammen mit den anderen Männern aus. Es war kalt und dunkel, nur ein Teil der Brücke schälte sich, von drei Scheinwerferpaaren erhellt aus der Finsternis und schien in der schwarzen Nacht zu schweben. Das Rauschen des Wassers erschien Aya viel lauter als heute Vormittag.
 

Dann sah er zu Schuldig herüber. Der Deutsche lehnte gegen die Fahrertür des Wagens, halb im Dunklen, und strahlte eine Arroganz und Überlegenheit aus, die jeden Gegner - Aya wusste das aus eigener Erfahrung - zur Weißglut treiben und unvorsichtig machen konnte.
 

Offenbar war auch Kaike gegen diese Wirkung nicht gefeit, denn er machte einige unbeherrschte Schritte nach vorn, was die Wachleute sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Über den Lauf seiner Waffe hinweg sah er Schuldig zornig an. "Nenn mir einen verdammten Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle abknallen sollte, du mieser, kleiner Ganove!"
 

~*~
 

"Scheiße, ist das kalt!" Hastig zog Omi seinen Fuß aus dem eiskalten, schlammigen Wasser und setzte seinen Weg am Ufer des Flusses entlang fort.

"Was zur Hölle machen die auch auf einer Brücke?", murmelte Ken.

"Und mitten im Nirgendwo.", ergänzte Yohji.
 

Nach etwas über einer Stunde, hatte es so ausgesehen, als hätte sich das Warten gelohnt. Kaike verließ seinen Wohnsitz mit relativ wenigen Bodyguards und fuhr nicht Richtung Innenstadt, was einen Hit wegen der vielen Menschen schwierig, wenn nicht gar unmöglich gemacht hätte, sondern sogar ganz aus Tokyo heraus.
 

Es war schwierig gewesen, den zwei Fahrzeugen auf den abgelegenen und wenig befahrenen Straßen unauffällig zu folgen, aber dass es schon dunkel war, war von Vorteil gewesen. Dann hatte Kaike eine Absperrung umfahren und Yohji hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet und war in großem Abstand gefolgt. Nach einiger Zeit hatten sie dann schon von Weitem die Lichter auf der Brücke gesehen und waren von der Straße abgebogen.
 

Inzwischen waren sie unter der Brücke angelangt. Das Wasserrauschen übertönte ihre Geräusche als sie geduckt die Böschung hinauf stiegen und Deckung hinter den ersten großen Brückenpfeilern nahmen.

Das nächste Auto, ein schwarzer Transportwagen, stand im Abstand von etwa zehn Metern. Insgesamt waren es drei Wagen, die auf der Brücke geparkt waren. Kaikes silberne Limousine stand wenige Schritte vor dem Transporter, in großem Abstand dahinter blendete sie der dritte Wagen mit seinen Scheinwerfern.
 

Ken deutete mit fragender Miene auf die gegenüber liegende Straßenseite, von der aus man die Szene wahrscheinlich besser überblicken konnte. Omi nickte und die drei kletterten die Böschung wieder herunter, um auf die andere Seite der Brücke zu gelangen, ohne gesehen zu werden.
 

Von hier aus konnten sie alles sehen, was sich auf der Brücke abspielte.

Das dritte Auto hatte Omi heute schon gesehen. Die gut sichtbaren Lackkratzer auf den Seiten zeugten ebenso von der Fahrt durch den Wald wie die Gestalt, die neben dem Wagen stand. Schuldig. Diese Nervensäge lief ihnen in letzter Zeit ganz klar zu oft über den Weg. Aber von Aya war nichts zu sehen. Wenn sie mit Kaike fertig währen, würden sie sich den Telepathen vorknöpfen. Und gnade ihm Gott, wenn der nicht wahnsinnig gute Nachrichten über Ayas Verbleib hatte!
 

Omi machte ein Handzeichen auf die Bodyguards, die seitlich und kurz hinter Kaike standen, und zeigte auf sich und Ken. Dann wies er Yohji Kaike zu. Die beiden nickten.

Einer der Wachleute stand etwas abseits. Nicht so, dass es auffiel, aber sein Tod würde vielleicht erst mal am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Nur einige Sekundenbruchteile, aber auf die kam es meistens an.
 

Omi visierte ihn an, das leise metallische Kratzen, das Kens Bugnukklingen beim Ausfahren machten, im Ohr. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Gestalten von Ken und Yohji leicht duckten, bereit in der nächsten Sekunde loszuschlagen.
 

Weiß griff an.
 

~*~
 

"Nenn mir einen verdammten Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle abknallen sollte, du mieser, kleiner Ganove!"

Schuldig sah seinem wütenden ehemaligen Brötchengeber direkt in die Augen. Menschlich gesehen hatte Kaike nicht viel zu bieten, aber die Art wie er seine Geschäfte machte, hatte Schuldig schon eine Art widerwilligen Respekt abverlangt. Dass er bei dieser Übergabe ein Kopfgeld aus ihn ausgesetzt hatte, zum Beispiel, war - nun ja, nicht unbedingt clever, aber es zeugte doch von Stil. Es war amüsant zu sehen, wie dieser skrupellose Verbrecher wegen ein paar kaputter Möbel und einer kleinen Erpressung so austickte. Nun ja, er hatte eben einen Hang zum Materialismus.
 

Schuldig grinste noch breiter, sich der Wirkung, die das auf Kaike haben musste, wohl bewusst. "Erstens wäre es für dich wohl eher unangenehm, wenn die Infos, die ich hier habe, an die Polizei gingen - und die werden sie bekommen, wenn ich das hier nicht überlebe! Du glaubst doch nicht wirklich, ich wäre so dumm oder lebensmüde, mich nicht abzusichern.

Und zweitens", Schuldig, dessen Gesicht während der letzten Worte ernst geworden war, erneuerte das Grinsen, "könnte ich ja schlecht dein Geld ausgeben, wenn ich tot wäre. Das wäre schon ziemlich ärgerlich für mich."
 

Einen Moment lang wirkte Kaike so, als würde er tatsächlich schießen, und Schuldig machte sich schon darauf gefasst, der Kugel auszuweichen, doch dann ließ der Yakuza knurrend die Waffe sinken. "Du wirst nicht lange Freude an dem Geld haben!", drohte er.

Schuldig stieß sich vom Wagen ab und näherte sich einige Schritte. "Oh doch, ich glaube schon.", meinte er feixend. "Und während du ab und an an mich und meine Kopie der Daten denken wirst, werde ich irgendwo in der Sonne liegen, Caipis schlürfen und keinen Gedanken mehr an den edlen Spender verschwenden."
 

"Und was sind dann meine Sicherheiten?", schnaubte Kaike.

"Du hast mein Ehrenwort.", grinste Schuldig. Kaike setzte zu einer Erwiderung an, aber Schuldig unterbrach ihn, nun ohne jede Spur von Humor. "Das wird dir reichen müssen.", fauchte er. "Ich habe keine Lust auf dieses Affentheater. Diese Scheiße hier dauert schon viel zu lange. Bis jetzt hatte ich ja viel Geduld mit dir, aber ich rate dir, dich nicht mit mir anzulegen! Rück das Geld raus, verpiss dich und zock deine Gangster ab.", zischte er gefährlich.
 

Der Ton schlug an. Kaike zögerte nur noch einen Moment, dann gab er ohne die Waffe sinken zu lassen ein Zeichen und einer der Bodyguards holte eine große, dunkelblaue Sporttasche aus der Limousine.

Misstrauisch überprüfte Schuldig den Inhalt in den Gedanken der Anwesenden. Er runzelte verärgert die Stirn. "Versuch nicht, mich zu verarschen! Ich will die rich-"

Er verstummte plötzlich. Sein Blick ruckte nach rechts, an den Autos vorbei in die Dunkelheit. Die Gedanken von Weiß, die gleiche Szene aus einer anderen Perspektive, die Verteilung der Wachleute. Einer stand etwas abseits.

"RAN, HINTER DIR!"
 

~*~
 

Die Warnung kam zu spät, um Sekundenbruchteile. Omi erkannte den Mann in der Uniform in dem Moment in dem er den Namen hörte, konnte den Dart aber nicht mehr aufhalten.

Er kämpfte das Entsetzen nieder. Es dauerte nur einen Wimpernschlag. Omi schloss die Augen, Bombay öffnete sie. "Angriff."

Weiß stürmte vor.
 

~*~
 

Aya beobachtete wie sich Kaike und Schuldig gegenüberstanden. So wie es aussah, ging alles glatt. Schuldig wirkte so selbstsicher und gefährlich als er Kaike drohte... Aya musste sich zwingen, ihn nicht anzustarren.

Er war so völlig anders. Er war so wie er früher gewesen war. Wenn Aya ihn so sah, loderte alter Hass wieder auf, schwach nur im Vergleich zu damals, aber vorhanden. Und gleichzeitig fühlte er sich von der Selbstsicherheit, der Gefahr, der unterschwelligen Bedrohung, die Schuldig auszustrahlen schien, angezogen.
 

Er war aufgewühlt, konnte sich nicht wirklich auf den Wortwechsel konzentrieren. War Schuldig noch der Gleiche wie früher? Oder hatte er sich geändert? Hatte Aya ihn zu Zeiten von Weiß verkannt, weil er der Feind war? Oder vertraute er ihm jetzt zu leichtfertig? Kannte er diesen Mann eigentlich? Glaubte er nur, ihn zu kennen? Machte Schuldig ihm etwas vor oder dem Rest der Welt?
 

Schuldigs Schrei riss ihn brutal aus seinen Gedanken. Seine Reflexe waren über Jahre trainiert und er hatte sich schon umgedreht und war verteidigungsbereit, noch ehe ihm die Worte wirklich bewusst wurden.

Er erkannte Weiß, wurde aber im selben Moment von einem schweren Gewicht von den Füßen gerissen.
 

Er schlug auf den Asphalt, einer der Securities lag auf ihm, ein vergifteter Dart ragte aus seinem Hals. Schnell schob Aya ihn weg und sprang auf die Füße.

Weiß kämpfte, aber ihre Lage war nicht gut, Schuldigs Schrei hatte die Mannschaft gewarnt und einige der Männer hatten sich hinter den Autos verbarrikadiert.
 

Schuldig stand mit leerem Blick in Richtung Aya da, dann blinzelte er und schickte Aya ein erleichtertes Lächeln. Er stand völlig ohne Deckung und in der nächsten Sekunde waren mehrere Läufe auf ihn gerichtet. Egal wer die Unbekannten waren, die da angriffen, das Kopfgeld wollte man sich nicht entgehen lassen.
 

Aya griff nach der kleinen Fernbedienung in seiner Tasche und zündete die Sprengsätze.
 

Der Effekt übertraf alle Erwartungen. Für eine Zehntelsekunde war es taghell, es knallte, Aya wurde von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert. Mehrere Schüsse lösten sich, gingen aber in der Explosion oder im darauf folgenden metallischen Kreischen der Brückenpfeiler unter. Aya schlug mit dem Hinterkopf auf die Straße auf und verlor das Bewusstsein.
 

~*~
 

Yohji erreichte Kaike als dieser gerade in seinen Wagen flüchten wollte und erdrosselte ihn. Einen Herzschlag später ließen die Explosionen die Brücke erzittern. Ohrenbetäubendes Krachen überschwemmte den Kampflärm. Instinktiv sprang er hinter das Auto, um sich zu schützen. Als er sich Augenblicke später aufrappelte, waren die meisten der Wachleute bewusstlos, einige hatten Ken und Omi schon vor der Detonation getötet.
 

Alles wirkte unnatürlich still. Der Untergrund schwankte verdächtig und Yohji bezweifelte, dass die Brücke noch lange stehen würde. Was zur Hölle war da explodiert?

Er sah sich nach Ken und Omi um. Der Jüngste hatte sich über einen der Securities gebeugt, der bewusstlos auf dem Boden lag. Yohji beeilte sich herüber zu kommen und erkannte Aya, als Omi dem Mann die Mütze abstreifte.
 

Er fragte nicht weiter nach, obwohl schon allein Ayas Aufzug einige Fragen aufwarf, und beeilte sich mit Omi zusammen ihren ehemaligen Leader von der ächzenden Brücke zu tragen.

"Was ist mit dem Schwarz?", fragte er, als sie Aya einige Meter entfernt auf dem Boden ablegten.
 

"Ich weiß nicht." Omi sah zur Brücke zurück. "Lass uns nachsehen. Vielleicht..." Er beendete den Satz nicht, wurde von dem Krachen des brechenden Stahlbetons unterbrochen. Atemlos sah er zu, wie der Mittelteil der Brücke scheinbar träge nach links wegbrach und Kaikes silberne Limousine in den Fluss rollte. Der Stahl kreischte, Wasser spritzte hoch, dann war alles still.
 

"Ich glaub nicht, dass es sicher ist, da rauf zu gehen.", kommentierte Yohji, als sie eine Weile nur schweigend dagestanden hatten. "Ich kann ihn auch nirgendwo sehen."

"Wie ist das passiert?", fragte Ken, der jetzt neben ihnen stand. Yohji zuckte nur ratlos die Schultern.

"Wow", Omi schüttelte den Kopf. "wenn man so was mal in echt sieht..."

Yohji hatte das Gefühl, der Kleine stand unter Schock. "Lass uns Aya ins Krankenhaus bringen."
 

~*~
 

Ein Pfeifen drang durch die Schwärze und weckte ihn. Konnten die das nicht ausmachen? Das hielt ja kein Mensch aus. Sein Kopf dröhnte und sein Hinterkopf fühlte sich an, als ob...

ach ja, richtig. Wie nach einem Zusammenstoß mit einer Straße. Er erinnerte sich wieder. Nicht dass es ihm dadurch in irgend einer Weise besser ging.

Das Pfeifen wurde schwächer, zu einem nervigen Piepen.
 

Neben seinem Bett saß jemand, da war er sich sicher. Woran er das gemerkt hatte, konnte er nicht genau sagen. Er drehte den Kopf, was mit neuerlichen Schmerzen verbunden war, und öffnete die Augen. Viel zu helles Licht. Keine feuerroten Haare.

"Yohji", stöhnte er. Sein Kopf fiel wieder zurück und er versuchte die Übelkeit niederzukämpfen, die bei der Bewegung aufbrandete.
 

"Enttäuschend, nicht wahr?", meinte Yohji trocken. "Gott, ich hab ja nun wirklich nicht mit Begeisterung gerechnet, aber du sagst das, als wäre es ein Verbrechen von mir, hier zu sein."

Aya ersparte sich eine Erwiderung. Dass Yohji dort saß, war zwar tatsächlich enttäuschend, aber dafür konnte er ja nichts. "Wo ist Schuldig?" Seine Stimme klang so ähnlich, wie er sich fühlte - irgendwie zerschlagen. Absolut beschissen, würde Schuldig wahrscheinlich sagen.
 

Yohji warf Aya einen halb neugierigen, halb besorgten Blick zu. "Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht mal, ob er noch auf der Brücke war, als sie einstürzte. Heute Morgen nach Sonnenaufgang waren Omi und Ken noch mal da, aber sie haben nichts gefunden, nicht ein einziges oranges Haar."
 

Aya schwieg einen Moment, fühlte sich auch nicht wirklich in der Lage zu sprechen. Die Brücke war eingestürzt? Omi und Ken hatten nach Schuldig gesucht... "Warum habt ihr -?", er brach ab und schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Vielleicht wäre ihm nicht mehr so schlecht, wenn er sich aufsetzen würde. Er machte einen Versuch, aber ihm wurde schwindlig und er wollte gerade aufgeben, als Yohji ihm half und ihm das Kissen nach oben, hinter den Rücken zog.
 

"Warum wir ihn gesucht haben? Ich weiß nicht genau. Omi hat darauf bestanden, er meinte, Schuldig hätte dir das Leben gerettet."

Sie hatten nichts gefunden. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Aya hoffte, dass es ein gutes Zeichen war. Fast hätte er aufgelacht. Es war zum verrückt werden. Eine Woche, und er konnte sich nicht vorstellen, Schuldig vielleicht nie wieder zu sehen.

Er versuchte, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren, suchte nach fremden, die er vielleicht nur überhört hatte, aber alles was geschah war, dass ihm die Kopfschmerzen deutlicher bewusst wurden. Aber abgesehen davon wurde es besser. Ihm war auch nicht mehr ganz so übel.
 

"Was ist das für ein Pfeifen?"

"Das haben wir alle.", Yohji grinste schief und tippte sich ans Ohr. "Der Arzt meinte, es geht von alleine weg. Bei Omi hat's schon vor einer knappen Stunde aufgehört. Was war das für ein Teufelszeug, das da explodiert ist?"

"BANG Incorporated, nebenbei gebastelt, nur so fürs Privatvergnügen.", meinte Aya sarkastisch.

"Ihr habt die Brücke gesprengt." Aya hatte keinen Schimmer, wie Yohji das meinte, aber diesen Hauch von Anerkennung musste er sich wohl eingebildet haben.
 

Es klopfte und Birman kam herein. "Ich sehe, er ist aufgewacht. Könnte ich kurz allein mit ihm sprechen?"

Yohji warf Aya einen fragenden Blick zu, aber der reagierte nicht. Also ging er mit einem Schulterzucken und einem Lächeln in Birmans Richtung.
 

Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, schwieg die Kritikersekretärin noch einen Moment, dann trat sie einen Schritt näher und lächelte gewinnend. "Ich weiß, du hattest gute Gründe, Kritiker zu verlassen. Aber wir verzichten ehrlich gesagt nur sehr ungern auf einen unserer besten Leute. Wir würden uns freuen, wenn du deinen Entschluss angesichts der neuen Situation noch mal überdenken würdest."
 

Aya schüttelte vorsichtig den Kopf. "Da gibt es nichts zu überdenken. Und so neu ist die Situation auch nicht." Er zögerte, wog den nächsten Satz ab. "Ich will mein Leben nicht verschwenden."

Birman sah ihn nachdenklich an. Sicher, sie war kühl, regelrecht berechnend manchmal, aber nicht ohne Verständnis. Sie setzte sich neben das Bett, auf den Stuhl, auf dem eben noch Yohji gesessen hatte. "Denkst du das wirklich? Hier kämpfst du doch für eine gute Sache. Ist das Verschwendung? Wenn du es dir richtig überlegst, dann ist das doch viel sinnvoller, als irgendwo einfach nur zu arbeiten."
 

Aya starrte sie an. Sie hatte recht, natürlich, aber es war trotzdem nicht das Richtige. Er fragte sich nur nebenbei, wie es kam, dass er dieses Gespräch schon wieder führte.

"Hier kannst du wirklich etwas bewirken. Ihr kämpft für eine bessere Welt. - Ich weiß, das klingt pathetisch, aber...", sie lächelte ein wenig hilflos, aber durch und durch ehrlich, "wir versuchen es."

"Ja..." Aya wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Sie glaubte daran. Er hatte auch daran geglaubt, tat es vielleicht noch immer. "Aber ich kann das nicht. Für irgendwelche Menschen kämpfen... leben... Für Aya, ja. Das hat Sinn gemacht. Aber jetzt? Ich will nicht...", er stockte, beendete den Satz nicht. "Für wen soll ich denn kämpfen? Für irgendwelche Fremden? Hab ich denn nicht genug getan?"
 

Birman schüttelte nur traurig den Kopf. "Weißt du, es ist nie genug. Es gibt immer Ungerechtigkeiten und Menschen, die Hilfe brauchen. Eben deswegen -"

"Und ihr verlangt von mir, dass ich mein Leben für diese Menschen opfere, die ich überhaupt nicht kenne? Ist das nicht ungerecht? Ich bin euch oder der Gesellschaft nichts schuldig! Niemandem bin ich irgendetwas schuldig! Ich habe jahrelang für die Gerechtigkeit gekämpft und alles, was ich geworden bin, ist ein Mörder." Er lachte bitter auf. "Ist das mein Verbrechen? Soll ich diese Schuld abtragen, indem ich für euch kämpfe? Soll ich noch mehr Morde begehen? Ist das die Strafe? Soll ich mich von diesen Sünden mit Blut reinwaschen?!" Er wusste, dass er hysterisch klang. Gott, dieses ganze beschissene Leben machte ihn verrückt.
 

"Beruhige dich, niemand will dich bestrafen. Aber was willst du machen?"

"Ich will..." Ayas Blick wurde unsicher, senkte sich auf die Decke. "Ich will einfach nur für mich leben.", meinte er dann resigniert. "Ganz egoistisch und selbstgerecht. Einfach nur für mich. Ich weiß, das ist wenig gegen die Unschuldigen, Wertvollen. Und ich bin schließlich nur ein Mörder. Und dazu noch ein dummer, selbstsüchtiger, der vom Teufel seine Seele zurückverlangt."
 

"Himmel, Ran! Was geht nur in dir vor?" Sie wirkte ratlos und leicht mitleidig. "Ich sagte, wir sehen es nicht gern, wenn du gehst, aber es steht dir frei. Gott, du hast keine Vorstellung, was mich das bei Kritiker kostet, aber ich finde, du hast das Recht, zu leben wie du willst. Das einzige Problem, dass ich dabei sehe, bist du selbst. Du selbst bist doch derjenige, der dir Vorwürfe macht. Du bist der einzige, der von Bestrafung spricht. Du hast doch eine Zeit lang für dich gelebt, oder? Und warst du glücklich? Oder zumindest glücklicher, als bei Weiß? Ich will nicht abstreiten, dass es mir hauptsächlich um Kritikers Belange geht, aber es war auch nie meine Absicht, dir zu schaden."
 

Beide schwiegen. Es gab auch nichts mehr zu sagen. Aya wusste nicht, was er denken sollte. Er war sich so sicher gewesen, dass er nicht mehr für Weiß arbeiten wollte, und jetzt hatte Birman mit ihren wenigen Worten all seine Entscheidungen wieder in Frage gestellt. Diese Frau wusste verdammt gut, was umgekehrte Psychologie war. Aber sie hatte ja Recht, er war nicht glücklich gewesen.

"Ich muss darüber nachdenken.", sagte er müde.

"Es ist deine Entscheidung." Sie erhob sich und ging zur Tür. Sie sah noch mal zurück und lächelte. "Es ist jedenfalls schön, dass es dir gut geht. Ich hatte mir Sorgen gemacht, und Weiß auch."
 

~*~
 

Aya saß in seinem Bett und starrte die Wand gegenüber an. Es ging ihm besser. Wenn er still hielt, waren die Kopfschmerzen kaum vorhanden und auch das Piepen hatte nachgelassen. Zwei Gehirnerschütterungen in zwei Tagen. Er wollte gar nicht darüber nachdenken... aber gegen diese hier war die letzte nett gewesen. Von der hatte er ja kaum was gemerkt.
 

Seine Gedanken trieben zu Schuldig, aber er wollte jetzt nicht daran zweifeln, dass der Deutsche noch lebte. Er wollte sich keine Sorgen machen. Natürlich lebte Schuldig. Er würde ihn heute Abend treffen, auf dem Flughafen, ganz wie verabredet.
 

Aber was dann?

Es war nicht so, dass er Zweifel hatte, was ihn und Schuldig betraf. Er glaubte schlicht und einfach nicht, dass es gut gehen konnte. Die Frage war nur, ob er es trotzdem versuchen sollte.

Gestern war er sich noch sicher gewesen, dass er das wollte. Heute war irgendwie wieder alles unklar und schwierig.

War es nicht unfair mit so einer negativen Einstellung an eine Beziehung heranzugehen?
 

Ach, Scheiße. Wenn er ein hervorstechendes Talent hatte, dann war es ja wohl, die Dinge den Bach runter gehen zu lassen, sie - sehr sorgfältig, sehr wirkungsvoll und sehr endgültig - in den Sand zu setzen. So lief sein Leben nun mal. Und wenn es zwischendurch mal so aussah, als wenn nicht alles in einer kompletten Katastrophe enden würde, war er mit hundertprozentiger Sicherheit derjenige, der die Brücke in die Luft jagte. Soviel zum Thema Prognosen.
 

Sich mit Schuldig einzulassen war, von der Seite betrachtet, nur ein Beweis mehr für seine selbstzerstörerischen Tendenzen. Wie krank musste man eigentlich sein, um eine Beziehung anzufangen mit jemandem, den man noch vor nicht allzu langer Zeit mit einem Lächeln auf den Lippen getötet hätte? Andersrum, okay das kam vor, aber die Reihenfolge war bedenklich.
 

Schuldig war immer noch Schwarz, genau so, wie er wohl Weiß bleiben würde - egal ob er tatsächlich zurück ging oder nicht. Letzte Woche hatte er es vielleicht irgendwie vergessen, aber gestern Nacht auf der Brücke, war es wieder klar gewesen. Schuldig war anders gewesen. Er selbst vielleicht auch. Ganz anders als in der letzten Woche.
 

Und dann hatte er ihm das Leben gerettet. Und er hatte gelächelt. Aya konnte es vor seinem geistigen Auge sehen. Aber er hielt es nicht lange aus und öffnete die Augen wieder, starrte lieber die leere Wand seines alten Zimmers an. Er wollte sich keine Sorgen machen.
 

Ein erneutes Klopfen an der Tür riss Aya aus seinen Gedanken. Yohji kam wieder herein. Er hatte Tee mitgebracht. Aya war dankbar für die Ablenkung.

"Wie geht's dir?"

"Besser."

Yohji nickte nicht mal. Er hatte keine andere Antwort von Aya erwartet. Dass er überhaupt eine gab, zeugte schon von guter Laune und Gesprächigkeit - falls man solche Begriffe bei Aya anwenden wollte. "War Birman nett zu dir? Ich hab ihr gesagt, sie soll nett sein."

Aya reagierte nicht, nahm nur eine Tasse und trank. "Was ist mit Ken und Omi?", fragte er dann.
 

"Was soll mit ihnen sein?"

"Warum waren sie noch nicht hier?"

"Ach so", Yohji grinste. "Der Arzt hat gesagt, dass du Ruhe brauchst. Sie halten sich dran."

"So? Und was ist mit dir?"; fragte Aya.

"Du wirst es schon überleben.", meinte Yohji trocken. "Aber ich bin unheilbar neugierig. Was ist das mit dir und Schuldig?"
 

War ja klar gewesen. Ging's nicht noch direkter? Aya seufzte. "Keine Ahnung.", sagte er ausweichend.

Yohji sah ihn völlig verblüfft an. " 'Keine Ahnung'? Das kann ich ja schon fast als Geständnis werten. Was ist mit 'Das geht dich nichts an.' und 'Das ist meine Sache.'?"

Ach ja, richtig. Bei Yohji funktionierte das ja. Nach einer Woche Schuldig hatte Aya die Taktik fast aufgegeben. "Es geht dich tatsächlich nichts an.", antwortete er.
 

"Wirst du zurückkommen?" Aya war sich nicht sicher, was Yohji meinte. Aber eigentlich konnte er nur Weiß meinen, oder?

"Ich weiß es nicht."

"Hm."

Sie schwiegen und tranken Tee und Aya dachte, dass man Yohji eigentlich ertragen konnte, auch wenn er unsäglich neugierig und distanzlos sein konnte. Vielleicht schnitt er auch nur im Vergleich zu Schuldig gut ab...
 

"Glaubst du, dass sich Menschen ändern können?", fragte Aya zu seiner eigenen Überraschung.

"Was meinst du? So wie schöne Frauen, die Jahre nach ihrem Tod auftauchen und versuchen, dich umzubringen?"

"Zum Guten."

Yohji lächelte. "So wie menschliche Eisblöcke, die dir auf einmal aus heiterem Himmel philosophische Fragen Stellen?"
 

Aya schnaubte genervt. "Du bist mir keine Hilfe."

"Das liegt nur daran, dass du keine klare Frage gestellt hast.", grinste Yohji. "Ich nehme an, es geht um Schwarz-Telepathen."

"Du nervst!", zischte Aya und strich alle Gedanken Yohji und seine Erträglichkeit betreffend. Er war wirklich nahe daran, ihn einfach wieder rauszuschmeißen.

"Okay okay, alles rein hypothetisch." Yohji hob spöttisch beruhigend die Hände. Dann zuckte er die Schultern. "Was weiß ich. Menschen ändern sich, Umstände ändern sich, die Menschen, die die Menschen bewerten ändern sich... Maßstäbe andern sich..."
 

Aya ließ sich zurücksinken. Na toll. Und was sollte das jetzt heißen?

"Wann wollt ihr euch treffen?"

Aya sah Yohji verwirrt an.

"Treffen. Du. Die hypothetische Person.", half Yohji nach.

Ayas Gesicht versteinerte wieder. "Wie kommst du darauf?", fragte er abweisend.
 

Yohji seufzte. "Ehrlich, du bist ein begnadeter Lügner. Aber alle Indizien sprechen gegen dich."

Aya zog nur zweifelnd die Augenbrauen hoch. Was sollten das denn bitte für Indizien sein? Er kannte Yohjis Taktiken. Diese hier war pures Raten und ein wenig Bluffen.

"Na schön. Du hast recht. Aber falls du meinen Rat hören willst - schon klar, sag nichts. Ich weiß, dass du ihn nicht hören willst, aber ich werd ihn dir trotzdem geben. - falls du ihn also hören willst: Du solltest ihn wirklich treffen."
 

Aya schwieg. Er war sich sicher, dass Yohji auch weiterreden würde, ohne dass er Interesse zeigte.

"Weißt du, letztendlich ist es doch immer so, dass man nur die Dinge wirklich bereut, die man nicht gemacht hat... obwohl, warte mal, das stimmt nicht wirklich, man kann auch anderes bereuen... - na ja egal. Die Sachen, die man nicht gemacht hat, sind jedenfalls diejenigen, die einen wirklich wahnsinnig machen können, weil man sich immer vorstellt, wie es hätte sein können und man neigt ja zugegebenermaßen zur Idealisierung - jedenfalls kann einen das total fertig machen...Verstehst du?"
 

"Erstaunlicherweise ja.", antwortete Aya trocken. "War's das?"

"Unter anderem." Yohji winkte lächelnd ab. "Ich wollte dir eigentlich nur noch sagen, dass Weiß und das Märtyrerdasein dir ja nicht weglaufen... Und wenn schon mal ein Wunder passiert und Ran Fujimiya jemanden an sich heran lässt, dann..." Yohji runzelte die Stirn und starrte Aya an. "... so gesehen ist das wirklich unglaublich."
 

"Keine Ahnung, was du glaubst, Kudou.", brummte Aya genervt. Er bezweifelt ernsthaft, dass dieses Gespräch noch zu irgendwas führen würde. "Bring mir ein Telefon und dann verschwinde!"

Yohji nickte mit einem schadenfrohen Grinsen, verschwand und tauchte wenig später mit dem Telefon wieder auf. "Wen wollen wir denn anrufen?"

"Wir", antwortete Aya nachdrücklich, "rufen niemanden an. Du gehst, ich telefoniere."

Yohji brummte, schlurfte dann nach einigem Zögern doch noch aus dem Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
 

****************
 

Und wie es Schuldig ergangen ist,

ob Aya es schafft, die bösen Stimmen in seinem Kopf zu ignorieren

und wie das Ganze dann ausgeht,

das erfahrt ihr im nächsten und letzten Teil.

Symbiose

Was war nur mit der Welt los? Wie konnte denn ein einziger simpler Plan so nach hinten losgehen? Richtig, es hatte Gründe, warum Schwarz nie Erzeugnisse der BANG Inc. benutzt hatte... Warum fiel ihm das eigentlich erst jetzt wieder ein?
 

Scheiße, das war es doch! Er war klitschnass und fror erbärmlich. Ein Zustand, der Schuldig verdammt bekannt vorkam. Nur, dass es vor einer knappen Woche noch nicht ganz so kalt gewesen war. Schön, diesmal tat ihm nichts Bestimmtes weh - eher sein ganzer Körper. Er hatte es so satt! Irgendwas lief doch wohl extrem falsch in seinem Leben.

Beschissener Fluss, diese verdammte Jaucherinne... So langsam fing Schuldig an, Wasser zu hassen.
 

Er schulterte die Sporttasche, die er aus der abgesoffenen Limo gezogen hatte. Die richtige Tasche. Toll, fünf Millionen und er lief hier nass durch die Stadt.

Oh Gott, er musste wahrscheinlich schon froh sein, dass er wieder in Tokyo war! Er hatte ja schon lange den Verdacht, dass ihn irgendjemand da oben hasste, aber als Kaikes schwarzer Lieferwagen, den er mit Mühe und Not von den Resten der Brücke bekommen hatte, kurz vor Tokyo liegengeblieben war, war er sich ganz sicher gewesen, dass Farf mit seiner Meinung von Gott verdammt richtig lag. Kein Benzin mehr. Schuldig hätte denjenigen, der da vergessen hatte zu tanken, liebend gern eigenhändig erwürgt.
 

Es musste jetzt drei, vielleicht vier sein, aber es waren immer noch Leute auf der Straße. Leute die ihn komisch ansahen. Er hasste sie alle. Die gehörten bestimmt auch zu denen, die ihr Auto nie voll tankten. Die Welt war schlecht.

Als er endlich in dem Hotel ankam, versuchte der Page auch noch aufzumucken. Was war das denn für ein versnobtes Hotel, wo man nicht mehr eingelassen wurde, nur weil man mal in schlammigen Industrieabwässern gebadet hatte?
 

Wenn er nicht so müde gewesen wäre, hätte er sich noch Zeit genommen, diesem Bengel Schmerzen zuzufügen. Aber so wie es aussah, konnte er wegen dem Zähneklappern kaum sprechen und gar nicht so schnell zittern, wie er fror. Also bestach er diese weitere Strafe Gottes nur mit einer Banknote aus der Tasche und konnte dann ungehindert hinein.
 

Dann war er endlich im Zimmer. Es war aufgeräumt worden. Das Bett war gemacht, es standen frische Blumen auf einem der Beistelltischchen und die Einkaufstüten waren wieder in Reih und Glied aufgestellt worden.

Schuldig hasste es.

Er warf die schlammige triefnasse Tasche in hohem Bogen auf die hell beige Couch und sah mit einer gewissen Befriedigung zu, wie ein Schwall des braunen Wassers auch noch den Sessel traf und sich die Polster mit der Brühe voll sogen.
 

Als er in Richtung Bad schlurfte, fiel sein Blick auf seine Füße. Das schmutzige Wasser tropfte an ihm herunter auf den hellen Hotelteppich.

Er musste an Ran denken. Sein Welthass bekam Risse.

Ran war nicht mehr da gewesen, als er endlich wieder auf der Brücke gestanden hatte. Er konnte ihn nicht erreichen, war aber auch viel zu fertig, um es gezielter zu versuchen. Nein, Ran war weg gewesen, und er konnte nur hoffen, dass es ihm gut ging. Aber wäre er dann nicht noch da gewesen? Hätte er dann nicht nach ihm gesucht?
 

Ach Scheiße, wahrscheinlich hatten diese bekloppten Weiß ihn mitgenommen und waren dann einfach abgehauen. War ja in Ordnung, er konnte ja sehen, wie er zurück nach Tokyo kam - mit einem Auto, das nur zu Weihnachten betankt wurde.

Ran hätte das sicher nicht zugelassen. Irgendwie hatte Schuldig gehofft, dass er hier wäre - aus welchem Grund auch immer... er wusste selbst, dass das verdammt unwahrscheinlich war.
 

Er gab dem schönen antiken Sekretär im Vorbeigehen einen Tritt. Es wäre bestimmt beruhigend gewesen, ein paar Möbel zu zerschlagen, aber erst mal musste er aufhören zu zittern. Also ging er ins Bad und stellte sich so lange unter das warme Wasser der Dusche, bis er seine Finger wieder spürte und er gewillt war, Wasser nicht mehr allgemein als seinen persönlichen Feind zu sehen. Kaltes Wasser aber schon. Damit wollte er nichts mehr zu tun haben.
 

Nach einer großzügigen Portion Shampoo roch sein Haar auch nicht mehr nach diesem seltsamen Flusswasser. Er drehte den Regler noch ein bisschen höher und ließ sich das fast schon heiße Wasser auf den Kopf pladdern. Dann wurde ihm bewusst, wie müde er war, und er beschloss, dass die Hotelmöbel noch einmal Glück gehabt hatten. Er wollte nur noch schlafen.

Er hätte gern ein, zwei Kopfschmerztabletten gehabt, wahlweise auch eine von den netten Antidepressiva, die er samt seiner anderen Sachen in Ayas Haus zurückgelassen hatte. Ihm wären auch Placebos recht gewesen, Medikamente hatten immer so eine beruhigende Wirkung.
 

Er stellte das Wasser ab, wrang seine Haare aus, um nicht allzu sehr zu tropfen und trocknete sich dann nachlässig ab, bevor er aus dem Bad wankte und ins Bett fiel. Es roch nach Pfirsichblüte. Sie hatten es frisch bezogen. Er hasste dieses Hotel.

Aber in einigen Stunden würde er Ran wiedersehen. Das war gut. Er zog sich die Decke über den Kopf, weil das Licht im Zimmer immer noch brannte, und schlief ein.
 

~*~
 

Aya wählte eine Nummer und hörte das Tuten in der Leitung, das scheinbar gar kein Ende nehmen wollte. Ein Knacken machte sich bemerkbar, gerade als ihm einfiel, dass es ja noch früher Vormittag war und bei Aya-chan somit mitten in der Nacht. Eine verschlafene Stimme meldete sich mit einem undefinierbaren Laut.
 

"Aya? Bist du's?"

"Ran?" Ein unterdrücktes Gähnen. "Schön, dass du anrufst. Ich hab mir schon Sorgen gemacht."

"Hm, ja. Entschuldige, mir ist eben erst eingefallen, wie früh es ist. Ich ruf dich besser später noch mal an.", sagte er zerknirscht, weil er sie geweckt hatte.

"Nein, nein, ist schon gut. Wehe, du legst auf."

"Na ja, aber..."
 

"Nichts aber." Sie klang immer noch müde, schien aber langsam wirklich wach zu werden. "Du kannst mich nicht einfach um drei aus dem Bett klingeln und dann erwarten, dass ich neugierig wieder schlafen gehe. Außerdem hab ich ja wohl für mein Leben genug geschlafen, also sag mir lieber, was los ist. Ich hab vorgestern versucht, dich anzurufen, aber ich bin nicht durchgekommen. Stimmt irgendwas mit deinem Telefon nicht?"

"Es ist kaputt.", sagte er ohne jede Ironie, entschied sich dann aber für die Wahrheit. "Das Haus auch."
 

"Wie ist denn das passiert?", fragte sie erschrocken nach.

"Ein Unfall.", erwiderte er ausweichend. Jetzt, wo er mit ihr sprach, wusste er gar nicht, ob er ihr überhaupt von dem Ganzen erzählen sollte und wenn doch, wo er anfangen sollte.

"Ich glaub dir kein Wort. Hat es irgendwas mit Weiß zu tun? Du willst dich doch nicht wieder in so etwas verwickeln lassen?" Sie klang ernst und besorgt.
 

"Nein.", sagte er wahrheitsgetreu. Irgendwie musste aber doch noch etwas in seiner Stimme mitgeschwungen haben, denn Aya wurde hellhörig.

"Aber?" So war es immer gewesen. Sie hatte ein fast schon unheimliches Gespür dafür, wann er versuchte, ihr etwas zu verschweigen. "Nun rück schon damit raus, was dich so erschüttert hat, dass du vergisst, wie spät es ist und hier mitten in der Nacht anrufst.", drängte sie ihn. "Es hat nicht zufällig etwas mit Schuldig zu tun?"
 

Aya blinzelte überrascht. Dann fiel ihm ihr letztes Gespräch wieder ein und dass er ihr ja versprochen hatte, ihr zu erklären, warum Schuldig bei ihm wohnte - gewohnt hatte besser. "Hast du Zeit?", wollte er wissen.

"Ja, klar, heute ist doch Sonntag und um diese Urzeit mach ich mir nie Termine. Also fang schon an. Du klingst, als hättest du eine ziemlich anstrengende Woche gehabt."
 

Aya lächelte etwas schief und begann, ihr von Montag an zu erzählen, wobei er viel ausließ und immer wieder von seiner Schwester ermahnt wurde, sich nicht alles aus der Nase ziehen zu lassen. Er fragte sich oft, ob es richtig gewesen war, ihr nachdem sie aufgewacht war, die Wahrheit über sich zu sagen. Wahrscheinlich war es das nicht, vielleicht hätte er sie gar nicht wiedersehen sollen, aber es war anders gekommen.
 

"Ran, du weißt wirklich, wie man sich das Leben schwer macht.", seufzte sie, als er fertig war. "Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht so genau, was du jetzt von mir hören willst."

"Ich weiß auch nicht.", meinte Ran nach einer Weile. "Es ist kompliziert..."

Aya schnaubte nur missbilligend. "Nichts ist kompliziert. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Hör auf zu denken. Das führt bei dir immer nur zu einem großen schwarzen Wirrwarr. Das Wichtigste ist, dass du glücklich bist. Und Weiß mag gut für die Welt sein, aber für dich sicher nicht. Schuldig ist gut für dich. Okay, er macht dich wahnsinnig, aber du klingst glücklicher, wenn du dich über ihn beschwerst."
 

Ran schwieg einen Moment und nickte dann, obwohl Aya das natürlich nicht sehen konnte. "Ich mache mir Sorgen um ihn.", sagte er zusammenhangslos. Er war selbst überrascht, irgendwie hatte er einfach gesprochen, ohne nachzudenken.

Aya seufzte leicht. "Kann ich verstehen... aber du kannst nichts tun, oder?"

"Ich hasse das.", meinte er düster.

"Was? Nichts tun zu können?"

"Auch. Aber vor allem nervt es mich, dass ich mir Sorgen um ihn mache."
 

Aya-chan lachte nur. "Echt, du bist so gefühlsgestört, Brüderchen. - Aber du kriegst das hin.", sagte sie dann ernster. "Ich geh jetzt noch ein paar Stunden schlafen. Viel Glück."

"Nacht.", sagte Ran noch in das Tuten der Leitung, bevor er auflegte. Du kriegst das schon hin? Viel Glück? Was sollte er denn damit anfangen? Er konnte sich nicht helfen, irgendwie fühlte er sich verraten. Was hatte er sich von diesem Gespräch eigentlich versprochen?
 

~*~
 

Schuldig langweilte sich. Das war nie gut. Langeweile war etwas, womit er überhaupt nicht klar kam. Und in diesem Hotelzimmer gab es schlicht und einfach nichts zu tun. Er steckte sich eine neue Zigarette an und legte eine weitere Reihe Geldscheine auf den Teppich. Die Dinger waren in der Tasche zusammengepappt und er hatte sie erst mal in der Wanne einweichen müssen. Außerdem: Wer sagte, dass Geld nicht stinkt, hatte wahrscheinlich noch nie fünf Millionen aus einem schlammigen Fluss gezogen.
 

Es war zumindest eine schön geisttötende Beschäftigung. Und irgendwie musste er sich ja beschäftigen. Es könnte immerhin sein, dass Ran herkam. Und wenn nicht, hatte er immer noch zwei Stunden, bis er am Flughafen sein musste. Zwei endlose Stunden. Voll mit grünen Präsidenten.
 

Irgendwie machte Kettenrauchen auch nur halb soviel Spaß, wenn sich niemand darüber aufregte. Er hatte versucht, ihn mental zu erreichen, aber jemanden im Gewimmel der tokyoer Gedanken zu finden, war beinahe unmöglich und außerdem konnte er sich nicht richtig konzentrieren. Das lag wahrscheinlich vor allem an seinem brummenden Kopf und dem Niesen. Er hatte nicht unbedingt das, was man als eiserne Gesundheit bezeichnete und kilometerweit nass durch die Kälte laufen, war sowieso nie eine gute Idee.
 

Die Reihe war fertig und er holte sich eine neue handvoll Scheine aus der Wanne. Er war fast fertig mit Geld waschen... Und was sollte er dann machen? Packen brauchte er nicht. Fast alle Sachen waren noch in den Tüten. Hm, vielleicht sollte er doch einen Koffer kaufen... gab es so was auf Flughäfen?
 

Als er fertig war und der größte Teil des Zimmers mit grünen Scheinen ausgelegt war, bestellte er sich eine Pizza. Ihm war irgendwie nicht nach Kellnerärgern. Allein machte das keinen Spaß. Musik hören wäre nicht schlecht gewesen, aber er hatte nichts hier. Vielleicht sollte er doch noch mal in seine Wohnung fahren, um ein paar Sachen zu holen.
 

Andererseits hatte er das dumpfe Gefühl, dass Kaikes Leute nicht so ganz glücklich über den Ausgang der letzten Nacht waren und möglicherweise dort auf ihn warteten. Und er fühlte sich gerade wirklich nicht danach, sich mit so was auseinander zu setzen.
 

Drei Zigaretten später kam die Pizza Er aß sie nur halb, ein sicheres Zeichen, dass er krank war. Nach dieser Feststellung lauschte er noch eine Weile in sich hinein und fühlte sich gleich noch ein wenig schlechter. Er schlug also noch ein bisschen Zeit tot, indem er sich selbst bemitleidete, aber das wurde ihm schnell zu albern und er beschloss, jetzt gleich zum Flughafen zu fahren und sammelte das Geld ein.
 

~*~
 

Aya hatte nichts zu tun. Und er hasste es.

Er hatte Yohji und dessen mehr oder weniger dezente Hinweise auf ärztliche Ratschläge von wegen ruhig liegen bleiben sowie seine Kopfschmerzen ignoriert und war aufgestanden. Stundenlang sinnlos im Bett herumzuliegen war definitiv nichts, wozu man ihn gewaltlos bringen konnte, solange er bei vollem Bewusstsein war.
 

Daran hatte sich dann auch Yohji erinnert und es einfach aufgegeben. Aya war einfach der Alptraumpatient und Yohji fühlte sich auch nicht gerade zur Krankenschwester geboren, sodass er Aya nur zwei Aspirin gegeben hatte, die dieser eher widerwillig als dankbar annahm.
 

Jetzt saß Aya im Blumenladen, sah Yohji, Ken und Omi dabei zu, wie sie arbeiteten, sah den Mädchen zu, wie sie überall herumstanden und quatschten und kicherten. Omi war größer geworden, ansonsten hatten sie sich aber kaum verändert. Sie hatten sich gefreut, als er heruntergekommen war, hatten ihn begrüßt und versucht, ihn wieder ins Bett zu schicken.
 

Irgendwie hatte er das vermisst. Er hatte die drei vermisst, die jahrelang seine Familie gewesen waren und irgendwie auch die Arbeit in dem Blumenladen, selbst wenn ihm die trügerisch entspannte Atmosphäre oft auf die Nerven gegangen war. Und vielleicht hatte er sogar die unvermeidlichen Mädchen vermisst, die ja fast schon zum Inventar gehörten. Vielleicht.
 

Er schnaubte unwillig. Was war das für eine seltsame Abschiedsstimmung? Deshalb hasste er es, wenn er nichts zu tun hatte: Er wurde sentimental und es gab nichts, was er dagegen tun könnte. Er hatte nichts zu packen. Die Sachen, die er anhatte, hatten die anderen ihm gegeben. Hier im Laden war auch nichts zu tun. Aber er musste sowieso bald los.
 

Vor einer Stunde hatte er sich nach langem Zögern dazu durchgerungen, im Hotel anzurufen. Am anderen Ende der Leitung hatte man mit Auskünften gegeizt, aber so wie es aussah, war Schuldig da gewesen und ausgezogen. Ran war so erleichtert über dieses Lebenszeichen gewesen, dass er sich entschlossen hatte, seine Zweifel Zweifel sein zu lassen und es zu versuchen.
 

Er wollte ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber da war doch irgendwas... Liebe vielleicht... oder so was in der Art...
 

Trotzdem saß er jetzt hier und zögerte seinen Aufbruch hinaus. Ein Entschluss war schnell gefasst, aber auch danach zu handeln, konnte mitunter kraftraubend sein.

Warum fiel ihm das so schwer? Er verstand sich selbst nicht. Aber je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er wieder, und schließlich lenkte er sich wieder ab, indem er die Leute im Laden beobachtete.
 

Er hatte sich gerade entschlossen, jetzt endlich zum Flughafen zu fahren, da wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich auf drei Männer gelenkt, die den Blumenladen betraten. Sie hoben sich von der gewohnten Kundschaft so stark ab, dass man sie automatisch bemerkte. Sie trugen schwarze Anzüge, unter deren Jacketts schwarze Hemden und schwarze Krawatten nicht wirklich einen abwechslungsreichen Kontrast bildeten.
 

Als sie den Laden betreten hatten, hatten sie mit einer wie jahrelang einstudiert wirkenden, routinierten Bewegung synchron die Hüte abgenommen. Es schien ihnen nicht besonders viel auszumachen, dass jeder im Raum sie irritiert anstarrte. Wahrscheinlich waren sie der festen Überzeugung, Eindruck zu machen, allerdings wirkten sie eher lächerlich.
 

Aya beobachtete, wie auch die anderen die Neuankömmlinge mit misstrauischen Blicken beobachteten. Einer von ihnen wandte sich an Ken und schien ihn etwas zu fragen, der daraufhin in Ayas Richtung zeigte. Der Anführer der drei Schwarzgekleideten schaute kurz zu ihm hinüber, dann nickte er Ken knapp zu und kam auf ihn zu, die anderen zwei im Schlepptau.
 

"Sind Sie Fujimiya Ran?", fragte er in bester Hollywood-Manier.

Aya nickte nur irritiert. Er fragte sich am Rande, was das für Figuren waren und was sie von ihm wollen könnten.

Es klärte sich auf, als einer von ihnen ihm eine Visitenkarte hinhielt. Aya lehnte sich leicht vor und warf einen Blick darauf. Irgendwas Insurance. Die Leute waren also von seiner Versicherung. Oh.
 

Er hatte weder Lust noch Zeit, sich jetzt mit Versicherungsdetektiven herumzuschlagen, aber diese ließen ihm da keine Wahl und begannen, ihm irgendwas von verdächtigen Umständen in Zusammenhang mit den Schäden an seinem Haus zu erzählen. Es würde sich ganz klar um Brandstiftung handeln und die Tatsache, dass er nicht mehr da gewesen wäre und es versäumt hatte, sich mit der Polizei und seiner Versicherung in Kontakt zu setzen...
 

Aya versuchte, eine plausible und unverdächtige Erklärung dafür zu finden, dass er nach dem 'Unfall' einfach verschwunden war, aber ihm fiel nichts ein und so ließ er den Typen in schwarz einfach weiterreden. Oder wäre es wirklich schlau, seine Abwesenheit damit zu entschuldigen, dass er hatte fliehen müssen, weil sein Exfeind/Geliebter/Sargnagel Probleme mit diversen kriminellen Organisationen hatte? Wohl eher nicht.
 

"...Wie Sie wissen, ist jeder Versicherungsfall unverzüglich dem Versicherer schriftlich anzuzeigen. Darüber hinaus sind Sie verpflichtet, alles zur Abwendung und Minderung des Schadens zu unternehmen und die Umstände, die zu dem Schaden geführt haben, ausführlich und wahrheitsgemäß mitzuteilen, was Sie nicht getan haben. Unser Unternehmen kann keine Haftung übernehmen für Schäden, die der Versicherungsnehmer vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt..."
 

Während der Sprecher unter den Dreien gewechselt hatte und ihm irgendwas über Klagen wegen Versicherungsbetrugs mitteilte, fragte Aya sich, wie sie ihn eigentlich gefunden hatten. Andererseits war es sicher nicht so schwierig, herauszufinden, wo er vorher gewohnt hatte.

Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass der Monolog der Versicherungsleute schon über zwanzig Minuten dauerte und er jetzt wirklich los musste, wenn er rechtzeitig am Flughafen sein wollte.
 

Er stand auf, ohne weiter auf die Möchtegern-Blues-Brothers zu achten und hatte den Laden halb durchquert, bevor sie ihn eingeholt hatten und ihm den Weg versperrten. "Wo wollen Sie hin?"

"Zum Flughafen.", antwortete Aya lapidar.

"Du willst schon wieder weg?" mischte sich Omi ein.

Er nickte.
 

"Was willst du am Flughafen?", wollte Ken wissen.

"Na was wird er wohl am Flughafen wollen? Zollfrei einkaufen?", sagte Yohji und handelte sich damit einen genervten Blick nebst Tritt gegens Schienbein von Ken ein. "Treffen mit der hypothetischen Person?", fragte er unbeeindruckt an Aya gewandt, der nur die Augen verdrehte.

"Wohin fliegst du?"

Aya wollte gerade den Mund aufmachen, um Omi zu antworten, aber einer von den Schwarzgekleideten fiel ihm ins Wort.

"Ihnen ist aber klar, dass Sie sich mit dem Verlassen des Landes verdächtig machen?"
 

Noch verdächtiger? Aya war langsam leicht genervt, was nicht besser wurde, als er nach einer Jacke fragte und daraufhin von den inzwischen hektisch werdenden Versicherungsleuten umstellt und mit der Polizei bedroht wurde. War ihm diese Versicherung jetzt scheiß egal! "Hören Sie," zischte er den Versicherungstypen an, der das Pech hatte, ihm direkt im Weg zu stehen. "Ich könnte mich wohl kaum verdächtiger machen, selbst wenn ich mit Benzinkanister hier rumspringen würde. Also warum haken Sie den Fall nicht einfach ab und hören auf, mir meine Zeit zu stehlen?!"
 

"W-Wir", der Versicherungsbeamte machte zwei Schritte zurück und zögerte sichtlich mit der Antwort, "sind verpflichtet, Nachforschungen anzustellen und gegebenenfalls..." Er verstummte unter Ayas Blick.

"Wir sind noch mitten in der Beweisaufnahme.", sprach einer der anderen weiter. "Um Ihre Ansprüche gänzlich entkräften zu können, müssen gewisse..."
 

"Aya, wohin fliegst du?", meldete sich Omi wieder zu Wort.

Aya beschloss, die Versicherungsleute erst mal zu ignorieren. "L.A."

"Was willst du da?"

"Nichts. Es war der einzige Flug raus aus Japan, wo man noch so kurzfristig zwei Plätze bu-"

"Ha! Zwei!"

Aya ignorierte Yohjis Einwurf. "War schön, euch wieder zu sehen.", sagte er lächelnd. Er wandte sich von den Dreien ab, die geschockt schwiegen. "Und Sie," sagte er dann zu dem Versicherungstypen, der gerade auf dem Handy die Polizei rief. "haben Sie vielleicht so eine Art Verzichtserklärung, die ich schnell unterschreiben kann?"
 

Der Mann sah ihn nur entgeistert an und legte dann auf. Dann legte sich auf die Gesichter der Drei ein seliger Ausdruck, als wäre Weihnachten dieses Jahr vorverlegt worden. Einer von ihnen zog mit zufriedenem Grinsen ein Kuvert aus der Innentasche seines Anzuges. "Ja, zufällig hätte ich da-"

Aya riss ihm den Wisch nur mit einem Knurren aus der Hand, überflog den Text und unterschrieb dann, dass er den Vertrag kündige und keine Ansprüche an die Versicherung stellen würde.
 

"Aya, meld dich bei uns!"

"Du weißt ja, dass du zurück kommen kannst, wenn du willst."

"Ja, wenn alles schief geht..." Er drehte sich in der Tür noch mal um. "Kann mir einer von euch Geld fürs Taxi leihen?"
 

~*~
 

Okay, das Leben war scheiße. Neue Erkenntnis? Nein, aber irgendwie traf sie Schuldig jedes Mal wieder.

Inzwischen stand der fünfte Kaffee vor ihm und wurde kalt.

Langeweile war scheiße. In einer verdammten Flughafenhalle im Café zu sitzen und zu warten war scheiße. Versetzt werden war scheiße. Fürs Ego und überhaupt. Und von Ran versetzt zu werden, tat weh.
 

Obwohl das natürlich Blödsinn war. Wahrscheinlich wurde ihm nur von dem vielen Kaffee schlecht. War ja ganz normal, das viele Koffein und so...

Er verschob den Zucker, den er vor sich auf dem Tisch verteilt hatte von links nach rechts und wieder zurück, verstrich ihn dann gelangweilt zu einer möglichst glatten Fläche.
 

Das hier war ganz klar einer dieser Momente, in denen man erwarten würde, dass ein älterer Herr mit langen grauen Haaren auf einen zutreten würde, mit den Worten: "Guten Tag, mein Herr! Ihr Leben ist ein Witz. Warum lachen Sie nicht?"

Dann hätte man wenigstens jemanden, den man guten Gewissens zusammenschlagen könnte.
 

Preisfrage: Warum saß er jetzt wie ein Depp hier und schwankte zwischen Welthass und Selbstmitleid? Richtig. Falsche Entscheidungen. Nur falsche Entscheidungen und das seit er vor einer Woche an der falschen Tür geklopft hatte.

Und dann hatte er natürlich auch noch all seine guten Vorsätze über Bord geworfen.

Nichts anfangen, mit jemanden, vor dem man Respekt hat. Ein Scheiß.

Niemandem Macht über sich geben. Ein Scheiß.
 

Eine verzerrte weibliche Stimme informierte die Wartenden in mehreren Sprachen darüber, dass die Maschine nach L.A. in einer Viertelstunde abfliegen würde und sich die letzen Passagiere auch umgehen an Bord begeben sollten.

Ohne dass er wirklich darauf geachtet hätte, zeichneten Schuldigs Finger ein Fragezeichen in den Zucker auf dem Tisch. Direkt neben das Herz, dessen Umrisse die Fläche der weißen Kristalle schon durchbrach..
 

Wie kam das dahin?

Er wischte den Zucker mit einer wütenden Bewegung vom Tisch und ignorierte die indignierten Blicke der Kellnerin, der der Inhalt von zehn Zuckertütchen auf die Schuhe hagelte. Er knallte nur Geld auf den Tisch und murmelte im Aufstehen noch ein "Stimmt so.", bevor er sich die Geldtasche griff und zu den Gateways ging.
 

Wo war er gewesen? Richtig. Falsche Entscheidungen und gute Vorsätze. Aber das sollte ihm eine Lehre sein. Zum Glück war man hinterher immer schlauer. Wenigstens das.

Also ab in den Flieger, Japan wurde in den letzten Jahren eh langweilig. Hier hielt ihn nichts. Also weg, mal wieder in die guten alten USA, eine Nation von Amokläufern.
 

Eine neue Stadt, ein neuer Abschnitt in seinem Leben. Vielleicht mal wieder ne neue Frisur? Er könnte sich die Haare wieder mal grün färben lassen, oder blau. Oder schwarz. Was auch immer.
 

~*~
 

"Geht das nicht schneller?"

"Wie denn?" Der Fahrer machte sich nicht mal die Mühe, sich umzudrehen. "Vor uns sind Autos, neben uns sind Autos und die Triebwerke sind leider bei der letzten Landung kaputt gegangen."
 

Oh prima, ein witziger Taxifahrer. Ran lehnte sich in seinen Sitz zurück und warf einen Blick auf die Uhr. Seit seinem letzten Blick waren genau dreißig Sekunden vergangen. Rekord. "Könnten Sie nicht vielleicht auf dem Gehweg...?"

"Na sicher." Der Fahrer hatte offenbar die Grenzen seines Humors erreicht und zeigte ihm einen Vogel. "Wenn Sie mitten im Berufsverkehr pünktlich zum Flughafen wollen, müssen Sie eben rechtzeitig losfahren.", erklärte er weise.
 

Aya schwieg ihn nur eisig an.

Die Autokolonne wälzte sich wieder ein Stück nach vorn, dann kam sie zum Stillstand. "Ich lauf von hier.", informierte er den Fahrer beim Aussteigen und warf noch ein paar Geldscheine durchs Fenster, dann rannte er los.
 

Als Aya am Flughafen ankam, kam er sich vor wie in einem dieser schlechten amerikanischen Filme, die er hasste. Aber nein, zum Glück war es doch ein bisschen anders. In den blöden Hollywoodschnulzen sahen die Schauspieler nach dem Run zum Flughafen/Bahnhof/Hafen nie so aus, als würden sie gleich tot umkippen - bei sich selbst war er sich da nicht so sicher, er konnte nicht mal mehr geradeaus gucken und gab dem Arzt, der da was von Ruhe gesagt hatte, insgeheim Recht.
 

Auf der Tafel, die die Abflugzeiten anzeigte (und die den Protagonisten in den Hollywoodfilmen immer noch mindestens fünf Minuten Zeit gab), war der Flug nicht mal mehr aufgelistet und er musste erst an einem Infostand nachfragen, wie er zu dem Gate kam. Und zu guter letzt war es in den Filmen dann auch immer mehr oder weniger üblich, dass man dann am Gate/Bahnsteig/Steg schon erwartet wurde. Aber hier? Fehlanzeige.
 

Aber hey, er konnte immerhin noch sehen, wie das Flugzeug am Himmel immer kleiner wurde. Was wollte man mehr? Ihm war irgendwie danach, etwas kaputt zu machen oder sich die Seele aus dem Leib zu kotzen, aber stattdessen brach er einfach nur auf einer der Bänke zusammen. Dann lag er eine Weile einfach nur da und dachte darüber nach, warum er so ein gottverdammter Idiot war, was in seinem Leben alles falsch lief und, als ihm da zu viele Dinge einfielen, darüber, dass es sowieso ein Fehler war, ins Kino zu gehen, und dass Hollywood einfach nur Scheiße war.
 

"Ja, die Filme, die du guckst. Aber aus Hollywood und Umgebung kommen auch jede Menge richtig gute Pornos."

Schuldig! Ran hob den Arm an, den er über seine Augen gelegt hatte und sah auf in Schuldigs grinsendes Gesicht. Er grinste zurück. Ihm schossen tausend Dinge durch den Kopf, die er Schuldig sagen wollte, aber es hätte alles ziemlich bescheuert geklungen. "Und ich hab mich schon gefragt, was du in L.A. willst.", sagte er nach einigen Sekunden, in denen er den anderen nur angestarrt hatte.

Schuldig lachte befreit auf. "Ja, was auch sonst." Schuldig hob vorsichtig Rans Kopf an und setzte sich dann auf die Bank, bevor er den roten Schopf auf seinen Schoß sinken ließ. "Und wie war dein Tag so?", fragte er leise.
 

"Beschissen," Aya genoss die Hand, die über seinen Kopf strich. "Noch ne Gehirnerschütterung, durchgeknallte, geldgeile Versicherungsfutzis, Stau, die Macht des positiven Denkens, du kennst mich..."

"Du hörst dich an wie ich."

"Schu, jeder, der sich beschwert und dabei möglichst viele Schimpfworte benutzt, klingt wie du. Und wie war's bei dir?"
 

"Ich war baden in dieser gottverfluchten kalten Jauchebrühe von Fluss, bin dann nach Tokyo gelaufen, weil Kaike nur hirnlose Vollidioten anstellt, die zu blöd sind, ne Tankanzeige zu lesen, es war verdammt kalt und im Hotel hatten sie das Bett neu bezogen."

"Verbrechen."

"Genau. Außerdem war ich verabredet und wurde versetzt. Hab den halben Tag hier verbracht."

"Ich bin ein Idiot. Tut mir leid."
 

"Hoffentlich. Gott, ich musste mich mit Koffervertauschen ablenken, dann hab ich viel zu viel Kaffee getrunken und Herzen in Zucker gemalt und dich gehasst und du wärst schuld gewesen, wenn ich mir die Haare schwarz gefärbt hätte. Ich wollte schon fliegen, aber dann hab ich nach Gründen gesucht, um es nicht zu tun und mir ist eingefallen, dass mein persönlicher Glückskeks mir ja eine von seinen obskuren Nachrichten hinterlassen hat."

"Was?"

"Crawford.", erklärte Schuldig. "Er hat mir doch ausrichten lassen, ich soll nicht fliegen. Vielleicht schick ich ihm ne Karte."
 

Sie schwiegen eine Weile. Ran hatte zufrieden die Augen geschlossen und folgte Aya-chans Rat indem er nicht nachdachte. So ganz gelang es ihm nicht. "Du hast Herzen gemalt?", fragte er, ohne die Augen zu öffnen.

Die Hand, die durch sein Haar streichelte, stockte kurz. "Bin halt ein gottverdammter Künstler.", brummte Schuldig dann und förderte ein Plastikröhrchen aus seiner Tasche zutage. "Willst du auch ne Aspirin? War gerade in der Apotheke."
 

"Ein Assassin kennt keinen Schmerz."

"Na wenn du meinst..." Schuldig schluckte zwei der Tabletten und steckte die Packung wieder ein. "Ich bin krank. Brauch Pflege und Urlaub."

"Du Armer." Ran hob die Hand und wuschelte träge durch Schuldigs Haare.

"Du brauchst auch Urlaub. Du musst völlig fertig sein, wenn du so nett bist."

"Keine Angst, das geht vorbei." Als Beweis zog er an einer der Strähnen. "Liegt wahrscheinlich an der Gehirnerschütterung. Morgen bin ich bestimmt wieder..."
 

Schuldig ließ ihn nicht ausreden, sondern beugte sich herunter und küsste ihn. Es war schön und machte es viel einfacher, nicht nachzudenken. Vielleicht hatte Aya-chan Recht und es war doch nicht so kompliziert.

Einen Moment später machte er sich los. "Schuldig, ich fall von der Bank."

"Du bist so unromantisch."

"Kann sein, aber wenn ich von der Bank falle, ist das auch unromantisch."
 

"Blödsinn." Schuldig grinste. "Wenn du von der Bank fällst, machen wir auf dem Boden weiter."

"Spinner." Aya sah sich nach den anderen Leuten um, die er bis jetzt völlig ignoriert hatte. "Warst du nicht eben noch krank und pflegebedürftig?"

"Na ja, Pflege... sagen wir: Zuwendung." Als Antwort wurde er nur wieder an den Haaren gezogen.
 

"Und was machen wir jetzt?", fragte Aya nach einer Weile, in der er friedlich vor sich hin gedöst und Schuldig alle Wartenden, die sich auch setzen wollten, mit bösen Blicken und unverhohlenen Drohungen verjagt hatte.

"Zuerst müssten wir mal aufstehen," - Aya knurrte und Schuldig grinste - "und dann könnten wir jemanden überreden, uns Tickets zu schenken und damit unserem Gepäck hinterher reisen. Andererseits hab ich hier fünf Millionen in der Tasche, also könnten wir das Gepäck auch einfach Gepäck sein lassen und irgendwo anders hinfliegen."
 

Aya sah auf. "Du hast das Geld?"

"Ich hab mich schon gewundert, dass du nicht danach gefragt hast."

"Ach, war nicht so wichtig.", meinte Aya müde und schloss wieder die Augen.

"Was du nicht sagst.", meinte Schuldig lächelnd. "Wozu hab ich den ganzen Zirkus eigentlich mitgemacht, wenn's jetzt auf einmal nicht mehr wichtig ist?"

"Keine Ahnung."
 

"Du, Ran?"

"Hm?"

"Über die Sache mit den Inseln müssen wir noch mal reden. Ich hab genug von Kälte. Ich will mindestens für vier Monate kein Wasser mehr sehen, das kälter ist als zwanzig Grad - es sei denn zum Trinken."

"Okay."

"... und Ran?"

"Hm?"

"Ich bin froh, dass ich nicht geflogen bin."

"... ich auch."
 

~*~

ENDE



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Kommentare zu dieser Fanfic (30)
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Von:  Petey
2015-09-19T22:00:27+00:00 20.09.2015 00:00
Deine Fanfic hat mir sehr gut gefallen. Ich bewundere deinen empathischen Stil, die Charaktere und ihre Gedanken zu beschreiben. Man kann sich richtig einfühlen und mit ihnen mitfiebern. Das verleiht der ganzen Handlung und insbesondere den Entwicklungen im Verhältnis von Aya und Schuldig eine ganz eigene Dynamik. Überhaupt gefällt mir, wie du die Charaktere darstellst.
Mir gefällt auch dein Humor sehr, den du immer wieder in den Dialogen zwischen den beiden beweist. Und bei Schuldigs Essensbestellung hab ich mich fast kaputtgelacht. xD
Eine tolle Fanfic und auch noch echt toll geschrieben.
Von:  SouthSoul
2012-04-05T09:15:52+00:00 05.04.2012 11:15
..mittlerweile bin ich mir mir drüber ein gekommen, die FF ein drittes Mal zu lesen. Ich denke mehr brauche ich dazu nicht zu sagen ;)
Von:  Carcajou
2009-04-28T13:22:27+00:00 28.04.2009 15:22
*Lach*
ich hab die Geschichte jetzt in mehreren Etappen gelesen, vermutlich, weil ich das Ende herauszögern wollte.

Ich hab mich selten so amüsiert!

Alleine Ayas Verzweiflung über Schuldigs Dreistigkeit hat mich ein paar Mal echt laut herauslachen lassen.
Die Beschreibungen der komischen Gedanken und Handlungen so zu verfassen, das man es wirklich vor Augen hat und gar nciht anders kann, als zu lachen, ist wirklich schwer- meine Bewunderung dafür.

Schuldig erinnerte mich mit seinen Gedankengängen öfter einmal an Jack Sparrow, und irgendwie ist er trotz seines Wahnsinns genauso unwiderstehlich- kein Wunder, das Aya keine Chance hat.^^
Schuldig ist in jeder Beziehung das totale Gegenteil von Aya, gedankenlos, locker, dreist und lebenslustig, so das Ayas Einsamkeit, Bitterkeit, Grübelei und Pessimismus dagegen sehr deutlich wird.
Aya bekommt ausgerechnet von seinem Ex-Erzfeind gezeigt, was Leben ist... und beschließt, es trotz seiner Eigenarten einfach zu tun.
Und Schuldig erkennt, das es wohl ganz gut tut, jemanden wirklich gern zu haben und sich noch auf jemanden anderen einzulassen, außer auf sich selbst- auf seine Weise war er ja auch sehr einsam.

die beiden ergänzen einander.

ich fand das Ende schön, auch der abschließende Verweis auf Crawfords Warnung, nicht zu fliegen.^^

Ich mochte auch, das du die Handlung mehr auf ihre Emotionen konzentriert hast und die Bettgymnastik nur angedeutet,nicht ausgeschrieben hast- ich glaube, das hätte die Wirkung und die Leichtigkeit der Geschichte sonst zerstört.
Ebenso denke ich, wenn noch genauer auf den inneren Konflikt und den Wandel der Gefühle eingegangen worden wäre- an sich nie verkehrt, aber dann wäre das Genre irgendwann vermutlich nicht mehr Humor gewesen.

Ich finde die Geschichte so rundum gelungen: locker, leicht, hochgradig amüsant, eine ausreichende Prise Ernst und Romantik und ein wirklich schöner Schreibstil.
Danke dafür!^^

glg,
Carcajou


Von:  silvermoonstini
2008-02-27T00:17:47+00:00 27.02.2008 01:17
hach die beiden sind so süüüüüüüüüß!ich bin so froh dass es gut ausgegangen ist, an Crawfords nachricht hatte ich schon gar nicht mehr gedacht...ich dachte echt Schuldig wäre geflogen...
Eine supergechichte nur leider viel zu kurz und viel zu alleine unter deinen Werken!!
Von:  silvermoonstini
2008-02-26T23:44:52+00:00 27.02.2008 00:44
na ich ja mal gespannt wie das jetzt weitergeht, wo Weiß und Aya auf dem Gelände bei kaike rumlaufen...Hoffentlich schießt nicht einer auf Aya weil er ihn nicht erkennt..
Von:  silvermoonstini
2008-02-24T02:31:47+00:00 24.02.2008 03:31
Ich als Yaoiliebhaberin bin bei der Bettszene leider nicht ganz auf meine Kosten gekommen, aber das macht Schuldig wieder wett so süß wie er sich um Aya bemüht. Als aya ihm seine Lüge aufgetischt hat, war ich zuerst auch ganz schön erschrocken, aber zum Glück war das ja nicht wirklich ernst gemeint. Eine Sache gefällt mir an der Geschichte allerdings überhaupt nicht; nämlich dass sier nur 15 Kapitel hat...
Von:  silvermoonstini
2008-02-24T02:08:08+00:00 24.02.2008 03:08
Hach wie süüüß!

Aya ist so niedlich, ich war schon erstaunt als er Schuldig einfach so seine Gefühle gestanden hat!
Ich bin jetzt soooooooooooo gespannt wie das mit den beiden weitergeht, vor allem interessiert mich warum Aya zwar auf Schu steht, das aber nicht will und noch weniger mit schu im bett landen will...
Von:  silvermoonstini
2008-02-23T22:17:13+00:00 23.02.2008 23:17
Yashimoto ist ja ein reizender kerl...Naja wenigstens haben die beiden ihre Ausrüstung von ihm bekommen und können jetzt mit ihrem Plan weitermachemn, bzw. den Plan erstmal zuende planen*g

Die Autobahnszene gefiel mir sehr gut!
Von:  silvermoonstini
2008-02-23T03:46:40+00:00 23.02.2008 04:46
Die beiden sind zu niedlich wie sie sich nicht eingestehen wollen dass sie sich mögen*g*. Ich geh mal ins Bett und les moregn weiter, das hab ich seit 5 Kapiteln vor aber deine Geschihcte vor allem die Erzählweise ist so fesselnd, dass ich mich erst jetzt loseisen kann...
Von:  silvermoonstini
2008-02-23T03:25:39+00:00 23.02.2008 04:25
Wie süß! Die beiden kommen sich ja anscheinend ziemlich schnell näher, was eine gemeinsame Flucht vor einem mordenden Überfallkommando so alles ausrichten kann...


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