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Brothers

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, wieder mal ist Sonntag, also ist es Zeit fürs nächste Kapitel.
:)

Langsam wird's übrigens knapp mit dem, was ich vorgeschrieben hab. Und ich komm im Moment nicht zum Schreiben. Kann also sein, dass es ab jetzt etwas langsamer voran geht. Sorry schon mal vorab dafür.

Das Kapitel hier widme ich übrigens allen Lesern, die immer noch dabei sind und fleißig mit den Jungs mitleiden.
<3
Danke dafür und enjoy!

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Überraschung

Für Seto war der Schultag eine einzige, langgezogene Qual. Er war mit seinen Gedanken ganz und gar nicht beim Unterrichtsstoff – etwas, was seinem besten Freund keinesfalls entging. Und da Seto nicht den Eindruck machte, als wäre er heute dazu in der Lage, eigenhändig irgendetwas mitzuschreiben, übernahm Yami das kommentarlos für ihn. Immerhin, argumentierte er vor sich selbst, würde Otogi ja auch die Unterlagen brauchen, die sie heute bekommen hatten. Und wenn Seto sich nicht darum kümmern konnte, dann würde er das eben tun. War ja kein Problem.
 

Als endlich das erlösende Klingeln der Schulglocke das Ende des Schultages verkündete, entfuhr Seto ein abgrundtiefes Seufzen, das jedoch, sehr zu seiner Erleichterung, im Geräuschpegel der allgemeinen Aufbruchsstimmung seiner Mitschüler unterging. "Wurde auch Zeit!", grollte er und Yami neben ihm lachte leise, ehe er ihm die Mitschrift zuschob, die er während des überaus langweiligen Unterrichts von Hara-sensei sauber in zweifacher Ausfertigung angefertigt hatte. "Für Otogi und für dich. Du warst ja heute in gänzlich anderen Sphären unterwegs", neckte Yami seinen besten Freund und lachte noch etwas lauter über den bösen Blick, mit dem er dafür bedacht wurde.
 

Seto grummelte zwar, schob aber die Blätter trotzdem vorsichtig in seine Schultasche. "Danke, Yami", murmelte er dabei so leise, dass es kaum zu verstehen war, aber sein bester Freund hörte ihn ohne Probleme. "Keine Ursache, Seto. Dafür sind Freunde doch da", gab er zurück, stieß den Brünetten mit dem Ellbogen an und nickte dann in Richtung der Klassenraumtür. Jounouchi und Kinoshita waren, wie üblich, bereits beim Klingeln aufgestanden und unter den ersten ihrer Klassenkameraden gewesen, die den Klassenraum verlassen hatten, aber der weiße Schopf Kinoshitas war im Flur immer noch deutlich sichtbar. Ganz offenbar wartete er gemeinsam mit Jounouchi auf Seto, damit dieser sein Versprechen vom Morgen auch wirklich in die Tat umsetzte.
 

Der Brünette, dem das keinesfalls entgangen war, straffte sich, ehe er sich seine Tasche schnappte. Sich vor dem, was er selbst angeboten hatte, zu drücken war zwar verlockend, aber eines Kaibas ganz und gar nicht würdig. Er hatte sein Wort gegeben, die blonde Pest und sein weißhaariges Anhängsel mitzunehmen, und genau das würde er auch tun – ganz egal, wie sehr allein die Aussicht darauf, die Gesellschaft der beiden genießen zu dürfen, ihm gegen den Strich ging. Aber er tat das hier ja auch schließlich nicht für sich, sondern einzig und allein für Ryuuji.
 

Ohne ein Wort zu sagen, ging Seto an seinen beiden im Flur wartenden Klassenkameraden vorbei. Wie nicht anders erwartet schlossen sie sich ihm ebenso an wie Yami es tat. Jounouchis Knurren darüber, dass er sich wie das letzte Arschloch aufführte, ignorierte Seto, so gut es ging. Wenn er jetzt auf die Beleidigungen des Köters einstieg, dann würde es nur wieder Streit geben. Und das sollte ganz sicher nicht das Erste sein, was Ryuuji hörte, wenn er nach Hause kam.
 

Seto war so in seine Gedanken verstrickt, dass er die Gestalt, die auf einer der Bänke auf dem Schulhof saß, anfangs gar nicht bemerkte. Erst als Jounouchi mit einem Aufschrei seine Schultasche förmlich Kinoshita in die Arme warf und dann zu ebendieser Bank hinübersprintete, bemerkte Seto, dass sein Stiefbruder offenbar schon da war. Wie angewurzelt blieb er mitten auf dem Schulhof stehen. Zusehen zu müssen, wie der Schwarzhaarige von der Bank aufstand und sich von der blonden Pest zur Begrüßung umarmen ließ, war alles andere als leicht. Aber, ermahnte er sich selbst, es war nun mal, wie es war. Und wenn Jounouchi Ryuuji wirklich helfen konnte, dann würde er den Kläffer eben zu ertragen lernen – ganz egal, wie schmerzhaft auch der Stich war, den der Anblick der beiden zusammen ihm versetzte.
 

Ryuuji, der mit so einer Aktion Katsuyas fast schon gerechnet hatte, lachte leise, als der Blondschopf ihn fest umarmte und ihn dabei gleichzeitig dafür anmaulte, dass er sich nicht früher gemeldet hatte. Das war einfach so typisch für Katsuya. Und es tat ungemein gut, also drückte Ryuuji seinerseits seinen besten Freund erst mal ebenso fest an sich, ehe er sich nach einer Weile wieder aus der Umklammerung löste und den Blonden etwas von sich schob.
 

"Sorry, Kats, aber ich musste erst mal selbst damit klarkommen", erklärte er dann, warum er es seinem Stiefbruder überlassen hatte, seinen besten Freund zu informieren. "Schon klar, du Arsch", grummelte dieser, aber er schien eher erleichtert als wirklich noch verärgert zu sein – eine Tatsache, die Ryuujis schlechtes Gewissen gleich wieder etwas beruhigte. Ihm war klar gewesen, dass Katsuya sich seinetwegen auch Sorgen machen würde, aber in der vergangenen Woche hatte er einfach nicht die Nerven dafür gehabt, sich damit auseinanderzusetzen.
 

"Trotzdem hättest du dich zwischendurch mal melden können, du Sack", motzte Katsuya weiter und boxte seinem besten Freund in die Seite, als dieser über seine Beschwerde einfach nur grinste. "Ich weiß, ich weiß. Sorry", entschuldigte Ryuuji sich noch einmal, aber ehe er weiterreden konnte, mischte Seto, der seine Starre inzwischen wieder überwunden hatte, sich in das Gespräch ein. "Wir sollten dann vielleicht langsam aufbrechen", sagte er mit einem knappen Nicken in Richtung der wartenden Limousine, ehe er seine Aufmerksamkeit auf seinen Stiefbruder richtete. Der gleichermaßen gefürchtete wie herbeigesehnte Blickkontakt mit den faszinierenden grünen Augen ließ ihn unmerklich schlucken, doch er riss sich schnell wieder zusammen.
 

"Ich habe Jounouchi und Kinoshita heute Morgen angeboten, bei uns zu Hause auf dich zu warten. Ich wusste ja nicht, dass du schon so früh wieder da sein und direkt zur Schule kommen würdest." Setos Worte überraschten Ryuuji zugegebenermaßen sehr. Er wusste immerhin genau, wie wenig Seto und Katsuya einander ausstehen konnten. Und trotzdem hatte Seto Kats und auch Bakura in die Villa eingeladen? Meinetwegen, ging es Ryuuji durch den Kopf und er lächelte unwillkürlich – ein Lächeln, das Seto vollkommen kalt erwischte. Was hatte das denn jetzt zu bedeuten?
 

"Das ist nett von dir, Seto." Um ein Haar hätte Ryuuji seinen Stiefbruder aus Dankbarkeit – und vielleicht ein winziges bisschen auch noch aus einem anderen Grund – umarmt, aber er erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass Seto das ganz und gar nicht mochte. Ist wahrscheinlich auch besser so. Immerhin war die Gefahr, sich zu verraten, wenn er sich zu so etwas hinreißen ließ, einfach zu groß. Aus diesem Grund schenkte er dem Brünetten einfach nur noch ein weiteres Lächeln und wandte sich dann Katsuya und Bakura zu. Das Gefühlschaos, das diese simple Geste in Setos Innerem auslöste, bemerkte er nicht.
 

"Wärt ihr mir sehr böse, wenn wir das Ganze auf morgen verschieben? Ich bin heute ziemlich groggy und sollte vielleicht erst mal in aller Ruhe mit meiner Mum sprechen. Ihr könnt ja morgen Nachmittag vorbeikommen, okay?" Katsuya sah im ersten Moment nicht so aus, als wäre er bereit, auf den Vorschlag einzugehen, aber noch bevor er etwas sagen konnte, hatte Bakura auch schon genickt. "Machen wir", versicherte er und Ryuuji lächelte ihn erleichtert an, ehe er sich wieder seinem besten Freund zuwandte. "Du kannst mir dann gerne morgen in aller Ausführlichkeit den Kopf abreißen, in Ordnung?", bot er an und obwohl Katsuya das eigentlich nicht wollte, musste er doch ein wenig grinsen.
 

"Das werd ich, darauf kannst du dich verlassen!", versprach er, drückte Ryuuji noch mal und machte sich dann nach kurzem Zögern gemeinsam mit Bakura auf den Heimweg. Es war zumindest schon mal beruhigend zu wissen, dass sein bester Freund wieder da war und dass es ihm nicht allzu schlecht ging. Und wenn er wirklich mit Jetlag zu kämpfen hatte, dann würde es heute ohnehin keinen Spaß machen, ihm ordentlich die Leviten zu lesen für den Mist, den er sich da geleistet hatte. Außerdem konnte Katsuya durchaus verstehen, dass sein bester Freund erst mal mit seiner Mutter sprechen wollte. Aber aufgeschoben war ja nicht aufgehoben. Er würde Ryuuji morgen schon deutlich zeigen, was er davon hielt, dass der ihm den Eisklotz praktisch auf den Hals gehetzt hatte.
 

Schmunzelnd schüttelte Ryuuji den Kopf, ehe er sich wieder zu seinem Stiefbruder und dessen bestem Freund umwandte. Seto ging gleich voraus in Richtung der Limousine, denn er hegte die Befürchtung, den Aufruhr in seinem Inneren – eine Mischung aus Erleichterung darüber, dass Jounouchi und Kinoshita doch nicht mitkommen würden, und Nervosität aus eben diesem Grund – nicht gut genug verbergen zu können. Yami jedenfalls sah aus, als wüsste er ganz genau, was in ihm vorging. Allerdings enthielt er sich auch jetzt jeglichen Kommentars und Seto war ihm absurd dankbar dafür.
 

Auf dem Weg zum Parkplatz grübelte Yami die ganze Zeit vor sich hin. Dadurch, dass Otogi Jounouchi und Kinoshita auf den nächsten Tag vertröstet hatte, war der heutige Tag – zumindest in seinen Augen – der perfekte Zeitpunkt für eine Aussprache zwischen Seto und Otogi. Aber wie sollte er Seto das klarmachen, ohne dass Otogi etwas davon mitbekam? Und wie sollte er selbst sich absetzen, ohne dass es allzu auffällig wirkte? Immerhin schien Seto ihn für die Heimfahrt schon fest eingeplant zu haben. Und so wirklich Lust zum Laufen hatte Yami eigentlich auch nicht, wenn er ehrlich war.
 

Während er noch über eine Lösung für das Dilemma nachsann, kam ihm der Zufall zur Hilfe. "Hey, Yami!", wurde er gerufen, als sie zu dritt den Parkplatz erreichten, und als Yami aufblickte, sah er Malik an sein Motorrad gelehnt dastehen. Er hatte den Ersatzhelm in der Hand und auf seinen Lippen lag wieder mal dieses ganz spezielle, unwiderstehliche Grinsen, das Yamis Magen in Aufruhr versetzte, wann immer er es zu sehen bekam. "Ich dachte mir, ich hole dich heute mal ab", fuhr der Ägypter fort und nun setzte sich auch auf Yamis Lippen ein Grinsen fest. Das war ja perfekt!
 

"Klasse!", verlieh er seiner Freude daher auch verbal Ausdruck und drehte sich kurz zu seinem besten Freund um. "Wir sehen uns dann am Montag in der Schule, Seto", verabschiedete er sich, doch sein Blick machte deutlich, dass der Brünette ihn jederzeit auch vorher anrufen konnte, wenn etwas sein sollte. ›Mach was aus der Chance‹, versuchte Yami seinem besten Freund nonverbal zu übermitteln, aber er war sich nicht ganz sicher, ob die Botschaft auch angekommen war. Allerdings sah Seto nicht unbedingt erbost aus, also war wohl doch alles okay.
 

"Viel Spaß und bis Montag", wünschte Seto seinem besten Freund und ließ sich tatsächlich zu einem minimalen Schmunzeln hinreißen. Ihm war nicht entgangen, wie sehr Yami förmlich strahlte, seit er Malik gesehen hatte. Und die Eile, mit der er zu dem Ägypter sprintete, den Helm entgegennahm, aufsetzte und sich hinter Malik auf das Motorrad schwang, sprach in seinen Augen auch eine sehr eindeutige Sprache. Also, schlussfolgerte Seto, hatte er sich doch nicht getäuscht mit seiner Vermutung, dass sein bester Freund eine ziemliche Schwäche für den Ägypter entwickelt hatte, auch wenn sie sich noch nicht sehr lange kannten.
 

"Bis dann!" Noch ein letztes Winken in Richtung von Seto und Otogi, dann war Yami auch schon weg und ließ Seto mit seinem Stiefbruder und seinem Gefühlschaos alleine zurück. Oder zumindest fast alleine, denn Isono-san war auch noch da. Und er hielt die hintere Tür der Limousine bereits auf, so dass Seto sich zusammenriss und einstieg. Ryuuji tat es ihm gleich, nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz und Seto schluckte unwillkürlich. Dadurch, dass sowohl Yami als auch Jounouchi und Kinoshita nicht dabei waren, waren Ryuuji und er während der gesamten Heimfahrt ganz alleine – eine Gewissheit, die alles in ihm in Aufruhr versetzte. Was sollte er sich jetzt bloß verhalten?
 

"Wie fühlst du dich?" Die Frage seines Stiefbruders, die irgendwann das zwischen ihnen herrschende Schweigen brach, brachte Ryuuji, der nach dem Einsteigen sicherheitshalber aus dem Fenster geblickt hatte, dazu, seinen Gegenüber doch noch anzusehen. "So lala", beantwortete er die Frage wahrheitsgemäß und zog eine Grimasse, ehe er sich zu einem leisen Seufzen hinreißen ließ. Es war merkwürdig, ganz alleine mit Seto zu sein. Zwar war Isono-san auch noch da, aber da er gleich nach dem Einsteigen die Trennscheibe hochgefahren hatte, waren sie jetzt gerade trotzdem komplett ungestört – ein Gedanke, der sich trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, seltsam angenehm anfühlte.
 

Seto, der Ryuuji die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte, nickte leicht. Dass der Schwarzhaarige noch nicht ganz auf der Höhe war, war ihm nicht entgangen. Aber er wirkte wenigstens auch nicht mehr so gebrochen und fertig wie am Sonntag und das verbuchte Seto als zumindest annähernd gutes Zeichen. Er wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass es seine Zeit brauchte, um die Trauer zu verarbeiten. Und wieder war da der Drang, Ryuuji zu sich zu ziehen und ihn in den Arm zu nehmen, aber auch dieses Mal kämpfte er erfolgreich dagegen an.
 

"Deine Mutter hat sich große Vorwürfe gemacht, weil sie dich alleine hat fliegen lassen." Dass es ihm selbst nicht besser gegangen war, verschwieg Seto sicherheitshalber lieber. Das war sicher nichts, was Ryuuji hören wollte. Aber er wollte auch nicht, dass sich wieder Schweigen zwischen ihnen ausbreitete. "Dachte ich mir schon", erwiderte der Schwarzhaarige und seufzte erneut. "Aber das muss sie nicht. Ich hab die Zeit für mich gebraucht", murmelte er und blinzelte überrascht, als Seto auf diese Worte hin nickte.
 

"Ich weiß, was du meinst", erinnerte dieser Ryuuji daran, dass Seto tatsächlich aus eigener Erfahrung wusste, wie er selbst sich gerade fühlte. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass Seto und Mokuba ihre Mutter verloren hatten, als Seto sieben und Mokuba vier Jahre alt gewesen waren. "Das war sicher hart. Das mit eurer Mutter, meine ich", sprach Ryuuji seinen Gedanken laut aus und Seto zögerte einen Moment lang, dann nickte er wieder. "Sehr", gab er zu und wandte nun seinerseits den Blick aus dem Fenster. "Sie fehlt mir auch heute noch. Aber mit der Zeit tun die Erinnerungen weniger weh", ließ er seinen Stiefbruder leise wissen und sah in der Fensterscheibe, wie dieser wieder schwach zu lächeln begann.
 

"Gut zu wissen." Ryuuji strich sich eine verirrte Strähne hinters Ohr. Es war irgendwie verdammt seltsam, ausgerechnet mit Seto über das zu reden, was passiert war. Bei Katsuya wusste er genau, dass dieser ihn und seine Gefühle verstehen konnte. Er selbst war schließlich damals – zumindest zeitweilig – hautnah mit dabei gewesen, als Katsuyas Mutter und seine heißgeliebte kleine Schwester Shizuka gestorben waren. Er hatte aus nächster Nähe miterlebt, wie schwer diese Zeit für Katsuya und auch für Chiaki gewesen war.
 

Chiaki hatte sehr lange gebraucht, um den Tod seiner Frau und seiner kleinen Tochter zu verwinden. Er hatte kurz danach angefangen zu trinken und sich erst wieder zusammengerissen, als ihm irgendwann klargeworden war, dass er nicht als Einziger unter dem Verlust der beiden litt und dass er immer noch seinen Sohn hatte, der ihn brauchte. Aber daran, dass nicht nur sein bester Freund, sondern auch Seto aus eigener Erfahrung wusste, wie es ihm im Moment ging, hatte Ryuuji gar nicht gedacht, bis Seto es von selbst erwähnt hatte.
 

"Es war verdammt hart, nach Hause zu kommen und zu wissen, dass nichts mehr so ist wie es war." Ryuujis Spiegelung in der Scheibe blinzelte mehrmals, aber Seto war das kurze Aufwallen von Tränen in den grünen Augen nicht entgangen. Wieder war da der Drang, zu dem Schwarzhaarigen zu rutschen und ihn zu trösten, aber ehe er sich wirklich zu etwas Derartigem hinreißen lassen konnte, hielt die Limousine an und als Isono die Tür für sie beide öffnete, war der Moment endgültig dahin. Seto war sich nicht sicher, ob er froh darüber sein oder es lieber bedauern sollte. Wahrscheinlich war es besser, dass er Ryuuji nicht zu nahe gekommen war, aber den Wunsch danach konnte er trotzdem nicht abschütteln.
 

Gemeinsam mit Seto betrat Ryuuji die Villa und sah sich suchend um. Seine Mutter würde frühestens in zwei Stunden nach Hause kommen, das war ihm klar, aber dass auch von Mokuba keine Spur zu sehen war, verwunderte ihn doch ein bisschen. "Mokuba ist heute Nachmittag mit Yuugi und Ryou unterwegs", erriet Seto die Gedanken seines Stiefbruders und dieser schmunzelte unwillkürlich. "So offensichtlich, ja?", erkundigte er sich und der neckende Unterton verschaffte Seto eine Gänsehaut. Er hatte so sehr darauf gehofft, diesen Ryuuji nach seiner Heimkehr irgendwann wiedersehen zu können. Dass es jetzt schon so früh der Fall war, überforderte ihn allerdings ein wenig. Trotzdem war er fest entschlossen, sich nichts davon anmerken zu lassen.
 

"Ziemlich", ging er daher mit etwas Mühe auf den lockeren Plauderton seines Stiefbruders ein und erlaubte sich auch ein winziges Lächeln. Er hatte in der ganzen vergangenen Woche immer wieder das Bild von Ryuuji beim Frühstück am Sonntag vor Augen gehabt, in seinem Blick dieses unbeschreibliche Entsetzen, als Isono den morgendlichen Besuch angekündigt hatte. Jetzt zu sehen, dass Ryuuji sich zumindest ein bisschen wieder gefangen hatte, erleichterte ihn ungemein.
 

"Na, dann begrüße ich den Kleinen halt später", tat Ryuuji Mokubas Abwesenheit mit einem Achselzucken ab, auch wenn es ihm ehrlich gesagt schon lieber gewesen wäre, Mokuba als Puffer da zu haben. Das Wissen, dass er jetzt gerade immer noch mit Seto alleine war, bekam seinem Herzen ganz und gar nicht. Bevor er jedoch irgendetwas unternehmen oder einfach nach oben in sein Zimmer gehen konnte, um aus Setos Nähe zu kommen, hielt dieser ihm einen Stapel Papier entgegen, den er aus seiner Tasche gezogen hatte.
 

"Die Mitschriften von heute", informierte Seto seinen Stiefbruder. "Die restlichen Unterlagen habe ich oben in meinem Zimmer", fügte er noch hinzu und Ryuuji blinzelte irritiert, ehe auf seinen Lippen wieder dieses umwerfende Lächeln erschien, das Setos Herzschlag ganz gehörig durcheinander brachte. Er brauchte Abstand, aber dringend, denn sonst, dessen war er sich ziemlich sicher, würde er sich nur zu etwas hinreißen lassen, das er später ganz sicher bereuen würde. Immerhin, erinnerte er sich bitter, hatte Ryuuji ihm ja vorgeschlagen, er solle alles einfach vergessen – etwas, was ihm einfach nicht gelingen wollte.
 

Ryuuji überrumpelt von dieser Aktion zu nennen wäre eindeutig untertrieben gewesen. Irritiert wanderten die grünen Augen zwischen dem Papierstapel und Seto hin und her – so lange, bis Seto es nicht mehr länger aushielt. "Du kannst sie dir ja später abholen, wenn du willst. Allzu eilig ist das nicht." Mit diesen Worten ließ er seinen Stiefbruder stehen und ging hoch. Er hatte allerdings nicht vor, lange in seinem Zimmer zu bleiben. Seine Hausaufgaben, beschloss er auf dem Weg nach oben, würde er auf morgen verschieben. So hätte er dann auch gleich eine Ablenkung, wenn der Köter und sein Anhängsel wirklich herkamen, um Ryuuji zu besuchen.
 

"Danke, Seto", murmelte Ryuuji, aber der Brünette war schon ein ganzes Stück die Treppe hochgegangen und hatte ihn wohl nicht mehr gehört. Einen Moment lang blieb Ryuuji noch unschlüssig im Flur stehen, dann sprintete er ebenfalls nach oben. Seto hatte zwar gesagt, es sei nicht eilig, aber irgendwie war es ihm selbst lieber, wenn er sich die Unterlagen jetzt schon abholen konnte. Dann konnte er sich mit den Hausaufgaben beschäftigen, bis seine Mutter nach Hause kam. So würde er ganz sicher nicht in Versuchung kommen, irgendetwas Dummes zu tun.
 

Kaum dass er die Tür seines Zimmers hinter sich zugeschoben hatte, klopfte es auch schon und Seto fluchte unhörbar. Offenbar war ihm heute keine Ruhe vergönnt. Wäre ja auch zu schön gewesen, seufzte er innerlich, öffnete die Tür und fand sich wie erwartet mit seinem Stiefbruder konfrontiert, der ihn entschuldigend anlächelte. "Ich stör dich nicht lange, keine Sorge. Ich wollte mir nur schon mal die Unterlagen abholen", erklärte er sein Auftauchen und Seto trat kurz zu seinem Schreibtisch, um die besagten Zettel zu holen. Zu seiner Erleichterung betrat Ryuuji sein Zimmer allerdings nicht, sondern blieb vor der Tür stehen.
 

Mit einem weiteren Lächeln nahm Ryuuji die Unterlagen entgegen, die Seto ihm reichte, und nickte ihm noch mal dankbar zu. "Wir sehen uns dann später", verabschiedete er sich und ging hinüber zu seinem eigenen Zimmer. Dabei entging ihm nicht, dass Seto die Tür seines Zimmers nicht gleich wieder schloss, sondern den Raum selbst auch wieder verließ und nach unten ging. Einen Moment lang war Ryuuji versucht, sich zu ihm umzudrehen und zu fragen, was er jetzt vorhatte, aber er beherrschte sich und fragte nicht. Ein bisschen Abstand war sicherlich nicht verkehrt. Immerhin hatte sich sein Puls seit dem Moment, in dem er Seto auf dem Schulhof wiedergesehen hatte, immer noch nicht wieder beruhigt. Höchste Zeit also für ein bisschen Ablenkung.
 

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf betrat Ryuuji sein eigenes Zimmer und ging zum Schreibtisch, wo er erst mal den Blätterstapel ablegte. Dann nahm er selbst auch Platz und begann damit, die Unterlagen durchzusehen. Die Anmerkungen und Ergänzungen, die in Setos gestochen scharfer Handschrift eingefügt waren, brachten sein Herz allerdings nur noch mehr in Aufruhr, so dass Ryuuji nach knapp zehn Minuten aufgab. Er konnte sich jetzt einfach nicht auf die Aufgaben konzentrieren. Scheiß drauf. Dann mach ich's halt später, nahm er sich vor, stand auf und verließ sein Zimmer wieder.
 

Einen Moment lang war er tatsächlich versucht, nach unten zu gehen und nach Seto zu suchen. Der Gedanke jedoch, dass der Brünette möglicherweise wieder im Pool war, hielt Ryuuji davon ab. Das war etwas, was er im Moment definitiv nicht gebrauchen konnte – ganz egal, wie gerne er es auch gesehen hätte. Aber das würde alles nur noch schlimmer machen, also unterdrückte er den Impuls und ging stattdessen einfach nur nach unten ins Wohnzimmer, um dort auf seine Mutter zu warten. Immerhin, hatte ein kurzer Blick auf die Uhr ihm klargemacht, würde sie bald nach Hause kommen.
 

Lange musste er nicht warten. Keine zehn Minuten später wurde die Tür der Villa geöffnet und Ryuuji, der die ganze Zeit auf dieses Geräusch gelauscht hatte, erhob sich wieder von der Couch und trat in den Flur. "Hi, Mum", begrüßte er seine Mutter mit einem Lächeln, machte noch zwei Schritte auf sie zu und nahm sie dann einfach in den Arm. "Du hast mir gefehlt", murmelte er an ihrem Hals und Yukiko verbiss sich mit Mühe ein Schluchzen. Endlich, endlich war ihr Junge wieder zu Hause! "Du hast mir auch gefehlt, Ryuuji", gab sie erstickt zu und drückte ihren Sohn fest an sich. Es tat so gut, ihn wiederzusehen, ihn wieder bei sich zu haben.
 

Eine ganze Weile hielt Yukiko ihren Sohn einfach nur fest, doch schließlich löste sie sich wieder ein wenig von ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. "Es tut mir so leid, dass ich dich allein gelassen habe. Ich hätte …", setze sie an, doch Ryuujis Finger auf ihren Lippen unterbrach sie, ehe sie weitersprechen konnte. "Dir muss nichts leidtun. Und du musst dich auch für nichts entschuldigen. Es ist okay, Mum. Wirklich. Ich brauchte einfach etwas Zeit für mich", erklärte er ihr, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und wischte ihr dann erst mal die Tränen aus dem Gesicht, die sie nicht hatte unterdrücken können.
 

"Und ich war ja auch nicht lange alleine. Max war ab Montag bei mir." Die Erwähnung von James' bestem Freund entlockte Yukiko ein leichtes Nicken. Trotzdem konnte auch das Wissen, dass Maximilian sich an ihrer Stelle um Ryuuji gekümmert hatte, ihr schlechtes Gewissen nicht komplett beruhigen. Immerhin wäre es eigentlich ja ihre Aufgabe als seine Mutter gewesen, bei ihrem Sohn zu sein, aber stattdessen hatte sie ihn einfach sich selbst überlassen. Das konnte sie sich nicht so einfach verzeihen.
 

Ryuuji, der seiner Mutter ihre Gedankengänge überdeutlich ansehen konnte – für ihn war sie in solchen Situationen wie ein offenes Buch –, unterdrückte ein Seufzen. Er hatte ja gewusst, dass sie sich seinetwegen Sorgen gemacht hatte. Aber das war unnötig. Er hatte die Zeit für sich selbst einfach gebraucht. Wäre seine Mutter bei ihm gewesen, wäre die vergangene Woche ganz, ganz anders abgelaufen, das wusste er genau. Er hätte sich beispielsweise ganz sicher nie die Ablenkung gegönnt, die das ›Rainbow‹, Valon, Alister und auch Noah ihm geboten hatten. Diese Seite an ihm kannte seine Mutter immerhin nicht. Und er legte ehrlich gesagt auch keinen Wert darauf, dass sie sie kennenlernte; es würde sie nur unnötig schockieren zu wissen, dass ihr Sohn auch so sein konnte.
 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren zog Ryuuji seine Mutter mit sich ins Wohnzimmer, drückte sie auf die Couch und streckte sich selbst dann so aus, dass er seinen Kopf in ihrem Schoß betten konnte. Und sobald sie ihm sanft und zärtlich durch die Haare zu streicheln begann, lächelte er sie von unten herauf an. Ganz genau das brauchte er jetzt. Und, wenn er seine Mutter so ansah, dann war er wohl nicht der Einzige, der das im Augenblick nötig hatte. Manchmal war ein bisschen nonverbale Konversation genau das Richtige.
 

Yukiko blinzelte mit etwas Mühe die Tränen weg, die ihr immer wieder in die Augen steigen wollten. Es tat einfach unglaublich gut, ihren Sohn wieder bei sich zu haben. Und das Wissen, dass er – ganz wie ihr Liebster gesagt hatte – ihr wirklich nicht nachtrug, dass sie ihn in dieser schweren Zeit alleine gelassen hatte, erleichterte sie zugegebenermaßen sehr, auch wenn ihr schlechtes Gewissen wohl noch eine Weile brauchen würde, um sich gänzlich zu beruhigen. Aber jetzt hier bei ihm sein zu können, auch wenn sie zumindest anfangs nicht wirklich redeten, war schon mal ein Anfang.
 

Gozaburo, der von Isono über die gemeinsame Heimkehr von Seto und Ryuuji informiert worden war, war auch nach dieser Information noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer geblieben. Erst als ein Blick auf die Uhr ihm mitteilte, dass seine Frau inzwischen ebenfalls zu Hause sein musste, fuhr er seinen Rechner herunter. Er hatte sich absichtlich den heutigen Nachmittag ebenso sowie das gesamte kommende Wochenende frei gehalten, um für seine Familie da sein zu können. Mokuba würde zwar erst später wieder zu ihnen stoßen, aber trotzdem fand Gozaburo, dass es an der Zeit war, nach seiner Frau und seinem Stiefsohn zu sehen, also verließ er das Arbeitszimmer und ging nach unten ins Wohnzimmer, wo die beiden sich Isonos Worten zufolge gerade aufhielten. Seto, hatte Isono ihn ebenfalls wissen lassen, war derzeit im Pool.
 

Der Anblick, der sich ihm bot, als er das Wohnzimmer erreichte, entlockte Gozaburo ein Lächeln. Da saß seine Frau und strich ihrem Sohn, der es sich auf der Couch gemütlich gemacht hatte, sanft durch die langen schwarzen Haare. Und Ryuuji, der die Zärtlichkeiten offensichtlich sehr genoss, lächelte seine Mutter an und sprach mit ihr über die vergangene Woche. "Diese ganzen Bürokraten waren echt der pure Horror. Ich weiß schon, warum ich definitiv nie Jura studieren werde – ganz egal, wie sehr Dad das auch wollte. Ich hab echt keine Lust, mich später tagtäglich mit solchen Typen rumschlagen zu müssen", erzählte er ihr gerade und Yukiko kicherte leise – ein Geräusch, das Gozaburo ungemein erleichterte. Es tat gut zu sehen, dass Ryuuji tatsächlich das geschafft hatte, was ihm selbst in der letzten Woche nicht gelungen war: Yukiko klarzumachen, dass sie kein schlechter Mensch war, nur weil sie seinem Wunsch entsprochen hatte und ihn alleine zurück in die Staaten hatte fliegen lassen.
 

"Ich sehe, du bist gut zu Hause angekommen, Ryuuji", wandte Gozaburo sich nach ein paar Minuten, während derer er seine Frau und ihren Sohn einfach nur beobachtet hatte, an seinen Stiefsohn. Dieser drehte den Kopf ein wenig, um ihn ansehen zu können, blieb aber ansonsten, wo er war. "Ja, bin ich. Danke für alles", adressierte Ryuuji an seinen Stiefvater und schenkte auch diesem ein Lächeln, als Gozaburo hinter die Couch trat und seiner Mutter beide Hände auf die Schultern legte. Und als er ihr sanft den Nacken zu massieren begann, vertiefte sich Ryuujis Lächeln noch etwas. Diese kleinen, zärtlichen Gesten zeigten seiner Meinung nach mehr als deutlich, dass Gozaburo wirklich der richtige Mann für seine Mutter war. Immerhin schien er ihr das bieten zu können, was sie so lange vermisst hatte: Sicherheit und das Gefühl, geliebt zu werden. Und das war doch das Wichtigste.
 

Da seine Mutter es wirklich zu genießen schien, sowohl ihn als auch ihren neuen Ehemann um sich zu haben, blieb Ryuuji auch jetzt, wo er war, obwohl er sich schon ein bisschen wie ein Eindringling fühlte. Es war schön, seine Mutter so glücklich zu sehen. Viel zu lange, sinnierte er, hatte sie sich nur auf ihre Arbeit und ihn konzentriert und dabei ganz vergessen, ihr eigenes Leben zu leben. Es war gut, dass das jetzt nicht mehr der Fall war. Sie war schließlich noch jung. Sie war immerhin erst knapp neunzehn Jahre alt gewesen, als er zur Welt gekommen war.
 

Wer weiß, vielleicht werd ich ja auch noch mal großer Bruder. Der Gedanke brachte Ryuuji zum Grinsen. Nach der Scheidung seiner Eltern war die Möglichkeit für Geschwister irgendwie immer in weiter Ferne gewesen, aber jetzt plötzlich sah es damit ganz anders aus. Ja, mit sechsunddreißig war seine Mutter vielleicht nicht mehr die jüngste Mutter der Geschichte, aber grundsätzlich möglich wäre eine weitere Schwangerschaft ihrerseits ja trotzdem.
 

Immerhin, sinnierte Ryuuji, fingen viele Frauen ihre Familienplanung doch erst an, wenn sie Mitte Dreißig waren und ihre biologische Uhr überlaut ticken hörten. Na, wir werden ja sehen, was passiert. Ryuuji schloss die Augen, um seiner Mutter und Gozaburo wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu gönnen, wenn er schon hier bei ihnen im Wohnzimmer blieb. Aber noch genoss er das hier viel zu sehr, um schon wieder alleine sein zu wollen.
 

Erst als nach einer ganzen Weile Geräusche aus dem Flur aufklangen, öffnete Ryuuji seine Augen wieder. Ob das Mokuba war, der gerade nach Hause kam? Ryuuji verrenkte sich ein wenig im Versuch zu erkennen, was da vor sich ging. Und als er sah, dass es sich nicht um seinen Stiefbruder, sondern ganz offenbar um sein Gepäck handelte, das wie angekündigt gebracht wurde, rappelte er sich mit einem Ächzen aus seiner bequemen Position hoch. "Ich glaube, ich sollte raufgehen und schon mal ein bisschen auspacken", ließ er seine Mutter wissen, drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und stand dann endgültig auf.
 

"Ich komm später wieder runter, Mum", versprach er ihr noch, ehe er sich auf den Weg nach oben machte. Dort die Kartons, die er mit Maximilians Hilfe gepackt hatte, in dem Zimmer neben seinem vorzufinden ließ ihn hart schlucken, aber auch das konnte den Kloß in seinem Hals nicht ganz lösen. Trotzdem gab Ryuuji sich einen Ruck, betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Anstatt sich jedoch direkt ans Auspacken zu machen, ließ er sich erst mal einfach nur auf den Stuhl sinken, der am Fenster stand. Da lag sie vor ihm, fast die gesamte amerikanische Hälfte seines Lebens, fein säuberlich in Kisten verpackt. Der Anblick war nicht unbedingt schön, aber es war etwas, womit er zu leben würde lernen müssen.
 

Ein paar Minuten blieb Ryuuji trotzdem noch sitzen und kratzte erst einmal seine Fassung zusammen, ehe er sich doch aufraffte und sich daran machte, die Kisten nach und nach auszupacken und die Dinge, die er mitgebracht hatte, in den Schränken und Regalen zu verstauen. Dabei bemühte er sich, nicht großartig darüber nachzudenken, was diese Dinge für ihn bedeutet hatten, sondern einfach nur einen passenden Platz für sie zu finden. So war es zumindest ein kleines bisschen leichter.
 

Mitten in seine Räumaktion hinein klopfte es an die Tür des Zimmers und Ryuuji, der gerade die vorletzte Kiste hatte öffnen wollen, hielt inne. "Come in", erlaubte er und fand sich gleich darauf seinem Stiefvater gegenüber. "Ich hoffe, hier ist genug Platz für alles, was du mitgebracht hast", sagte Gozaburo nach einem kurzen Rundblick durch den Raum, ehe er seine Aufmerksamkeit auf seinen Stiefsohn richtete. "Wenn du noch etwas brauchst, musst du es nur sagen", fügte er noch hinzu und hob fragend eine Braue, als Ryuuji nickte.
 

"Da wäre tatsächlich eine Sache." Ryuuji bedeutete Gozaburo, den Raum komplett zu betreten. Und sobald sein Stiefvater seiner Aufforderung Folge geleistet hatte und zum Fenster getreten war, schob Ryuuji die Tür zu. Er hatte seiner Mutter am vergangenen Samstagabend ein Versprechen gegeben. Und dieses Versprechen würde er auch halten. Er war zwar zugegebenermaßen etwas nervös, einfach weil er keine Ahnung hatte, wie Gozaburo auf die Eröffnung reagieren würde, die er zu machen hatte, aber, sagte er sich, das würde er ja in Kürze erfahren.
 

"Ist alles in Ordnung?", erkundigte Gozaburo sich und Ryuuji zog kurz eine Grimasse. "Wie man's nimmt", gab er zurück und lehnte sich an die Tür in seinem Rücken. So ganz wusste er nicht, wie er das hier am besten hinter sich bringen konnte, also gab es wohl nur eine Lösung: Augen zu und durch. "Es gibt da etwas, das du über mich wissen solltest", begann er daher das Gespräch, wappnete sich für die Reaktion, die möglicherweise folgen würde, und sprach dann einfach kurz und schmerzlos das aus, was er seiner neuen Familie eigentlich hatte verschweigen wollen: "Ich bin schwul."
 

Ryuuji ließ seinen Stiefvater bei seinem Outing, das er so eigentlich nie gewollt hatte, nicht aus den Augen. Gozaburo wirkte einigermaßen überrascht von dem, was er zu hören bekam, aber er machte zumindest schon mal nicht den Eindruck, als ob er deshalb vollkommen ausrasten würde. Ryuuji war sich nicht sicher, ob da vielleicht auch die Sache mit seinem Vater etwas mit hineinspielte, aber er war auf jeden Fall froh, dass Gozaburo – zumindest bisher – nicht allzu negativ reagierte. Wobei … genau betrachtet fehlte eigentlich jegliche Reaktion seinerseits. Was mochte das bedeuten?
 

Gozaburo war tatsächlich reichlich überrumpelt von dieser Eröffnung seines Stiefsohns. Yukiko hatte in all der Zeit, die sie sich schon kannten, nie auch nur angedeutet, dass die Neigungen ihres Sohnes … nun, in diese Richtung gingen. Und er selbst hatte deshalb einfach angenommen, dass Ryuuji sich, ebenso wie fast jeder andere Junge in seinem Alter auch, zu Mädchen hingezogen fühlte. Dass dem nicht so war, war also eindeutig eine Überraschung.
 

Allerdings war Gozaburo bei weitem nicht weltfremd. Ihm war durchaus klar, dass die sexuelle Orientierung seines Stiefsohns kein gänzlich neues Phänomen war. Genau genommen, erinnerte er sich, hatte er selbst während seiner eigenen Schulzeit, die er auf einer reinen Jungenschule verbracht hatte, oft genug mitbekommen, wie zumindest einige seiner Mitschüler hinter verschlossenen Türen ebenfalls Dinge miteinander getan hatten, die ihre Eltern ganz sicher entsetzt hätten, wenn sie davon gewusst hätten. Die meisten von ihnen waren jedoch heute mit Frauen verheiratet und hatten eigene Familien. Sie hatten diese ›Verwirrungen der Jugend‹, wie es einer ihrer Lehrer einmal genannt hatte, also irgendwann hinter sich gelassen. Ob sie das jedoch wirklich aus Überzeugung und Liebe zu Frauen getan hatten oder aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, hätte Gozaburo nicht zu sagen gewusst.
 

Aber die Zeiten änderten sich. Viele Dinge, die früher noch tabu gewesen waren, waren es mittlerweile nicht mehr. Zwar war Japan zum Großteil immer noch recht konservativ, aber trotzdem gab es inzwischen auch hier Bars und Clubs, die sich auf diese Klientele spezialisiert hatten. Und auch der Ruf nach gesellschaftlicher Akzeptanz anders gearteter Beziehungen wurde immer größer. Trotzdem war das ganz sicher eine schwierige Situation, in der Ryuuji sich befand. Noch war Japan immerhin nicht so aufgeklärt, dass es keine Probleme nach sich ziehen würde, wenn bekannt wurde, wie seine Neigungen aussahen.
 

Gozaburo stutzte, als seine Überlegungen an diesem Punkt angelangt waren. Ob Yukiko ihm vielleicht deshalb nichts davon erzählt hatte? Hatte sie gefürchtet, dass er und seine Söhne ihren Sohn und vielleicht auch sie möglicherweise nicht akzeptieren würden, wenn sie davon erfuhren? Diese Befürchtung war gar nicht so abwegig. Immerhin waren auch die Eltern seiner Frau ausgesprochen konservativ, wie schon allein die wenigen Gesprächsfetzen bewiesen hatten, die er der Hochzeitsfeier immer mal wieder aufgeschnappt hatte. Yukikos Eltern hatten es ihrer Tochter offenbar sehr lange verübelt, dass sie einen Amerikaner geheiratet hatte.
 

Und sie waren, wie Gozaburo mit eigenen Augen gesehen hatte, auch nicht unbedingt gut auf ihren eigenen Enkel zu sprechen, nur weil sein Vater nun mal kein Japaner gewesen war. War es da verwunderlich, dass Yukiko geglaubt hatte, diese Sache vor ihm geheim halten zu müssen? Dabei war Ryuuji, wie Gozaburo in der Woche vor der Hochzeitsreise festgestellt hatte, eindeutig niemand, bei dem man sich dafür schämen musste, mit ihm blutsverwandt zu sein. Ja, er mochte vielleicht etwas offener sein als viele Japaner in seinem Alter, aber das machte ihn ja nun wirklich nicht zu einem schlechten Menschen. Eher sogar im Gegenteil.
 

Gozaburo war nicht entgangen, dass sein Stiefsohn seit seinem Einzug hier eindeutig einen positiven Einfluss auf seine eigenen Söhne gehabt hatte. Und darüber war er sehr froh. Mokuba hatte sich ja von Anfang an direkt sehr gut mit Ryuuji verstanden, aber inzwischen war auch Seto seinem Stiefbruder gegenüber bei weitem nicht mehr so negativ eingestellt, wie er es zu Beginn gewesen war – was man gerade in der vergangenen Woche recht deutlich gesehen hatte. Immerhin hatte Seto sich, ebenso wie der Rest von ihnen, sehr um Ryuuji gesorgt.
 

"Willst du gar nichts dazu sagen?", riss Ryuujis Stimme Gozaburo wieder aus seinen Grübeleien. Und erst jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit über geschwiegen hatte und dass diese Reaktion seinerseits vielleicht nicht unbedingt angemessen war. Ryuuji wirkte unsicher und auch ein bisschen defensiv, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen an die Zimmertür gelehnt dastand und ihn nicht aus den Augen ließ. Er bemühte sich zwar, seine Unsicherheit zu verbergen, aber so ganz gelang ihm das nicht.
 

"Doch, ich denke, das möchte ich", beantwortete Gozaburo daher erst mal die an ihn gerichtete Frage, ehe er sich auf den am Fenster stehenden Stuhl setzte und Ryuuji dann bedeutete, den zweiten Stuhl zu nehmen und damit zu ihm zu kommen. "Aber ich befürchte, das wird ein bisschen länger dauern, also setz dich bitte, Ryuuji", forderte er den Jungen auf und sobald dieser der Aufforderung etwas zögerlich Folge geleistet hatte, bedachte Gozaburo ihn mit einem Lächeln, das die Skepsis jedoch nicht aus den grünen Augen vertreiben konnte. Aber das konnte er dem Jungen nun wirklich nicht verdenken. Höchste Zeit also, dass sie beide endlich die Gelegenheit nutzten und ausführlich miteinander redeten.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war's auch schon wieder für diese Woche. Ich werde versuchen, euch nicht allzu lange warten zu lassen, aber ich kann noch nichts versprechen.

Würde mich, wie immer, freuen, wenn ihr mir was dalasst.
;)

Man liest sich!

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  night-blue-dragon
2020-02-17T15:43:53+00:00 17.02.2020 16:43
Hallo^^

Wie immer ein toll geschriebenes Kapitel.
Der Umgang der Stiefbrüder miteinander, war sehr gefühlvoll. Für die beiden Dickköpfe genau richtig. Irgend wann, in ferner Zukunft werden die beiden aneinandergekuschelt auf den Sofa sitzen und über diese Zeit lachen, wenn sie herausfinden, dass die beide eigentlich das gleiche wollten und sich nur nicht trauten.... wie gesagt, in ferner, ferner Zukunft vielleicht, eventuell.^^

Auch die Szene zwischen Mutter und Sohn war sehr schön, konnte mir das richtig gut vorstellen. Diese Ruhe braucht Ryuuji eben so sehr wie seine Mutter.
Dann lässt du, bzw. Ryuuji die Katze aus dem Sack. Glücklicherweise reagiert Gozaburo nicht sofort ablehnend, er ist ziemlich tolerant, fragt sich nur, ob er das auch noch ist, wenn er feststellt, dass seine Söhne ebenfalls auf das gleiche Geschlecht stehen.
Trotz allem ist es ein fieses Ende, denn ich würde schon gern wissen, was Gozaburo so zu erzählen hat. Du machst es mal wieder richtig spannend. Ich kann nur hoffen, dass das nächste Kapitel nicht zu lange auf sich warten lässt.

*wink*

night-blue-dragon
Antwort von: Karma
17.02.2020 21:10
N'Abend!

Und wieder danke für den Kommentar. Freut mich, dass es dir gefallen hat.
^____^

Ich muss gestehen, mir hat das Miteinander auch Spaß gemacht. Selbst wenn Ryuuji im Moment davon ausgeht, dass er von Setos Seite bloß Schonfrist hat, hat es ihm trotzdem gut getan, wieder nach Hause zu kommen und etwas Normalität wiederzuhaben.
:)
Und es hat ihm auch gut getan, wieder bei seiner Mutter zu sein. Jetzt, wo er etwas gefestigt ist, kann er auch besser mit der ganzen Sache und auch mit dem schlechten Gewissen und der Trauer seiner Mutter umgehen.
:)

Was Gozaburo betrifft, hatte ich eine Menge Spaß beim Schreiben, auch wenn ich echt lange überlegt hab, wie er reagiert. Was er jetzt genau davon halten wird, wenn seine Söhne ihn irgendwann mal damit konfrontieren, dass sie ähnliche Neigungen haben ... nun, das wird sich zeigen, wenn es soweit ist. Da verrate ich noch nichts - hauptsächlich, weil ich selbst noch nicht weiß, wie das ablaufen wird.

Übrigens finde ich die Vorstellung, die du mir in den Kopf gepflanzt hast - Seto und Ryuuji kuschelnd auf dem Sofa und sich selbst für ihre Irrtümer auslachend - sehr, sehr niedlich. Mal kucken, wie es letztendlich werden wird. Da weiß ich auch noch nichts Genaues. Die Story läuft ja gerne mal anders ab als geplant.
;)

Tjaja, was hat Gozaburo Ryuuji wohl erzählt?
XD
Eine Antwort darauf gibt's im nächsten Kapitel nächsten Sonntag. Und da gibt's dann auch etwas Yuugi, etwas Yami, etwas Rebecca, etwas Malik, etwas Ryou und etwas Mokuba.
:D
Und ich denke, zumindest eine Szene wird euch allen sehr, sehr gefallen.
*hrrhrrhrr*
*mich in ominöses Schweigen hüll*
XD

Danke noch mal und bis zum nächsten Kapitel!

Karma
Von:  Soichiro
2020-02-16T19:33:23+00:00 16.02.2020 20:33
Hey :)

Also der Titel des Kapitels ist ja eindeutig passend!
Ryuujis Auftauchen hat Seto und Katsuya ja wirklich ziemlich überrascht!
Und natürlich bin ich froh, dass Ryuujis Kopf noch dran ist und Katsuya bereit ist, dass auf einen Tag später zu verschieben ;)
Die Szene im Auto zwischen Ryuuji und Seto fand ich übrigens sehr bewegend. Und es war einfach schön, dass die Zwei ganz normal miteinander gesprochen haben.
Dass sie danach dann doch wieder etwas auf Abstand gingen, war dann leider abzusehen gewesen. So sind die Zwei eben!

Und Himmel bin ich froh, dass Gozaburo so über die Sexualität seines Stiefsohnes denkt. Versteh mich nicht falsch, ich denke nicht schlecht von ihm. Aber ich hatte schon Angst, dass ihn das richtig umhauen würde und er vielleicht auch Zeit brauchen würde, um es zu verarbeiten.
Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass das Gespräch zwischen ihnen gut verlaufen wird und Ryuuji sieht, dass sein Stiefvater ihn deswegen sicherlich nicht verstoßen wird!
Antwort von: Karma
16.02.2020 20:45
N'Abend!
*wink*

*tihihi*
Ja, der Kapiteltitel war schon mit Absicht so gewählt. Immerhin gibt's ja doch ein paar Überraschungen.
:D

Die Szene im Auto zu schreiben hat mir eine Menge Spaß gemacht, auch wenn's für die Zwei - mal wieder - nicht einfach ist. Aber so ein minimal winzigkleines bisschen Annäherung und gegenseitiges Verständnis musste einfach sein.
:)

Hach ja, Gozaburo ... Das war echt ein hartes Stück. Ich hab soooo lange überlegt, wie er wohl reagieren würde. Es war eigentlich alles dabei, von kompletter Akzeptanz über Ignoranz des Ganzen oder gar Ablehnung und Verachtung. Aber nichts erschien mir irgendwie richtig passend. Nicht so, wie ich Gozaburo in dieser Story angelegt habe. Und irgendwann abends kurz vor dem Einschlafen hatte ich dann die Idee, dass Gozaburo davon vielleicht mehr Ahnung hat als man ihm zutrauen würde, weil er mal auf einer reinen Jungenschule war. Und die Idee hat mich einfach nicht mehr losgelassen, also hab ich sie umgesetzt.
^_____^
Ich muss gestehen, ich war kurzzeitig versucht, ihm auch Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht anzudichten, aber irgendwie passte das nicht. Gozaburo war und ist hetero, aber eben halt nicht so vorurteilsbehaftet wie man vermuten könnte.
Ich muss gestehen, seine Reaktion zu schreiben hat mir an dem Kapitel mit den meisten Spaß gemacht. Er ist hier halt mal wirklich ein guter Vater, der nicht sofort alles ablehnt, was er nicht kennt, sondern erst mal darüber nachdenkt und sich damit auseinandersetzt. Ich mag ihn.
<3

Freut mich, dass du auf deine Kosten gekommen bist!
*____*

Karma


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