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Parasitäre Lebensform

Schuldig & Aya
von

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Friedensbewegung

Verzerrt und schlierig zog die Welt an Ayas unfokussiertem Blick vorbei. Seit einer oder zwei Minuten hatten sich gelbliche Farben in die schwarzblauen Grautöne gemischt. Straßenlaternen. Das Rumpeln des Wagens auf dem unebenen Weg hatte ungefähr zur gleichen Zeit aufgehört. Das einzige verbliebene Geräusch war das leise Brummen des Motors und das seichte Rauschen der Heizung.
 

Aya nahm es kaum wahr, verwechselte es die meiste Zeit über mit dem dumpfen Dröhnen in seinem Kopf. Er hatte das Gefühl, als hätte die kurze Strecke, die er vorhin gerannt war, die letzten Kräfte aus seinem Körper gesaugt.

Vielleicht war es so.

Nachdem er sich auf den Sitz hatte fallen lassen, hatte er sich kaum noch bewegt. Erst als die Scheibe hinter ihm zersprungen war, hatte er wirklich realisiert, dass sie fuhren und sich mit fahrigen Bewegungen angeschnallt.
 

Er war müde. Das Dröhnen nervte ihn. Er wollte schlafen, aber Schuldig störte ihn, hielt ihn wach.

Er murrte unwillig, als die Stimme des Telepathen in seinem Kopf ihn wieder aus seinen immer träger werdenden Gedanken riss.

~Ran, bleib wach! Ich fahr zum nächsten Krankenhaus, es dauert nur noch ein paar Minuten.~ Schuldig klang müde und... besorgt? Nein, bestimmt war er nur erschöpft. Aya fragte sich, ob es wohl anstrengend war, die Gedanken anderer zu beeinflussen und ob die Stimme deshalb so leise war.
 

Aber Schuldig hatte den Gedanken wohl überhört. Oder er ignorierte die Frage. Klar, warum sollte er auch irgendetwas von sich erzählen oder dem Feind eine Schwäche eingestehen?

"Krankenhaus? Wozu?"

"Wie 'Wozu'? Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Du hast eine Wunde am Kopf und mit ziemlicher Sicherheit auch eine Gehirnerschütterung."

"Und falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Wir werden von massenweise Killern verfolgt."
 

Nur die Geräusche des fahrenden Autos. Schuldig schwieg und Aya fragte sich, ob er aufgegeben hatte oder es nur nicht für nötig hielt, weiter darüber zu diskutieren. Na ja... so wie er Schuldig einschätzte, keine schwierige Frage. Elender Dickschädel.
 

"Blutet es noch?"

Aya hob die Hand an die linke Schläfe und strich vorsichtig darüber. Warm, feucht, aber auch ein wenig klebrig. "Nicht mehr so stark, es trocknet schon."

Plötzlich war irgendetwas anders. Er fühlte sich seltsam. Nichts beunruhigendes, nichts, was mit der Verletzung zu tun hatte... eher wie... Erleichterung. Aber warum?

Aya runzelte die Stirn, versuchte sich auf das Gefühl zukonzentrieren. Aber es war schon wieder verschwunden. Weshalb... - oder eher woher?
 

Er drehte den Kopf und sah Schuldig halb misstrauisch, halb verwundert an, aber der fuhr einfach weiter, konzentrierte sich auf die Straße.

Nein, wahrscheinlich hatte er sich geirrt...

Er wandte sich wieder dem Fenster zu und beobachtete, wie blaugraue Dunkelheit und fahlgelbes Laternenlicht abwechselnd an ihm vorbeirauschten.

Das war's also mit seinem Neuanfang, seinem normalen Leben. Ein ernüchternder Gedanke.
 

Und doch auf eine seltsame, beunruhigende Weise befreiend.

Er würde es nicht vermissen...

Er schrak vor der Überlegung zurück.

Hatte er denn sein altes Leben vermisst? Hatte er gewollt, dass es so kam? Hatte er es vermisst? Die Aufregung, den Kampf...

... das Töten?

Es war wie ein Rausch gewesen. Nur die lang antrainierten Bewegungen. Kein Denken, kein Fühlen, genau wie früher.
 

Das Adrenalin war durch seinen Körper gejagt, hatte die Wahrnehmung geschärft. Das Gefühl von Kontrolle. Über sich selbst, seinen Körper, die ganze Situation. Er hatte seinen Herzschlag gehört, kraftvoll, aufgeregt, begeistert. Er hatte gespürt, wie das Blut durch seine Venen raste. Er hatte sich lebendig gefühlt!

Er kannte dieses Hochgefühl von früher, nur allzu vertraut war es vorhin wieder über ihn gekommen. Diese seltsame Aufregung, die Überlegenheit.

Und wieder hatte er getötet.
 

Schuld nagte an ihm, Zweifel, Abscheu vor sich selbst, weil er sich lebendig fühlte, während er andere tötete. Er wusste, dass es nicht so war, dass es nur der Kampf war, der das in ihm auslöste, und nicht der Tod seiner Opfer.

Er wusste es. Nur dieses Wissen erlaubte es ihm, weiter zu machen.

Und doch waren da Zweifel.

Was wusste er denn von seinen Opfern? Sie hatten ihn angegriffen, hätten ihn ohne zu zögern getötet, aber rechtfertigte ihn das? War sein Leben denn mehr wert als das der anderen Mörder?
 

Im Kampf war er ein anderer Mensch, er war sich dessen bewusst. Berechnend, kalt, zu allem entschlossen. Besessen, zerstörerisch, wahnsinnig. Dieser Mensch, würde jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte.

Heute Abend... Schuldig wusste gar nicht, wie nahe er davor gewesen war... Aya konnte sein verstörtes Gesicht vor seinem inneren Auge sehen, meinte das vertraute Gewicht des Schwertes in seiner Hand spüren zu können... und die kalte Wut, die in ihm aufgestiegen war, jede Empfindung, jedes Gefühl für Richtig und Falsch verdrängt hatte. Wenn Schuldig eine Falsche Bewegung gemacht hätte, den Ernst der Lage nicht begriffen, die Tür nicht in dem Moment aufgeflogen wäre...
 

Nein, Abyssinian unterschied nicht zwischen Freund und Feind, nur zwischen störend und unwesentlich. War dieser Mensch es wert, ihn zu verteidigen... für ihn zu töten? Wäre es nicht besser, die Anderen würden siegen und diesen Dämon auslöschen?

Aya verbot sich jeden weiteren Gedanken. Auch diese Depressionen waren ihm nur allzu vertraut. Sie kamen immer kurz danach und blieben für unbestimmte Zeit. Er kannte das und wusste, wie er damit fertig wurde:
 

Verdrängung. - Natürlich war es Betrug, eine sichere Methode der Selbstzerstörung. Weil die Erinnerungen spätestens beim nächsten Hit wieder hoch kamen und so das Verdrängen von Mal zu Mal schwerer machten. Längst war Vergessen für ihn kein unterbewusster Prozess mehr. Es war ihm schmerzhaft bewusst, durch und durch erzwungen.

Und es funktionierte nicht mehr - einer der vielen Gründe, warum er Weiß verlassen hatte.
 

Aber daran durfte man eben einfach nicht denken, durfte nicht darüber nachdenken, was man gerade - und schon so oft zuvor - getan hatte. Man musste vergessen. So wie immer.

Und hoffen, dass diese schwärende Wunde nicht allzu bald wieder aufreißen würde...

Aya brach die Gedanken ab. Sich selbst zu analysieren hatte ihm nie geholfen. Da waren viel zu viele Zweifel...
 

Er versuchte, seine Gedanken zu beruhigen, die Leere zu genießen, die sich ausbreitete, wenn er nur auf das allgegenwärtige Rauschen des fahrenden Autos achtete. Er atmete ruhiger, zählte seine Atemzüge und konzentrierte sich wieder ganz auf die Schatten, die an seinem Fenster vorbei zogen.
 

~*~
 

Schuldig musste ein Gähnen unterdrücken, als er den Wagen auf den fast leeren Krankenhausparkplatz lenkte. Er war erschöpft, müde und seine Schulter tat weh. Zum wiederholten Male dankte er in Gedanken Gott - oder seinetwegen auch dem japanischen Verkehrsministerium - dass die Schaltung hierzulande links war.

Er warf Aya einen schnellen Seitenblick zu und stellte erleichtert fest, dass dieser sich gerade abschnallte. Er hatte sich offenbar mit seinem eher unfreiwilligen Krankenhausbesuch abgefunden und stieg ohne ein Wort zu sagen aus.
 

Beide schwiegen auf dem Weg zum Eingang. Es war zuviel passiert, um jetzt darüber zu reden. Oder zu streiten... darauf liefen ja letztendlich so ziemlich alle Unterhaltungen mit Aya hinaus.

Schuldig konnte ein Seufzen gerade noch unterdrücken. Kein Grund, gleich sentimental zu werden.
 

Ja, Ayas Gedanken - soweit er sie noch mitbekommen hatte - beunruhigten ihn, aber er würde den Teufel tun und ihn darauf ansprechen. Aya würde ihn erwürgen, mindestens.

Und warum sollte er überhaupt etwas dazu sagen? Es ging ihn nichts an.

Ein Teil von ihm lachte ihn aus. Seit wann gab es denn für ihn Sachen, die ihn nichts angingen?

Nein wirklich, das war nicht sein Problem. Er war ja schließlich keine Kummerkastentante.
 

Und es war ja auch nicht so, dass er sich Sorgen um seinen Ex-Feind machen würde...

Nein. Nicht um diesen verkorksten, einsiedlerischen, nachtragenden Dickkopf!

... na ja... vielleicht ein bisschen. Vor sich selbst konnte er es ja eigentlich zugeben - nur der Form halber. Ein wenig Sorgen also... leichte Beunruhigung. Nichts weiter. Und solange er, Schuldig, der einzige blieb, der davon wusste, war auch noch alles in Ordnung.
 

Schuldig machte sich nämlich um niemanden Sorgen. Keinen einzigen gottverdammten Menschen auf dieser Welt. Schon aus Prinzip. Das war ja nicht nur eine Imagefrage, sondern eine Lebenseinstellung.

Er konnte sich das Leiden direkt vorstellen: Erst machte man sich ganz harmlos Gedanken um die Probleme eines anderen, dann kamen vielleicht noch zwei, drei Menschen dazu, die man nicht sofort verraten würde, sofern der Preis stimmte, und Schwupps! schon nahm man an Friedensdemos teil, kaufte nur noch umweltfreundliche Produkte, wurde Vegetarier, weil einem die armen Viecher ja ach so leid taten und am Ende dieses Mahlstroms der Selbstlosigkeit standen Patenschaften für Kinder in der Dritten Welt oder für irgendwelche verlausten Affen im scheiß Regenwald oder für Wale, Bäume, weiß der Geier was!

Es war ein gottverdammter Dominoeffekt, da war sich Schuldig ganz sicher. Aber so weit würde es mit ihm nicht kommen! Niemals! Er würde einfach... Genau! Er würde... es nicht zulassen, ganz klar! Und zwar, indem er... hmm... indem er...
 

"Ich hasse Krankenhäuser.", riss ihn Ayas mürrisches Brummen aus den Gedanken.

Schuldig sah ihn überrascht an und grinste dann. "Na, wenn das mal nicht die intimste Äußerung war, die ich je von dir gehört habe..."

Aber Aya tat ihm nicht den Gefallen, sich über die Bemerkung aufzuregen und Schuldig so von seinen Horrorvisionen abzulenken, sondern er schnaubte nur genervt, öffnete die Schwingtür und verschwand dahinter.
 

Schuldig beeilte sich, ihm nach drinnen zu folgen. Nach der Kälte draußen, war die kleine Halle warm, fast schon stickig. Links neben dem Eingang befand sich ein Schalter, in dem eine zierliche Frau, Mitte Vierzig, saß, die sich gerade mit Aya unterhielt.

"... Sie nur diese Papiere ausfüllen, ich werde den Arzt benachrichtigen. Sie können sich solange gern dort drüben hinsetzen." Sie deutete vage in die Richtung einiger gepolsterter Stühle, die zwischen ein paar großen Zimmerpflanzen an der blassgrünen Wand aufgereiht standen. Außer ihnen und der Empfangsdame war der Wartesaal leer.
 

Aya nickte nur und saß wenig später neben einem monströsen Ficus. Schuldig setzte sich daneben, hörte eine Weile zu, wie der Kugelschreiber übers Papier kratzte und dachte bei dem Anblick der grünen Hölle hier drinnen darüber nach, warum um Himmels Willen es Patenschaften für Bäume gab und wie hirnverbrannt es war, Geld für etwas zu bezahlen, das als Möbel viel besser aussehen würde. Die zweite weltbewegende Frage, mit der er sich die Wartezeit vertrieb, war, warum Zigarettenautomaten in Krankenhäusern so verdammt knapp waren. War doch schlecht fürs Geschäft...
 

Eine Schwester erschien neben ihnen und nahm Aya und die Papiere mit. Schuldig widerstand dem Impuls, ihnen zu folgen und wartete. Aya war schon groß und Auftragskiller, der würde das hier auch alleine schaffen. Außerdem würde es ja einen völlig falschen Eindruck erwecken... Schuldig sah sich schon in Birkenstock-Sandalen rumrennen und Blümchen in Gewehrläufe stecken...

Er sollte lieber etwas für seinen sträflichst vernachlässigten Nicotinhaushalt tun. Entschlossen stand er auf und ging auf den Schalter zu.
 

"Entschuldigen Sie..."

Die Frau sah von ihrem Computerbildschirm auf. "Ja?"

"Kann man hier irgendwo Zigaretten kaufen?"

Das freundlich-neutrale Lächeln auf ihrem Gesicht gefror zu einem Ausdruck äußerster Missbilligung, der Schuldig schon Böses ahnen lies. Er unterbrach sie, noch bevor sie zum Reden ansetzen konnte.

"Hör'n Sie. Ich habe nicht gefragt, wo man hier am besten Kokain an Minderjährige verkaufen kann, sondern lediglich, wo zur Hölle es Zigaretten gibt. Und ich habe heute wirklich nicht mehr die Geduld, mich mit Ihnen über Suchtbewältigung zu unterhalten."
 

Der Gesichtsausdruck der Frau wurde noch um einige Stufen abweisender. "Am Parkplatz vorbei die Straße runter, hängt ein Automat.", gab sie sichtlich widerwillig Auskunft. "Aber hier drinnen ist Rauchen verboten!", rief sie Schuldig nach, der schon nach ihrem ersten Satz auf dem Weg zur Tür war.

Sie schüttelte den Kopf über diesen unhöflichen Ausländer und wandte sich wieder den Patientenakten auf ihrem Monitor zu.
 

~*~
 

Aya betrachtete sein Spiegelbild auf den dunklen Fensterscheiben. Der Verband an seinem Kopf schimmerte weiß unter einigen roten Strähnen hindurch.

Drei Stiche. Der Arzt war noch recht jung, er hatte zwar gemeint, dass die Platzwunde eigenartig aussähe, hatte die Geschichte vom Sturz von der Leiter aber ohne weitere Kommentare geschluckt.
 

Leichte Gehirnerschütterung. Kaum zu glauben, dass er wegen diesem Kratzer hier saß und wertvolle Zeit verlor, während aller Wahrscheinlichkeit nach schon massig Killer nach ihnen suchten. Warum war er nicht einfach im Auto geblieben und hatte darauf bestanden, dass dieser Idiot von einem Telepathen weiterfuhr? Warum hatte dieser Trottel überhaupt darauf bestanden, hier anzuhalten? Ihm konnten seine Verletzungen doch egal sein.
 

Der Arzt erschien wieder in dem kleinen Behandlungszimmer. Eine Schwester hatte ihn gerade hinaus gebeten. "So wie es aussieht, habe ich noch einen Notfall. Also, die Fäden müssen in vier oder fünf Tagen gezogen werden. Ansonsten wäre es gut, wenn Sie in den nächsten Tagen etwas Ruhe hätten... nicht so viel bewegen, kein Sport."

Aya hätte fast laut aufgelacht. Ja sicher, er würde sich in den nächsten Tagen schonen. Ob er den Arzt um ein Attest bitten sollte, das er Kaikes Leuten zeigen konnte, wenn sie das nächste Mal angriffen?
 

Er behielt aber einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck bei und nickte nur.

Der Arzt lächelte freundlich, routiniert. "Ich muss jetzt gehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht... Sie finden doch allein zurück?" Er schüttelte Aya die Hand und verließ den Raum wieder.
 

Aya stand von der weißen Liege auf und ging. Das erste, was er sah, als er den Wartesaal betrat, war Schuldig, der seelenruhig unter einem großen "Rauchen verboten"-Schild saß und - Wie sollte es anders sein? - rauchte. Die halb hilflosen, halb mörderischen Blicke, die ihn vom Schalter aus trafen ignorierte er gekonnt. Das heißt, er tat so als würde er sie ignorieren.

In Wirklichkeit - da war sich Aya ganz sicher - registrierte er jeden Einzelnen und amüsierte sich königlich darüber.
 

Aya stutzte. Irgendetwas verwirrte ihn an diesem Bild... er konnte es nicht genau einordnen.

Eigentlich stimmte alles... Schuldig brach eherne Regeln und erfreute sich daran, wie er andere in den Wahnsinn trieb. Soweit nichts Ungewöhnliches.

Es war viel mehr seine eigene Reaktion, die ihn verwunderte. Er war nicht wütend oder genervt, im Gegenteil: es fiel ihm schwer, ein Lächeln zu unterdrücken. Wenn er diese Szene betrachtete, war da ein Gefühl von Vertrautheit, Nachsicht. Und für einen Moment konnte er Schuldig verstehen. Welches Gewicht hatten denn schon solche Kleinigkeiten, solche winzigen Ärgernisse? Besonders in seinem Leben? Konnte man denn - von diesem Blickwinkel aus - die Verbissenheit, mit der die Frau das stickige, leere Wartezimmer rauchfrei halten wollte, anders aufnehmen als mit einem verächtlichen Schulterzucken oder bestenfalls einem amüsierten Lächeln?
 

Aya schüttelte nur verwundert über seine eigenen Gedanken den Kopf, warf der Empfangsdame einen entschuldigenden Blick und Schuldig ein "Komm, wir gehen!" zu und verließ das Krankenhaus geradezu fluchtartig.
 

Auf halbem Weg zum Parkplatz holte Schuldig ihn ein und trottete schweigend neben ihm her zum Auto.

"Wusstest du, dass jede von den Dingern dein Leben um fünfzehn Minuten verkürzt?"

Schuldig nahm einen tiefen Zug, während er Aya spöttisch anfunkelte. "Sehr gut, sollte ich tatsächlich an Lungenkrebs sterben, will ich die letzten Tage sowieso nicht miterleben. Aber ehrlich gesagt", er schnippte seine Kippe weg, während er das Auto umrundete, "halte ich das zurzeit für mein kleinstes Problem."

Aya schwieg, während sie sich wieder ins Auto setzten und weiter fuhren. Ja, das war eine typische Antwort gewesen. Halb ernst, halb sarkastisch und alles in allem ausweichend.
 

War das alles? Konnte man tatsächlich so leben, indem man nichts ernst nahm, alles ins Lächerliche zog? Oder war das nur das Äußere?

Aya betrachtete nachdenklich Schuldigs Profil, auf dem in den regelmäßigen Abständen der Straßenlaternen dunkle Schatten ihre Bahnen zogen. Es war seltsam, wie grundlegend sich seine Ansichten über ihn in nur knapp vier Tagen geändert hatten. Vielleicht sollte ihn dieses Verständnis, das er gerade gespürt hatte, beunruhigen aber das tat es nicht. Vermutlich war es nur Einbildung, aber es gab Augenblicke, da war sich Aya sicher, unter dieser dicken Schicht aus Spott und Zynismus noch etwas anderes zu spüren. Irgendetwas... er wusste nur noch nicht, wonach er da eigentlich suchte.
 

Die Schatten im Profil verschoben sich anders als gewohnt, als Schuldig den Kopf drehte.

Ihre Blicke trafen sich. Schuldig zog fragen die Augenbraue hoch, aber Aya wich dem Blick aus und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

Auch Schuldig war nicht nach einer Unterhaltung zumute, er war so müde, dass es ihm schwer fiel, sich auf die Straße zu konzentrieren. Er wusste auch nicht, wohin sie fahren sollten. Erst mal nur weg. Er hoffte darauf, dass sich der Rest von selbst ergeben würde. Oder besser: er überließ es Aya. Denn wenn er ehrlich war, hatte er nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Aber es brachte auch nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.

Für heute reichte es, zu fliehen und am Leben zu bleiben und morgen konnte man weitersehen.
 

Als Schuldig sich wieder auf die Straße konzentrierte, wandte sich auch Aya ab und sah aus dem Fenster.

Warum hatte Schuldig nichts gesagt? So viele seltsame Gedanken, die da jetzt in seinem Kopf herumspukten, und kein spöttischer Kommentar von Schuldig? Keine anzügliche Bemerkung, keiner von diesen schlüpfrigen Witzen... nichts?

Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Gott, er wäre ja schon froh gewesen, wenn er gewusst hätte, was er von seinem eigenen Verhalten denken sollte. Oder auch nicht...

Also versuchte er sich auf etwas anderes zu konzentrieren, achtete auf das, was außerhalb des Wagens an ihm vorbeizog. Viel war nicht zu sehen. Graue Mietshäuser, die Fenster und Balkone klafften wie schwarze Löcher im Beton. Kaum jemand auf der Straße. Ein mit Graffiti beschmiertes Hinweisschild: Sie waren auf dem Weg zur Autobahn.
 

Die Frage, wo Schuldig eigentlich hin wollte blitzte träge in Ayas Kopf auf, verschwand aber ebenso schnell wieder. Im Moment war das nicht weiter wichtig. Die Autobahnauffahrt. Hunderte roter und weißer Lichter, wie die Ketten am

Weihnachtsbaum. Aya lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe und ließ die monotonen Bilder an sich vorbeiziehen. Er ließ seine Gedanken schweifen, dachte über tausend Dinge nach und doch über nichts. Ein Zustand zwischen Wachen und Dösen, der ihn auf langen Bahn- oder Autofahrten häufig überkam.
 

Erst als der Wagen auf einen hell erleuchteten Parkplatz fuhr, sah er auf und warf Schuldig einen fragenden Blick zu.

"Ich kann nicht mehr. Wenn ich noch zehn Minuten fahre, schlaf ich am Steuer ein."

Aya nickte. "Wie spät ist es?"

"Kurz vor zwei. Lass uns hier bleiben - nur drei, vier Stunden - und dann entscheiden wir, was wir weiter machen."

/Wir? Warum eigentlich?/ Hatte Aya denn irgendeinen Grund, Schuldig zu helfen? Hatte er nicht schon genug getan? Und war es nicht letztendlich auch Schuldigs Schuld, dass eine Bande Killer ihn in seinem eigenen Haus überfallen hatte?
 

"Na komm, oder willst du im Auto bleiben?" Schuldig hatte seine Tür geöffnet. Kalte Luft strömte herein und ließ Ayas Gedanken wieder ein wenig klarer werden.

Er hatte keinen Grund, Schuldig zu helfen... Aber irgendwie konnte er sich auch nicht vorstellen, jetzt einfach zu gehen - nein, wegzufahren, es war schließlich sein Auto - und Schuldig sich selbst beziehungsweise Kaikes Leuten zu überlassen.
 

Er stieg ebenfalls aus. Ein leichter Geruch nach Benzin lag über dem Parkplatz. Während Schuldig den Wagen abschloss, sah Aya sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Eine Tankstelle, etwas weiter entfernt, und das Motel, vor dem sie parkten. Ziemlich schäbig und alles andere als einladend, aber der Gedanke an ein paar Stunden Schlaf war überaus verlockend.
 

Gleichmütig folgte er Schuldig, der schon in dem grauen Klotz verschwunden war. Irgendwie war er immer noch nicht richtig wach. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie Schuldig gegangen war.

Als er den engen Raum betrat, der wohl so etwas wie eine Empfangshalle hätte darstellen sollen, schlug ihm der Übelkeit erregende kalte Geruch von Frittiertem Essen und Zigarettenqualm entgegen.
 

Schuldig stand an der Rezeption und bekam gerade von einem der hässlichsten Menschen, die Aya je gesehen hatte, einen Schlüssel überreicht.

Er sah sich nach Aya um und deutete, als er ihn sah, auf den hinteren Ausgang, auf den er auch gleich zuging. Aya folgte ihm müde.
 

Durch die Hintertür kamen sie wieder nach draußen. Gleich rechts neben der Tür führte eine Treppe außen an der Hauswand entlang nach oben, auf eine Art Galerie, von der aus man zu den einzelnen Zimmern gelangte - hässlich wie die Hölle (Aya fragte sich müßig, ob der Architekt, der das verbrochen hatte, blind oder nur völlig geschmacklos gewesen war.) aber zweckmäßig. Denn so lagen die Zimmereingänge auf der von der Autobahn abgewandten Seite des Hauses und es war beinahe still.
 

Vor einer der Türen blieb Schuldig stehen und schloss auf. Aya stand wartend daneben und bemerkte, wie er leicht zu frieren anfing. Es war doch schon ziemlich kalt und er hatte nicht mal seine Jacke mitnehmen können.

Sie betraten das dunkle, kleine Zimmer, in dem es nicht wesentlich wärmer war, als draußen.
 

Aya sah sich wenig begeistert um. Er hatte ja schon so einige Löcher gesehen, aber das hier...

"Nur ein Bett?" Eine recht neutrale Frage, eher eine Feststellung.

Ein flüchtiges Grinsen huschte über Schuldigs Gesicht. "Ja, und zwar meins." Er ließ sich rückwärts auf das Doppelbett fallen, das daraufhin protestierend knarrte, und gähnte herzhaft.

"Aber ich bin nicht so herzlos wie du. Du darfst auch drin schlafen."

"Wie großzügig." Aya zog in Erwägung, sich einfach ein zweites Zimmer zu nehmen.

Allerdings hatte er kein Geld dabei.

Und der Gedanke, heute Nacht allein in einem dieser schäbigen, kalten Räume zu sein, behagte ihm gar nicht.
 

Also legte er sich neben Schuldig und zog eine der Decken, die zusammengelegt am Fußende lagen über sich. Eine Weile lagen sie schweigend da.

"Schuldig, schläfst du schon?"

"Ja." Die Stimme klang tatsächlich so, als hätte er Schuldig gerade geweckt.

"Hm... ich - ...Danke."

"Was? Wofür?" Schuldig klang ernsthaft verwirrt.

Aya drehte sich verwundert zu ihm um. "Ich denke, du kannst Gedanken lesen."

Schuldig sah irgendwie ertappt aus. "Heute nicht mehr.", meinte er dann trotzig. "Ich hab doch gesagt, ich brauch ein paar Stunden Schlaf."

"Und seit wann-"

"Das geht dich nichts an.", unterbrach Schuldig ihn schnell und drehte sich auf die Seite, weg von Aya.
 

Der zog nur eine Augenbraue hoch. Schuldig schien was das anging ganz schön empfindlich zu sein. Aber das hieß dann wenigstens, dass er seine seltsamen Gedanken auf der Autofahrt nicht mitbekommen hatte. Sehr beruhigend.

"Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.", erklärte Aya.

Schuldig ließ nur ein Grummeln hören und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Dann sind wir quitt..." Er gähnte hörbar. "Und jetzt lass mich endlich schlafen, sonst schmeiß ich dich raus. Himmel, du bist doch sonst auch nicht so mitteilungsbedürftig."



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  silvermoonstini
2008-02-23T03:25:39+00:00 23.02.2008 04:25
Wie süß! Die beiden kommen sich ja anscheinend ziemlich schnell näher, was eine gemeinsame Flucht vor einem mordenden Überfallkommando so alles ausrichten kann...
Von:  mystique
2007-01-04T22:58:41+00:00 04.01.2007 23:58
Konichi wa ^ ^

Ich bin bis hierhin gekommen und ich muss ganz ehrlich sagen (schreiben)liebe diese FF! Dein Schreibstil ist einfach wunderbar und man mag gar nicht aufhören, wenn man einmal angefangen hat.
Eine echte Schande, dass diese FF erst so wenig Kommis hat, wo sie doch eine der besten WK FFs ist, die ich hier gesehen habe.
Du bringst die "Beziehung" (auch, wenn es noch nicht wirklich eine "richtige" ist ^ ^) zwischen Aya, der einfach Aya ist und Schuldig, der einfach Schuldig ist, so nachvollziehbar rüber, dass es immer wieder schade ist, wenn ein weiteres Kapitel um ist.
Auch finde ich, dass die Charaktere kein bisschen OOC sind, und das ist eine wahre Meisterleistung ^ ^
Und die Handlung erst - sie fesselt gleich von Anfang an.

Ich könnte diese Story jetzt noch weiter in den Himmel loben (immerhin gehört sie zu meinen Favos *g*) aber es ist schon spät ^ ^ (billige Ausrede - ich weiß).

Ich freue mich jedenfalls schon auf das nächste Kapitel. Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mir eventuell (aber auch nur ganz eventuell ^ ^) eine Ens schreiben, wenn es weiter geht?
Ich würde mich ehrlich freuen!

Bis dahin immer weiter so, nochmal ein großes Lob an dich!

∼ Ritsuka ∼


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