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Last verse of dawn

von

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Prolog

Zuweilen spürte ich, wie sie inmitten der Rastlosigkeit der Welt zu mir fanden. Seine Augen, noch immer die tiefen, schwarzen Seen, in denen ich damals mein Spiegelbild erkannte. Das verlogene und falsche, das, stets lächelnd, all den Leichtgläubigen begegnete. Und während sie das mitunter hilflose Lächeln zugetan erwiderten, las ich in seinen schwarzen Pupillen die Wahrheit über mich. Wenn er mich ansah, ob flüchtig oder vertieft, dann wusste ich, dass meine Hülle belanglos war und meine Wirklichkeit sich in einem Nebel zu offenbaren schien, den nur er erkannte.

Bemerkte er mich in einer Gruppe, scherzend inmitten des warmen Brodem aus Respekt und Zuneigung, so erkannte er doch die Momente, in denen ich nicht umhin kam, dennoch vor Einsamkeit zu vergehen. Hörte er mein Lachen, schien meine verbitterte, innere Stimme nicht minder laut in sein Bewusstsein zu dringen und wie oft nahm ich selbst seine Regung wahr, wenn ich Worte über die Lippen brachte, die nicht meiner Meinung entsprachen sondern der Notwendigkeit.

Ich wusste nicht, wann er dieses Wissen über mich erlangt hatte. Vermutlich im Lauf der Zeit, in der wir uns näher waren, als für fremde Augen ersichtlich. Vermutlich tat er es durch die verborgene Aufmerksamkeit, die er schon immer besaß und die Gabe, unpassend erscheinende Puzzleteile zumindest nahe zueinander zu legen. Er lüftete viele meiner Schleier, doch was auch immer er unter ihnen fand und welche Gewissheit sich auch daraus ergab, er beanspruchte jede Erkenntnis für sich. So erschuf er zwar das Bewusstsein in mir, viel von dem zu hören, was ich nicht sagte, doch niemals das Gefühl, Erwartungen an mich zu richten.

Wenn er mich durchschaute, konnte ich es nur vermuten, da er es niemals in geradlinige Worte fasste. Und wie erschütternd waren die seltenen Momente, in denen er es nur andeutend tat. Beiläufige Bemerkungen, ob wir nun alleine waren oder inmitten von vertrauten Menschen.

Stets waren es doppelsinnige Ausdrücke, die für fremde Ohren nicht bedeutungsvoll klangen, doch mich innerlich erstarren ließen. Im Rahmen banaler Debatten führten wir oft ein eigenes Gespräch mit nur zu vermutenden Blicken, durchdachten Worten und Hinweisen, die nur wir verstanden. Zu dieser Form der Verständigung war es schnell gekommen, ohne dass wir uns zu einigen hatten. Und wie meisterhaft kommunizierten wir und mieden indessen jedes Wort.

Ich erinnerte mich oft an die Zeit, in der sein Bildnis aus der Ferne der Kameradschaft näher rückte. Nach Monaten, die wir auf dem gemeinsamen Weg verbrachten, öffnete ich die Augen und erkannte perplex den verspielten Hauch einer verborgenen, abgrundtiefen Persönlichkeit. Wie bedacht folgte ihm mein Blick von da an. Wie heilig und fragil war jede Betrachtung und nur wenige meiner Erinnerungen waren so scharf wie das Bild des jungen Mannes, der das entweihte Grab umsorgte und sich demutsvoll hinab neigte. Deutliche Umrisse spiegelten die Abgeschiedenheit wieder, in der er sich diese Gesten gestattete und glaubte, dabei alleine zu sein.

Er ahnte nicht, dass er beobachtet wurde und auch später geschah so viel ohne sein Wissen.

Wie sicher fühlte ich mich im toten Winkel seiner Achtsamkeit, wie geschützt im verbotenen Bereich, an den niemand einen Gedanken verschwendete. Wie viele Hürden umging ich, ohne sie in Frage zu stellen, mich ihm nähernd wie ein Raubtier und letztendlich eine Grenze überschreitend, die mir jeden Fluchtweg verbaute.

Nur selten fühlte ich mich so lebendig wie in dem Moment, als ich mir nahm, wonach ich zu diesem Zeitpunkt bereits ausgehungert gierte. Als ich ihn berührte, erforschte, den bitteren Geschmack meiner Selbstsucht nicht wahrnehmend. Ich bewegte mich ebenso blind, wie er es damals war, rührte nicht an seinen Fesseln, ließ ihn frieren und was auch immer daraufhin folgte, mein fixierter Verstand war nicht in der Lage, das Gefühl von Reue zu entsenden.

Nicht einmal durch das gegenwärtige Bewusstsein, dass ich es war, der ihn erweckte, ihm die Augen öffnete und sich vor ihnen als stumpfer Widerspruch offenbarte. Was er möglicherweise stets ahnte, bestätigte ich arglos und unumstößlich. Der Junge, der einst das Hauptquartier betrat und als freundlich, heiter und zugänglich galt, der nicht widersprach und schlimmstenfalls ein verhaltenes Lächeln zeigte, ansonsten loyal, selbstlos und stets im Dienst des Guten. Die Gegenwart dieses Jungen verblasste nach knapp einem Jahr unter dem wissenden Blick der annähernd schwarzen Augen.

Und kaum war er fort, da manifestierte sich im Dunkel der zurückgebliebenen Leere ein neuer Mitstreiter. Dem anderen äußerlich ähnlich, doch innerlich unvergleichbar mit der jungen Unschuld. Der neue Kamerad war nicht wortkarg, doch lebte noch intensiver in seinen Gedanken.

In den Genuss seines natürlichen Wohlwollens kamen nur die Vertrautesten und selbst diese unterlagen zuweilen einem Kalkül aus Herzlichkeit und milden Worten. Seine Heiterkeit bestand teils aus ehrlicher Zufriedenheit, doch überwiegend aus der Entlastung, der eiskalten Klaue der Vergangenheit eine Nacht lang entronnen zu sein. Er war glücklich, wenn die schwarze Traumgestalt ihn nicht erstickte und die Schatten nur Schatten blieben.

Sein restlicher Frohsinn war ein Schutzwall, auf dass es keinen Anlass für besorgte Fragen gab. Loyalität spürte er gegenüber seinen Freunden, doch am loyalsten folgte er dem eigenen Überleben und der Suche nach der Rechtfertigung für seine Existenz. Und er war nicht selbstlos, denn mehr als sich selbst besaß er lange Zeit nicht. Es war ein Mensch, der lange im Verborgenen lebte, durch einen ungewohnt humanen Zug die Freiheit gewann und sich von da nicht mehr zurückziehen konnte. Also blieb er gegenwärtig, doch sichtbar nur für die schwarzen Augen.

Bisweilen war es furchterregend, wie rasch sie mich erfassten, doch kein einziges Mal verfluchte ich das Schicksal, das ich wählte. Der Junge, der den Anfang machte, wäre nie imstande gewesen, das spärliche Interesse, das Yu Kanda der Welt schenkte, auf sich zu ziehen und dort zu bannen. Zur richtigen Zeit hätte er die falsche Wahl getroffen und wäre er nicht an seiner Gutgläubigkeit zugrunde gegangen, so wäre die Guillotine durch seinen Großmut gefallen.

Der Weg, den das gewitzte Leben uns zugespielt hatte, war dunkel.

Nur langsam tasteten wir uns bisweilen voran, stolperten über Hindernisse, setzten einen Fuß vorsichtig vor den anderen und wie oft gingen wir endlos und blind geradeaus, ohne den anderen zu erreichen.

Doch keiner von uns hätte jemals inne gehalten, um sich nach Abzweigungen umzuschauen.

Er schätzte meine verborgene Dunkelheit und ich sein verborgenes Licht.
 

~tbc~

1

Ein Mensch wirkt anders, wenn mit jedem Atemzug das Leben aus ihm strömt. Sein Gesicht, das sich zu Lebzeiten zu unterschiedlichsten Mimiken verzog, offenbart nur noch eine erstarrte Maske. Eine hässliche, die dem Körper und der Seele dorthin folgt, wo sich Wille und Wunsch nach dem Tod vermuten.

Ich denke, viele sehnen sich nach dem Himmel. Einfach nach einem Ort, an dem ihr subjektives Recht waltet und man Frevel durch kalkulierte Menschlichkeit tilgt. Der selbst dem unseligsten Wesen Erlösung bietet und ein warmes Bad aus Versöhnung und Erhabenheit, in das sie ihr groteskes Selbstbild erbrechen können.

Jedes Geschöpf verlangt nach der eigenen Gerechtigkeit und während ich das zur Maske erstarrte Gesicht sehe und die letzten Zuckungen des Körpers, der sich windet, als wolle er sich an jeden Atemzug klammern, an jede Brise des Lebens, im Wissen, dass sie nimmer zu ihm zurückkehrt; während ich den kupfernen Geruch des Blutes atme und die Hitze der Flammen spüre, die den Sterbenden züngelnd versengen, da lasse ich mich umarmen von der Gerechtigkeit, die ich als richtig erachte.

Ich spüre ihre Wärme, als sie sich um mich schließt, mir ihre Geborgenheit schenkt und die Auffassung, dass es so etwas wie einen Himmel niemals gab. Dass dieser Mann, so sehr er sich auch nach seinem Elysium sehnt, nur die Hölle findet. Dass die Qualen, die ihn noch vor wenigen Momenten schreien ließen, ihn bis über die Grenzen des Todes verfolgen und sich in gnadenloser Treue an ihn schmiegen.

Dass die Abtragung der Schuld keine Rolle spielt, sondern allein die Bestrafung.

Ich möchte, dass er leidet, doch nach einem letzten Röcheln ermattet der Körper, der weit über mir an die Fassade einer Kirche genagelt ist. Ein riesiger Sperr durchdrang seine Brust, durchdrang auch das Gestein und wie lange windete er sich dort oben, wie lange schrie er nach seinen Verbündeten, wie lange dauerte sein Tod und wie geduldig schaute ich zu. Für meinen Teil hatte er sich nicht zu beeilen, doch sein Blut war so rasch die Fassade hinab geronnen, dass seinem Körper nichts mehr blieb, das ihn an das Leben band.

Der annähernd schwarze Rauch des Feuers brennt in meinen Augen und sticht in meinen Lungen, während goldene Funken mich umstieben und sich das morsche Krachen der in sich zusammenstürzenden Häuser erhebt. Ruß hat mein Gesicht annähernd schwarz gefärbt, mein Blut den Stoff meiner Uniform durchtränkt. Vielleicht gibt es Schmerzen in meinem Körper. Vielleicht sind die Wunden tief.

Es existieren unzählige Möglichkeiten, jedoch nur eine Gewissheit. Der Tod ist das Beste, das diesem Mann geschehen konnte. Er kommt einer Flucht vor unserer Vergeltung gleich und lässt uns zurück mit dem bitteren Geschmack der Endgültigkeit. Die Tragödie hat bis zu diesem Punkt geführt. Wie endlos wirkte sie, um keine Grausamkeit verlegen, und noch immer blicke ich nach oben, als bräuchte mein Verstand diese Sicherheit. Als müsste ich meinen Augen die Gewissheit bieten, dass er nicht mehr atmet, sich nicht mehr regt. Mit seinem Tod wird die Welt um einen Deut heller.

Keine Facette der Loyalität, die er schwor, rettete ihm das Leben. Der finstere Verbündete, der diesem Mann ein übermächtiger Heiliger war, tat nicht genug und bei weitem nicht, was für ihn erschwinglich wäre. Die Kadaver der Akuma, begraben unter den staubigen, verkohlten Ruinen der Häuser, machten es uns schwer, doch nicht unmöglich. Sie verletzten uns, erschöpften uns, doch töteten uns nicht.

Wir zerschmetterten sie, zerstörten sie, erlösten sie und wie inniglich musste in uns das Verlangen pulsiert haben, den Broker, der drei unserer Kameraden zu Tode folterte, lebendig in die Hände zu bekommen. Ohne die schützende Mauer aus Akuma. Nur wir, er, und unsere Gerechtigkeit.

Das lose Gestein unter meinen Füßen beginnt zu bröckeln. Ich spüre, wie der Boden unter mir zerfließt, als Lavi und Chaoji zu mir treten. Ihr Atem erreicht mich gedrungen, auch sie umgibt der Brodem aus Blut und Schmerz und nur andeutungsweise begegnen sich unsere Blicke, bevor wir alle drei empor spähen.

Schutt rieselt von einem nahen Dach, krachend unterliegt ein Dachstuhl den noch immer wütenden Flammen und wie gebannt betrachte ich mir das Glänzen des Blutes, das über die Kirchenmauer rinnt. Der Tote wurde zu einem Schatten. Sein Körper verliert an Bedeutung, wenn der widerliche Geist nicht mehr in ihm wohnt.

Wir würden nach ihm greifen, bevor er entflieht, würden ihn zurückzerren in unsere Welt, doch unsere Hände bleiben gesenkt.

Bald werden wir uns den dritten Sarg betrachten. Sie werden ihn im Hauptquartier aufbahren, in feierlichem Gedenken, und sie werden den Verstorbenen als Exorzisten in Erinnerung behalten, obgleich er noch keiner war. Er war kompatibel, er war jung und er war arglos. Für ihn war die Welt viel schöner, als es der Realität entspricht. Für ihn existierte die göttliche Gerechtigkeit, auf ihn warteten Wege und Ziele, doch sein Leben endete so früh, dass sein Glaube belanglos wurde und sein Tod zu bitterem Sarkasmus.

Zwei Monate nutzte er den Schutz, den Marshall Sokaro ihm als Meister bot. Zwei Monate bewegte er sich in seiner sicheren Nähe, bevor der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit ihm überschwängliches Selbstvertrauen verlieh und die Idee von Unabhängigkeit und Stärke.

Wie ein Vögelchen, das, von der Sonne geblendet, seine unterentwickelten Flügel übersieht, aus dem Nest stürzt und sich nackt und hilflos auf dem Boden windet, bis ein Fuß es zertritt oder eine Hand es aufhebt. In diesem Fall traf der junge Exorzist auf einen Gegner, dem er nicht gewachsen war. Ein ungleicher Kampf führte zu schweren Wunden und wie froh war er, als er zu sich kam und das Zimmer eines Krankenhauses erkannte.

Die göttliche Gerechtigkeit schien noch gegenwärtig, doch wie erbärmlich muss es ihm in den nächsten Wochen erschienen sein, sich an diesen Glauben zu klammern. Als er in die Obhut eines Arztes geriet und Opfer diverser, bestialischer Versuche wurde. Während Drähte und Schläuche in ihn geschoben, seine Haut durchbohrt und seine Gedärme durchschnitten wurden. Während Chemikalien ihn verätzten, Gifte ihn zerfraßen und sich unermüdlich der Stift über das Papier bewegte.

Im Auftrag des Grafen, doch auch mit erheblicher, eigener Motivation, hatte der Arzt den jungen Mann zum Utensil degradiert, und obgleich ein sehr wichtiges Testobjekt, war er innerhalb weniger Wochen qualvoll gestorben und hatte allerhand Thesen widerlegt.

Für den jungen Mann war der Kampf vorbei noch bevor er begann und vermutlich ahnte er es nicht, als er auf dem Untersuchungstisch lag, dass er der dritte war, der sich auf dem kalten Stahl windete. Im Labor des Arztes gab es Aufzeichnungen, die das Geheimnis um das frühere Verschwinden zweier Exorzisten auf tragische Weise lüfteten.

Die Recherchen der Finder führten zu dem Mann, der in seinem Kittel in engelhaftem Weiß erstrahlte und hohe Posten bekleidete. Der lächelte und dessen irrsinniges Blitzen in den Augen mit Wachheit verwechselt wurde. Ermittlungen führten lediglich zu leisen Kritikpunkten und Unstimmigkeiten, doch die Brisanz hatte Komui keinen Augenblick zögern lassen.

Möglicherweise war es zu früh zu Chaoji. Soeben erst aus der Obhut Tiedolls entlassen, hätte er Missionen für ihn bevorzugt, die sich in ihrer Schwierigkeit langsam steigerten, doch die Gefahren waren Chaoji bekannt, als er sich bereit erklärte und gemeinsam mit Lavi die Recherchen der Finder mit Nachdruck fortsetzte. Sie stellten Fragen, sie waren achtsam und sie ahnten, dass die Lunte entzündet war. Nur mit einer so frühen Explosion hatten sie nicht gerechnet.

Natürlich war es schwer für Chaoji, doch die düsterste Grausamkeit repräsentierte, was vor ihm lag und stellte sicher, dass er nicht selbst zu einem Vogel wurde, der seine Flügel überschätzte.

Kurz bevor es in Bangkok eskalierte, war Sokaro selbst nicht weit entfernt und meine ebenso nahe Mission von geringerer Priorität. Nur wenige Worte hatte Komui am Telefon zu verlieren, bevor ich alles zurückließ, das ich begann, und wenn die hastige Reise auch an meinen Kräften zehrte, zur rechten Zeit war ich einer von jenen, die beendeten, was nie einen Anfang hätte haben dürfen.

Zu viert gierten wir nach dem Feind aus Fleisch und Blut. Wir trachteten nach ihm, als hätte sich der Zorn der toten Kameraden in uns manifestiert und wie gnadenlos schlugen wir uns durch die Reihen der Akuma, die ihn hinter sich bargen. Wir ertrugen viel für unsere Vergeltung, doch der Impuls war übermächtig und wie wärmend auch der Gedanke, jeden unserer Freunde vor einem solchen Schicksal zu bewahren. Niemand sollte einem solchen Wahnsinn zum Opfer fallen, niemand auf eine solche Weise sterben.
 

Reglos starren Chaoji und Lavi noch immer empor, als ich zur Seite spähe und den Schatten erkenne, der sich auf einem nahen Dach niederließ. Wie eine schwarze Krähe hockt Sokaro außerhalb des Feuerscheins, leicht geduckt, sich auf die riesige Klinge stützend und so reglos wie ein deplatzierter Wasserspeier. Sein Gesicht bleibt hinter der stählernen Maske verborgen und obgleich ich ihn als fremdes, undurchschaubares Wesen empfinde, stelle ich mir die Frage, weshalb er dem Broker seine Klinge verwehrte und seinen Tod stattdessen mit einer Lanze an dieser Kirchfassade improvisierte.

Die Methode ist reicher an Qual, ist auch reicher an Zeit und wie seltsam ist es, in dem erbarmungslosen Akt eine menschliche Regung zu vermuten. Möglicherweise ist es ein winziges, fragiles Fragment von Sympathie, das bald mit dem Sarg seines Schülers begraben wird. Der Stahl seiner Klinge blitzt auf. Er scheint sich zu regen und neben mir erwacht auch Lavi zum Leben.

Sein Blick wird dem toten Schatten untreu. Abermals begegne ich ihm, bevor sich mein Kamerad abwendet und nach seinen Ärmeln tastet.

Seine Hände sind überzogen mit einer porösen Schicht aus Blut und inmitten des Gestankes und des Drecks streift er den Stoff höher und legt Wunden an seinem Unterarm frei. Ich höre ihn zischen. Das Gestein unter seinen Schuhen knirscht, als er wenige Schritte geht und unweigerlich werde ich auf Chaoji aufmerksam. Er rückt an der Uniform, als wäre ihre Ordnung das einzige, das sein Bewusstsein derzeit entsendet. Seine Hände zittern, als er den Kragen richtet und kaum begegnet er meinem Blick, da zieht ein unsicheres Lächeln an seinen Lippen.

„Wird es einfacher?“, fragt er dann und während ich ihn ansehe, stelle ich mir diese Frage selbst.

Beinahe höre ich die Worte in meinem Kopf, auf die mein Verstand keine sofortige Antwort kennt.

Wird es einfacher?

Gegen einen Feind zu kämpfen bedeutet gleichzeitig, das eigene Leben zu schützen und ich tat es, seit ich die schwarze Uniform trage. Jeder Handgriff, mit dem ich die Reißverschlüsse schloss und die Knöpfe in den Löchern versenkte, brachte mich dem Fallbeil näher und nahm mir jedes Anrecht auf Sicherheit. Ich gewähre dem Menschen Schutz und der missbrauchten Seele Erlösung und dem Schicksal indessen mein Leben als Blutzeuge. Es braucht nur die Hand zu strecken und danach zu greifen. Ich würde mich ergeben, ohne eine Absolution zu suchen für die Taten, die notwendig sind oder für den Preis, den ich zahle.

Ich töte.

Das ist es, worauf es hinausläuft und jeder hat selbst zu entscheiden, ob er diese Bestimmung nur mit Rechtfertigung erträgt.

„Einfacher, ja“, antworte ich Chaoji letztendlich. „Aber niemals leicht.“

„Ich verstehe.“ Ich sehe ihn schlucken, bevor seine Augen abermals nach dem Blut suchen.

Er betrachtet es sich, als wäre es die Hürde, die es zu überwinden gilt. Bisher zögerte er niemals, bevor er zum Sprung ansetzte und kurz erreicht meine Hand seine Schulter, bevor ich mich abwende und mir einen Weg bahne vom Berg aus Schutt und Asche.

Die Stadt um mich herum brennt, doch es ist ruhiger geworden und kurz suche ich bewusst nach dieser Stille und atme ihre leere Gegenwart.

Sie begegnet mir oft und an jedem Ort, an dem das Gift der Akuma in den Erdboden sickert. Sobald die Explosionen verstummen, bleibt nur noch das sanftmütige Knistern des Feuers und würde man die Augen schließen, fernab vom beißenden Rauch, so würde man die Lautlosigkeit mit Frieden verwechseln und zumindest innerlich lächeln.

Wohltuende Brisen erreichen mich, als sich Timcanpy nahe an meinem Gesicht vorbeibewegt. Fast berühren seine goldenen Flügel meine Haut. Er, denke ich mir unterdessen, ist der einzige von uns, der niemals den Verstand verlieren wird, denn um bei Sinnen zu bleiben, hat man ein Objekt zu sein und durch Schaltkreise zu funktionieren. Was atmet und fühlt, ist der Zerstörung geweiht.

Auf dem Weg dorthin versuche ich die Tatsache auszublenden, dass dieser Ort, an dem geschah, was nicht der alltäglichen Vernichtung entspricht, erschreckend schnell einem Anblick verfällt, der beinahe zu diesem Trugschluss zwingt.

Die Leiche an der Kirchenmauer wird ohne all die Aufmerksamkeit zu einem banalen, grauen Teil der Trümmer. Es wird auch nicht lange dauern, bis die Finder durch die Stadt ziehen.

Ihre beigen Mäntel werden sich wie Ameisen durch die Trümmer bewegen und sie werden retten, was zu retten ist.

Das ist die Aufgabe der Nachhut. Wir, die am Anfang stehen, kommen oft nur zum Verwüsten.

Und kaum dass die Brände erlöschen und der Rauch sich legt, beginnt sich das Bild zu drehen.

Sokaro, soeben noch ein schwarzer Schatten auf dem Dach, ist verschwunden. Einem Wunder kam es gleich, dass er sich überhaupt am Kampf beteiligte und bei diesem einen Wunder bleibt es. Das Kapitel ist beendet, und wenn er weiterblättert in seinem finsteren Buch, dann tut er es woanders. Wie eine schwarze Krähe zieht es ihn weiter und während er in Bewegung bleibt, halten Chaoji, Lavi und ich noch immer inne. Unsere müden Schritte führen uns in ein nahes Krankenhaus, eines der wenigen Gebäude, deren Zustand vertrauensselig genug ist, um es zu betreten.

Und wie schauerlich ist das, was kurz darauf geschieht. Zuerst ist es nur offensichtlich, makaber wird es erst durch meine Gedanken. Chaoji trennt sich von uns, um nach einem Telefon zu suchen. Das Hauptquartier zu kontaktieren, hat für ihn eine hohe Priorität, doch noch höher mag die sein, eine kurze Distanz zu schaffen und mit den Gedanken alleine zu sein.

Es ist eine Maske, die er sich über sein wahres Gesicht streift. Die Motive bleiben ihm überlassen und sind in jedem Fall recht. Bei Lavi mag es nicht sehr viel anders sein. Ich höre ihn seufzen, während ich die Schränke des Behandlungszimmers nach Verbandsmaterial durchsuche. Er sitzt hinter mir, sank in einen der Stühle, kaum dass wir den Raum betraten.

„Vor zwei Monaten war ich mit dem Panda in Griechenland“, höre ich ihn dann sagen. „Die Mission war nicht lang. Auch nicht wirklich wichtig. Aber es musste getan werden, du weißt schon.“

„Ja.“

„Jedenfalls, als wir fertig waren, musste der Panda noch woanders hin und Komui sagte, ich könne mir Zeit lassen, mich irgendwo einquartieren, ordentlich schlafen. Ich fand eine gute Herberge und dann, als ich in der Gaststätte saß, da sah ich sie.“ Ich komme nicht um ein Schmunzeln, als er eine dramaturgische Pause einlegt. „Das schönste Geschöpf. Volles schwarzes Haar, blaue Augen. Du hättest sie sehen müssen. Ihr Englisch war ganz gut und wir haben uns unterhalten. Sie mochte mich anscheinend und wir sprachen fast die ganze Nacht über alles Mögliche. Es war toll und erst als wir kaum noch die Augen offen halten konnten, trennten wir uns. Aber am nächsten Morgen wollten wir uns wiedersehen.“ Er lächelt bei der Erinnerung, als ich mich zu ihm setze. Meine Fundstücke reichen für eine provisorische Versorgung und er lächelt immer noch, als ich mir seine Wunden betrachte. Sie sind tief. Es ist ein Wunder, dass die Blutung versiegte.

„Wie ging es weiter?“, frage ich, als ich die Verletzungen notdürftig zu reinigen beginne.

„Gar nicht. Mitten in der Nacht brach ich auf, weil Crowley Hilfe brauchte. Ich war der Einzige, der in der Nähe war und als ich die Nachricht bekam, zögerte ich nicht. Damals waren die Prioritäten klar aber im Nachhinein tut’s weh. Ich glaube, sie hat mich wirklich gemocht, Allen. Das ist mein Ernst.“

„Ich weiß.“

„Das waren Schmerzen“, fährt er fort und weist auf seinen Arm. „Dagegen ist das hier gar nichts.“

Ich nicke verstehend, zücke eine Verbandsrolle und frage mich gleichzeitig, wie er es sich vorgestellt hätte, eine solche Beziehung am Leben zu erhalten. Vermutlich war es nie mehr als ein Traum und eine Sehnsucht nach etwas, das für jeden objektiven Verstand utopisch ist.

Er seufzt, als denke er noch immer an das schöne Geschöpf mit den blauen Augen, doch durch den Schleier seiner Worte hindurch sehe ich nur eine weitere Maske. Während Chaoji sich die Stille sucht, die sein sensibler Charakter benötigt, bevorzugt es Lavi, die Aufmerksamkeit nachdrücklich umzulenken.

Es ist nicht das schöne Geschöpf, das derzeit sein Bewusstsein beherrscht, eher ist es wohl der Wunsch, den Geschmack des Geschehenen zu verwässern, wenn er ihn schon nicht ausmerzen kann. Unter seiner Haut spannen sich keine Drähte. Auch Chaojis Empfindungen lassen sich nicht programmieren und so sahen wir ein, dass wir eine Lösung benötigen, um unser Überleben zu sichern.

Wir alle begaben uns auf die Suche, wir alle folgten einem Weg, den wir für gut und richtig erachteten und wenn es auch nur scheinheilige Masken sind, die wir fanden, wir nahmen sie an uns und geben sie nicht mehr her.

Verborgen verwahren Chaoji und Lavi das falsche Angesicht in ihrer Nähe, angewiesen auf die Sicherheit des Wissens, es bei jeder Angewiesenheit sofort zu erreichen. Doch makaber ist nicht die Gegebenheit, dass meine Kameraden Gebrauch von der schützenden Bigotterie machen, es ist meine Wahrnehmung, die sich vorrangig in Momenten wie diesen so hochkonzentriert in meinem Kopf staut, dass sie mir aus den Augen treten müsste, aus dem Mund und den Ohren.

Alle drei tragen wir derzeit eine Maske, denke ich mir, als ich den Verband über Lavis Wunden streife.

Doch nur zwei von uns setzten sie gerade auf und werden sich schon bald wieder von ihr lösen. So grotesk es auch scheint, ich genieße die Anlässe, in denen meine Maske nicht die einzige ist und meine Freunde sich dem Spiel anschließen. Ich werde unauffällig in diesen Momenten, bilde ich mir ein.

Ein normaler, ehrlicher und simultaner Teil des Ganzen.
 

Allzu oft ist das Betreten des Hauptquartiers nicht nur die Heimkehr, sondern die Verdeutlichung all dessen, das Verlust bedeutet. Viel zu oft streifen wir durch die Gänge und vorbei an Türen, hinter denen sich einst unsere Freunde und Kameraden Zuhause fühlten.

Wenn ihre Existenz erlosch und sich auf mehrere Stunden dezimierte, innerhalb eines Sarges und aufgebahrt in der Halle, in der man ihr die letzte Ehre erweist, dann stellen jene Türen nur noch etwas dar, hinter dem sich leerer Raum erstreckt und Erinnerungen. Man betrachtet sie sich, bevor man an ihnen vorbeizieht. Der eine oder andere bleibt vermutlich stehen, doch letztendlich entsinnen wir uns alle nur daran, dass unser Leben von Beginn an auf Messers Schneide basiert und tödliche Verletzungen davonträgt, sollte es durch eine Übermacht an Gleichgewicht verlieren.

Es ist Stärke, die uns Balance schenkt. Auch der Wille, einander Schutz zu spenden und die Mauer unserer Gemeinschaft zu festigen. Obgleich jeder von uns nur ein Fragment ist, bilden wir zusammen doch das Ganze und rücken nur noch näher zusammen mit jedem Teil, das uns entrissen wird.

Auch diesmal umgibt uns dumpf die Atmosphäre der bewussten Zerstreuung, als sich die Türen des Fahrstuhles vor uns öffnen und dann schenken wir uns ein knappes Lächeln. Eine Hand berührt die Schulter eines anderen, ein schwer zu deutendes Nicken und so strömen wir auseinander, allesamt müde und in matten Schritten.

Lavis Weg führt zur Krankenstation, Chaoji verschwindet in seinem Zimmer und wie gedankenvoll mustere ich den Boden, der unter meinen Füßen vorüberzieht, als ich mich dem Speiseraum nähere. Nur begleitet von Timcanpys Flügelschlägen und dem leisen Kratzen meiner Stiefel.

Einen Tag ist es her, dass man den Körper unseres Kameraden in der Dunkelheit dieser Mauern verbrannte und seine Existenz auf graue Asche begrenzte. Wir waren nicht hier, als der Sarg, bedeckt mit dem Banner, zur makabren Zierde der Gedenkhalle wurde. Während so mancher stehen blieb und den Kopf senkte, zerstörten wir, was unseren Freund zerstörte und nun, da wir heimkehren, ist jede Spur des Kameraden ausgelöscht.

Absent mustere ich die verschiedenen Steine, über die ich hinwegziehe. Der vertraute Geruch nähert sich bereits. Auch allerhand Geräusche dringen an meine Ohren und verkünden das nahe Ziel.

Es ist in den frühen Morgenstunden und das Leben an diesem Ort längst erwacht. Bekannte Gesichter begegneten mir in den letzten Momenten. Vertraute Stimmen begrüßten mich und ebenso vertraut war die freundliche Geste meiner Erwiderung. Alles zeugt von dem, was hier als Alltag gilt.

Auch Jerrys Lächeln verlor nicht an Herzlichkeit und letztendlich bleibt auch mein Appetit unverändert. Wie immer wechsle ich gerne Worte, bevor ich mein Essen entgegennehme. Wie immer erwidere ich diverse Grüße auf meinem Weg zu einem freien Platz und als ich mich dann niederlasse inmitten der gewohnten Kulisse aus Regung und Geräusch, da heben und senken sich meine Schultern unter einem tiefen Durchatmen.

Meine gedankliche Absenz endete, als ich diesen Saal betrat und natürlich und ganz unweigerlich sondierten meine Augen die Umgebung. Sie taten es unauffällig und ebenso unscheinbar war die Enttäuschung, als sie lediglich die beigen Mäntel der Finder erspähten, durchwoben von vereinzelten weißen Kitteln.

Zum erneuten Mal bleibt die Schwärze meiner Uniform die Einzige, doch es geschieht so oft, dass ich mich längst daran gewöhnte.

Als sich meine Hände dem Essen widmen, bemerke ich den Schmutz, der noch immer auf meiner Haut haftet. Der Dreck des Schlachtfeldes ist ein treuer Begleiter, doch geduldet aufgrund meiner Prioritäten. Wenn mein Bauch gefüllt ist, denke ich mir, als ich den Löffel in einen Pudding tauche, werde ich duschen, werde mir saubere Kleidung überziehen und gleichsam alles von mir streifen, was mit der Mission zu tun hat.

Die Treue des Vergangenen ist stets nicht lange erwünscht und sobald ich dann äußerlich wieder rein und hell bin, wird es auch mein Inneres sein und mein Wille bereit für alles, was in der Zukunft liegt.

Als ich den Saal nach zwei Stunden verlasse und zurückkehre in die Kühle der grauen Gänge, da fühle ich nicht die kalte Luft und sehe nicht die fehlenden Farben. Meine Rückkehr an diesen Ort ist wohltuend. Sie ist es jedes Mal, denn wie oft driften meine Augen über das Gestein der Wände und des Bodens.

Wie oft betrachte ich mir Türen und Durchgänge und sehe die Vergangenheit vor ihrem tristen Bildnis. Erinnerungen begleiten mich, nehmen die Kälte und ersetzen die Farben. Fast meine ich sogar einen vertrauten Geruch wahrzunehmen, dem ich witternd folge. Kein Parfüm, auch keine andere aufdringliche Note.

Es ist ein Duft voller Natürlichkeit und doch so reich an Intensität und Einmaligkeit. Ich nehme ihn wahr, als ich die Duschen verlasse, als ich das runde Treppenhaus betrete und unweigerlich zieht es meine Schritte zur Seite. Tür um Tür lasse ich hinter mir und nur kurz betrachte ich mir die eine, bevor ich auch an ihr vorbeiziehe.

Es geschieht oft, dass mich meine Sinne narren und sich das Dasein humorvoll an meiner Hoffnung ergötzt. Wie gerne schickt es mir dann diese Impressionen und wie muss es sich amüsieren, wenn ich wie ein Tier der Fährte folge, dem instinktiven Drang nicht wiederstehend.

Er ist hier.

Das glaube ich auch diesmal zu wissen, bis ich an seiner Tür vorübergehe. Er ist es nicht, weiß ich dann und betrete meinen eigenen Raum. Jedes Mal hoffe ich. Jedes Mal wähne ich mich in Sicherheit, wenn ich meine Sinne dem Wiedersehen entgegendriften und die Gegenwart vernachlässigen lasse. Es sind schöne Momente voll Hoffnung und Leichtigkeit und sie dauern an, bis ich letztendlich schmunzle und den Kopf über mich selbst schüttle.

Davon auszugehen, das Schicksal sei uns gewogen, ist allmählich über das Bizarre hinaus und angelangt im Gebiet der Albernheit. Lachhaft, dass es die Dauer von sechsundzwanzig Tagen als eine zu lange Spanne empfindet.

Dem Schicksal ist die Beschaffenheit seiner Zahnräder gleich, denke ich mir, als ich kurz darauf auf dem Weg zu einem der Bäder bin. Unter meinem Arm klemmt die saubere Kleidung, nach der meine Haut sich sehnt. Wir sind ausreichend, solange wir ineinandergreifen und die Maschinerie der Welt am Leben erhalten. Wieder erreiche ich ein Ziel, wieder greife ich nach einer Klinke und nur Timcanpys Flügelschläge mischen sich unter mein leises Ächzen, als ich eine der Bänke erreiche.

Es ist der letzte Schritt, bevor ich mich dem Notwendigen ergebe. Den Dreck von meiner Haut zu waschen und mit ihm alles, das mich mit der Vergangenheit verbindet.

Im Gegensatz zu meinen Gedanken kann ich meinem Körper Reinheit schenken.

Die Luft um mich herum ist schwer von Feuchtigkeit. Aus einer der Duschbrausen lösen sich vereinzelte Tropfen, die das triste Bild der Atmosphäre erweitern. Vor kurzem war noch jemand hier. Vor kurzem gab es hier noch Regung, vielleicht auch Worte. Ich blicke um mich, während ich die Uniform von mir streife.

Auch diesmal ist es Befreiung, den robusten schwarzen Stoff von den Schultern zu lösen und wie atme ich daraufhin die Stille dieses Ortes, den ich mit keiner fremden Gegenwart zu teilen habe.

Mit geschlossenen Augen harre ich aus im heißen Schutzmantel des Wasser, vollends versunken im Prasseln, das auf meinen Kopf niedergeht und dem Rauschen, das meine Ohren erfüllt. Es ist, als würde ich mich trennen, als würde ich versinken in einem Morast aus Wärme und Frieden und dieses Gefühl bleibt treu an meiner Seite, bis ich die Decke über mich streife und auf die Matratze sinke. Beinahe könnte man meinen, man erwache zu neuem Leben und ebenso naheliegend ist die Vermutung, dass man ein- ums andere Mal aufersteht, um kurz darauf abermals zu sterben.

Zielstrebig findet meine Hand zu Tim, bettet sich auf seinem Körper und lässt das Rauschen seiner Flügel verstummen. Noch immer sehne ich mich nach der Stille, da sie ein Teil der Finsternis ist und inmitten dieses schwarzen Nichts genieße ich tief und inbrünstig den Geruch, der mich wie eine liebliche Hülle umgibt.

In jedem Winkel meines Umfeldes durchflutet und sättigt die vertraute Aura die Luft. Es braucht keine Augen für diese Wahrnehmung, da sie zu stumpf sind und niemals durch das dringen, das sich als bloßer Gegenstand offenbart.

Ich brauche mir nicht den Tisch zu betrachten, nicht den matten Glanz der Lotusblüte hinter dem reinen Glas der Sanduhr. Nicht den Kleiderständer oder den privaten Mantel, den er trägt. Ebenso wenig achte ich auf die Farben des Fensters oder den Riss des Glases, der im Laufe der Zeit wuchs.

Es zog mich nur zu dem Bett meines geliebten Kameraden und schemenhaft scheint er sich zu mir zu legen und den Arm auf meinem Bauch zu betten. Und so wie er mir nahe kommt und sich die Tür seines Zimmers schließt, so erhebt sich eine Mauer, die kein Grauen zu überwinden vermag. Ich schlafe gut inmitten des Stoffes, der so angereichert ist mit der Präsenz seines Besitzers, dass dessen tatsächliche Gegenwart nur eine geringfügige Erweiterung wäre.

Nicht ein einziges Mal kroch der schwarze Alb in diesen Raum und auch diesmal versinke ich friedlich und steige zurück an die Oberfläche, als die Morgensonne die schwarzen Schatten sterben lässt und die Welt erstrahlt. Dann sitze ich dort, meine Umwelt wahrnehmend und mit ihr die anhaltende Stille dieses Raumes.

Er kehrte nicht zurück.

Flüchtig richte ich das Bett, bevor ich mich hinausstehle, zuvor an der Tür lauschend wie ein Mensch mit Schuldbewusstsein oder Geheimnissen. So kehre ich zurück in den Alltag, der unbekanntes für mich bereithält. Nicht mehr weit davon entfernt, in Komuis Büro zu treten und mich erneut auf den Weg zu machen in weite Ferne. Vielleicht werde ich alleine gehen, vielleicht auch an der Seite eines Kameraden, doch als ich den Speiseraum betrete, sehe ich noch immer keinen von ihnen. Finder nehmen die Plätze ein, auch der eine oder andere Wissenschaftler.

Soldaten sehe ich, Ärzte, doch keine schwarze Uniform oder eines der Gesichter, die mir am vertrautesten sind. Jerry seufzt, als ich mich nach meinen Freunden erkundige.

„Ach, Schätzchen.“ Er stemmt sich auf die Theke. „In letzter Zeit sind so wenige von euch hier. Vor einer Woche sah ich Miranda und vor ihr verköstigte ich Crowley aber du bist seit einigen Tagen der Erste. Es gibt viel für euch zu tun, nicht wahr? Was darf ich dir zaubern?“

Mitunter genieße ich es, alleine vor all meinen Tellern und Schalen zu sitzen, doch dieser Tag gehört nicht zu jenen, an denen ich die Abgeschiedenheit bevorzuge. Mir steht der Sinn nach Worten, nach einem Lächeln und Unterhaltungen der Art, die ich nachvollziehen kann. Wie gerne würde ich Erlebnisse tauschen, erfahren, was sich in den Winkeln der Welt zuträgt, auf die ich keinen Blick habe. Doch heute esse ich alleine und tue es ohne den rechten Sinn für Appetit oder Muße.

Selbstverständlich schmeckt es, selbstverständlich leere ich auch jeden Teller, doch als ich den Saal bald darauf verlasse, ertappe ich mich bei einem tiefen Durchatmen.

Die steinernen Flure begrüßen mich mit ihrer kühlen Luft und ihrer Stille und wie gedankenverloren gehe ich meinen Weg, ziehe um Ecken und drifte gedanklich fort. Manchmal höre ich Schritte, einmal grüße ich einen Wissenschaftler, doch wache kaum auf dadurch. Wie oft ist man an diesem Ort alleine, obgleich die Zahl der Freunde so hoch ist. Nur eine Begegnung wünsche ich mir, bevor ich mich abermals auf den Weg mache und wie perplex bin ich, als ich um eine weitere Ecke ziehe, absent und ohne jede Erwartung, doch stehenbleibe im Angesicht eines seltsamen Zufalles.

Mit einem Mal blicke ich auf, mit einem Mal bin ich wach und zu meinem ersten Lächeln fähig.

Es ist Marie, der vor mir steht, der innehielt, da er mich weitaus früher bemerkte und genüsslich erfüllt mein Seufzen das triste Gestein der Umgebung mit Leben.
 

-tbc-

2

Die Luft des Morgens umströmt uns erfrischend in der Höhe, in der wir es uns bequem machten. Hinter uns gähnt ein offenes Fenster, als wir auf der breiten, steinernen Fensterbank sitzen und sich unter unseren Füßen gähnende Tiefe erstreckt. Der Himmel, bereits zart durchwoben vom matten Rot des Sonnenaufganges, erstreckt sich endlos vor uns. Meinen Augen sind keine Grenzen gesetzt und suchen sie nach dem Erdboden und den Städten und Wiesen, die die geläufige Welt ausmachen, so erkenne ich lediglich leichte Strukturen. Es ist symbolisch, denke ich mir auch diesmal, während ich in einem Obstsalat stochere. Unsere Distanz zu allem, das gewöhnlich und menschlich ist, könnte nicht größer sein.

Neben mir bläst Marie über die dampfende Oberfläche seines Tees. Seit wir uns niederließen, genießen wir die Momente in wortloser Einigung, ohne die Stimme zu erheben. Zuweilen dringen die Laute der Vögel zu uns, die sich am Fuße des schwarzen Turmes und im satten Grün des Waldes tummeln. Ebenso leise pfeift der Wind durch einen Spalt des angrenzenden Fensters und in einer seiner kühlen Brisen schöpfe ich tiefen Atem.

Marie gehört zu jenen, die die Stille zu etwas Besonderem machen und ihr jede Beklommenheit nehmen. Mit ihm schweige ich ebenso gerne wie ich mit ihm spreche und spätestens als wir nun beieinander sitzen und die ersten Stunden des Tages bezeugen, fühle ich mich unbeschwert. Eine angenehme Leere herrscht in meinem Kopf und wie fern erscheinen selbst die düsteren Bruchstücke meines Lebens, die mir doch stets treue Begleiter sind.

Kauend schließe ich die Augen und unwillkürlich zieht ein Schmunzeln an meinen Lippen. Erst als Marie vor mir stand wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass selbst sechsundzwanzig Tage eine zu geringe Spanne sind, wenn ich unser letztes Treffen einzuordnen versuche. Es ist länger her, dass ich ihn sah und ebenso lange, dass ich meine Fixierung so offen vor mir sah. Die Tage zähle ich nicht bei jedem meiner Kameraden so penibel.

„Wie ich hörte, warst du in Bangkok“, ergreift er das Wort, als bestünde unsere Einigkeit ebenso bei der Frage, wann es Zeit wird, das Schweigen zu beenden. Er nippt an seinem Tee, als ich zu ihm spähe. „Geht es Lavi und Chaoji gut?“

„Sie machten den Eindruck. Vermutlich schlafen sie noch.“

Unter einem verstehenden Nicken gönnt er sich einen weiteren Schluck. Der dezente Duft von Zimt erreicht mich und unter einem Seufzen lehne ich mich zurück. Das beinahe leere Schälchen auf dem Oberschenkel bewegend, blicke ich zum Horizont. Nur der leise Flügelschlag unserer Golems bestimmt für flüchtige Momente die Atmosphäre.

„Wie ist es dir ergangen?“, erkundige ich mich kurz darauf. Neben mir greift Marie nach der Thermoskanne und schenkt sich nach.

„Ich hatte weite Wege“, antwortet er. „Mitunter betrat ich Gebiete, in die ich noch nie den Fuß setzte. Die Welt ist endlos und trotzdem traf ich mehrere Freunde in den letzten Wochen. In den fernsten Winkeln begegneten mir vertraute Menschen und vertraute Stimmen. Die Distanz zur Heimat ist geringer dadurch.“

Diesmal bin ich es, der verstehend nickt. Wovon Marie spricht, ist eine Empfindung, die auch mich oft begleitet. Nach Wochen, die man inmitten der Fremde zubringt, vermittelt selbst der beige Mantel eines Finders die Wärme der Heimat. Man fühlt sich weniger verloren und besitzt man die Zeit, kurz Worte zu wechseln, sind die Schritte belebter und zuversichtlicher, wenn man die Reise letztendlich fortsetzt.

„Ich traf Crowley in Griechenland“, fährt er fort. „Auch Marshall Cloud und keine drei Wochen ist es her, dass ich mit Kanda in einem Wirtshaus in Helsinki Tee trank.“

Unweigerlich finden meine Augen zurück zu ihm. Die Erwähnung des Namens wirkt nach außen wie ein Fragment des Satzes, das den anderen ebenbürtig ist, doch für mich gleicht sie dem Optimum seiner Worte. Während wir dann dort sitzen, frage ich mich, was sich hinter Maries entspanntem Gesicht verbirgt. Ich vermute, er schmunzelt in seinem tiefsten Kern und er hat jedes Recht dazu.

Es verdient es durch die Gabe seiner unbegrenzten Aufmerksamkeit und wie seltsam wirkt es ein weiteres Mal, dass er, dem das Augenlicht fehlt, als Einziger zumindest hinter einen Teil der Fassade blickte. Vielleicht hörte er es in meiner Stimme, vielleicht auch durch die Wahl meiner Worte, wenn sie sich in die Richtung jenes Kameraden neigen.

Er kennt nicht das Ausmaß des Wertes, den dieser eine für mich besitzt, doch er kennt seine bloße Existenz und somit eine Begebenheit, die so mancher vermutlich noch immer unterschätzt. So ist er sich wohl auch der Tatsache bewusst, wie jener Name meine Achtsamkeit hervorruft, doch bis zum heutigen Tag geschah es nie, dass er dieses Bewusstsein in Worte fasste und wie irritierend war zu Beginn die Erkenntnis, dass er durch dieses Verhalten einer weiteren meiner Wesensart gerecht wird.

Natürlich würde ich mich verständnislos zeigen, natürlich ein Verhalten an den Tag legen, das vom Gegenteil zeugt und bloßem Widerspruch. Doch das Thema erwachte nie zum Leben und so spreche ich die Wahrheit, indem ich schweige, und fühle mich ihm dennoch nicht verpflichtet.

Ich muss kein offenes Interesse bekennen, denn er ist sich dessen längst bewusst und abermals schmunzle ich still in mich hinein, als er fortfährt, als wolle er mir einen Gefallen tun.

„Auch ihm geht es gut. Die Zeit war knapp und trotzdem sprachen wir viel, bevor wir unsere Wege fortsetzten.“

Wieder durchflutet ein tiefer Atemzug meinen Körper. Ich fühle mich leichter, als ich abermals nach der kleinen Gabel greife. Es geht ihm gut. Jedes Mal führen diese Worte zu einer Entlastung, die es mir einfacher macht. Ich kenne die Stärke meines teuren Kameraden, doch auch die Mächte, die sich gegen uns richten und dabei um kein grausames Ausmaß verlegen sind. Alle Exorzisten, die bislang den Tod fanden, waren mächtig und voller Entschlossenheit.

Vielleicht, denke ich mir, als ich auf einem Stück Ananas kaue, wird mich mein Gefühl nicht in die Irre führen, wenn ich das nächste Mal an seiner Tür vorübergehe. Vielleicht entpuppt sich die Verlockung bald als real und lässt mich nach der Klinke greifen, ohne mich kurz darauf zu enttäuschen.

Ihn wiederzusehen, täte mir so gut.

Ein abruptes Rauschen lässt uns innehalten und mich zu Timcanpy spähen. Er erwacht zum Leben und als sich die vertraute Stimme erhebt, wird das Ende unseres Beisammenseins eingeläutet. Komui ruft mich und ich lasse ihn nicht länger warten. Es ist stets nur eine Frage von geringer Zeit, bis ich die nächsten Schritte zu gehen habe und abermals verabschiede ich mich von Marie, hoffend, dass es ihm gut ergeht und wir uns bald wiedersehen. All unsere Wege führen in die Gefahr. Auch mein nächster tut es höchstwahrscheinlich und so sinke ich erneut auf das Sofa, inmitten des Meeres aus Papier und Vertrautheit.

Komui wirkt müde, doch konsumiert bereits Kaffee, um gegen diesen Zustand vorzugehen. Er gähnt, als ich die Beine von mir strecke und dann mustert er mich herzlich.

„Lavi, Chaoji und du habt in der letzten Zeit viel mitgemacht“, sagt er, dabei war die Belastung nicht größer als gewöhnlich und der Tod des Brokers lediglich ein weiteres der Ziele, die erreicht wurden. Natürlich fällt es ihm schwer, die Dinge aus seiner Entfernung zu beurteilen. Auch aus der Höhe seiner Position, doch er ist in ständiger Sorge und seufzt. „Es gefällt mir nicht aber ich muss dich bitten, schon die nächste Mission anzunehmen. Lavi ist verletzt und Chaoji erst seit kurzem bei uns. Ich würde den beiden gerne noch etwas Zeit geben.“

„Das ist kein Problem“, antworte ich nur. „Worum geht es?“

Einen Moment mustert er mich noch, als würde er in meiner Miene nach einem Zeichen suchen, doch ich bin bereit und nicht angewiesen auf Zeit oder Ruhe. Er presst die Lippen aufeinander, ich hebe die Brauen und dann reicht er mir eine schwarze Mappe.

„Vor einer Woche erhielten wir den Anruf eines Finders, der in Irland stationiert ist und auf einen entlegenen Ort aufmerksam wurde. Es handelt sich um das Dorf Bingen, in dem es zu auffällig vielen Todesfällen kommt. Er gab uns Bescheid, Recherchen durchführen zu wollen und sich in jedem Fall nach zwei Tagen wieder bei uns zu melden. Dazu kam es nicht. Er ist nicht mehr zu erreichen. Wir sollten nicht vom schlimmsten Fall ausgehen aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Versuch ihn zu finden und setze die Recherchen fort.“

Kurz darauf komme ich auf die Beine, kehre Komui den Rücken und gehe die vertrauten Wege. Zurück in meinen Raum, wo ich die Uniform über mich streife und die letzten Vorbereitungen treffe. So zieht es mich also abermals in die Ferne und hin zu Gegebenheiten, die ich aus dieser Distanz nicht einschätzen kann.

Vielleicht war der Verdacht des Finders nicht begründet und ebenso wenig die Befürchtungen über seine ausbleibende Rückmeldung. Vielleicht gibt es simple Gründe, die die Angelegenheit ebenso simpel machen.

Ich bin nachdenklich, während ich den Bahnhof erreiche und auch als ich auf einem der Polster sitze und in einem leeren Abteil des Zuges, bearbeiten meine Finger absent den Stoff meiner Robe.

Ich mag diese Ungewissheit und ich würde sie nicht weniger mögen durch die permanente Möglichkeit, dass mein Weg in einen Alptraum führt. Auch der Aufbruch fiel mir leicht, da ein Faktor fehlte, der mich sonst Zuhause hält.

Wäre er dort gewesen und hätte es gemeinsame Zeit gegeben, wäre es mir schwer gefallen, mich loszureißen, doch nun ziehe ich hinaus in die Welt, die auch er durchstreift. Ich fühle mich ihm näher dadurch, obwohl ich diese Reise alleine unternehme, kaum sprechend und als unscheinbarer Teil des Ganzen.

Ich pirsche mich durch die Menschenmassen eines fernen Bahnhofes, besteige den nächsten Zug und spätestens als ich ihn an einer entlegenen Haltestelle verlasse, begegnen mir niemand mehr. Ich bin der einzige, der hinaustritt in die Dunkelheit und ich stehe noch dort, während der Zug sich hinter mir bereits in Bewegung setzt. Mit ihm fließt die letzte Regung aus meiner Umwelt und wie nachdenklich betrachte ich mir die verlassene Gegend, in die es mich verschlug.

Das nächste Dorf scheint weit entfernt, selbst Wege sind kaum zu erkennen und so trete ich unter das flackernde, matte Licht der einzigen Laterne und vertiefe mich in die Karte. Mehrere Kilometer trennen mich von meinem Ziel. Als ich aufblicke und mich orientiere, erkenne ich in weiter Ferne die schwarze Mauer eines Waldes, die sich am Ende einer riesigen Wiese erhebt. In der Stille der Nacht höre ich nur Tims Flügelschläge und tief schöpfe ich Atem, bevor ich die Karte unter dem Mantel verstaue und mich in Bewegung setze.

Durch die rauschende Wiese, die vor mir kein Ende zu nehmen scheint und ebenso endlos wirkt der Wald, den ich bald darauf betrete.

Als die Schwärze der Nacht nach mehreren Stunden an Kraft verliert, scheint die Welt nur um einen Deut heller zu werden. Die Sonne am Himmel ist nur zu vermuten und lange betrachte ich mir die dicke, graue Wolkendecke, die schwer auf den Wipfeln der Bäume lastet, als wolle sie die Welt, oder zumindest diesen Teil von ihr, unter sich ersticken.

Selbst die Luft wirkt dünn und birgt einen seltsamen Geruch in sich. Alles, was mein Umfeld ausmacht, wirkt trist und farblos, preisgegeben erst durch das schüchterne Licht. Oft driften meine Augen zu dem Dickicht, an dem ich auf der letzten Strecke meines Weges vorbeiziehe. Man könnte meinen, das Blattwerk hätte grün zu sein, doch selbst dieses offenbart nur eine leichte Graunuance.

Nur selten erhebt sich das Zwitschern der Vögel in den Ästen. Die Tageszeit ist schwer auszumachen. Nach weiteren Stunden hat es den Anschein, es würde bereits zum Abend dämmern und wie oft ertappe ich mich dabei, wie ich tief Luft hole, als wolle ich meine Seele leichter machen.

Das Ziel, das ich zu erreichen versuche, scheint geradewegs aus der Finsternis der Nacht geboren zu sein, ohne sich komplett von ihr loslösen zu können. Mein Gemüt wird schwerer mit jedem Schritt, der mich durch den dichten Wald führt. Nur begleitet vom Knirschen des Drecks unter meinen Sohlen, sehe ich die Mauer zu meinen Seiten bald enden und dann bleibe ich stehen und blicke hinab auf das Dorf Bingen, das sich in einem kleinen Talkessel erstreckt.

Es ist, als befände ich mich im Inneren dieser unheilvollen Umgebung, in ihrem Gedärm, in dem die Häuser und Straßen unverdaut vor sich hinvegetieren. Ich erwartete keinen Kontrast und wie lange halte ich inne.

Die flachen Dächer der simplen Holzhäuser scheinen sich verzweifelt gegen die schwere Wolkendecke zu stemmen. Sie wirken finster und unwürdig jedes Vertrauens. Wie dreckige Bäche ziehen sich kleine erdige Pfade durch die alternden Bauwerke und wie Schatten selbst treiben die Anwohner auf ihnen dahin. Ich sehe farblose Stoffe die Körper umhüllen, während sie in den schwarzen Löchern der Türen verschwinden oder von ihnen ausgespien werden.

Der kraftlose Klang eines Glöckchens verbindet sich mit dem leisen Quietschen des Eimers, der über einem grauen Brunnen pendelt. Höchstens zweihundert Seelen vermute ich an diesem abgrundtief trostlosen Ort. Selbst die kleinen Gärten bringen kaum Farbe hervor. Ich sehe kaum eine Blume und nicht zuletzt fällt mir die ungewöhnliche Stille auf, die aus dem Wald hinabzufließen scheint.

Ich sehe keine Kinder, die auf den Wegen spielen, höre nicht ihr Schreien, nicht ihr Lachen, doch umso auffallender ist der große Bau, der sich am anderen Ende des Dorfes erhebt. Es ist eine Kirche, die über das Elend wacht und kurz frage ich mich, woran diese Menschen glauben.

In der Isolation zur Welt scheint die Armut auf diesem engen Raum zu gedeihen und wenn es hier einst Freude und Licht gab, so wurden sie längst verschluckt. Die wenigen tristen Felder, die sich südlich des Dorfes erstrecken, können kaum genug hervorbringen, um den Hunger zu tilgen.

Ein kalter, unangenehm riechender Wind drängt sich mir entgegen. Er heißt mich nicht willkommen, er weist mir die Richtung, aus der ich kam und sogleich setze ich mich abermals in Bewegung und leiste Widerstand.

Ich vermute, dass das Schicksal nur selten Fremde an diesen Ort führt.

Schon aus der Ferne warnt er mit der Tatsache, nichts Schönes zu beinhalten und auch die Reaktionen der Menschen sind eindeutiger Natur.

Erschrecken lenkt die fremden Augen zu mir, offenes Misstrauen zwingt sie zu einer kurzen Musterung, doch nur wenigen Sekunden, bevor sie sich abwenden, gar die Richtung wechseln oder überfordert inne halten. Besucher scheinen hier nicht zu existieren. Wer aus dem Wald tritt, ist ein Eindringling und wie bewusst spüre ich, wie die Luft sich weiterhin verdichtet.

Ich bin nicht willkommen, lehrt mich das Dorf. Fast glaube ich Feindseligkeit zu spüren, doch lasse mich nicht beeinflussen. Mein Weg ist ziellos und wie oft sende ich Vereinzelten ein grüßendes Lächeln, wie oft hebe ich die Hand und studiere indessen die Gesichter, die mir begegnen.

Sie wirken müde, ist mein erster Gedanke. Und mehr als das. Nur selten sah ich Mimiken, die sich in diesem Maß vor mir verschlossen. Vereinzelte Menschen, gekrümmt durch Wetter, Alter und Elend, tragen Eimer und Körbe an mir vorbei, nicht aufblickend, mir viel eher noch aus dem Weg gehend.

Bisher stellte ich noch keine Frage, erhielt ebenso keine Antwort, doch sinniere über den Finder, der lange vor mir dieses Dorf betrat. Vielleicht war es leichtsinnig von ihm, die Recherchen in Abwesenheit eines Exorzisten zu beginnen. Vielleicht besaß er falsche Motivation oder sah das realistische Bild dieses Ortes verzerrt. Selbst die Luft in diesem Tal ist giftig und kein Winkel frei von einer Atmosphäre der Gefahr. Jeder Schatten zwischen den Häusern ist finsterer als gewöhnlich und selbst ich bewege mich längst mit alarmierten Sinnen.

Mein Bewusstsein ist klar und das Gebiet meiner Erwartung großzügig erweitert.

Hier könnte alles geschehen. Zweifel am Gespür des Finders habe ich schon lange nicht mehr.

So bewege ich mich in der grauen Menge der Anwohner, doch keiner von ihnen offenbart vor meinem linken Auge eine andere Gestalt. Es sind tatsächlich Menschen, die von einem Winkel zum anderen schleichen und nach wenigen Momenten stelle ich mir die Frage, ob ich hier überhaupt auf etwas stoßen werde, das mit einer Herberge zu vergleichen ist.

Wie seltsam ist der Gedanke an freie Gästezimmer und warme Wirtshäuser. Und gäbe es ein Bett für mich, wäre mein Schlaf seicht und fragwürdig. In diesem Dorf zur Ruhe zu finden, scheint unmöglich und wie eine einzige Schwachstelle. Schon jetzt meidet man mich und beginne ich Fragen zu stellen, so wird man mich hassen. Von da an werde ich jeden Schritt kalkulieren müssen.

Am Ende des Dorfes in der Nähe der Kirche werde ich letztendlich fündig. Ein größeres Holzhaus kommt einer Gaststube am nächsten und so verlasse ich die Straßen, trete hinauf auf den hölzernen Vorbau und durch die angelehnte Tür in den schummrigen Innenraum. Vereinzelte Tische und Stühle bilden eine fragwürdige Einrichtung. Nur eine Konstruktion, die eine Bar darzustellen versucht, lässt mich glauben, am Ziel zu sein.

Leise Geräusche erheben sich hinter der Theke und die verstohlenen Blicke der beiden verloren erscheinenden Anwesenden abtuend, trete ich näher und erspähe eine Frau.

Im verborgenen Winkel des Raumes kauert sie auf dem Boden, lässt Flaschen klirren und Geschirr rascheln und hält abrupt inne, als ich mit einem leisen Klopfen auf mich aufmerksam mache. Einen Moment lang regt sie sich in keiner Weise. Auf den Schrecken hin scheint sie sorgfältig abzuwägen, doch blickt letztendlich auf, um mir denselben bitteren Geschmack zu bieten wie ihre Nachbarn.

Ihre spontane und ehrliche Miene pendelt zwischen Fassungslosigkeit und Argwohn und flüchtig kommt es mir in den Sinn, dass die bisherigen Reaktionen über das Normalmaß des Misstrauens hinausgehen.

Vermutlich weckt es Verdacht, wenn ein kurzer Zeitraum zwei Fremde herführt.

Vielleicht wissen sie etwas und befürchten noch mehr. Hier könnte ich keinen Dreck umgraben, denke ich mir, ohne auf Rätsel und weiteren Dreck zu stoßen. Irritiert richten sich ihre Augen auf Timcanpy, der neben mir flattert.

„Hallo“, sage ich, während sie noch starrt. „Ich bin auf der Suche nach einer Unterkunft und warmen Mahlzeiten.“

Es fällt ihr schwer, den Blick abzuwenden und letztendlich gelingt es nicht ohne ein trockenes Räuspern. Ihr Hals bewegt sich unter einem Schlucken und nicht zuletzt das ziellose Driften ihrer Augen verrät, dass sie sich in einer Lage befindet, mit der sie nicht umzugehen weiß. Abermals höre ich ihr Räuspern, bevor sie auf die Beine kommt. Die Blicke der beiden Männer brennen mir unterdessen ein Loch in den Rücken.

„Es gibt Zimmer.“ Dünn und kraftlos kommt die Stimme über die Lippen der Frau und den deutlichen Anzeichen bewusst trotzend, nicke ich.

„Ich hätte gerne eines. Nur für ein paar Tage.“

Schon als ich das Dorf betrat, wusste ich um die Sinnlosigkeit von Freundlichkeit und Vorsicht. Diesen Ort sofort zu verlassen, wäre das einzig Richtige, während jeder andere Weg in einem Fehler endet. Das Gebaren dieser Menschen ist nicht abhängig von einem Lächeln und wie unbeteiligt verfolge ich daraufhin das erneute Räuspern, unter dem sich die Frau umblickt. Auf der anderen Seite des Raumes quietscht ein Stuhl. Die beiden Männer verlassen das Haus.

„Oben“, bringt die Frau kurz darauf hervor und starrt auf die Theke. „Egal welches.“

„Danke.“ Flüchtig spähe ich zu der hinfälligen Treppe, die empor führt, doch die Gelegenheit, den ersten Gesprächspartner zu haben, gedenke ich auszuschöpfen. „Ich bin auf der Suche nach einem Freund“, sage ich also und sehe sie wiederum schlucken. „Ein junger Mann mit brünettem Haar, trägt einen beigen Mantel. Vielleicht ist er ja hier durchgekommen. Haben Sie ihn gesehen?“

„Nein.“

Die Reaktion hätte schneller nicht sein können und abermals überspiele ich die zum Zerreißen angespannte Stimmung. Dass ich noch immer hier stehe, scheint heikel zu sein für diese Gastwirtin.

„Sagen Sie mir Bescheid, wenn er auftauchen sollte?“, frage ich unerbittlich und sehe wieder ein sofortiges Nicken. „Es ist sehr wichtig für mich. In der Zwischenzeit würde ich gerne mit dem Bürgermeister sprechen. Wo finde ich ihn?“

„Wir haben keinen Bürgermeister“, sickert es abermals über ihre Lippen.

„Ein Dorfoberhaupt?“

„Nein.“
 

Es überrascht mich nicht, hier keinen Ansprechpartner zu finden. Ich bin nachdenklich, als ich das Haus verlasse, mich auf den Weg mache, das Dorf weiterhin zu erkunden und mich unbeliebt zu machen. Die verstohlenen Blicke folgen mir abermals bei jedem Schritt, der mich in die Richtung der Kirche führt.

So wie sie über das Dorf ragt, denke ich mir, wird sie es sein, wo ich Antworten finde. Es gibt keinen Ort ohne Oberhaupt. Überall ist jemand zu finden, der die Fäden hält, ob nun offensichtlich oder versteckt. Die Flügelschläge meines Golems sind vorübergehend die einzigen Geräusche in meinem Umfeld. Die Dorfbewohner schweigen und abermals werde ich auf ein Kind aufmerksam, das bewegungslos wie eine Puppe auf dem steinernen Fundament einer kleinen Statue sitzt.

Selbst diese jungen Menschen zeigen dieselbe Leblosigkeit wie die Erwachsenen, dieselbe emotionslose Miene und ich zögere nicht, bevor ich die Richtung ändere und zu dem Bauwerk trete. Es ist eine großgewachsene Gestalt, die aus dem Stein gehauen wurde. Von ihrem Rücken spreizen sich drei kleine Flügel ab, während ihre runden Augen unbestimmt über das Dorf wachen.

Das kantige Kinn geht eine fragliche Symbiose mit den spitzen Ohren ein. An den Händen, jeweils bestückt mit vier Fingern, trägt sie spitze Krallen. Gottheiten werden auf diese Weise dargestellt, denke ich mir, als ich sie mir näher betrachte. Und es ist nicht selten, dass sich in fernen Dörfern Religionsgemeinschaften bilden, doch das Abbild dieser Gestalt erweckt weder Vertrauen noch Geborgenheit. Viel eher erinnert sie mich an die abgrundtiefe Gottesfurcht, die gepredigt wird.

Ich spüre den Blick des Kindes, während ich dort stehe und einen Moment gebe ich mich noch dem Anblick hin, bevor ich die Aufmerksamkeit des Jungen erwidere. Seine Musterung wirkt beiläufig und grundlos, so neutral wie sie ist und selbst ein perfektes Lächeln ändert nichts an der Sache. Nicht einen Moment weicht er meinem Blick aus. Kindliche Scheu scheint es in ihm nicht zu geben.

„Hallo“, grüße ich ihn kurz darauf. Sein Mund macht nicht den Eindruck, sich bewegen zu wollen und einen Augenblick warte ich noch, bevor ich mit einem Nicken auf die Statue weise. „Verrätst du mir, wer das ist?“

Meine Hoffnung ist nicht sonderlich groß und nur wenige Sekunden später bin ich es allmählich leid. Es ist anscheinend gleichgültig, an wen ich das Wort richte, die Gemeinschaft an diesem Ort ist bis zum Ersticken festgezurrt und verschwiegen.

Selbst die Kinder sind erstarrt und bevor ich mich versehe, driftet eine Frau in mein Blickfeld, fasst den Jungen an der Hand und zieht ihn weg.

Recherchen sind schwierig, wenn man nicht einmal Informationen über den Ort erhält. Was ich erfahre, wird höchstwahrscheinlich nur von meinen Augen oder dem Zufall abhängig sein. So wie diese Menschen, werde wohl auch ich verstohlenes Handeln an den Tag legen und falsch spielen müssen. Ich frage mich, wie weit der Finder wohl vordrang, bevor er verschwand, ohne dass ihn jemand gesehen haben will.

Die Unterlippe mit den Zähnen bearbeitend, betrachte ich mir Tim. Er erscheint mir wie der einzig strahlende Punkt an diesem Ort. Unter einem leisen Seufzen setze ich meinen Weg fort und erreiche kurz darauf mein Ziel. Die Kirche passt sich mit ihren grauen Fassaden dem Umfeld an, doch wirkt so monströs innerhalb der kleinen und schäbigen Welt. Umgeben von dürren Beeten ragt sie vor mir auf und dann steige ich die Stufen hinauf und öffne das breite, schwere Portal.

Es ist eine große Halle, die sich daraufhin vor mir erstreckt. Den steinernen Wänden fehlt es an jeder Zierde. Nur wenige schmale Fenster lassen Helligkeit hinein und so reihen sich die hölzernen, schlichten Bänke vor mir in der gewohnten Dämmerung dieses Ortes. Es ist trostloser Ort, der den Glauben der Menschen in sich trägt.

Als sich die Tür hinter mir unter einem widerhallenden Quietschen schließt, bleibe ich stehen. Es ist ein seltsamer Geruch, der mir sofort auffällt und den ich einzuordnen versuche. Schwer hängt er in der Luft und der einzelnen Gestalt, die, mit dem Rücken zu mir gewandt, auf einer der hinteren Bänke ausharrt, vorerst keine Beachtung schenkend, vertiefe ich mich in diesen Eindruck.

Säuerlich, kommt es mir zuerst in den Sinn. Der Geruch scheint sich in seiner unangenehmen Schwere nicht weniger anzupassen als die anderen Faktoren. Beinahe sticht er in meiner Nase, ist unangenehmen und viel zu präsent. Unter einem tiefen Durchatmen spähe ich zu der riesigen Statue, die auf dem großen Hauptaltar thront. Ich erkenne dieselbe Gestalt, doch diese ist in ein so tiefes, sattes Rot gehüllt, als würde Blut über ihren Körper strömen. Erloschene Kerzen bilden zu ihren Füßen eine saubere Reihe. Die bittere Atmosphäre ist hier so hoch konzentriert wie nirgends in diesem Dorf.

Leise erhebt sich das Schallen meiner Schritte, als ich den Pfad in der Mitte der Bänke entlang gehe. Die reglose Gestalt zieht an mir vorbei und dann stehe ich vor dem Altar und blicke auf zu dem blutenden Ungetüm.

Schwer spüre ich kurz darauf Tims Gewicht auf meinem Kopf. Kitzelnd senken sich seine Flügel auf meine Ohren und abermals einen Blick im Rücken spürend, mustere ich die kleinen Schälchen auf dem Altar.

Eine verkohlte Masse ruht in ihnen. Schwarz und trocken wie verkohlter Weihrauch.

„Und was suchen Sie?“, erhebt sich da die Stimme eines Mannes in der Halle und so drehe ich mich um und begegne seinen dunklen Augen. Graumeliertes Haar umrandet ein Gesicht, durchfurcht von den Falten des Alters. Doch seine Haltung ist ebenso stolz und bedeutend wie seine Stimme. Kurz sehen wir uns nur an, während der Deut eines Lächelns an seinen Lippen zieht und wie schöpfe ich Atem, vor Triumph, zu dem Ort gefunden zu haben, an dem jedes Suchen endet. Dieser Mensch ist anders und nur die Regung seiner Mimik macht ihn zu meinem Hauptziel. Leise schlägt Timcanpy mit einem Flügel.

„Wer sagt, dass ich etwas suche?“, antworte ich und sehe ihn den Blick senken.

„Ist nicht jeder auf der Suche nach etwas? Wer kann von sich behaupten, gefunden zu haben, was er wirklich braucht? Die Menschen sehnen sich nach Inhalt, nach Freude und einem Grund für ihre Existenz. Anlässe wie diese führen sie hierher.“

Flüchtig zuckte ein Schmunzeln an meinen Lippen, doch er betrachtet sich noch immer andachtsvoll den Boden. Die Menschen dieses Dorfes scheinen Inhalt und Freude tatsächlich gefunden zu haben, denke ich.

„Wenn die Suche all die Menschen hierherführt“, sage ich, „bedeutet das wohl, dass sie hier endet. Sind Sie in der Lage, ihnen Antworten zu geben?“

„Jeder erhält Antworten, wenn er die richtigen Fragen stellt“, entgegnet er mir und dann treffen sich unsere Blicke abermals. Noch immer offenbaren mir seine Lippen den Hauch von Dominanz und Sicherheit.

„Trifft das auch auf mich zu?“, möchte ich wissen und verfolge, wie seine Augen zu der blutroten Statue finden. „Sie antworten, wenn ich die richtigen Fragen stelle?“

„Auch meine Möglichkeiten sind begrenzt. Niemand kann Geschenke erwarten. Jeder Weg ist steinig und jeder Schritt nur mit Demut und Aufopferung glückverheißend. Selbstverständlich können Sie Fragen stellen, doch jede Antwort fordert Hingabe.“

So wie die Dinge stehen, denke ich mir, ist er nicht mehr weit davon entfernt, das Ausmaß meiner Hingabe kennen zu lernen. Auch Aufopferung wird dabei eine Rolle spielen und seine Position in dem kommenden Kräftemessen wie Galle sein, die seinen verlogenen Mund verätzt.

„Wieviel Demut muss ich aufbringen, um zu erfahren, wo der Mann ist, der vor kurzem dieses Dorf betrat? Ist die Grenze Ihrer Möglichkeiten mit dieser Frage bereits überschritten?“

Einen Moment lang mustert er mich offensichtlich abschätzend, bevor sich sein tiefes Durchatmen in der steinernen Halle erhebt.

„Es geschieht selten, dass Fremde das Dorf betreten“, sagt er dann, „denn es gibt nichts, das Uneingeweihte hier finden könnten. Sie sind seit langer Zeit der Erste, den es hierher verschlägt.“

„Jedenfalls können wir uns sicher sein, dass ein Unbekannter niemandem entgeht“, antworte ich. Tim erhebt sich von meinem Kopf und die Hände in den Hosentaschen nähere ich mich dem Mann in schlendernden Schritten.

Es ist die Wirtin, auf die ich anspiele. Auf sie und die Schnelligkeit ihrer Beine. Kaum, dass ich die Theke verlassen habe, muss sie hergeeilt sein. Dieser Mann erwartete mich, doch macht nicht den Eindruck, die Andeutung verstehen zu wollen. Und es ist nicht nur sie, auf die ich weise.

Ich weiß, dass du lügst, sage ich ihm und sehe abermals sein selbstsicheres Lächeln.

Keinen Moment lang verliert er die Kontrolle oder die Überzeugung, meine Hände wären leer und die Vielfalt meiner Möglichkeit schlicht und ergreifend nicht vorhanden.

„So oder so werde ich eine Zeitlang bleiben und mich umsehen“, fahre ich fort. „Es wird Sie nicht stören, hoffe ich.“

„Es ist bedauerlich“, seufzt er daraufhin, „wie viele Menschen ihre Kraft vergeuden für sinnlose Mühen. Was Sie auch suchen, hier werden Sie es nicht finden.“

Ich stehe bereits vor ihm, als er voller Mitgefühl den Kopf schüttelt. Somit wandert die Provokation an mich zurück.

„Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme“, sage ich, nachdem ich ihn kurz schweigend musterte. „Es gibt sinnlose Mühen aber auch leere Worte. Und Sie sollten nicht von meinen Kräften sprechen, wenn Sie ihr Ausmaß nicht kennen.“

„Ich werde es mir merken“, erwidert er, bevor ich ein verabschiedendes Nicken andeute und an ihm vorbeiziehe.

Was als hohles Geplänkel begann, wuchs heran zu handfesten Drohungen und der Verdeutlichung dessen, was ich bereits spürte. Ich bin nicht willkommen und mit jeder Stunde, die ich mich hier aufhalte, wird man mir diese Tatsache verständlicher machen.

Ich verlasse das Gebäude und es herrscht Stille hinter mir, bis ich das große Tor abermals passiere.

Ich muss keine Fragen mehr stellen, muss keine Kontakte eingehen und so folge ich einem schmalen Pfad, der in den Wald führt.
 

-tbc-

3

Alles, was ich hier erfahre, werde ich durch meine Augen erfahren. Kein Wort wird mir helfen und als ich in das Meer aus Stämmen eintauche und in die unangenehme Düsternis dieser Umgebung, das presse ich die Lippen aufeinander.

Dieses Dorf verätzt die Seele.

Es ist wie ein Schatten, der sich herabsenkt, erdrückend, erstickend und in all seiner Kraft erbarmungslos. Was er zurücklässt, ist das, was mir in den Gesichtern der Menschen begegnet. Hier kann man nur existieren, wenn man kein Gefühl besitzt, das zerstört werden kann.

Wie Seelenlose wirken die Menschen auf mich. Leer wie kalte Gefäße und stumpf. Es ist als würde ein Bann auf ihnen liegen und wie grüble ich und frage mich, ob der Priester es ist, der die Wurzel darstellt. Etwas geschah in diesem Dorf, etwas geschieht noch immer und wie oft höre ich das Knacken des Unterholzes, wie oft das Rascheln des Blattwerkes. Als würden mich unsichtbare Schatten verfolgen, ohne dass ich ihre feste Präsenz spüre. Dann hingegen ist es mit einem Mal still und ich höre nur noch Tims Flügelschläge.

Der Weg, dem ich folge, wirkt unscheinbar, doch erzählt von all den Füßen, die oft über ihn hinwegziehen. Man nutzt ihn oft. Hie und da sehe ich kleine Gegenstände, mal eine Kordel, die sich von der Kleidung löste, an einer Stelle den ledernen Riemen eines Schuhs. Die dünnen Äste sind geknickt und so folge ich dieser Spur und gehe weit, bis sich die Bäume in der Ferne lichten und mir das Ziel preisgeben.

Es ist ein Friedhof, vor dem ich mit einem Mal stehe und ich vereise, als ich den maroden Zaun erreiche, der das Gelände umschließt. Lautlos öffnet sich mein Mund, während meine Augen über den Anblick schweifen.

Einst schien es eine Ruhestätte wie jede andere zu sein. Die Grabsteine wurden liebevoll gefertigt, die älteren von ihnen offenbaren noch vergraute Insignien der Verstorbenen. Irgendwann scheint es auch noch Beete gegeben zu haben, auf denen Blumen wuchsen, doch diese Zeit verging und was ich nun vor mir habe, ist ein verfluchtes Stück dieser Erde, auf denen sich hoch konzentriert improvisierte Gräber aneinander drücken.

Die geordneten Reihen der ersten Ruhestätten rückten längst in den Hintergrund.

Überall grub man die Erde auf. Die Grabsteine wurden ersetzt durch kleine, rote Stöcke, die die Toten nur vermuten lassen und in ein seltsames Licht rücken. Sie sind rot wie die Schreckensstatue in der Kirche.

Als ich weitere Schritte gehe, blicke ich auf ein Meer von ihnen und kurz versuche ich einzuschätzen, wie viele Tote hier unter dem grauen Himmel ruhen.

Ein kalter Wind bahnt sich seinen Weg unter meine Uniform und absent ziehe ich den Mantel um mich.

Es ist kühl. Eine Gänsehaut kriecht über meine Arme und selbst Tims Flattern verebbt in meinen Ohren, als ich zum Zentrum des Friedhofes blicke. Was sich dort erhebt, wirkt mit viel Fantasie wie ein Altar. Im Grunde ist es nur eine Steinplatte, die von denselben Stöcken umrahmt wird. Selbst sie schimmert in dezentem Rot und einen ebenso unscheinbaren Geruch wahrnehmend, trete ich näher.

Der Wind pfeift in meinen Ohren, als ich über die Erde hinwegziehe und dann stehe ich an meinem Ziel und starre hinab.

Die Statue in der Kirche ließ mich noch auf Farbe hoffen, doch als ich vor dem Altar stehe, da rieche ich das stechende Aroma von Kupfer. Es ist tatsächlich Blut, das hier vergossen wurde und unbewusst beiße ich die Zähne zusammen, als ich um mich spähe. Auch hier fühle ich mich beobachtet. Augen scheinen geradewegs aus der Dunkelheit des Dickichts nach mir zu stechen.

Ich habe vorsichtig zu sein. Vor allem jetzt und seit dem Treffen mit dem Priester.

Der Finder verschwand ganz offensichtlich nach kurzer Zeit und der Geruch dieser Steinplatte lässt mich ahnen, wie weit die Menschen hier zu gehen bereit sind.

Flüchtig kommt es mir in den Sinn, dass ich vor kurzem und in der Kirche einem Broker gegenüberstand und es der Zufall gut mit mir meinte. Es sind keine Tiere, die hier begraben liegen, sondern der Grund für die seichte Bevölkerung des Dorfes.

Langsam verlasse ich den Friedhof und ich mache es gerne, entziehe mich dem Gestank, der konzentrierten Atmosphäre des Elends, tauche ein in den Wald, doch kehre nicht zum Dorf zurück. Eine ziellose Suche scheint sich auszuzahlen. Bisher erhielt ich alle Antworten, ohne Fragen zu stellen und so pirsche ich mich in das Dickicht.

„Schau dich um“, flüstere ich Tim zu, bevor ich mich unter einem Ast ducke und sofort flattert er davon.

Es wird dunkel, während ich durch den Wald ziehe. Es könnte normal sein oder bereits zum Abend dämmern. Mir fehlt jedes Zeitgefühl, denn der Himmel bleibt grau und die Sonne diesem Ort weiterhin fern. Die Bäume werfen dunkle Schatten, nur selten lassen Brisen ihr Geäst aufleben und wie oft halte ich inne und versuche mit tiefen Atemzügen Leben zu tanken.

Es scheint aus mir zu fließen. Mit jedem Moment, den ich hier verbringe. Mein Gemüt wird schwer und noch schwerer, wenn ich daran denke, dass diese Mission eine lange Zeit in Anspruch nehmen könnte. Wenn mir niemand antwortet und ich stets auf meinen Rücken zu achten habe. Ich stehe alleine gegen diese Übermacht aus Schweigen und Ablehnung und Komui zu kontaktieren, ist keine Möglichkeit, die mir bleibt.

Hier scheint es nichts zu geben, das auf Strom angewiesen ist.

Auch der Finder wird für mich unerreichbar bleiben und so habe ich es in Kauf zu nehmen. Natürlich könnte ich das Dorf verlassen, nach einem Telefon suchen, die Mission vorübergehend ruhen lassen und ihr bald darauf mit Verstärkung wieder treu werden, doch es scheint eine Spur zu geben, kaum sichtbar zu meinen Füßen. Wie eine Fährte, die man verliert, wenn man ihr zu wenig Beachtung schenkt.

So werde ich also weitergehen und das Risiko zum erneuten Mal als Gefährten willkommen heißen.

Mehrere Stunden lasse ich mich von meinen Füßen tragen, den Friedhof umrundend und auf alles achtend, das sich der Abweichung dieses Dorf anzupassen scheint. Nur einmal stoße ich dabei auf einen versteckten Pfad und betrachte mir abermals rote Stöcke, die, im Boden steckend, ein Dreieck bilden. Das ganze Umfeld des Dorfes scheint infiziert und ich stehe noch immer dort, als sich das goldene Leuchten meines Golems aus dem Dickicht löst.

Ich höre, wie er sich mir nähert, spüre kurz darauf, wie sich seine Zähne in meinem Mantel versenken und nur kurz braucht er an ihm zu zerren, bevor ich auftauche aus meiner Absenz. Er scheint fündig geworden zu sein und so hebe ihn vor mein Gesicht und betrachte mir, was er preisgibt.

Mit weit geöffnetem Maul ruht er auf meinen Händen und wie konzentriert erforsche ich seine Erinnerungen. Das Bild flackert und doch erkenne ich es binnen kürzester Zeit. Abrupt löse ich die Hände von ihm und lasse ihn sich in die Lüfte erheben.

„Führ mich hin“, bitte ich ihn und wie spürbar schlägt das Herz in meiner Brust, als ich seinem Leuchten folge. Abermals in die Dunkelheit des Dickichts und erpicht auf einen Ort, der mich weiterhin mit Befürchtungen nährt. Es braucht nicht viele Schritte, bis Tim flatternd inne hält und ein letztes Gebüsch raschelt unter meiner Eile, bevor ich stehen bleibe und gegen die Trockenheit meines Halses schlucke.

Wieder umgibt mich Stille, wieder kreucht ein Schauer durch meinen Leib und dann hebe ich die Hand und bette die Fingerkuppen vertieft auf meinen Lippen.

Es sind drei Gräber, die ich vor mir habe, recht unscheinbar auf den ersten Blick. Wer auch immer hier in der Erde versenkt wurde, man gab sich wenig Mühe. Anscheinend blieb es bei Löchern, die die Körper senkrecht verschluckten, bevor man sie mit der Erde füllte. Vereinzelte Fußabdrücke verraten mir die genauen Positionen und erneut studiere ich die Umgebung, bevor ich in die Knie gehe.

Nur eines der drei Gräber macht einen anderen Eindruck. Die Erde scheint gelockert, als hätte man sie erneut umgegraben. Die Spuren der Füße, die den Boden fest traten, sind verwischt und unter einem Ächzen senke ich das Gesicht und reibe mir die Stirn.

Meine Erwartungen beinhalteten nichts dergleichen. Ich befürchtete viel, doch nicht, dass ich drei Leichname auszugraben habe, von denen sich einer ohne jeden Zweifel als der vermisste Finder herausstellen wird.

Und es gibt zwei weitere, die ich nicht einzuordnen weiß.

Die Bewohner des Dorfes scheinen ausnahmslos auf dem verfluchten Friedhof zu enden, um im Blut ihrer Freunde und Angehörigen zu verwesen. Diese behelfsmäßigen Gruben fallen aus dem Raster und resigniert spähe ich irgendwann zu Tim.

„Du passt auf, während ich grabe“, seufze ich im Angesicht des Unabwendbaren und komme auf die Beine.

Der Weg zum Friedhof ist zu weit und auch die Aussicht, dort auf Spaten zu treffen, äußerst gering.

Es wird schmutzig und das in jeder Hinsicht.

Während Tim sich in die Lüfte erhebt, streife ich den Mantel von meinen Schultern. Ein dicker, langer Ast hat mir als Werkzeug zu genügen und so wende ich mich dem ersten Grab zu und ramme das Holz in die Erde. Es ist eines der beiden Unbeschadeten und ich grabe nicht tief, bis ich auf die Knie sinke und die Hände nutze.

Es gäbe nichts, das passender wäre in der permanenten Dämmerung dieses verfluchten Ortes.

Die Bäume schweigen immer noch, als ich mich tiefer arbeite und bald darauf die letzte Erde von etwas streife, das sich als Hand entpuppt. Dunkel haftet die Erde auf den leicht angewinkelten Fingern und dann erkenne ich den Ärmel des vertrauten Mantels. Es ist tatsächlich der Finder und er war jung, als er starb.

Ächzend wische ich mir den Schweiß von der Stirn, bevor ich abermals nach dem Ast greife und mich dem nächsten Grab zuwende.

Von hier an tappe ich im Dunkeln und in der Gegenwart des schlummernden Kameraden setze ich die Arbeit fort. Längst ist die finstere Masse aus Wut und Feindseligkeit in mir gewachsen und während ich grabe, sehe ich das Gesicht des Priesters vor mir. Ich sehe sein Schmunzeln, sein widerliches Gefühl der Überlegenheit und die abgrundtiefe Niedertracht, als Mörder eine solche Sicherheit zu empfinden.

Vielleicht sah er es als Gerechtigkeit und den Finder als Bedrohung für sein erbärmliches Werk. Vielleicht tötete er ihn qualvoll und wurde dabei durchströmt von warmer Rechtschaffenheit und dem Stolz seines blutroten Gottes. Zuweilen schließen sich meine Finger fester um den Ast.

Ob nun ein schlichter Mensch, der lediglich dem Wahnsinn verfiel oder als Broker, der sich über die Fehler seiner Taten bewusst ist und seine Motivation aus einem mir unbekannten Gewinn schöpft.

Er machte sich die Falschen zum Feind.

Tim verhält sich noch immer ruhig, als ich abermals in die Knie gehe und mich in das Loch neige. Ich habe den Toten noch nicht erreicht, als mir ein vertrauter süßlicher Geruch in die Nase steigt. Anfängliche Verwesung strömt mir entgegen. Dieser Körper scheint schon etwas länger tot zu sein und kurz darauf erreiche ich auch ihn. Es ist der Kopf, der sich diesmal zuerst offenbart.

Brünettes Haar schimmert zwischen dem Dreck und ich halte den Atem an, beuge mich tiefer und grabe mich durch zu dem Wissen, das ich brauche. Der Mann ist mir unbekannt. Sein Gesicht ist älter und kurz halte ich inne, als ich die Erde von seinen Zügen wische und ein kleines Loch in seinem Jochbein erspähe.

Eine Kugel muss es durchbohrt haben. Das Blut auf seiner weißen Haut ist schwarz und trocken und irritiert verzieht sich meine Miene, als ich unter seinem Ohr ein kleines Stück Stoff erkenne. Die Kleidung des Toten offenbart sich mir und sofort greife ich nach ihr und befreie sie aus ihrem Grab. Es ist eine Kapuze und mein Atem stockt, als ich auch sie dem Mantel eines Finders zuordne. Stockend lasse ich sie los und setze mich zurück. Es sind zwei Finder, die hier vergraben liegen.

Kurz rege ich mich nicht, bevor ich um mich spähe. Soweit ich weiß, war der Finder alleine, als er dieses Dorf betrat. Von hier an verwischt sich die Geschichte. Ein Kitzeln zieht sich über mein Gesicht, bevor eine Schweißperle von meinem Kinn tropft und dann spähe ich zum dritten Grab.

Wer auch immer dort sein Ende fand, allem Anschein nach grub man ihn wieder aus. Die Erde sackte etwas ab und doch beginne ich auch dort zu graben.

Wie auch immer die nächsten Momente verlaufen, denke ich, im Anschluss werde ich in den ersten Gräbern nach den Telefonen der Finder suchen. Vielleicht versenkte man auch sie im Loch und wie hoffe ich darauf, denn die Dringlichkeit, Kontakt mit Komui aufzunehmen, wächst.

Es sind Informationen, auf die ich angewiesen bin. Die Standorte der Finder sind zumeist bekannt. Sie melden sich, folgen Befehlen. Ihre Wege sind nachvollziehbar, doch Komui erwähnte es nicht. Er sprach von einem Vermissten und so befürchte ich einen Zufall, der sich schwer zurückverfolgen lässt.

Schon bald halte ich inne. Das dritte Grab ist tatsächlich leer und meine Ratlosigkeit immens.

Umso wichtiger ist es, ein Telefon in die Finger zu bekommen, doch so sehr ich auch grabe, stets umgeben vom Gestank des Todes, die schwarzen Löcher beherbergen nur die beiden zu bedauernden Kameraden und letztendlich entferne ich mich um wenige Schritte von ihnen, sinke auf den Boden und gegen einen Baum.

Erschöpft betrachte ich mir den grauen Himmel, reinige meine Hände gedankenverloren im Gras.

Drei Menschen starben an diesem Ort und der Dritte stellt mich vor das vollendete Rätsel.

Mit einem lauten Knurren meldet sich mein Magen und zermürbt schließe ich die Augen.

Er verlangt nach etwas, das ich ihm hier nicht bieten kann. Wenn ich zurückkehre in die vermeintliche Herberge, wird das, was man mir serviert, vermutlich zur einen Hälfte aus etwas Ungenießbarem bestehen und zur anderen aus Gift und Hass.

Auf den Feldern werde ich auch nichts finden und der nächste Ort ist weit entfernt. Vielleicht wäre es das Klügste, sich erst einmal zurückzuziehen, sich in einer sicheren Umgebung zu erholen und dann mit gestärkten Kräften zurückzukehren, um dieses Drama zu beenden.

Unter einem Seufzen schließe ich die Augen.

Beenden, denke ich mir indessen. Der Reaktion der Wirtin nach zu urteilen, wäre es nicht nur der Priester, der sich mir in den Weg stellen würde. Vermutlich wäre es das ganze Dorf und zermürbt treibe ich meinen Kopf zu der letzten Höchstleistung. Alle, die hier hausen, könnten demselben Wahnsinn verfallen sein. Vielleicht täte ich nichts Falsches, wenn ich sie ihrem erbärmlichen Schicksal überlasse, doch die Gräber vor mir machen es unmöglich. Mindestens zwei Finder wurden hier ermordet. Sie machen die Zustände hier zu meiner Angelegenheit und verwehren mir die Abreise.

Lange bleibe ich noch kauern, reglos und nur in der Gesellschaft Timcanpys, der auf meinen Beinen sitzt. Und ich überlege, während der Tag sich seinem Ende entgegen neigt. Es wird dunkel, noch dunkler und mit dem Einbruch der Nacht kehrt endlich ein gewisses Zeitgefühl zurück. Ein einziger Tag an diesem Ort war bitter und ich frage mich, wie der nächste wird.

Irgendwann komme ich auf die Beine, streife mir den Mantel über und verabschiede mich vorerst von meinen Kameraden. Sobald diese Mission beendet ist, werden sie Nachhause kommen und befreit von diesem trostlosen Boden.

In langsamen Schritten kehre ich vorerst zum Dorf zurück. Vielleicht wartet dort auch auf mich eine Kugel, doch nicht dasselbe Schicksal. Was dem einen Finder das Leben nahm, wird mir kaum schaden, sondern nur meine Wut nähren.

Vielleicht wäre es das einzig Richtige, das gesamte Dorf dem Erdboden gleich zu machen.

Kurz darauf erinnere ich mich jedoch an die Kinder, die ich sah und die Tatsache, dass diese Geschöpfe schuldlos sind. Sie sind rein, werden erst in diesen Wahnsinn getrieben und so sehr diese Menschen mich auch erzürnen, ein Teil meines Weges ist es, sie zu beschützen. Ich legte nie Hand an ein menschliches Wesen. Ich töte Akuma und Broker und kurz darauf folgt schon die Grenze, die ich nicht überschreiten will.

Gedankenlos betrete ich bald darauf den kleinen Pfad, der zurück in das Dorf führt.

Die Welt um mich herum ist bereits pechschwarz und umso schneller bemerke ich in weiter Ferne das Licht vieler Fackeln, die sich wie ein Meer zwischen den Stämmen wiegen.

Sie kommen auf mich zu und kaum höre ich auch das Knirschen vieler Schritte, da weiche ich zur Seite aus und ziehe mich zurück in das finstere Dickicht. Flink greife ich nach Tim, bevor ich hinter einen Stamm trete und dann lauere ich dort und lausche der sich nähernden Gruppe.

Sie kommt aus dem Dorf, folgt dem Weg Richtung Friedhof und ich befürchte viel, als ich sie in sicherer Ferne an mir vorbeiziehen sehe. Es ist der Priester, der sie führt. In feierlichen Schritten und gehüllt in ein weißes Gewand. Ein helles Glöckchen begleitet rhythmisch jeden seiner Schritte und ebenso anmutig folgt die Masse.

Es muss das ganze Dorf sein, das gen Friedhof strömt und wie konzentriert folge ich ihnen. So lautlos wie möglich, Tim fest im Griff und bis zum Waldrand, hinter dem die unheilvolle Lichtung liegt.

Dort kauere ich mich abermals nieder und fixiere Tim unter meinem Mantel. Das Zentrum des Friedhofes zu erkennen, ist unmöglich durch die Masse der Anwesenden. Überall sehe ich die weißen Gewänder, überall auch die Fackeln und nur kurz spähe ich um mich, bevor ich nach einem hohen Ast greife und mich emporziehe.

Ich muss sehen, was dort unten geschieht und so klettere ich noch höher auf den Baum, bis sich mir der blutrote Altar offenbart. Der Priester hielt inne. Mit einem Mal verstummt auch das Glöckchen und als die Masse still verharrt, andächtig versammelt um diesen Kern, da erhebt sich seine Stimme.

Er scheint ein Gebet zu rezitieren und wie huldigend lauscht die Masse seinen Worten. Es gibt keine störende Regung, kein Husten, keine Menschlichkeit in den starren weißen Reihen und irgendwann werde ich auf eine Frau aufmerksam, die nahe dem Altar steht.

Starr wie eine Puppe, während auf ihrem weißen Gewand ein goldener Streifen glänzt. Ihre Hände sind leer. Sie hält keine Fackel und irgendwann kniet sie nieder und verbeugt sich vor dem stinkenden Gestein. Beiläufig bewege ich die Hand an der Rinde, sichere meinen Halt und presse die Lippen aufeinander.

Es ist makaber, doch ich weiß, was in den nächsten Momenten geschieht.

Das Gebet ist lang und ebenso lange harrt die Frau in demutsvoller Haltung aus. Sie wirkt ruhig. Vielleicht ist sie gar stolz und vollends vertieft in diesen Faktor zucke ich zusammen, als ein lautes kollektives Raunen durch die Masse geht. Die Menschen begleiten einen kurzen Vers und dann erheben sich die Fackeln über ihre Köpfe.

Unzählige Arme strecken sich und erst jetzt bemerke ich, wie trocken mein Mund ist. Nur selten wurde ich Zeuge eines solchen Wahnsinns und ich blinzle nicht, als die Frau feierlich auf den Altar steigt.

Aufgerichtet und anmutig bewegt sie sich und wie konzentriert versuche ich sie zu verstehen, als sie wenige Worte spricht, stolz die Anwesenden überragend auf der erhöhten Plattform.

Flüchtig befeuchte ich die Lippen mit der Zunge. Wieder streichen meine Finger über die Rinde. Ich habe mit mir zu kämpfen. Etwas in mir schreit danach, zu verhindern, was nun folgt, doch der Preis wäre zu hoch.

Gehe ich dazwischen, wird es in einem Gemetzel enden. Höchstwahrscheinlich ist Rettung auch das Letzte, wonach sich diese Frau sehnt und so klammere ich mich um einen nahen Ast. Ich werde es nicht verhindern, werde hier oben sitzen bleiben und meinem wankenden Plan treu. Was auch immer hier vor sich geht, hier und jetzt darf sich die Richtung nicht ändern.

Vor mir auf dem Altar streift sich die Frau das Gewand vom Körper. Keine Faser bedeckt noch ihre Haut, als sie den Stoff an einen Mann weitergibt und aus den Händen eines anderen einen Dolch nimmt. Abermals erhebt sich die Stimme des Priesters und sie tut es permanent, als sich die Frau niederlegt auf das kalte Gestein und sich postiert.

Langsam neige ich mich nach vorn und verenge die Augen. Ihre Hände strecken sich dem Himmel entgegen. Eine von ihnen hält die Klinge und erneut zieht ein Raunen durch die Masse, als sie sie an ihren Unterarm legt und ohne das geringste Zögern tief in ihn schneidet. Die Klinge sinkt tief, augenblicklich rinnt das Blut ihre helle Haut hinab und lautlos öffnet sich mein Mund, als sie den Dolch in die andere Hand wechselt und sich auch den anderen Unterarm aufschneidet.

Die Überzeugung scheint abgrundtief zu sein und nicht einmal, als das warme Blut aus ihrem Körper strömt und somit das Leben, scheint es Angst in ihr zu geben. Unter dem anhaltenden Gebet des Priesters bettet sie die Arme viel eher friedlich auf der Brust und gibt sich dem Schlummer hin, während sich das Gestein unter ihr erneut rot färbt. Wie sind meine Sinne gebannt, wie endlos mein Entsetzen und erst, als die Frau stirbt, fließt das Bewusstsein über meine Umgebung in mich zurück.

Ich schenkte dem Wald kaum Beachtung, hörte kein Geräusch, doch ein abrupter Impuls ist es, die meine Augen losreißt und zum schwarzen Dickicht finden lässt. Es ist eine fremde Präsenz, die ich mit einem Mal spüre und langsam wende ich mich um, hinabstarrend, selbst meinen Atem zügelnd.

Jemand schlich sich über den Boden des Waldes. Ein Aufpasser aus dem Dorf, denke ich, doch gleichzeitig durchströmt mich ein seltsames Gefühl. Nicht sofort definierbar, sich verratend nur durch Ahnung. Fast ist es angenehm, auf irritierende Weise vertraut und wie erfriert der Atem in meiner Brust, als ich in all der Finsternis ein Gesicht ausmache.

Unscheinbar, verborgen, nur schwerlich zu erkennen, doch während mein Atem stockt, lebt mein Herz auf. Mit einem Mal sind es spürbare Schläge, die das Blut wärmend durch meinen Körper senden und mit versteinerter Miene erwidere ich den Blick, der jede Finsternis durchdringt.

Nichts könnte so schwarz sein wie diese Augen, die mich weitaus früher erfassten und das Grauen auf dem Friedhof verliert an Existenz, während wir reglos verharren.

Ich wusste nicht, dass er hier ist.

Ich spürte ihn nicht, obwohl ich seine Gegenwart doch gewöhnlich in jedem Winkel meines Umfeldes fühle. Nicht weit entfernt lehnt er an einem Baum, starr wie eine Skulptur, doch alles an diesem Ort abrupt mit seiner Präsenz füllend. Ich glaube sogar, ihn mit einem Mal zu riechen und wie groß ist die Überwindung, mich flüchtig von ihm loszureißen und zurück zu spähen zu dem blutigen Ritus.

Die Frau ist tot, doch das Gebet fließt weiter und ich zögere nicht, bevor ich unter mich taste, vom Ast gleite und dem Erdboden entgegen. Es spielt keine Rolle mehr, was dort geschieht. Nicht in dieser Nacht und wie eilig sind meine Schritte, die mich anschließend zu ihm führen.

Ich dränge mich an einem Gebüsch vorbei, erreiche ihn und keine Nacht könnte verbergen, was ich erblicke. Er ist erschöpft und blass. Offen und wirr umrahmt das Haar sein Gesicht und wie willenlos hebt sich meine Hand, einer abrupten Schwäche verfallend, dem Drang erliegend, und bettet sich auf seiner Wange.

Sie fühlt sich kalt an. Ein müder Atem strömt über seine Lippen und beiläufig streife ich eine lange Strähne aus seinem Gesicht, bevor ich die letzte Distanz überwinde und die Arme um ihn schließe.

Das vertraute Gefühl seines Körpers scheint wie das einzige Licht in dieser Dunkelheit und nicht nur die abgrundtiefe Zuneigung lässt mich ihn festhalten. Neues Leben scheint in mich zu strömen, mich zu stärken und weder Blut noch Tod existieren in unserem behüteten Kern, als sich das Gewicht seines Armes auf meine Schulter senkt. Eine Hand bettet sich auf meinen Rücken und wie genüsslich schließe ich die Augen, die Wange an seinem Hals und begierig seinen Geruch in mich aufnehmend.

Wie bizarr, hier an diesem Ort auf ein solches pures Glück zu treffen.

Wohlwollend durchströmen mich Behagen und Frieden und wie tief hole ich Luft, um die Haut seines Halses anschließend mit meinem Atem zu wärmen. Es geschieht oft, dass er mich findet, wenn ich in völliger Dunkelheit erstarre und wie lange verharren wir reglos, wie lange halten wir uns fest, bevor sich seine Hand von meinem Rücken löst und ich zurücktrete. Meine Finger streifen seine Seiten, unbewusst nach Verletzungen tastend, doch er scheint unversehrt.

„Was tust du hier?“, flüstere ich, doch bemerke die Regung seiner Hand. Sie hebt sich, bittet mich um Stille und als seine schwarzen Augen an mir vorbeidriften, wende ich mich um und schließe mich seiner Beobachtung an. Mit einem Mal dringt der Friedhof zurück in unsere Existenz. Noch immer das Blut, noch immer die Fackeln und diese abgrundtiefe Widerwärtigkeit, doch mit einem Mal scheint eine Grenze zwischen uns zu existieren. Es ist wärmer auf unserer Seite.

So stehen wir in der verborgenen Finsternis, ohne ein Wort, doch stattdessen mit endlosen Gedanken.

Die Fackeln auf der Lichtung setzen sich bald in Bewegung. Die Menschen strömen durch die Kluft im Zaun, um sich mit ihren Lichtern zurück in ihr Dorf zu ergießen, während unsere Gegenwart an diesem Ort stetig mehr zur einzigen wird. Die Monster driften aus unserem Umfeld und selbst als die Stämme eine undurchsichtige Mauer zwischen uns und den Fackeln bilden, ist es noch still zwischen Kanda und mir.

Er bat mich darum, nicht zu sprechen, also warte ich auf seine Worte. Annähernd absent blickt er in die Dunkelheit, längst wieder den Halt des Stammes nutzend und wie lange sehe ich ihn nur an, nicht ungeduldig oder erwartungsvoll, denn es gibt keine Wünsche in mir, wenn ich ihn vor mir habe.

„Wir ziehen uns zurück“, erhebt er dann endlich die Stimme. Sie erreicht mich leise, dieselbe Schwäche in sich tragend, wie sie seinen Körper zeichnet. „Nach Süden und tiefer in den Wald, bis wir weit genug entfernt sind.“

Somit löst er sich bereits vom Stamm. Seinen Beinen fällt es schwer, der Belastung standzuhalten und nur flüchtig durchzuckt mich der Wille, ihm die Hand zu reichen. Mein Arm jedoch regt sich nicht, da ich die Seele des Japaners kenne. Er bewältigt es selbst und dann setzen wir uns in Bewegung.

Wir sind alleine, als wir den Friedhof umgehen und nicht selten spähe ich durch die wenigen Bäume, die uns von ihm trennen. Noch immer ruht der weiße Körper der Frau auf dem kalten Gestein, doch als ich mich abwende, kehre ich nicht nur ihr den Rücken. Es ist jedes Fragment, das ich vorerst hinter mir lasse, um mich an der Seite meines Freundes zu halten.

Mit niemandem würde ich diesen grausamen Weg lieber gehen.

„Bis zum nächsten Dorf werden wir es nicht schaffen“, dringt kurz darauf sein Flüstern zu mir. „Selbst eine Mahlzeit wird vom Zufall abhängig sein.“

„Was brauchst du?“

„Jemanden, dem ich meinen Schutz anvertrauen kann. Ich muss schlafen.“ Kurz treffen sich unsere Blicke. „Hat Komui dich geschickt?“

„Ja. Das Hauptquartier verlor den Kontakt zu einem Finder, der Nachforschungen anstellen wollte“, antworte ich und erkenne ein knappes Zucken seines Mundwinkels. Es wirkt wie der Deut eines humorlosen Grinsens und dann wendet er sich ab. „Du weißt etwas darüber.“

„Ich weiß alles“, höre ich ihn murmeln. „Die ganze Wahrheit, um die mich niemand beneiden dürfte. Ich erzähle es dir später.“
 

Stunde um Stunde durchstreifen wir den Wald und mit jedem Schritt meine ich, die Luft um uns würde klarer. Sie lässt sich leichter atmen, als würden wir einen verfluchten Bereich verlassen. Das Laufen wird einfacher dadurch und wir sprechen nicht viel, denn der passende Moment ist noch nicht erreicht und wir vermuten den nahen Sonnenaufgang am Horizont, als wir letztlich innehalten.

Es geht nicht darum, den richtigen Platz zu finden, wir suchen nur nach Distanz und geben uns mit ihr zufrieden, als sich ein Hügel vor uns erhebt und uns leichten Unterschlupf bietet.

Keiner Menschenseele begegneten wir in all den Stunden und auch hier haben wir das Gefühl der nötigen Abgeschiedenheit. Ein kleines Fleckchen Wiese und eine Nische der Anhöhe machen wir zu unserem Lager und Kanda sucht nicht nach Bequemlichkeit. Er sinkt in das Gras, legt sich nieder und auch ich gönne meinen Beinen Entspannung, als er die Augen schließt und innerhalb weniger Momente schläft.

Er ist in Sicherheit, denke ich mir.

Was auch immer er erlebte, es wird ihn nicht erreichen, wenn ich an seiner Seite bin, mühelos die Last seines Schutzes tragend. Stunde um Stunde kann er schlafen, ohne dass ihm etwas widerfährt und ich sitze neben ihm, grübelnd und absent.

Vor kurzem zweifelte ich am Schicksal und an seiner Güte, wenn es den Blick auf mich richtet.

Die Wege, die Kanda und ich bestritten, führten so weit auseinander, doch hier an diesem ruchlosen Ort kreuzen sie sich.
 

-tbc-

4

Es war der Zufall, der Kanda in dieses Dorf führte. Gemeinsam mit einem Finder und auf dem Rückweg von einer Mission im Norden des Landes. Vielleicht wären es nur wenige Schritte gewesen, die ihn mit diesem Ort in Verbindung gebracht hätten, doch der zweifelhafte Wille des Schicksals führte zu einer Begegnung. So traf er auf den Finder, nur wenige Momente, nachdem dieser das Hauptquartier über seinen Standort und sein Vorhaben in Kenntnis setzte.

Möglicherweise hätte Kanda dem Mann seinen Absichten überlassen, da simple Recherchen nicht sein Interesse weckten. Möglicherweise wäre er weitergezogen, wäre das Gesicht des Finders nicht sterbensbleich gewesen und seine Haltung nicht zermürbt von Schmerz und Schwäche.

„Er wurde vergiftet“, murmelt Kanda, absent das Gras mit den Fingern durchstreifend. Die Sonne steht bereits am Zenit, als wir am Fuße des Hügels sitzen und er mir die bittere Wahrheit offenbart. Sein Gesicht erhielt einen Teil seiner gesunden Farbe zurück. Auch seine Bewegungen wirken gestärkter nach all den Stunden des Schlafes.

„Sein Zustand verschlechterte sich rapide und nur wenige Stunden später starb er unter Krämpfen.“

Wie schwer fiel es ihm vor seinem Tod, von den Vorkommnissen im Dorf zu berichten. Er würgte hervor so viel er konnte, sprach von dem Verhalten der Menschen, dem Friedhof und nicht zuletzt von einem grausamen Ritus, den er beobachtete. Binnen kurzer Zeit sah er viel und wie düster mussten die Bilder sein, die ihn in den Tod begleiteten.

So endeten Kandas Schritte in diesem Dorf, so verfluchte er es mit seiner Anwesenheit und natürlich traf auch er von Beginn an auf Widerstand und schweigende Münder.

Die Ablehnung und die Dicke der Mauern beeinflussten ihn wenig bei seinem Handeln und so drang er rasch vor, unerbittlich und seiner Weise treu bleibend. Er stellte Fragen, fixierte sich auf Schwachpunkte und setzte den Hebel dort an, wo es wehtat. Genau wie ich kauerte auch er im Schutz des Waldes, als es wenig später zu einer weiteren Opferung kam.

„Zuerst ging ich davon aus, der Priester wäre ein Broker“, fährt er fort. „Er fragte nicht nach meiner Identität und ich dachte, es wäre nicht nötig, da er meine Uniform erkannte. Aber es war ein Trugschluss, denn keiner in diesem Dorf besitzt ausreichend Gefühl, um für die Rückkehr eines Angehörigen oder Freundes zu beten. Es gibt keine Bindungen und somit keinen fruchtbaren Boden für den Grafen.“ Er schürzt die Lippen und als er mich ansieht, da kenne ich seine nächsten Worte bereits. „Nichts in diesem Dorf hat eine Verbindung zum Grafen. Das Problem ist der Priester.“

Während des Aufenthaltes rationierten Kanda und der Finder ihren Proviant. Sie mieden das Essen in jeder möglichen Vorsicht und so blieb der Finder auch stets an seiner Seite. Er war die Schwachstelle, leicht zu erreichen im Gegensatz zu meinem Kameraden.

Aufmerksam höre ich ihm zu, teilweise mit stockendem Atem und nie den Blick von ihm lösend.

„Nach dem Ritual auf dem Friedhof konzentrierte ich mich auf die Kirche und die allabendlichen Messen. Der rote Gott nennt sich Aman und lässt sich nur besänftigen durch Blutopfer. Ein solches zu sein, gilt als Privileg. Jeder in diesem Dorf gibt sein Leben aus freien Stücken, um die Gunst Amans für das Dorf zu sichern. Nach Aussage des Priesters droht der Welt ein unaussprechliches Unheil und nur dieser eine Gott besitzt die Macht, das Dorf vor diesem zu bewahren. Dieser Glaube zerfrisst die Menschen, doch um zu diesem Ziel zu gelangen, brauchte es nicht nur Worte und Überzeugung.“ Kanda atmet tief durch. „Bei jeder Messe wird in der Kirche ein Halluzinogen verströmt, das die Wirkung aufrechterhält.“

„Der Geruch“, flüstere ich. „Er ist mir aufgefallen.“

„Bei meinem Finder führte es zu Benommenheit, nur in der Nähe der Kirche zu sein. Bei mir zeigte es keine Wirkung. Trotzdem wollten wir uns vorerst fernhalten. Nur ein Tag nachdem der Finder starb, standen wir kurz vor der Lösung des Rätsels.“

Auch er begriff, dass der Feind in diesem Fall der Mensch war und ganz sicher hätte auch er es in Betracht gezogen, das Dorf sich selbst zu überlassen, wäre nicht der Mord an dem Finder geschehen. So hielt derselbe Grund ihn hier, der auch mich zum Bleiben bewegte, doch die Unerbittlichkeit des Priesters und die Ergebenheit der Dorfbewohner führten nur durch geringe Unterschätzung zu einem weiteren Drama.

„Wir waren nur zwei Tage im Dorf, als mein Finder ermordet wurde.“ Seine Stimme senkt sich zu einem Flüstern. „Wir standen voreinander, als man ihm hinterrücks in den Kopf schoss und die Kugel erfasste auch mich. Er war wohl sofort tot und auch ich machte diesen Eindruck.“

Meine Lippen sind trocken, als ich sie aufeinanderpresse. Kurz spreizen sich meine Finger, doch letztlich falte ich sie ineinander und suche mit einem tiefen Luftholen nach Entspannung und Ruhe. Meinen Beinen steht der Sinn danach, mich sofort zurückzutragen zu jenem Dorf, doch die Dinge sind nicht so simpel wie sie erscheinen.

„Während ich besinnungslos war, begruben sie mich im Wald und ich erstickte, sobald ich wieder zu mir kam. Mich an die Oberfläche zu kämpfen, kostete mich fast ein weiteres Mal das Leben und danach brauchte es Stunden, bevor ich mich wieder bewegen konnte. Der Priester nahm mein Schwert, doch ich fand es in der Kirche, nachdem die Dorfbewohner zum Friedhof strömten.“

Unter einem tiefen Ausatmen senke ich den Kopf und fahre mir durch das Haar. Auf meinem Schoß schlägt Tim mit den Flügeln und mehrere Momente geben wir uns dem alten Schweigen hin.

Die Begebenheiten, auf die wir an diesem Ort stoßen, durchbrechen die Grenze all dessen, was wir als Routine bezeichnen. Die Situation ist fremd, zwiegespalten und nicht zu lösen durch gewohnheitsmäßige Herangehensweisen. Sie ist wie Säure, auch auf immensem Abstand ätzend und selbst jeder Gedanke, den man ihr opfert, gelingt nur stockend und fordert Überwindung.

„Wenn wir uns mit diesem Priester befassen“, ergreife ich bald darauf das Wort, „werden wir weder dem Grafen schaden noch ein Innocence finden. Es wäre nicht unsere Angelegenheit, wäre es nicht persönlich geworden.“

Was uns den Rückzug unmöglich macht, sind nicht nur die Morde an den beiden Findern. Vielleicht sieht Kanda keinen vollendeten Anlass darin, doch mir genügt der Fakt, dass man Hand an ihn legte und am Rande dieses rechtfertigenden Konstrukts schimmert sogar ein weiterer Beweggrund.

„Wenn der Priester tatsächlich die Wurzel allen Übels ist“, fahre ich fort, „wäre es nicht nur Gerechtigkeit, die wir erreichen. Wir könnten Menschen retten und das Dorf zu dem machen, was es einst war. Die älteren Grabsteine auf dem Friedhof beweisen, dass die Toten damals gewürdigt wurden und auch die Kirche wurde gebaut, um das Christentum zu predigen. Du sagst, das Halluzinogen wird jeden Abend bei der Messe verströmt. Die kurzen Abstände wären unnötig, würde die Wirkung nicht rasch verfliegen. Entfernen wir dieses Gift, entfernen wir es auch aus den Köpfen.“

Als ich mich aufrichte, treffen sich unsere Blicke. Hier sitzen wir und sprechen und tun somit, was überflüssig ist. Wir kennen die Tatsachen, kennen unsere Gedanken und so ließen wir uns dazu verleiten, das Zentrum zu umkreisen. Worte bringen Zeit und Abstand und wie lange sehen wir uns an, grundlos und in stiller Einigung gegenüber dieser Tatsache.

„Ich habe mich entschieden, nachdem ich mich aus meinem Grab befreite.“

Es ist Kanda, der sich zuerst und erbarmungslos dem Zentrum widmet. Unweigerlich finden seine Augen zum hochkonzentrierten Kern unserer Gegenwart und ich schöpfe tiefen Atem, bevor er den letzten dünnen Schutzfilm zerreißt.

„Ich werde den Priester töten.“

„Ich weiß.“

„Er ist selten alleine. Vermutlich werden viele bereit sein, ihr Leben seinem Schutz zu opfern.“

„Vermutlich.“

Stellen wir uns gegen den Priester, so stellen wir uns gegen das Dorf und weder Hinterlist noch Schnelligkeit könnten verhindern, dass wir mehr Schaden verursachen als beabsichtigt, denn Wahnsinn ist eine widerliche, annähernd unbesiegbare Waffe.

Das folgende, wiederholte Schweigen, das zwischen uns einen Raum bildet, ist weder leer noch eine lose Überbrückung. Es beinhaltet eine Frage, die zwar angemessen wäre, jedoch nicht ausgesprochen werden muss.

Natürlich könnte Kanda mich darauf aufmerksam machen, dass ich nicht verpflichtet bin, ihm über diese Grenze zu folgen. Was er zu tun gedenkt, in jeder Hinsicht dreckig, fragwürdig und wohl teilweise auch unmoralisch, täte er auch allein und kein Moment meiner Zukunft wäre belastet durch die Tatsache, dass auch ich die Verantwortung trage. Meine Hände wären nicht viel schmutziger als zu diesem Zeitpunkt und mein Gewissen nicht viel schwerer. Die Bilder wären kein Teil meiner Erinnerung, wenn ich Kanda alleine ziehen lasse und in der Verborgenheit des Waldes darauf warte, dass die Dinge erledigt werden.

Er traf die Entscheidung und akzeptierte somit die Last, das Leben unschuldiger, fehlgeleiteter Menschen zu Gunsten eines hohen Zieles zu beschädigen oder gar zu beenden.

Diese Worte könnte er aussprechen und ich könnte reagieren, doch wir schweigen, denn Frage und Antwort sind überflüssig, da er mich kennt.

Meine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Durchatmen und gleichzeitig richte ich mich auf, meinen Körper straffend durch Endgültigkeit und Entschluss. Er deutet das Nicken nur an, als sich unsere Blicke abermals begegnen.

„Wir tun es nach der Messe“, sagt er dann. „Wenn die Kirche leer ist und die Bevölkerung in ihren Häusern. Die Mauer um den Priester wird dünn sein und niemand schnell genug, wenn wir den richtigen Moment abpassen.“
 

Als wir am frühen Abend durch den Wald ziehen, umgibt uns das Dickicht annähernd friedlich. Fernab des Dorfes ist die Natur geprägt von Farben und Schönheit und wie sarkastisch wirkt jedes Zwitschern der Vögel oder das Rauschen der Baumkronen. Selbst die Luft lässt sich angenehm atmen und wir tun es überwiegend schweigend. Meinen letzten Proviant aßen wir, um uns zu stärken. Wir ruhten, während die Stunden an uns vorbeizogen und uns unweigerlich zu diesem frühen Abend führten und zu jenem Vorhaben.

Bisweilen blicke ich zu ihm, als wäre es anhaltende Sorge, die meine Augen lenkt, doch er wirkt gekräftigt und fest in seiner Entschlossenheit. Seine Schritte sind zielstrebig und offenbaren kein Zögern und ich weiß, dass er auch in den kommenden Stunden nicht innehalten wird, denn er hält in jeder Hinsicht sein Wort.

Seine Hand ruht regungslos auf Mugens Knauf.

Tief schöpfe ich Atem, während ich mich wieder auf den Weg konzentriere. Die Gebüsche ziehen an uns vorbei, auch die eine oder andere Wiese lassen wir hinter uns und es braucht keine Orientierung, um uns wissen zu lassen, dass wir bald darauf in der Nähe sind. Die vertraute, elendige Atmosphäre saugt uns ein. Wir scheinen in eine unsichtbare, stickige Wolke einzudringen, die den Blättern die Farbe nimmt und die Vögel verstummen lässt.

Meine Atemzüge werden tiefer, denn der Sauerstoff scheint zu fehlen und dann kauern wir im Dickicht, verborgen hinter Ästen und Blattwerk und belauern die unselige Pfütze aus grauen Gebäuden und Wegen.

Wieder sehe ich die gebeugten Gestalten der Menschen und ihre phlegmatischen Bewegungen. Wie Tiere, die ihren Instinkt verloren, driften sie durch diesen Pfuhl und wie lange betrachte ich mir auch das große, steinerne Monument, das den widerlichen Kern des Dramas bildet.

Die Worte fielen uns leicht in der Distanz, doch mit einem Mal kommen wir wieder in Berührung. Es mag seltsam sein, doch diese Konfrontation nähme mir die letzte Unsicherheit, würde es so etwas in mir geben.

Wir tun das Richtige, sage ich mir überzeugt und spreize die Finger. Wie schön wäre dieses Dorf mit grünen Wiesen und fruchtbaren Feldern. Wenn sich die graue Substanz aus der Luft verflüchtigt und der Himmel wieder blau über den Häusern läge. Die Kinder würden lachen und die Eltern sie lieben.

Langsam lasse ich mich zu Boden sinken und suche nach Bequemlichkeit. Nicht mehr lange, bis die geisterhaften Gestalten zur Kirche strömen werden. Die Zeit vergeht, der Moment nähert sich und als die Menschen dann wie graue Rinnsale zu jenem Gebäude sickern und verschlungen werden von seiner schwarzen Pforte, da schöpfen wir tiefen Atem.

„Konzentrier dich auf den Priester“, beende ich die Stille daraufhin und begegne Kandas schwarzen Augen. „Ich kümmere mich um das Umfeld und darum, dass du tun kannst, was nötig ist.“

„Ich brauche nicht lange“, erwidert er nur und nickend vertiefe ich mich in die Betrachtung seines Gesichts.

Was täten andere in dieser Lage, frage ich mich in dem Moment.

Würden unsere Freunde handeln wie wir oder bestünde ihre Vergeltung im besten Fall aus emotionalem, unkontrollierbarem Affekt? Natürlich wären sie zornig und auch das Gefühl, durch den Tod der Finder persönlich involviert und verpflichtet zu sein, würde in ihnen erwachen, doch ich zweifle daran, dass sie in sicherer Distanz zusammenkauern und einen Mord besprechen würden. Das Bild bietet sich meinen Augen einfach nicht, doch es gibt keine Vergleiche, die ihr Verhalten in einem solchen Moment voraussagen würden.

Möglicherweise täten sie etwas anderes. Oder genau dasselbe.

Ich fühle, wie sich meine Hand hebt. Ohne mein Zutun findet sie zu Kandas Gesicht und bettet sich auf seiner Wange. Sie fühlt sich kalt an, doch es ist in Ordnung in einem Umfeld wie diesem. Hier gibt es keine Wärme und wie sehne ich mich danach, mit ihm zurückzukehren in die Mauern des Hauptquartiers. Auch dort ist es kalt, doch es ist die Heimat und kein Ort könnte schöner sein, wenn er bei mir ist und mit ihm all die anderen Menschen, die ich liebe.

Absent streife ich eine Strähne aus seiner Stirn, finde so großen Gefallen daran, ihn zu berühren, doch lasse mich nicht locken von dieser falschen Fixierung meiner Gedanken. Gebündelt haben sie sich auf das zu richten, das vor uns liegt und wir schweigen, während das Dorf verlassen vor uns liegt und die schweren Pforte der Kirche verschlossen bleiben. Hinter ihrem dicken Holz wird abermals freigesetzt, das den Geist der Menschen vernebelt. Halluzinogen und giftige Worte. Eine knappe halbe Stunde, mehr trennt uns nicht von Bewegung und Tat, doch die Zeit streckt sich, schleppt sich an uns vorüber und ich schöpfe tiefen Atem, als sich die Pforte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder öffnet und die traurige Masse der Willenlosen ausspeit.

So benommen, wie sie zu diesem Ort sickerten, so benommen ergießen sich die Massen zurück in ihre Häuser und wir kommen auf die Beine, als ihr Strom sich verdünnt.

Im Schutz des Dickichts gelangen wir hinter die Kirche, verlassen das Blattwerk im geschützten Winkel kleiner Schuppen und erreichen die kalte steinerne Wand des Objektes. Wir bewegen uns simultan und einträglich, vertraut wie zwei Fragmente eines einzigen Willens. Es braucht stets wenig Absprache, wenn wir nach demselben Ziel streben. Eine versteckte offen stehende Hintertür bietet dem Priester nicht nur einen Fluchtweg, sondern möglichen Verteidigern die Gelegenheit, sich zwischen uns zu stellen und kaum dränge ich sie von außen zurück in ihr Schloss, da reicht mir Kanda einen dicken hölzernen Keil, den ich unter das Türblatt dränge. Mit einem vorsichtigen Schlag auch tief in den Boden, auf das sich die Pforte verklemmt und in Eile nicht zu öffnen ist.

Mit arglistiger Besonnenheit ebnen wir unserem Attentat den Weg, neutralisieren jedes offensichtliche Risiko und wie leise führen uns unsere Schritte anschließend zur großen Pforte. Es ist der letzte Pfad zum Kern unseres Vorhabens und nicht nur einmal denke ich mir in diesen Momenten, dass das Schicksal es gut mit uns zu meinen scheint. Als besäße es unseren Willen und die Einsicht, dass die Mittel den Zweck heiligen.

Als wir durch das farblose Gras ziehen, uns voranpirschend an der steinernen Fassade, da gibt es keine Augen, die uns erfassen könnten. Die Häuser verschluckten die Menschen und das Dorf wirkt wie eine Geisterstadt, blind gegenüber jenen, die Übles planen.

Nur noch wenige Meter trennen uns, nur noch eine steinerne Ecke und wie gefasst mustere ich noch immer die Umgebung, während sich Kanda flüchtig ins Freie neigt, die letzte Etappe des Weges absichernd. Annähernd lautlos erreichen uns die Fetzen einer unverständlichen Unterhaltung. Mehrere Stimmen hallen in dem steinernen Saal wider und kurz versuche ich sie voneinander zu trennen. Die Anzahl der Anwesenden stellt keine Bedrohung dar, nur das Ausmaß des möglichen Kollateralschadens.

Das an Lautstärke gewinnende Schallen vereinzelter Schritte lässt uns weiterhin warten und wie zufrieden verfolge ich kurz darauf, wie zwei weitere Dorfbewohner die Kirche verlassen. Als würde eine ihnen zugetane Macht sie hinauslocken in sichere Distanz. Wir sehen ihnen nach, lassen ihnen die Zeit für jeden möglichen Schritt und kaum erreichen sie genügenden Abstand, da erwachen wir zum Leben.

Kein Zögern lässt unsere Bewegungen stocken und wie rasch und leise ist der letzte Weg überwunden. Zum zweiten Mal steige ich die wenigen steinernen Stufen empor, trete neben Kanda über die Schwelle und wie besonnen greife ich nach der Klinke und schließe die schwere Pforte hinter uns. Annähernd lautlos bewegt sie sich über den Boden, doch trifft dumpf auf den anderen Flügel und nur beiläufig nehme ich wahr, wie die Stimmen in meinem Rücken verstummen.

Mit einem Mal wird es still an diesem verpesteten Ort. Der bekannte Geruch sticht in meiner Nase, als ich eine der langen, hölzernen Sitzbänke von ihrem Fleck reiße. Ein Ächzen dringt an meine Ohren, doch wird erstickt im lauten Dröhnen, mit dem die Bank auf die Pforte trifft. Der letzte Pfad schließt sich, der letzte Ausweg für uns alle und flüchtig fahre ich mir mit dem Handrücken über den Mund, bevor ich mich dem Schauplatz zuwende, an dem ein Ende findet, was niemals einen Anfang hätte haben dürfen.
 

Regungslos suche ich nach meinem Spiegelbild in den schwarzen Pupillen der Augen, die auf mich gerichtet sind. Kaum ein Blinzeln, kaum ein Zucken und wie argwöhnend überzeuge ich mich von der Starre der beiden Kinder, die auf den Stufen des Altars kauern, am Fuße der widerlichen Statue. Rote Gewänder offenbaren sie als Messdiener und vereinen sie auf bizarre Weise mit dem Trauerspiel, das binnen weniger Momente eingeleitet, durchgeführt und beendet wurde.

Ich befürchtete, auch sie würden uns angreifen, kopflos und blind, sich einen Dreck scherend um ihr Leben oder die Konsequenzen. Sie setzten sich in Bewegung, doch zögerten und noch immer pressen sie sich in keine Rolle, gegen die ich anzugehen hätte. Schweigend stehe ich so zwischen ihnen und den bewusstlosen Körpern vierer Männer, die unsere Erwartungen erfüllten. Natürlich waren sie bereit, sich zu opfern und natürlich wurde ich zur Mauer zwischen ihnen und Kanda. Unüberwindbar, doch achtsam mit meinen Kräften und ich rang sie zu Boden, damit sie in geraumer Zeit wieder aufstehen können.

Noch immer harren die beiden Kinder aus wie weiße Statuen und so wende ich mich zur Seite und vertiefe mich in die leblose Mimik des Priesters. Entsetzen begleitete ihn in den Tod, als er den wahrhaftigen Teufel zu sehen glaubte, auferstanden aus dem Grab und auf verhasster Mission. So erhob sich seine schallende Stimme, so hetzte er jeden auf uns, der ihm hörig war und als Kanda jegliche Hürden überwand und ihn erreichte, den fragilen Kern der Sache, da zog er selbst ein Messer. Wie menschlich wirkte er mit einem Mal und im Angesicht des Unabwendbaren. Als hätte er es nicht erwartet. Als wäre seine Seele so finster und verpestet, dass sie die Umsicht verlor und sich nicht ein einziges Mal die Frage stellte, ob sie sich nicht die Falschen zum Feind machte.

Er stach nach Kanda und es blieb bei einem flüchtigen Kontakt, bevor das Messer klirrend über den Boden schlitterte. Seine Finger verloren die Waffe so leichtfertig, seinen Beinen blieb keine Möglichkeit zur Flucht und er begriff es vermutlich nicht, so schnell geschah es, dass Kanda ihn hinterrücks packte, sein Kinn umfasste und sein Genick brach.

Nur eine Bewegung, rasch, annähernd beiläufig, gefolgt von einem leisen, fast friedlichen Knacken und so sank der Priester zu Boden, ohne Spannung wie eine Marionette, deren Fäden rissen.

Kanda hatte nicht gezögert.

Es ist still um uns herum. Die Schreie des Priesters scheinen die schwere Pforte nicht durchdrungen zu haben. Sie erreichten niemanden, denn es gibt keine Laute auf der anderen Seite des Holzes. Niemanden, der herbeieilte, um den Prediger zu retten. Beiläufig taste ich nach meinen Handschuhen und sichere ihren Halt. Es ist getan, doch noch immer fühlt es sich nicht falsch an und auch Kanda offenbart die Fassung, die mir vertraut ist. Er schenkt dem Toten keine Beachtung, ebnet keinen Weg in ein Gebiet, in dem Zweifel existieren könnten. Sein Schwert verließ die Scheide nicht. Er tötete mit bloßen Händen und abermals überzeuge ich mich von der Reglosigkeit der Kinder, als er sich in Bewegung setzt. Zügig lässt er die beiden Stufen zum Altar hinter sich.

„Wir verbrennen es.“ Die ruhige Besonnenheit seiner Stimme legt sich über die Situation wie ein falscher, unpassender Himmel. „Das Halluzinogen, die Schriften. Alles.“

Die Kinder bleiben kauern, als wir über den steinernen Boden ziehen, Türen öffnen, die Räume hinter dem Altar auskundschaften und fündig werden. Ein Zimmer scheint das des Priesters zu sein und verbirgt nicht nur unzählige Schriftrollen, sondern auch kleine Pakete aus Papier, die den vertrauten, unangenehmen Geruch entsenden. Es gibt kein Fenster an diesem Ort, auch die Tür ist stark und dicht genug, um dem spontanen Höhepunkt zu dienen und so durchforste ich Schubfächer und Schränke und finde schnell, was wir benötigen. Raschelnd verteile ich die Schriftrollen auf dem Boden und nahe der Schränke, während Kanda den toten Körper des Priesters durch den Türrahmen schleift. Er zieht ihn bis zur Mitte des Raumes, bettet ihn im Meer des geschriebenen Übels und ein letztes Mal überzeugen wir uns, dass alles, was zerstört werden muss, umgeben ist von diesen steinernen vier Mauern. Hier in diesem Kern soll es brennen und wie ruhig sind meine Finger, als ich das erste Streichholz entfache und die Flamme auf das trockene Papier übergehen lasse.

Rasch breitet sich das Feuer aus. So zerstörerisch, als wäre es unser Verbündeter, als besäße es ebenso den Willen, dieses Fragment aus der Welt zu tilgen. Wir verfolgen, wie die Flammen höhersteigen, hungrig bald auch das Gewand des Priesters verschlingend, und dann schließen wir die Tür. Die Kirche soll bestehen bleiben, als Spross einer gesunden Entwicklung und so hoffen wir, dass die widerliche Götterstatue zu schwach sein wird, um die Verblendung aufrechtzuerhalten. Sie wird an Bedeutung verlieren und vielleicht, so hoffe ich, in absehbarer Zeit gestürzt und aus dem christlichen Haus verbannt.

Schweigend ziehen wir an den beiden Kindern vorbei, entfernen die Blockade vor der Pforte und noch immer umgibt uns das Dorf verlassen und grau, als wir die Stufen hinabsteigen und unsere Schritte endlich hinausführen aus diesem verpesteten, widerlichen Pfuhl.

Wir verlassen diesen Ort und blicken nicht zurück.
 

-tbc-

5

Wir sprechen wenig auf unserem weiten Weg zur Haltestelle des Zuges und nur beiläufig fühle ich, wie die Welt um uns herum klarer wird, heller, lebenswerter. Der Wind lässt sich angenehm atmen, selbst der Gesang der Vögel begleitet unsere Schritte und obwohl sie uns fortführen und die Distanz vergrößern, meine Gedanken scheinen festzuhängen und sich schwer damit zu tun, sich vollständig zu lösen.

Es gibt kein Gefühl der Freude oder Erleichterung. Nicht diesmal. Dabei sind diese Empfindungen so oft Teil von uns, wenn wir eine Mission beenden und Nachhause zurückkehren.

Die Gewissheit, etwas Gutes getan zu haben, sie fehlt, doch ich vermute sie in naher Zukunft. Der Boden, den wir schufen, ist noch trocken, doch fähig zu jeder Entwicklung und wie hoffe ich, dass die nächsten Tage und Wochen wieder Gesundes hervorbringen und das Dorf erblüht. Koste es so viel Zeit, wie es wolle.

Zu mehr oder weniger waren wir nicht fähig.

Einmal mehr schöpfe ich tiefen Atem, bevor meine Hand zu meinem Bauch findet. Hunger rumort in mir und ich vermute, Kanda wird es nicht anders gehen. Wir aßen und tranken kaum in der letzten Zeit und nicht nur unsere Mimiken werden uns zu Symbolen der Müdigkeit und Erschöpfung machen. Auch wir werden Zeit benötigen, um uns vom Gift dieses Ortes zu erholen.

Bisweilen spähe ich zu meinem teuren Kameraden, versuche in ihm zu lesen, doch sehe rasch die fehlende Notwendigkeit. Natürlich steht auch ihm nicht der Sinn nach vielen Worten. Natürlich braucht auch er Essen und Schlaf, doch ich kann mir sicher sein, dass es kein Schatten aus Zweifeln oder Schuld ist, der sich über ihn neigt. Es entspräche ihm nicht, denn er trifft keine Entscheidung, die er später bereuen könnte.

Leichter Nieselregen geht auf uns nieder, als wir den steinernen Boden der Haltestelle erreichen.

Ich erkenne die lange Flur wieder, den offenen Blick auf die Felder, die keinen Hinweis geben auf das, was sich hinter ihnen verbirgt und es kommt mir vor, als wären es Wochen, die mich von meiner Ankunft trennen.

Still und überwiegend regungslos harren wir aus unter der fragwürdigen Überdachung.

Die Gleise erstrecken sich leer bis zum Horizont. Einen Fahrplan scheint es schon seit langem nicht mehr zu geben und ich zähle mein Gähnen, lehne mich irgendwann gegen das alte Blech des Wartehäuschens und glaube das Gefühl für die Zeit zu verlieren. Als gäbe es hier und jetzt keine Zeiger, die wandern. Als stünde die Welt still.

Abermals driften meine Augen zu Kanda. Er bewegt seinen kleinen Kompass in den Händen, die Arbeit seiner Finger verfolgend. Noch immer haftet Erde auf dem Glas und verbirgt die Nadel unter sich. Er vertreibt sich die Zeit, indem er den Schmutz von der Fläche streicht und ich vertreibe sie ebenso mit dem Anblick, dem ich früh verfiel. Endlos und offenkundig kann ich ihn mir betrachten und ich bediene mich gierig dieser Möglichkeit. Jedes Mal, wenn wir unter uns sind.

Noch immer haftet leichter Schmutz auf der etwas zu blassen Haut seines Gesichtes. Auch seinem Haar fehlt es an Ordnung und das Blinzeln seiner leicht gesenkten Lider schließt sich dem Strom harmonisch an. Als wäre das Chaos des Dorfes auf ihn übergangen, da er zu lange mit ihm in Kontakt stand. Und ich betrachte ihn mir weiterhin, als würde ich mich nähren an seiner Gegenwart, vorerst nicht einmal auf das sich nähernde Geräusch des Zuges achtend. Der Kompass ist sauber, als Kanda aufblickt und nur flüchtig begegnen sich unsere Augen, bevor er den Gegenstand in der kleinen Gürteltasche versenkt. Wenige Momente später betreten wir das warme Innere des Zuges, sinken auf die Polster, doch wollen nur in die nächste Stadt, nur in die Zivilisation.

Ein Telefon und eine Unterkunft genügen als erste Etappe und wir fahren nicht weit, bis wir fündig werden. Ein großes Dorf macht den Eindruck, alles zu bieten, was wir benötigen und wie auffällig bahnen sich die Eindrücke in mein Bewusstsein, als wir über die Straßen ziehen und einem möglichen Gasthaus entgegen.

Gelöste Stimmen liegen in der Luft und auch einer Gruppe aus Kindern sehe ich nach. Sie fangen einander, jauchzen und lachen, stets in sicherer Entfernung der Mütter, die bei einem Obsthändler und spontanen Gesprächen hängen blieben. Es ist gesundes Leben, das uns umgibt, grünes Gras und Blumen, ausdrucksvolle Gesichter und Geräusche.

Auch ein Gasthof ist nicht schwer zu finden und der Kontakt zu den Besitzern ungezwungen und offen. So erreichen wir die alte Normalität, nehmen uns zwei Zimmer, doch lassen uns erst im Restaurant nieder.

Wir sind ausgedörrt, marode durch den Verzicht von allem, was schön und hilfreich ist und noch nie zuvor wussten wir so zu schätzen, was auftischt wird. Mit leicht ratloser Miene laden die Kellner Teller um Teller vor uns ab, der Tisch füllt sich und wie ächze und seufze ich unter den ersten Bissen. Es mag nach Elend klingen und einem schweren Kampf, doch niederringen tut mich nur der Genuss.

„Oh Gott.“ Ungläubig schüttle ich den Kopf, kauend und rasch an Körperspannung verlierend. Explosiv entfaltet sich der Geschmack in meinem Mund, während meine Stirn beinahe auf einen nahen Teller trifft. „Das gibt`s doch nicht.“

Mir gegenüber versenkt Kanda den Löffel in einer heißen Suppe. Wählerisch zu sein, konnte er sich nicht leisten und so bestellten wir fast alles, um nichts falsch zu machen. Tim kaut auf einem Stück Braten und nur beiläufig drängt er ihn zur Seite, um an einen Brotkorb zu gelangen.

„Verdammt.“ Entsetzt weite ich die Augen. Ein Omelette entpuppt sich als unmöglich und sofort stochere ich weiter. „Ist das wirklich so lecker oder liegt es daran, dass ich hungern musste?“

Schulterzuckend greift Kanda nach der Teekanne, ein fragender Blick, nickend schiebe ich meine Tasse näher und so schenkt er uns nach.

„Willst du den Kuchen?“ Nur einen Moment braucht es, bis ich begreife, wie unnötig die Frage ist, also nehme ich den Kuchen, doch reiche Kanda stattdessen gebratenes Gemüse. Ich sortiere, ordne die Gerichte in unserer Nähe und koste den Kuchen. Zwischen meinen Zähnen hängt noch Bohnenkraut, als sich die Schokoladenglasur großzügig im unteren Bereich meines Gesichtes verteilt. Das Gebäck zerfließt mir auf der Zunge und nur kurz begegne ich Kandas Blick, bevor ich die Augen schließe.

Es tut so gut und ich esse noch, da hat er längst kapituliert. Er nimmt nur zu sich, was er wirklich benötigt und ich sauge an meinen Zähnen, noch immer mit der Schokolade beschäftigt, da lehnt er sich zurück und streckt die Beine unter den Tisch. Seine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Durchatmen, träge sinkt sein Arm auf die Rückenlehne und die nächsten Momente bringen wir abermals in Schweigen zu.

Ich spreche nicht, da ich esse und Kanda mustert das Umfeld, die Tasse nahe am Mund.

Für gewöhnlich entfernen wir uns nicht nur körperlich von Orten, zu denen uns Missionen führten. Auch gedanklich lösen wir uns, um weiter zu driften und stets in der Gegenwart zu leben, doch ich denke, der Schmutz von Bingen wird noch lange an uns haften. Als würde dieser verfluchte Priester einen Teil unserer Gedanken an sich binden, selbst im Tod noch giftig und voller Rachsucht.

Vermutlich zieht es auch Kandas Gedanken zurück, doch er reißt sich los, sobald die Tasse geleert ist.

„Ich rufe Komui an.“ Gemächlich kommt er auf die Beine und ich kaue und nicke, während er nach Timcanpy greift. Nur unwillig löst mein Golem die Zähne aus dem Braten und beiläufig hebe ich die Gabel, bevor er entführt wird. Und ich hoffe, dass Kanda nicht zu erwähnen vergisst, wie müde wir sind und dass die Rückreise getrost bis morgen warten kann, denn das Essen war nur ein Schritt der Regeneration.

Unter einem irritierten Lächeln beginnt ein Kellner kurz darauf, das leere Geschirr abzuräumen und auch die übrigen Schalen und Teller leere ich und genieße die Sättigungsstarre, als Kanda zurückkehrt. Tim umflattert ihn, als er sich zurück auf die Bank sinken lässt und mir fehlt die Kraft für die Frage, doch er deutet meinen müden Blick.

„Wir bleiben bis morgen“, verschafft er mir Erleichterung. „Dann kehren wir vorerst zurück.“

Keine weitere Mission, also. Vermutlich sagte Kanda auch nur das Nötigste, um Komui zu beruhigen. Die umfassende, ernüchternde Geschichte bleibt dem Wiedersehen vorbehalten und unter einem leisen Ächzen rutsche ich tiefer.
 

Noch nie genoss ich den Anblick einer gefüllten Badewanne so abgrundtief. Der schwere Wasserdampf erwärmt das kleine Badezimmer und wie schwerfällig streife ich die Uniform von mir. Jede Bewegung fällt schwer und erfordert Überwindung, doch kurz darauf häuft sich meine Kleidung zerknittert auf einem Stuhl. Ein Frösteln zieht durch meine Glieder und wie genüsslich steige ich in dieses Wasser, wie behaglich lasse ich mich sinken und ächze befreit in der wärmenden Ummantelung. Mein Körper verliert die letzte Spannung, meine Lider werden schwer und eine Weile liege ich nur dort, schlaff und reglos wie eine Puppe, die niemand lenkt.

Leise Geräusche dringen zu mir, während ich tief und ruhig atme, all das verlierend, das mir schadet.

Stoff raschelt, ein Stuhlbein quietscht und dann erhebt sich das Rauschen der nahen Brause. Es wirkt beruhigend und meiner Müdigkeit zum Trotz öffne ich doch die Augen und blicke zur Seite.

Fast meine ich zu erkennen, wie das Wasser den Schmutz über Kandas Haut rinnen lässt. Es prasselt auf seinen Schopf, prasselt auch auf sein Gesicht, als er es in den Schauer hebt und dann steht er dort, regungslos die reinigende Hitze genießend. Die Nässe dringt rasch in sein Haar und wie behaglich bleibe ich der Betrachtung treu. Helle Rinnsale aus Dreck folgen den Konturen seiner Beine, bevor das Wasser klar wird und wie verfolge ich dann die Bewegungen seiner Hände. Wie sie über sein Gesicht gleiten, über das Haar und in den Nacken.

Ich schätze, wir beide sind zufrieden in diesen Momenten. Es ist still und einträchtig und wie besonnen sitzt er bald darauf auf einem Schemel und wäscht sein Haar. Er weiß, dass ich ihn ansehe, da ich stets mit dankbarer Aufmerksamkeit zelebriere, was er mir an nackter Haut offenbart. Er schenkt dem keine Beachtung und auch mir fällt es schwer, an den Zeitpunkt zurückzudenken, an dem meine Blicke verbotener Natur waren. Wie hatte ich sie zu verstecken, wie süchtig suchten sie dennoch nach ihm und genießen nun vollendete Freiheit. Keinen Moment lang muss ich die Augen von ihm lösen, nicht verbergen, was an Faszination und Begehren in ihnen ruht und so liege ich dort und beobachte ihn und habe auch nicht viel mehr getan, als er bereits nach einem Handtuch greift.
 

Als ich das Bad verlasse, tat es Kanda längst. Ein erleichtertes Stöhnen begleitet mich hinaus in den Flur und dann öffne ich die Tür zu meinem kleinen Zimmer, lasse die schwere Uniform auf den nächsten Stuhl sinken und bewege das Handtuch ein letztes Mal über mein feuchtes Haar.

Das Leben strömte in mich zurück, brachte Kraft und Ausgeglichenheit mit sich und umso weniger ist mir danach, in diesen vier Wänden zu bleiben. Ich interessiere mich nicht für das Licht auf der anderen Seite des Fensters, kehre ihm den Rücken, verlasse mein Zimmer und bringe die Tür zwischen mich und Tim. Nur wenige Schritte führen mich zu einer anderen, die ich öffne und schließe, als wäre es meine eigene. Entspannt jedoch zielstrebig trete ich in das Zimmer, atme tief durch und labe mich an dem vertrauten Geruch, den dieser Ort bereits innehat.

Nur flüchtig späht Kanda auf. Er sank auf die Bettkante und lockert die Schnallen seiner Stiefel. Auch er will alles von sich streifen, das belastet und erschwert und so befreit er seine Füße aus dem robusten Leder, während ich vor ihn trete.

Jede Regung seiner Finger verfolgend, aufmerksam, überaus fixiert und wie blind finden meine Hände zu den Knöpfen meines Hemdes und drehen sie aus den Löchern. Eine Strähne sinkt in Kandas Gesicht, als er sich ein letztes Mal hinabneigt, die Stiefel beiläufig zur Seite schiebend und kaum richtet er sich auf, da nehme ich ihn für mich ein.

Mein Hemd gleitet zu Boden, nur einen Schritt braucht es, um die letzte Distanz zu überwinden und wie leicht fällt es mir, die Grenze zu überschreiten, die damals so unendlich hoch vor mir aufragte. Mein Knie setzt sich auf die Matratze und wie werde ich angezogen von der Wärme seines Körpers, in deren Radius ich dringe. Ich sinke auf seinen Schoß, seine Arme empfangen mich und ein letzter, tiefer Atemzug strömt genüsslich über meine Lippen, bevor ich seine erreiche.

Sanft betten sich meine Hände auf seinem Hals, dringen meine Finger in sein offenes Haar und wie spürbar ist der Augenblick, als selbst die geringste Last von mir zu bröckeln scheint. Als ich ihn küsse und die Lider senke, um ihn in jeder möglichen Intensität zu spüren. Als sich seine Hände auf meinem Rückgrat betten, mich stützend, haltend, doch gleichzeitig näher zu sich ziehend. Niemals kapituliere ich so rasch wie in diesen Momenten, niemals so bereitwillig und so schließe ich die Arme um ihn, nehme ihn für mich ein, verschmelze mit ihm und ich würde in ihm versinken, gäbe es nicht die Hülle unserer Körper.

Wie abgrundtief verehre und liebe ich diese Augenblicke, in denen nichts zu uns dringt.

Es gibt keine Geräusche, keine andere Existenz als unsere in diesem engen Kern, um den sich eine Mauer schließt.

Ich schmecke ihn, rieche ihn, erschaudere unter seiner Wärme und noch immer küsse ich ihn, werde fordernder, lasse mich zurückdrängen, dränge ihn zurück und wie schwer fällt es meinen Fingern kurz darauf, die Knöpfe seines Hemdes zu finden. Ich will das, was dieser Stoff verbirgt und wie ungeduldig streife ich ihn von Kandas Haut. Nur einen Augenblick lösen sich seine Hände von mir, bevor er zurücksinkt und mich mit sich zieht.

Wir hungerten lange Zeit, tranken und aßen, doch hatten dem zu entsagen, was uns ebenso am Leben hält.

Bebend streift mein Atem Kandas Wange, bevor ich sie küsse, seinen Hals küsse, mich an seine Haut schmiege, mich in ihr verbeißen will. Ausgehungert gleiten meine Hände über seine Brust, seine Rippen.

Jede Kontur erkenne ich wieder, jeden Zentimeter seiner Haut liebe ich abgöttisch und nur flüchtig löse ich mich von ihm, als seine Finger meine Hose erreichen. Wie flink ist sie geöffnet, wie eilig streife ich den Stoff von meinen Hüften und ächze unter dem spürbaren Griff in meinem Schopf, als ich mich zu seinem Bauch hinabneige. Ich küsse seinen Nabel, keuchend und ringend mit den Prioritäten.

Wäre ich nicht so ausgemergelt, würden sich meine Lippen endlos Zeit nehmen für seine Haut, doch meine Hände treffen die Entscheidung. Bereitwillig hebt sich die Hüfte, als ich die Hose von ihr streife. Der Stoff ist hier viel nicht mehr als eine unerwünschte Grenze, die eilig entfernt wird. Entscheidend ist, was sie verbirgt und ich gönne mir die knappe, jedoch intensive Betrachtung seines Körpers, bewege mich längst auf den Knien zurück und neige mich abermals hinab.

Unter meinen Fingern spüre ich die Spannung seiner Muskeln, als ich mich in seine Oberschenkel klammere. Seine Finger verlieren sich aus meinem Schopf und wie konzentriert zügle ich meinen Atem, um seinen zu hören. Noch immer weiß ich jede Facette an Emotionen zu schätzen, die er offenbart und ich erschaudere selbst unter seinen tiefen, gelösten Atemzügen, unter jedem Zucken seines Körpers, genieße endlos auch den leichten Schmerz, als sich seine Finger abermals in meinem Haar versenken und mich einen festen Griff spüren lassen.

Lange windet er sich unter mir, bevor ich die Führung an ihn zurückgebe, ihn mich formen und auf die Matratze hinabdrängen lasse. Die Decke ist erfüllt von seiner Wärme. Sie geht auf meinen Bauch über. Selbst die Hand, die mich niederzwang, wirkt so erhitzt und nicht zuletzt mein Atem, der mir entgegenströmt, als ich laut in das Kissen ächze. Seine Lippen vergehen sich an meinem Nacken, selbst seine Zähne hinterlassen Spuren. Ich ergebe mich seinen Händen, klammere mich in das Laken und wie endlos zieht mich dieser schwere, prickelnde Sog mit sich. Schwindel bricht in meinem Kopf aus. Mein Rachen ist längst trocken. Schweiß dringt in meine Augen, doch ich kann die Hände nicht lösen, um gegen das leichte Brennen vorzugehen. Es ist richtig, es ist ein Teil von allem und wie stockt mein Atem, als Kandas schwerer, warmer Körper auf mich sinkt, mich einschließt zwischen sich und der Matratze.

Meine Finger drängen sich tiefer, zitternd tiefer in den Stoff und wie beiße ich die Zähne zusammen, um meine Stimme zu zügeln, als er sich gegen mich schiebt.

Ich zucke, bebe, liebe das Leben so abgöttisch in diesem Moment und ich lasse mich fallen, lebe nur in meinem Körper, als sich Kanda zu bewegen beginnt. Seine Wange bettet sich auf meinen Schopf, bald darauf kann ich nicht mehr unterscheiden, welches Keuchen zu mir dringt und so groß unsere Erschöpfung auch ist, wir opfern den kläglichsten Rest unserer Kräfte und tun es lange, bevor er neben mich sinkt. Kühl weint der Schweiß auf meinem Rücken seiner Haut nach. Kurz darauf sinkt Kandas Arm auf mein Kreuz und so bleiben wir liegen, keuchend und entkräftet, doch so gelöst und friedlich, als hätten die vergangenen Minuten alles aufgelöst, was an Finsternis auf uns lastete.

Irgendwann bewege ich den Kopf auf dem Kissen, spähe zu ihm und verliebe mich zum unzähligen Mal in den Anblick seines Gesichtes. Seiner geschlossenen Augen, seines leicht geöffneten Mundes, während der Schweiß auf seiner Haut schimmert und vereinzelte Strähnen seines Haares an sich bindet.
 

Wir stehen nicht mehr auf. Dieser Tag ist nicht unserer. Wir nutzen ihn nicht für Schritte oder anderes Handeln, bleiben liegen, ziehen die Decke über uns und es braucht nicht lange, bis sich Kandas Atemzüge vertiefen und sein Körper sich in völliger Entspannung an die Matratze schmiegt.

Er schlief lange nicht mehr, dabei waren die letzten Tage so kraftverzehrend. Hier in dieser behüteten Sicherheit kapituliert er und ich liege neben ihm, durchaus erschöpft, doch zu fasziniert von dem Anblick, den ich so gerne rauben und mit mir nehmen würde, um mich in den Zeiten seiner Abwesenheit von ihm zu ernähren. Wie sparsam würde ich von ihm zehren, ihn bei mir tragen wie einen unbezahlbaren Schatz.

Es könnten Stunden sein, die ich damit zubringe, mir sein Gesicht zu betrachtend. Hoffend, dass eine Strähne hinabsinkt und eine Berührung rechtfertigt. Sein Schlaf ist tief, vorerst auch ruhig, doch irgendwann beobachte ich das leichte Zucken seiner Lider. Er sieht etwas, blieb nicht ungestört in seiner warmen Dunkelheit und wieder stelle ich mir die Frage, ob er sich die Alpträume auflastete, die er mir nahm.

Mich erreichen sie nur noch selten und fernab der Heimat, wo ich ohne seine Gegenwart lebe, ohne seinen Geruch, ohne das geringste Fragment seiner Existenz, die mich vor allem aus kurzer Distanz absolut zuverlässig abzuschirmen scheint.

Nun träumt er und ich versuche zu erahnen, wovon.

Sieht er Bingen und alles, was wir zurückließen?

Malen seine tief verborgenen Zweifel das Bild eines gewaltigen Fehlers, den er beging?

Seine Augen bewegen sich hinter den gesenkten Lidern und irgendwann bette ich die Hand auf seinem Ohr. Langsam und vorsichtig, als würde ich dadurch eine Grenzen ziehen zwischen ihm und den Bildern. Er soll mich spüren und vom Bewusstsein über meine Anwesenheit ebenso profitieren wie ich von seiner. Manchmal spüre ich das leichte Zucken unter meinen Fingern, einmal regt er den Kopf, doch irgendwann verschwimmt auch mein Blick und lässt die Welt um mich herum dunkel werden.
 

Es ist alles in Ordnung.

Dieses Gefühl durchströmt mich am nächsten Morgen und auch Kanda wirkt ausgeglichen. Wir frühstücken, während die Sonne bereits nahe am Zenit steht. Es ist angenehm hell, auch angenehm ruhig. Das Essen schmeckt so gut wie am Vortag und auch der Weg, der uns zum Bahnhof führt, ist so entspannt hinter sich gebracht. Manchmal reden wir, manchmal schweigen wir auch und ich für meinen Teil habe nicht die Sorge, etwas Unerledigtes zurückgelassen zu haben. Fast fühlt es sich an wie eine erfolgreich beendete Mission. Fast wie die Normalität.

Und als wir die Heimat erreichen, denke ich kaum noch daran. Von diesem Punkt aus geht es weiter.

Wie immer. Nur noch eine letzte Berührung, eine letzte Thematisierung.

Schweigend hört Komui uns zu. Zurückgelehnt, die Hand nahe der leeren Kaffeetasse und sich kaum regend, während wir von Bingen erzählen. Größtenteils bin ich es, der spricht, da Kanda mir zu Beginn mit seinem Schweigen genug Raum ließ. Ich glaubte in dieser Geste ein Zeichen zu erkennen, das ich nicht hinterfrage.

Meine Distanz zu diesem Ort ist größer und wird es auch immer sein und Kanda hätte das Wort ergriffen, hätte er es gewollt.

Ich fasse mich kurz, bin allgemein nicht der Mensch, der zu Verzierungen neigt, sollte es in diesem Fall überhaupt möglich oder angebracht sein. Die knappe Version ist nicht schlechter als die detaillierte und Stille herrscht im Raum, nachdem ich verstumme, abschließend nicke und gegen die Rückenlehne sinke.

Kanda bewegte sich kaum binnen der letzten Momente und auch jetzt findet er wenig Interesse an Komuis Mimik. Absent berühren sich seine Finger, während er sich das Holz des Schreibtisches betrachtet.

Komui scheint nachdenklich und seine erste Regung besteht daraus, dass seine Hand zum Mund findet und ihn reibt.

Seine Augen driften über die chaotische Fläche seines Schreibtisches, doch der Moment der Stille endet unvorhergesehen rasch. Ich erlebte Komui noch nicht in einer solchen Situation, kann nur erahnen, wie sich seine Persönlichkeit anpassen könnte und ich erwartete tatsächlich die Ruhe, die er noch immer ausstrahlt, als er nickt, die Hand sinken lässt und sich aufrichtet. Ein kurzes Seufzen erhebt sich, bevor er die Ellbogen auf den Schreibtisch stemmt und uns abermals und offen mustert.

„Geht es euch gut?“

Ich bejahe, Kanda beantwortet die Frage mit einer knappen Regung und Komui gibt sich damit zufrieden.

Er braucht sich keine Sorgen zu machen, denn unsere Füße sind schwere Wege gewöhnt.

„In Ordnung.“ Ein letztes Mal mustert er uns eindringlich. „Ich werde in den nächsten Tagen Finder dorthin schicken, um unsere Kameraden Nachhause zu holen. Betrachten wir diese Angelegenheit also als beendet.“

Mehr sagt er nicht und es hätte mich auch gewundert, denn obwohl er hier an diesen Ort gebunden und somit stets sehr weit entfernt ist von unserer Wirklichkeit, so kennt er doch die Wahrheit und sieht die Notwendigkeit der Dinge.

Vielleicht hätte er an unserer Stelle einen anderen Weg gesucht. Vielleicht jedoch genauso gehandelt. Es ist und bleibe dasselbe und er maßt es sich nicht an, zu urteilen. Kanda und ich sind hier und unversehrt. Mehr zählt für ihn nicht und tatsächlich wirkt er kurz darauf, als wäre die Angelegenheit emotional komplett beendet. Er räuspert sich, schiebt einen wackeligen Stapel aus ungeöffneten Briefen zur Seite und lässt einen anderen von der Kante des Schreibtisches rutschen.

Alles ist wieder normal.

„Ich weiß, es ist kurzfristig, aber ich würde euch beide morgen gerne wieder losschicken. Nach Tschechien.“

Er hätte nichts Schöneres sagen können.

Ein Schmunzeln zuckt an meinem Mundwinkel, während er sich die Wange reibt.

„Marie wird in Kürze hier sein. Er begleitet euch."

Während er sich möglicherweise grämt, uns nicht mehr bieten zu können als einen halben Tag Ruhe, vertieft sich mein Schmunzeln. Das Schicksal scheint mir wohlgesonnen die Hand zu reichen und ich möchte naiv genug sein, sie dankbar zu ergreifen.
 

-tbc-

6

Es ist hell, alles in mir und auch mein Umfeld scheint zu strahlen. Ohne Belastung, nicht einmal den Argwohn gegenüber eines lauernden Unglücks spüre ich in mir und auch Jerry bestärkt mich in meiner seltenen Sicherheit, denn es scheint kein Ausdruck in meiner Mimik zu geben, den ich selbst nicht wahrnehme. Ich wirke wohl glücklich, als ich mein Essen bestelle, wirke glücklich, während ich warte und vollends zufrieden, als ich es dann an einem der Tische bequem habe und mir einen Überblick verschaffe. Tims Gewicht senkt sich auf meinen Kopf, drängt meinen Oberkörper nach vorn und mein Gesicht einem Schälchen entgegen. Süßer Duft steigt in meine Nase und wie seufze ich, bevor ich es mir schmecken lasse.

Als hätte es nie Schatten oder Zweifel gegeben.

Ich ächze, verdrehe die Augen, löffle schneller, ziehe einen anderen Teller zu mir und spüre kurz darauf, wie Tim von meinem Kopf rutscht. Kanda trainiert, setzt genauso Prioritäten wie ich aber im Gegensatz zu mir bleibt er alleine und fast ungläubig registriere ich den Zustand, in dem sich Miranda befindet, als sie sich kurz darauf zu mir gesellt.

Ihr scheint es ebenso gut zu gehen wie mir. Keine Sorgen, die sie so oft heimsuchen, keine Befürchtungen oder Zweifel an sich selbst. Ich lächle, sie lächelt und so sitzen wir dort und bieten ein seltenes Bild der Gesprächigkeit.

„Schweden“, seufzt sie und zupft kopfschüttelnd ihr Brot auseinander. „So schöne Landschaften, so ein mildes Klima und Blumen. Hätte ich doch Zeit gehabt, welche zu pflücken. Aber sie wären auf der Reise wohl vertrocknet, also habe ich sie dort gelassen, wo sie hingehören.“

Sie seufzt wieder, während ich meinen Pudding esse.

„Ich hätte für jeden von euch einen Strauß gepflückt. Den hättet ihr in eure Zimmer stellen können. So ein bisschen Farbe und Duft machen so viel aus.“

„Sommer“, fasse ich es andächtig zusammen.

„Ja, der Sommer“, seufzt sie.

„Blumen im Zimmer wären natürlich toll aber wir sind doch ohnehin permanent unterwegs und sehen sie überall. Das ist ein Trost.“

„Ja.“ Sie nickt, versenkt ein Stück Brot im Mund und späht kurz darauf um sich. „Chaoji und ich sind erst vor kurzem Nachhause gekommen. Er wollte vor dem Essen erst duschen. Hoffentlich ist er nicht eingeschlafen.“

„Wir sollten Blumen pflanzen“, murmle ich nachdenklich und sofort weitet sie die Augen.

„Nicht wahr? Hier gibt es viel zu wenige.“

„Viel zu wenige“, pflichte ich ihr bei.

„Woran liegt das?“, möchte sie wissen. „Die Gewächse in der Lounge werten nun auch nicht alles auf.“

„Bei weitem nicht.“

„Mm.“ Grübeleien zerfurchen ihre Stirn und geduldig beginne ich die Zwiebeln aus meiner Suppe zu fischen.

Das Schweigen zwischen uns ist nur vorübergehender Natur, bevor sie mich flüchtig durchmustert. Als ich aufblicke, sehe ich sie erneut lächeln.

„Hattest du eine gute Mission? Schöne Erlebnisse?“ Ein Krümel bleibt an ihrem Kinn kleben, als sie in ihr Brot beißt. „Der Sommer, Allen, der erleichtert die Gemüter.“

„Die Mission war in Ordnung“, antworte ich nur, auf den Krümel fixiert und darauf wartend, dass er sich löst.

„Es passiert leider viel zu selten.“ Sie zieht ihre Suppe zu sich und tunkt das Brot hinein. „Wie oft hast du denn nach einer Mission das Gefühl, den Menschen wirklich geholfen zu haben? Ich meine diese wirkliche wahre Selbstzufriedenheit, Allen. Das Bewusstsein, dass du den Ort, den du verlässt, wirklich positiv verändert hast.“

„Mm.“ Ich hebe die Brauen, schöpfe tiefen Atem und natürlich denke ich an Bingen.

Orte positiv verändern, sagt Miranda, aber wie dehnbar ist diese Formulierung?

Meistens bleibt es doch eine einzige Seele, die man als gerettet betrachten darf. Immense Veränderungen bewirkt man selten und unweigerlich frage ich mich, wie es den Bewohnern von Bingen derzeit geht.

Über einen Tag ist es her, dass wir die Wurzel des Übels verbrannten und mit ihr auch jeden Keim, der neu gepflanzt werden könnte. Kommen sie wieder zur Besinnung? Hat sich der Schatten von ihrem Bewusstsein gehoben?

Ist die Veränderung immens? Immens gut?

Jedenfalls fühlte ich mich nicht wahrlich und wirklich selbstzufrieden, als wir Bingen verließen. Nur erleichtert, dazu in der Lage zu sein und ein Großteil meiner guten Gefühle basierte wohl auf dem Egoismus, vernichtet zu haben, was Kanda schadete und somit auch mir.

„Hauptsache, deine Mission war gut“, reißt mich Miranda aus meinen Gedanken. Sie löffelt ihre Suppe und der Krümel ist verschwunden. „Wie lange bist du noch hier? Linali kommt morgen früh Nachhause. Sie wollte ein Picknick veranstalten.“

„Ich muss morgen früh wieder los“, seufze ich und bedaure es teilweise wirklich. „Mit Kanda und Marie.“

„Ach, wie schade. Lavi und Bookman werden wohl auch nicht da sein. Das wäre nicht dasselbe.“

„Das wäre es nicht, nein.“
 

Wir bleiben sitzen, lassen unser Gespräch bald in eine andere Richtung fließen und es dauert nicht lange, da gesellt sich auch Chaoji zu uns. Erst duschte er, dann schlief er ein, aber dafür wirkt er nicht nur sauber sondern auch wach. Er holt sich sein Essen, macht es sich neben Miranda bequem und ich brauche ihn nur flüchtig zu mustern, um mir sicher sein zu können, dass er noch immer der starke junge Mann ist, den ich damals kennen lernte. Auch wenn die Erlebnisse, die ihm der Orden nun beschert, dunkler und schmerzhafter sind, ist er doch nicht niederzuringen.

Vermutlich begriff er rasch, wie hoch der Preis ist und gefestigt er wirklich zu sein hat, um aufrecht seinem neuen Pfad zu folgen. Jetzt lacht er, jetzt wirkt er unbeschwert und absolut kompatibel mit unserer Zweiergruppe und ich würdige den Moment. Es wird andere geben. Das tut es immer.

So fließt Stunde um Stunde an uns vorbei, an mir auch der Rest des Tages und als es dämmert, realisiere ich, dass ich absolut nichts tat und die Zeit mit Worten und Bequemlichkeit füllte. Wie ungewohnt und angenehm.

Ich schlief in der Lounge, sah den Wissenschaftlern bei der Arbeit zu, ließ mich auch von Komui unterhalten und atmete die Luft der Normalität. Als der Abend einbricht bin ich wieder im Speiseraum, esse ausgiebig und halte Jerry eine Weile von seiner Arbeit ab. Irgendwann hat er aber wieder zu tun, also besuche ich den Onsen, wasche den Gestank der Faulheit von mir und habe absolut kein schlechtes Gewissen, als ich mich letztendlich durch jene Tür stehle. Tim ist nicht schnell genug und wie geübt erwische ich seinen Schweif und ziehe ihn durch den Spalt. Ein leises Kratzen, ein leises Klicken, dann herrscht wieder Stille im Treppenhaus und flüchtig späht Kanda auf.

Er zelebriert mein Auftauchen noch immer mit Aufmerksamkeit, obwohl ich sein Zimmer doch weitaus öfter betrete als meines. Nur ein Blick, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwendet und insgesamt wird er heute weitaus fleißiger gewesen sein als ich. Es ist sein Schwert, das er pflegt. Er tut es oft und lässt sich nicht stören, als ich von all meiner Faulheit erschöpft auf sein Bett sinke und Tim es sich auf meinem Rücken bequem macht. Er reinigt die Klinge mit dem gewohnten Maß an Gründlichkeit und wie immer erschafft er kaum ein Geräusch dadurch. Nur das leise Kratzen dringt zu mir, als er ein Fläschchen zudreht.

Er kann sich so endlos vertiefen, denke ich mir abermals, als ich ihn zu beobachten beginne. Ein Wunder, dass er mich überhaupt bemerkte. Kurz darauf wendet er sich dem Schwertgriff zu. Eine lange Strähne löst sich hinter seinem Ohr und eine Weile zähle ich, wie sie sich unter jedem seiner Atemzüge wiegt.

In diesem Raum ist es oft still, auch wenn wir uns in ihm befinden. Oft brauchen wir keine Worte, zu anderen Zeiten brauchen wir das Schweigen. Ich könnte die Stimme erheben und er würde es mir nicht verübeln. Wir würden miteinander sprechen, ohne dass es zu störend für ihn wäre aber die Studien seines Charakters ließen eine absolut sensible Nachsicht und Kenntnis in mir wachsen, wenn es sich um diesen Gegenpart handelt. Also sage ich nichts, um ihn zu keiner Antwort zu zwingen, sehe ihm zu, schließe irgendwann wieder die Augen und lasse den Tag ausklingen.
 

„Ich schicke euch nach Zelená.“ Somit reicht uns Komui am nächsten Morgen die schwarzen Mappen und es gibt keine Befürchtungen in mir, bevor ich meine öffne. Nach all diesen Stunden voll Harmonie und Zufriedenheit bin ich jeder Schlucht gewachsen.

Marie hat es neben mir auf dem Sofa bequem, während Kanda bereits in der Mappe blättert.

„Ein Finder informierte uns über Zustände, die es wert sind, überprüft zu werden“, fährt Komui fort, nebenbei auf der Suche nach seiner Tasse. Er überblickt seinen Schreibtisch, überblickt all das Chaos. „Vor einem Jahr war er schon einmal in diesem Dorf und lernte dort ein kleines Mädchen kennen, die Tochter seines damaligen Gastgebers. Damals sei ihm noch nichts aufgefallen, als er das Dorf vor kurzem aber wieder besuchte, machte das Mädchen den Eindruck, um keinen Tag gealtert zu sein. Das trifft auch auf die anderen Dorfbewohner zu. Versucht herauszufinden, woran das liegt. Es würde mich nicht wundern, wenn ein Innocence im Spiel wäre.“
 

Die friedlich erscheinenden Weiten der Natur, die uns von Zelená trennen, sind blendend schön, doch in meinen misstrauischen Augen stets verbunden mit einem leichten Grauton. Ich komme nicht umhin, mich abermals an Bingen zu erinnern. In der Nähe dieses widerwärtigen Pfuhls hatte mich dieselbe Idylle begleitet und meinen anschließenden Sturz noch schmerzhafter gemacht.

Ich höre das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Baumwipfel, das Rascheln im Geäst des Waldes, durch den wir ziehen und während jeden Schrittes frage ich mich, was mich diesmal erwartet.

Zumindest bin ich nicht alleine, denke ich mir des Öfteren und spähe zu meinen Weggefährten, als wolle ich mich von ihrer Gegenwart überzeugen.

Ich bin nicht alleine und darüber hinaus in einer Begleitung, die ich mir gewünscht hätte, hätte man mich vor die Wahl gestellt. An meiner Seite ist der Eine, der an sie gehört und auch Marie habe ich gerne um mich. Ihn und seine Ruhe sowie Festigkeit, die verlangsamen und sichern.

Unwillkürlich schöpfe ich tiefen Atem und annähernd ungläubig bleibe ich bald darauf stehen. Wir erreichen den Waldrand, somit unser Ziel und wie perplex bin ich, nachdem mich das Grau meines Argwohnes so treu begleitete.

Zelená bedeutet „grün“, aber Sarkasmus hält sich zumeist ebenso treu an meiner Seite und ich wäre weitaus gefasster, würde sich vor uns ein dreckiges, vergessenes Nest erstrecken. Beiläufig dränge ich Tim zur Seite, als er in mein Blickfeld flattert.

Ein solches Bild bestaunen Kinder, die sich durch Märchenbücher blättern. Es fehlen die Feen und das mysteriöse Glitzern, doch alle restlichen Faktoren sind an diesem Ort vertreten.

Die Wiesen, die das Dorf umschließen, sind von einem annähernd unnatürlich satten Grün, während ein nahes Rapsfeld ein Gelb entsendet, das beinahe blendend in Gold übergeht. Bunte Blumen wiegen sich in den angenehmen Brisen und dann erkenne ich doch ein Glitzern, das das klare Wasser eines schmalen Baches entsendet.

Die Häuser bestehen aus feinster Holzarbeit, die Wege sind sauber und akkurat gezogen, selbst der kleine Brunnen auf einem Hinterhof ist Beachtung wert. Alles an diesem Dorf wirkt so sauber und rein und unwillkürlich zuckt mein Gesicht zu einer Grimasse, als ich lachende Kinderhorden sehe und Frauen, die sich fanden, um offenbar amüsante Informationen auszutauschen. Körbe, gefüllt mit malerischem Obst, verraten, was sie taten, bevor sie hängen blieben.

Auf einer nahen Bank haben es zwei ältere Herren bequem. Sie rauchen Pfeife und genießen den Anblick ihrer Heimat, als hätten sie sich nach wer weiß wie vielen Jahren immer noch nicht an ihn gewöhnt.

„Wo sind die Feen?“, murmle ich.

„Die Luft hier ist so klar“, bemerkt Marie neben mir. „Irgendwo wurde Lavendel gepflanzt.“

Kanda setzt sich in Bewegung und wir folgen ihm. Den kleinen Hügel hinab, dem Weg folgend, der sich durch die Wiese bahnt und ich begreife nicht, wie eine Wiese so schön sein kann. Ich starre auf das Gras, will mich fallen lassen und hineinlegen. Ich will diese gesunden Halme spüren, doch spüre nur Kandas Ellenbogen, der mich zur Seite drängt, als ich gegen ihn stoße.

Wie ein staunender Idiot halte ich mich neben ihm und mein Gesicht zuckt noch des Öfteren, als wir durch das Dorf ziehen. Straßenstände verkaufen Obst und Gemüse, unnatürlich perfekt. Insgesamt scheint alles von höchster Qualität zu sein und die Mentalität der Dorfbewohner schließt sich diesem ganzen Glänzen und Glitzern an.

Mit meinem Argwohn bin ich alleine und nicht immer reagiere ich rechtzeitig oder angemessen, wenn Fremde uns grüßen und willkommen heißen. Offenbar freut man sich über Besuch und stört sich wenig an der äußeren Erscheinung.

Auch die Wegbeschreibung zum Gasthaus müssen wir nicht gerade erbetteln.

Perplex blicke ich einer Frau nach, die an uns vorbeizieht. Natürlich nicht ohne uns zu grüßen und sie ist so alt, dass ich mich wundere, wie sie überhaupt noch die Hand heben kann.

Es ist wohl wirklich, wie der Finder es meldete. Das Alter schreitet langsam voran und bringt offenbar wenig Krankheit und Schwäche mit sich. Ihr Rücken ist nicht krumm, ihre Augen sind nicht ergraut und sogar die Zähne gab ihr strahlendes Lächeln noch preis. Der Gastwirt, der uns bald darauf ein weiteres Mal willkommen heißt, passt ebenso in das Schema.

„Ich war Arzt“, verrät er, während er die Zimmerschlüssel von den Haken nimmt. „Kam aus einem benachbarten Dorf, wollte hier praktizieren, Menschen heilen. Sie wissen schon.“

„Ja“, sage ich, den abgeschliffenen und lackierten Holzboden mit der Schuhsohle erforschend.

„Aber es gab keine Arbeit für mich.“ Der Mann lacht. „Am Ende gefiel es mir hier so gut, dass ich dieses Haus baute, um Reisende aufzunehmen und zu verköstigen. Es könnte mir nicht besser gehen. Aber wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann scheuen Sie sich nicht.“

Für diesen Eifer danke ich ihm, während Kanda die Schlüssel entgegen nimmt.

Somit sind wir am Ziel und wie undankbar registriere ich den weiteren, absolut reibungslosen Verlauf. Der Finder, mit dem wir verabredet sind, verschwand nicht auf mysteriöse Weise, sondern sitzt im Restaurant des Hauses und seit er sich bei Komui meldete, geschah auch nichts Tragisches. Ebenso wenig wie zuvor.

Wir lassen uns nieder, werden sofort bedient und ich blicke nur kurz in die Karte, bevor sie ich zur Seite lege, denn vermutlich wird hier alles ganz wundervoll schmecken.

„Ich war zuerst nicht sicher, ob diese Angelegenheit wirklich eine Meldung wert ist“, gesteht der Finder, während wir auf unsere Bestellung warten. „Ich meine, es gibt auf der Welt nun einmal schöne Orte und glückliche Menschen. Aber hier passt alles so seltsam zusammen. Es gibt hier keine Probleme, keine Krankheiten. Stirbt ein alter Mensch, dann tut er es nachts ganz friedlich im Bett. Der Junge des Bäckers hat sich vor wenigen Tagen schwer am Ofen verbrannt und die Wunden heilen so rasant und ohne Infektion. Und nicht zuletzt die Tochter des Gastwirtes. Ich schwöre es, sie hat sich nicht verändert seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr.“

„Wie geht es den Tieren?“, erkundigt sich Marie. Neben mir blickt Kanda nachdenklich ins Leere.

„Bei den Tieren ist es genauso. Die Kühe geben die beste Milch, die Schweine das köstlichste Fleisch. Es gibt nicht einmal Wölfe, die die Herden anfallen.“

„Recherchen sind hier wohl auch sehr leicht.“ Ächzend reibe ich meinen Nacken und werde nicht enttäuscht.

„Hier freut sich jeder darüber, Fragen zu beantworten“, erwidert der Finder. „Aber die Auffälligkeiten sind scheinbar schon so lange Teil des Dorfes, dass es keine Auffälligkeiten mehr sind. Ich hörte alles über positive Einstellungen zum Leben, gesunde Ernährung, heilende Sonnenstrahlen und dankbare Koexistenz zwischen Mensch, Natur und Tier.“

Hinter dem nächsten Hügel, denke ich mir, ragt bestimmt eine blutrote Götterstatue gen Himmel, vor der man Opfergaben bringt, damit den Menschen weiterhin diese Herrlichkeit geschenkt wird.

Wir aus einer Welt, die wohl als normal zu bezeichnen ist, sehen hier herzlich wenig Normalität und durchaus Anlass für eine Meldung.

Wie oft stand schon ein Innocence hinter übernatürlichen Phänomenen?

Hier blendet es uns geradezu durch seine Gegenwart.

Das Essen ist selbstverständlich keine Ausnahme und so unterbrechen wir die etwas schleppende Besprechung. Es gibt kein Gefühl der Hast oder einer nahen Bedrohung. Wir könnten wohl wochenlang hierbleiben, ohne dass etwas geschieht, doch vielleicht auch ohne etwas herauszufinden.

Ich koste den Braten, befürchte viel und werde trotzdem übermannt. Noch nie schmeckte Fleisch so intensiv, noch nie war es so saftig und keines der Gerichte steht dem in etwas nach. Das Gemüse ist perfekt gekocht und gewürzt und doch kaue ich schon wieder mit Misstrauen. Das alles ist nicht möglich. Mit einem solchen Essen muss etwas nicht stimmen. Auch Marie isst recht gefasst. Wir alle kommen nicht umhin, es zu bemerken. Neben mir stochert Kanda unentschlossen in seinem Gemüse und beiläufig befreie ich die Untertasse seines Tees vom unnötigen Gebäck und Zucker.

So oder so werden wir nach dieser Mahlzeit der Routine verfallen. Vier Augenpaare sehen mehr als eines und so werden wir uns die Umwelt näher betrachten und Fragen stellen, hoffentlich präzise und bald auch richtungsorientiert. Die nächsten Tage werden ungewohnt, soviel ist sicher und möglicherweise werden wir eine Mission beenden, an die wir uns später als Urlaub erinnern.

Auf der anderen Seite des Fensters schlägt ein Schmetterling mit den Flügeln. Kauend blicke ich von ihm zum Himmel und natürlich ist auch der strahlend blau.
 

Bald darauf lassen wir die leeren Schalen und Teller zurück, kommen auf die Beine und treten wieder hinaus in die helle schöne Welt. Marie und der Finder widmen sich den Bauernhöfen, während Kanda und ich die Stadt erkunden. Viele Stunden bleiben nicht bis zur Dämmerung, doch es würde mich wundern, würde die Geschäftigkeit auf den Straßen am Abend nachlassen. Das wäre zu normal.

Träge reibe ich meinen Bauch, während ich mich neben Kanda halte. Ich habe reichlich gegessen, wohl zu viel, um jetzt einen langen Spaziergang zu unternehmen. Tims Gewicht macht es mir nicht leichter und flüchtig neige ich den Kopf und lasse ihn hinabrutschen.

So bewegen wir uns durch all diese Freude und all die Farben, gekleidet in die schwarzen Roben des Ordens und auch sonst nicht zugehörig. Niemand gibt uns dieses Gefühl, doch es ist stark genug in uns selbst. Auch unsere Fragen suchen nach einem Grund, doch niemand der Dorfbewohner hat je etwas bemerkt, das hervorstach. Kein Leuchten, kein unübliches Wetter. Im Winter ist es nicht zu warm, im Sommer nicht zu kalt und so drehen wir uns im Kreis, obwohl es nicht an Gesprächspartnern und Auskünften mangelt.

Letztendlich wird uns dasselbe geboten wie dem Finder. Es gibt keine Krankheiten, weil man sich gesund ernährt und weshalb sollte das Vieh von Wölfen gerissen werden oder zu wenig Milch produzieren?

Irgendwann stehen wir vor einer weiteren dieser Wiesen. Kanda betrachtet sich den fernen Waldrand, ich zwei kleine Mädchen, die Graspuppen basteln. Wieder findet meine Hand zum Bauch.

„Ist das nicht bitter?“, sage ich kurz darauf und schöpfe tiefen Atem. „Uns wird so oft gezeigt, dass die Welt viel finsterer sein kann als sie es normalerweise ist. Wieso kann sie nicht auch viel heller und schöner sein? Hier versteckt sich ein Paradies und wir suchen nach dem Fehler.“

„Das hier ist nicht real.“ Kanda antwortet ernüchternd schnell.

Kichernd vergleichen die Mädchen ihre Kreationen und weiterhin betrachte ich sie mir, bevor ich ein Nicken andeute.

„Wann haben wir begonnen, so zu denken?“

„Mm.“

Kanda wird es nicht mehr wissen, denn selbst ich erinnere mich nicht daran. Vielleicht war es nie anders.

„Komm.“ Er wendet sich ab und ich folge ihm.

Vier Augenpaare, denke ich bald darauf. Selbst sie sehen nicht mehr als eines, wenn es nichts zu sehen gibt. Dabei sind unsere Blicke so geschult, so vertraut mit allem, das aus dem Raster fällt. Wir erkennen Abnormitäten, erkennen so viel, doch in diesem Dorf überhaupt nichts. Natürlich sind es auch ausschließlich Menschen, die hier leben. Es gibt keine Reaktion meines Auges, keine gefesselten Seelen und wie bizarr wäre es gewesen, hätte ich einen solchen Schatten erkannt über den heiteren Gesichtern der Bewohner.

Bald schon wird das Licht schwächer und mit ihm auch unser Drang, das Dorf zu erforschen. Es gibt keinen Anhaltspunkt. Es gibt überhaupt nichts und ächzend lasse ich mich auf eine dieser kunstvollen Holzbänke sinken, als wir das andere Ende des Dorfes erreichen. Ich suche nach Entspannung und lehne mich zurück.

Mein Magen ist noch immer in das alte Gefecht vertieft. Flüchtig erreichen mich Kandas Augen.

„Ich habe wohl zu viel gegessen“, kommentiere ich seinen Blick.

Unter einem tiefen Durchatmen stemmt er die Hände in die Hüften, späht abermals um sich, suchend doch gleichzeitig mit leichter Ratlosigkeit.

„Was machen wir?“ Träge sinkt mein Hinterkopf auf die Rückenlehne. „Um solche Auswirkungen zu haben müsste das Innocence sich hier im Dorf befinden. Wäre es hier, würde es auffallen und die Leute sehen nicht aus als würden sie lügen. Den Wald zu durchforsten, fände ich sinnlos. Mein Bauch bringt mich um.“

Wieder spüre ich seinen Blick und wie selbstverständlich ist es in der Zwischenzeit, dass er das wahre Ich erkennt. Vor Kanda verstelle ich mich nicht, da allein der Versuch schon lächerlich wäre.

„Mm“, raunt er letztendlich nur, doch mustert mich noch einen Moment länger, bevor er sich den Mund reibt. Möglicherweise frustriert es ihn etwas, dass seine übliche Motivation und Direktheit sich hier als absolut vergeblich herausstellen.

Vorerst kehren wir zurück in die Herberge und natürlich können auch Marie und der Finder nichts berichten. Wir warten also ab, lassen den Tag enden und hoffen auf den nächsten. Was auch immer er bringt.

Ich jedenfalls vermisse keinen weiteren Weg, lasse mich auf mein Bett sinken und registriere nur am Rande, dass die Matratze perfekt für mich ist. Nicht zu hart oder weich. Natürlich nicht.

Vor dem Fenster meines Zimmers liegt die Dämmerung, doch mein Tag kann getrost enden und eine Weile liege ich noch dort, müde gen Zimmerdecke blinzelnd und meinen Bauch reibend. Das einzig offensichtlich Sonderbare an diesem Ort, ist bisher die Tatsache, dass mein Magen wohl an seine Grenzen gestoßen ist. Dabei war es tatsächlich nicht so viel. Es rumort und als es draußen bereits finster ist, liege ich auf der Seite und starre auf den hölzernen Tisch.

Während sich eine Wärme in meinem Bauch ausgebreitet zu haben scheint, sind es eher Kälteschauer, die meine Glieder durchfluten und mich wach halten. Ich bin nicht einmal besonders müde, vielleicht auch nur abgelenkt von der Schwere meiner Lider. Wie oft stoße ich auf, schmecke die bittere Galle auf der Zunge, quäle mich auf die Beine, um einen Schluck Wasser zu trinken und anschließend zurück in das Bett.

Meinem Körper fehlt die Ruhe, als fühle er sich tief im Kern gestört und wie regungslos hockt Timcanpy auf dem Bettgiebel und scheint mich zu fokussieren. Mit einem Mal ist alles abnorm, obwohl schlaflose Nächte mir nicht unbekannt sind. Dennoch verlasse ich nicht das Zimmer, um mich in ein anderes zu schleichen. Marie würde es hören, das Klicken der Türen, doch darum geht es nicht, denn mein Kamerad weiß genug, um würdevoll zu schweigen.

Viel eher spüre ich die Sicherheit, dass Kandas Gegenwart an diesem Problem scheitern könnte, doch meine nicht daran, seinen Schlaf zu stören. Also bleibe ich liegen, stelle mir Fragen, stelle mir verbissene Fragen und fluche, als meine müden Augen die Dämmerung hinter dem Fenster ausmachen. Meine Arme sind schwer und meine Beine matt und wieder greife ich nach dem Krug und trinke das Wasser, das so erfrischend und angenehm in meinen Bauch strömt.

Die Begründung, zu viel gegessen zu haben, verliert spätestens jetzt an Kraft. Mein ganzer Körper ist ausgelaugt, mehr noch, wirkt gehemmt und krank, herausgerissen aus jedem normalen Rhythmus. Etwas stimmt nicht und weiterhin schlucke ich, schlucke die Magensäure und zähle die Krämpfe meines Bauches. Noch nie mir war der Gedanke an das Frühstück so zuwider und letztendlich komme ich nicht viel weiter als zur Türschwelle des Restaurants.

Bis auf meine Freunde ist es verlassen, doch die Köche sind bereits fleißig und wie lieblich liegen die Gerüche der Speisen in der Luft. Der Duft von Kaffee und frisch gebackenen Brötchen, Marmeladen und anderen Aufstrichen. In voller Intensität erreichen sie mich und nur kurz erfassen mich Kandas Augen, bevor ich mich umdrehe und zügig einen anderen Weg wähle.
 

Es ist eine neue Erfahrung, sich über das WC zu beugen und um das Keramik zu klammern, während starke Krämpfe meinen Bauch heimsuchen und ich mich endlos übergebe. Ich ächze, röchle, habe das Gefühl, mindestens so viel zu erbrechen, wie ich gestern zu mir nahm. Als hätte mein Körper nichts aufgenommen.

Hustend richte ich mich um ein Stück auf, schnappe nach Luft, sinke ich mich zusammen und nur wenige Momente dauert es, bis ich erneut würge und das Bild der Erbärmlichkeit vervollständige.

Schweigend leistet mir Kanda Gesellschaft. Er kauert auf einem nahen Schemel. Ich spüre seinen Blick, spüre seine konzentrierte Fixierung und störe mich auch daran nicht. Die Kunst des Verstellens würde ohnehin an diesem Punkt enden. Die Kontrolle verließ mich längst und ich weiß nicht, wie lange ich dort kaure, wie lange ich stöhne und breche, doch irgendwann rutsche ich zurück, matt wie eine Puppe, zu schwer für die eigenen Kräfte.

Obwohl er sich befreite, wirkt mein Leib so ausgezehrt wie nie zuvor. So schwach und seltsam schwer zu kontrollieren, als hätte sich eine Hürde erhoben zwischen meinem Willen und der Folgsamkeit meiner Glieder. Matt trifft meine Stirn auf den Rand des WCs und weiterhin kaure ich nur dort, ächzend und obwohl komplett nüchtern, noch immer mit der Übelkeit ringend.

„Wie geht es ihm?“, höre ich Maries Stimme. Er neigt sich in das Bad, wartete vor der Tür.

„Es ist das Essen“, antwortet Kanda neben mir. „Es kann nichts anderes sein.“

„Uns geht es gut“, bemerkt Marie und wie erschöpft ergebe ich mich dem Druck der Hände, die sich auf meine Schultern betten. Kanda zieht mich zurück, lehnt mich gegen die Kacheln der Badewanne und überzeugt sich von meinem Halt, bevor er abermals die Spülung zieht und den Deckel der Toilette schließt.

Das Blinzeln fällt mir schwer, doch letztendlich öffne ich die Augen und erkenne Marie, der konzentriert in meine Richtung lauscht.

„Ich fühle mich tatsächlich nicht schlecht.“ Kanda rückt in mein Blickfeld. Er hockt sich vor mich, faltet ein Stück Papier und wischt über meinen Mund, mein Kinn.

„Ich fühle mich schlecht“, nuschle ich, als wäre es nötig, das zu erwähnen. Ich befürchte, mein Gehirn nahm nicht weniger Schaden als mein Magen. Kanda geht auch nicht darauf ein.

„Einen besseren Hinweis könnte es nicht geben.“ Beiläufig streift er eine Strähne aus meiner Stirn und ich bin ihm dankbar, denn sie hing in meinem Auge. „Es gibt ein Innocence. Vielleicht im Boden, vielleicht im Wasser. Uns schadet es nicht aber sein Innocence ist parasitärer Art.“

„Es stößt das andere ab.“ Marie nickt. „Möglicherweise gibt es hier nichts, das er verträgt.“

„Oh Gott, nein“, stöhne ich.

Flüchtig reibt sich Kanda den Mund. Er ist nachdenklich, ich nur müde. Auch mein Kopf ist nicht in der Lage, einen produktiven Beitrag zu leisten, also konzentriere ich mich darauf, mich nicht erneut zu übergeben.

„Das Wasser wäre die Erklärung für alles.“ Marie lehnt mit verschränkten Armen im Türrahmen. „Das Dorf bezieht es von einer Quelle im Berg. Die Felder werden so bewässert, die Tiere getränkt und natürlich versorgt es auch die Obstbäume und alles andere, das hier wächst. Das Wasser befindet sich überall.“

Kanda späht zu ihm, bevor ich die Augen schließe.

„Einen anderen oder besseren Hinweis haben wir nicht“, höre ich Marie sagen. Kanda brummt und es klingt nach einer Zustimmung.

„Finden wir es heraus.“ Trübe verfolge ich, wie er auf die Beine kommt. „Ich schaue mir diese Quelle mal an.“

„Nimm den Finder mit“, schlägt Marie vor. „Ich bleibe bei Allen.“

„Auf den Finder kann ich verzichten.“

Natürlich spüre ich den abrupten Drang in mir, ihn zu begleiten und natürlich entpuppt er sich lediglich als Sehnsucht, nicht so nutzlos zu sein. Innerhalb dieser wunderschönen, glänzenden Welt wird es wohl kaum Gefahren geben, die auf Kanda lauern und doch ist er es, der den entscheidenden Schritt unternimmt, während ich nur aß und mich übergab.

Ich würde mitkommen und helfen – er müsste mich nur tragen.

Vermutlich gibt es ein Zucken in meinem Gesicht, vermutlich eine flüchtige Mimik, jedenfalls spüre ich plötzlich seinen Blick und erwidere ihn mit der Unbeholfenheit eines Kindes, das etwas verbirgt.

Als müsste ich es ihm gegenüber noch immer versuchen. Als wäre es nicht schon zu spät.

„Warum so unzufrieden?“, erkundigt er sich nach wenigen Momenten den Schweigens. „Sollte sich in der Quelle wirklich ein Innocence befinden, haben wir es alleine deinem selbstlosen Einsatz zu verdanken, überhaupt darauf gestoßen zu sein.“

„Oh.“ Ich verliere die letzte Körperspannung und rutsche tiefer und ich fühle mich weder besänftigt noch gelobt. Viel eher so, als würde ich bereits am Boden sein und dadurch zu verlockend, als dass man nicht noch einmal zutreten könnte. Kanda tut es jedenfalls gern. „Ich verstehe. Keine Ursache.“
 

Trübe betrachte ich mir das Paradies, das mich umgibt. Ich zerfloss auf einem gepolsterten Stuhl, vor mir erstreckt sich der wunderschöne Garten der Herberge und wie genüsslich scheint Marie die Geräusche in sich aufzunehmen. Mit geschlossenen Augen sitzt er neben mir, hin und wieder tiefen Atem schöpfend, während die Blätter rascheln und die Vögel zwitschern und ich gelegentlich stöhne.

Es wurde nicht sehr viel besser durch das ganze Würgen und Erbrechen. Mein Bauch ist nur gefüllt mit Hunger und Brennen, während stetig die Kräfte aus mir fließen und ich das Gefühl habe, selbst die Luft würde mich vergiften. Aber deswegen murre ich nicht. Die Mission frustriert mich, da sie mich in sämtliche Rollen zwingt, die ich verachte.

Kanda ist seit einer Stunde fort und selbst wenn sein Weg ohne Vorkommnisse verläuft, es wird seine Zeit brauchen, bis er den Berg erreicht, besteigt, das Innocence findet und zurückkehrt. Und ich werde hier liegen und verhungern.

Mein Mund ist trocken und unweigerlich beginne ich wieder nachzusinnen, welche Lebensmittel nichts mit dem Wasser zu tun haben. Etwas, das nicht hier wächst und verarbeitet wird. Etwas, das auch nicht von den Tieren stammt, die auf den Wiesen grasen. Natürlich werde ich nicht fündig und letztendlich denke ich immer wieder verbittert daran, dass ich sämtlichen Proviant auf der Hinfahrt aß. Nicht nur meinen.

Auch der Weg ins nächste Dorf oder in die nächste Stadt würde Tage dauern, also stöhne ich in all meiner Nutzlosigkeit.

„Wenn es regnen würde“, sagt Marie da neben mir, „könntest du das Wasser trinken aber es macht nicht den Eindruck, als könnten wir darauf hoffen.“

„Mm“, brumme ich und blinzle zum klaren, blauen Himmel.

Friedlich und wunderschön liegt er über meiner ganz persönlichen Hölle.

Marie regt sich, macht es sich bequem. Er scheint den Moment zu genießen und das kann er auch, da er mein Gesicht nicht sieht und die wabernden, finsteren Strömungen, die von mir ausgehen, besänftigt er durch Nichtbeachtung.

Ein langes Schweigen legt sich abermals über uns, nur beherrscht von den Geräuschen der Idylle und dem Knurren meines Magens.

„Vor zwei Wochen waren Kanda und ich in Spanien“, erhebt Marie dann abermals die Stimme. Er spricht leise und sofort spähe ich zu ihm. „In einer Kleinstadt wurden Finder wiederholt von Akuma angegriffen und getötet. Es war eine dieser Missionen, die man nicht einschätzen kann, also waren wir auf alles gefasst. Es gab kein Innocence in dieser Stadt, nur einen Level-2, der ganz automatisch niedere Akuma anzog und letztendlich war es leicht, die Stadt zu säubern. Wir zerstörten die Akuma bis auf den Letzten. Die Mission war innerhalb von zwei Tagen beendet und trotzdem werden wir sie nie vergessen. Ich lebe mit meiner Blindheit und ich lebe gut mit ihr, aber nur selten war ich ihr bisher dankbar.“ Er schürzt die Lippen, befeuchtet sie mit der Zunge und noch immer sehe ich ihn an, verfolge, wie er tief durchatmet und sich seine stumpfen Augen auf den Boden richten.

„Am ersten Abend war ich es, denn ich spürte sie zwar, sah sie aber nicht - die unzähligen Leichen kleiner Kinder, nachdem der Akuma eine Schule dem Erdboden gleichmachte.“

Langsam wende ich den Kopf auf dem Polster und spähe zurück in den Garten. Es wirkt so konträr. Dieses Bild und diese Geschichte. Sieht man diese Farben und Schönheit, mag man kaum glauben, dass auch so etwas existiert. Menschen sterben selten vor meinen Augen und nur flüchtig versuche ich mir vorzustellen, welches Bild sich Kanda bot.

„Er sagte es nicht“, fährt Marie fort, „aber ich weiß, dass er sich bittere Vorwürfe machte, während er vom Unvermeidlichen sprach. Er wäre gerne dort gewesen, bevor es geschah und er hätte nicht zugelassen, dass den Kindern auch nur ein Haar gekrümmt wird.“

Ich deute ein Nicken an, reibe mir träge den Mund.

Natürlich erzählte er mir nichts davon und umso dankbarer bin ich, dass Marie es übernimmt.

Unweigerlich kommt mir Bingen in den Sinn und so fülle ich die wiederholte Stille vorerst nicht mit Worten.

Bisher erfuhr nur Komui von den Vorkommnissen in diesem fernen Dorf. Er ist einer von uns, doch erlebt nicht dasselbe und ich zögere nicht lange, bevor ich dem Drang nachgebe.

Ich möchte es erzählen, möchte, dass Marie es weiß.

„Wir haben Menschen verletzt und einen getötet“, erhebe ich die Stimme. „Vor wenigen Tagen in einem Dorf, in dem ein Finder verschwand. Er wurde ermordet von den Dorfbewohnern, die einem extremen Kult zum Opfer fielen. Kandas Weg führte nur durch Zufall dorthin und kurz darauf wurde auch sein Finder getötet. Ihn begruben sie lebendig und als wir uns an diesem verfluchten Ort trafen, stand fest, was zu tun war. Wir töteten den fanatischen Prediger, der die Dorfbewohner manipulierte. Weil es richtig war und der einzige Weg, Gerechtigkeit walten zu lassen und die Menschen von diesem Bann zu befreien.“

Natürlich erzählte Kanda Marie nichts davon und umso dankbarer wird er sein, dass ich es übernehme.

Wieder ist es eine Weile still zwischen uns. Wir sind nachdenklich und sind es lange, bevor Marie sich räuspert.

„Menschen sind nicht erhaben über Zweifel und Leid“, sagt er dann. „Und Kanda ist ein Mensch.“

„Ja“, flüstere ich.

„Er verlangt nie nach etwas und umso mehr müssen wir ihm geben. Wenn du bei ihm bist, Allen, pass bitte auf ihn auf.“

Wieder blicke ich zu Marie und werde daran erinnert, wie sein Gesicht unter Sorgen aussieht. Er presst flüchtig die Lippen zusammen, während sich seine Stirn in Falten legt.

„Er lebt schon so lange in dieser Welt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie ihn zerstört. Nicht noch mehr.“

Ein weiteres Mal offenbart mir Marie sein Wissen um die Nähe zwischen Kanda und mir.

Letztendlich sagt er, dass er und ich die Einzigen sind, die ihn schützen können, da kaum jemand Einfluss auf ihn hat, kaum jemand ihn kennt, wie wir es tun. Wir sind verantwortlich, doch lieben diese Pflicht.

Kanda rettete nicht nur Marie, er rettete auch mich und selbst wenn es anders wäre, ich würde mich endlos bluten lassen, könnte ich Leid von ihm abwenden. Jede Verletzung würde ich auf mich nehmen, um ihn vor ihr zu verschonen und würde er es zulassen, würde ich die Arme um ihn schließen und nie wieder loslassen.

Doch was ist mit diesen Bildern?

Marie war an seiner Seite, doch konnte nicht verhindern, dass er die toten Kinder sah.

Und ich war an seiner Seite, als er den Priester tötete.

Nicht alles lässt sich abwenden und wir beide wissen um die Schwierigkeit, wenn es darum geht, Kanda zu unterstützen. Zu lange war er alleine und zu viel hat er erlebt, als dass er sich fallen lassen und auf Sorgen basierende Zuwendung annehmen könnte.

Möglicherweise fällt es ihm gar schwer anzuerkennen, wenn er die Grenze überschreitet und aus Erfahrung weiß ich von seiner kompletten Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten. Er wirkt so stark, so kraftvoll und gefestigt und umso dankbarer bin ich Marie, dass er mich daran erinnert, hinter die Fassade zu blicken.

Hier und jetzt fassen wir ein Bündnis in Worte, das bisher nur schweigend zwischen uns existierte.

Ein Bündnis zwischen zwei Menschen, die Kanda auf unterschiedliche Weise lieben.
 

-tbc-

7

Wäre ich vollends bei Verstand, ich würde ihn verlieren. Die vollständige Nutzlosigkeit würde die Spannung erzeugen und der schallende Riss wäre der Hilfsbedürftigkeit zuzuschreiben. Das Bett, auf dem ich irgendwann liege, erreichte ich nicht selbst und würde uns eine plötzliche Bedrohung erreichen, ich wäre wie ein Baby, das ohne fremde Obhut erfrieren und verhungern würde. Nur Fragmente dieser Tatsachen durchdringen in mein Bewusstsein und sind trotzdem so schmerzhaft und zermürbend, dass ich nicht umhin komme, mit meinen letzten Fähigkeiten einen erbärmlichen Widerstand zu leisten.

„Verdammter Mist“, flüstere ich ein weiteres Mal, als bereits das sanfte Rot der Abenddämmerung vor den Fenstern liegt. „So ein verdammter… mieser… Mist.“

Regungslos leistet mir Marie Gesellschaft. Er braucht nicht zu antworten, denn ich führe einen Monolog und er genießt ihn schweigend. Matt senke ich den Arm auf meine Augen.

Vor kurzem sagte er mir, vielleicht ist es aber auch schon länger her, dass er mit Komui telefonierte und seitdem macht er den Eindruck, das unbekannte Übel nicht mehr zu fürchten. Der Abteilungsleiter war wohl der Meinung, es wäre unmöglich, dass ich dadurch sterbe und ich denke an ihn und daran, wie bequem er es in seinem Büro haben muss. Vielleicht trinkt er Kaffee, vielleicht starrt er auch in die leere Tasse oder schläft. Jedenfalls wird es ihm weitaus besser gehen und ich freue mich darüber und auch über seine Zuversicht, während ich mir wünsche, er wäre in meiner Lage.

So vergeht die Zeit und ich weiß nicht, wieviel von ihr. Manchmal glaube ich einzuschlafen, dann höre ich die Stimmen von Marie und dem Finder und frage mich, ob ich träume. Ich entdrifte, bin nicht einmal sicher, ob es irgendwann das Licht des Mondes oder das der Sonne ist, das zu mir dringt, doch irgendwann erreicht mich ein Fragment der Wirklichkeit, das mich zu sich zurück zieht.

Kanda kehrt zurück.

Als ich die Augen öffne, sehe ich ihn und selbst seine Mimik weiß ich trotz meines Zustandes zu deuten.

Die Mission ist offenbar beendet. Das Innocence befand sich tatsächlich in der Quelle und nur flüchtig zuckt ein Grinsen an meinem Mundwinkel. Soviel man auch schon gesehen hat von der Welt, man trifft dennoch und permanent auf Unbekanntes. Auf diese Weise wurde eine Mission noch nie beendet und noch nie leistete ich so einen Beitrag.

„Die Menschen hier haben die besten Voraussetzungen, auch ohne das Innocence ein gutes Leben zu führen“, höre ich Kandas Stimme. „Krankheiten sind ein Teil davon.“

„Sie werden sich daran gewöhnen“, stimmt Marie zu. „Vielleicht bemerken sie es nicht einmal.“

„Mm.“ Schritte nähern sich meinem Bett. „Wir sollten sofort aufbrechen.“
 

Der Boden, der unter mir vorbeidriftet, scheint so weit entfernt und auf seltsame Art zu verschwimmen. Steine ziehen sich in die Länge, bis sie zerfließen, während sich Kontraste vertiefen. Bizarre Bilder dringen durch einen Nebel zu mir und benommen versuche ich mich daran zu erinnern, wann es meinem Körper zuletzt so schlecht erging.

Natürlich trug ich oft Verletzungen davon und natürlich schmerzten sie und benötigten ihre Zeit der Heilung. Ich kenne diese beißende Qual sowie ich Erschöpfung kenne und die Schwierigkeit, die Augen offen zu halten, doch der jetzige Zustand kommt einer Vergiftung gleich, von der sich mein Körper quälend langsam zu erholen versucht. Er kämpft, versucht abzubauen, was schädlich ist.

Ich blinzle, weite die Augen, ringe um ein deutliches Bild der Realität.

Vor einer Weile, meine ich mich zu erinnern, spürte ich noch, wie breit und stark Maries Schultern sind und wie stählern auch seine Arme, die mich auf seinem Rücken fixieren. Als mein Kinn auf sein Schlüsselbein sank glaubte ich sogar seinen Geruch wiederzuerkennen, doch in der Zwischenzeit wurde er unter mir zu einer seltsam weichen Masse. Manchmal habe ich das Gefühl, in einer Stelle seines Körpers zu versinken, doch nicht die Kraft, darauf aufmerksam zu machen.

Vermutlich steht es ernster um mich, als ich anfangs dachte.

Das einzige, das nicht verzerrt ist, sind die Stimmen meiner Freunde, also schließe ich irgendwann die Augen und nutze ihren Klang als Band, das mich mit der Wirklichkeit verbindet. Kraftlos pendeln meine Arme im Leeren und wie angestrengt schöpfe ich tiefen Atem.

„Ich hoffe, Komui liegt richtig“, höre ich Maries Stimme, vorsichtig werde ich um ein Stück höher gerafft. „So eine Situation haben wir immerhin noch nie erlebt.“

Kanda antwortet nicht. Er hält sich neben uns. Ich höre das Knirschen seiner Schritte, als würden wir über einen Kiesweg ziehen.

„Dass sich sein Zustand weiterhin verschlechtert, macht mir Sorgen“, fährt Marie fort und ich empfinde nichts dabei. Mein Mund ist trocken. An mehr kann ich nicht denken.

„Mm“, dringt endlich der vertraute Klang der anderen Stimme zu mir.

Ein Brummen, das von Gelassenheit zeugen könnte und ebenso gut von Desinteresse oder Gegensätzlichkeit. Marie fragt jedenfalls nicht nach und die nächsten Augenblicke sind von Schweigen geprägt. Nur das Knirschen der Schritte und ein leises Rascheln, das wohl vom Blattwerk mehrerer Bäume hervorgerufen wird.

„Der wird schon wieder“, ergreift Kanda dann unerwartet das Wort. Ihm wäre es zuzutrauen, es bei dem Brummen zu belassen und umso erfreulicher ist es, dass es nicht der Fall ist, denn seine Stimme tut mir gut. Abermals gelingt mir ein tiefes Durchatmen, bevor er fortfährt. „Dieses ganze Elend ist vorbei, sobald er wieder bekommt, was sein Leben ausmacht. Essen und Nichtstun.“

Marie seufzt. Ich spüre, wie sich seine Schultern unter dem tiefen Durchatmen heben und senken. Ein Teil von mir treibt zurück in die Wirklichkeit und unweigerlich verzieht sich mein Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse.

„Mistkerl“, höre ich kurz darauf mein Nuscheln und spüre Maries stilles Lachen.

„Siehst du“, sagt Kanda dazu nur. „Der wird schon wieder.“
 

Was sich zunächst meine Aufmerksamkeit erkämpft, ist das laute Rattern der Zugräder und wie ich von Maries Rücken auf eine etwas zu harte Bank gleite. Hände halten mich, drängen mich gegen die Rückenlehne und wie zerfließe ich, während immerzu das leichte Vibrieren des Wagons zu mir dringt.

Wir nähern uns der Heimat.

Ich ächze vor Erleichterung, doch irgendwie klingt es noch immer zu sehr nach dem alten Elend.

Als leicht an mir gerüttelt wird, fällt es mir schwer, die Augen zu öffnen, doch die Hände sind erbarmungslos.

„Jetzt ist Schluss mit dem Drama“, offenbart mir Kanda die Tiefe seiner Besorgnis. „Du isst und trinkst jetzt etwas.“

Fast spüre ich, wie die alte Übelkeit zurück in meine Kehle kriecht.

Wenn der Tag kommt, dachte ich mir einmal, an dem ich Essen ablehne, dann ist das Ende nicht mehr weit.

Ich stöhne, winke ab und stöhne erneut, als ich leicht nach vorn gezogen werde. Mein Rücken löst sich von der Lehne, doch wird von einer Hand gestützt. Sie bettet sich auf meinem Kreuz, schenkt mir jede mögliche Sicherheit und wie gehorsam werde ich mit einem Mal.

Als würde ich zu einem wehrlosen und formbaren Klumpen Mensch, sobald es sich um diese Nähe handelt.

Kanda sank neben mir auf die Bank, doch bevor ihn meine Augen erfassen können, spüre ich das kalte Glas einer Flasche an meinen Lippen.

„Trink.“

„Ich werde brechen“, nuschle ich, doch die Flasche zieht sich nicht zurück.

„Das ist egal. Wir haben genug da.“

Der Saft, den ich so hinabwürge, ist abartig süß und belebt mich in vielerlei Hinsicht, doch keine Grimasse und kein Ächzen könnten Kanda jemals umstimmen. Er flößt mir eine Menge ein, bevor er mich erlöst und zurück gegen die Rückenlehne sinken lässt. Als sich kurz darauf das Rascheln einer Verpackung erhebt, blicke ich dahindämmernd um mich. Wir sind alleine in der kleinen Kabine. Nur Timcanpy nimmt die gegenüberliegende Bank für sich ein und scheint mich zu fixieren.

„Wo ist Marie?“, murmle ich und öffne den Mund, als das erste Stück Schokolade zu ihm wandert.

„Besorgt noch mehr Essen.“

Neben mir ist Kanda mit der nächsten Verpackung beschäftigt. Ich beobachte ihn schweigend aus den Augenwinkeln, während die Schokolade auf meiner Zunge zerfließt. Ich lutsche, schmatze, bin noch immer die manifestierte Hilflosigkeit, doch störe mich in diesen Momenten nicht daran.

Nicht ihm gegenüber.

Manchmal erfassen mich seine dunklen Augen, manchmal erreicht mich auch seine Schulter, wenn er sich auf dem Polster regt und wie ergeben lasse ich mich füttern. Zuerst Schokolade, dann Kuchen und Kekse, doch mein Magen erträgt es. Die Übelkeit ist nicht so schlimm wie befürchtet und mein nächstes Ächzen wirkt weitaus weniger erbärmlich. Fast klingt es wie Erleichterung. Selbst meine Augen tun sich nicht mehr so schwer damit, die Tür der Kabine zu erfassen, als sich im dahinterliegenden Gang die langsamen Schritte Maries erheben. Vermutlich kommt er nicht mit leeren Händen.

Ich lutsche auf einem Bonbon, als seine Schritte vor der Tür verstummen und ich sehe es nicht kommen und werde umso mehr überwältigt von dem warmen Druck der Hand, der sich auf meinen Kopf senkt. Kandas Finger dringen in mein Haar, streifen annähernd beiläufig eine Strähne aus meinem Gesicht und meine Lider wurden längst schwer unter dem Genuss, als er mich andeutungsweise tätschelt.

Niemand außer ihm ist der Lage, mich so eiskalt zu erwischen.

Die vergangene Zeit nahm ihm keinen Deut von seiner Wirkung und wie wärmend durchflutet mich das seit kurzem verschüttete Gefühl vollendeter Zufriedenheit, als sich die Tür öffnet und Marie zu uns tritt.
 

Als ich irgendwann zur Seite rutsche und mich auf der Bank lang mache, ist mein Magen gefüllt und meine spärliche Energie erneut aufgebraucht. Es ist nicht sehr bequem und dennoch schlafe ich binnen weniger Momente ein. Begleitet von den leisen Stimmen meiner Freunde komme ich zur Ruhe und treffe auf eine stille, friedliche Traumwelt. Niemals ist es anders, wenn der Eine in meiner Nähe ist.

Die Stunden driften unbemerkt an mir vorbei und auch als ich abermals Halt auf Maries Rücken finde, dämmere ich sofort wieder aus der Wirklichkeit. Es geht mir besser, denke ich. Als wäre diese Müdigkeit gesunder Natur und nach Fragmenten aus Licht, anderen Stimmen und Geräuschen sinke ich auf meine vertraute Matratze, wende mich zur Seite und schlafe weiter.

Tim lässt sich auf meiner Schulter nieder. Sein Flügel streift mein Gesicht und wie endlos wirkt die warme Dunkelheit und wie bequem mein Bett, bis mein Bewusstsein stockend an die Oberfläche zurücksteigt. Ich rege mich und habe die Kraft dazu, drehe mich von einer Seite zur anderen und nehme durch meine geschlossenen Lider das Licht des Tages wahr. Die Decke glitt von mir, schlang sich um meinen Fuß und eine Weile kämpfe ich träge gegen den Widerstand, den sie bildet. Stille umgibt mich, wird zeitweise nur erfüllt von meinem tiefen Durchatmen und so steige ich noch höher, ertaste irgendwann mein Gesicht und gähne.

Ein Flügelschlag erhebt sich im Zimmer. Ich spüre Tims Gewicht nicht auf mir und beginne zu blinzeln.

Es fühlt sich an, als hätte ich ewig geschlafen. Als würde die anhaltende Mattigkeit viel eher daher rühren als von der Problematik auf der letzten Mission.

Träge schürze ich die Lippen und betaste auch sie. Sie fühlen sich trocken an.

Ich habe Durst und ich habe Hunger. Die Dinge scheinen besser zu stehen und wie behaglich wende ich das Gesicht zur anderen Seite und erstarre.

Unausweichlich ist das grüne Auge auf mich gerichtet. Gemütlich sitzt Lavi neben meinem Bett. Die Arme auf der Rückenlehne gekreuzt, gegen die er sich lehnt, starrt er mich an, während Tim es auf seinem Kopf bequem hat. Der Schreck kommt und geht, stöhnend reibe ich mir die Augen und höre ihn mit der Zunge schnalzen.

„Einen wunderschönen guten Morgen.“

„Mm.“ Ich taste nach der Decke, will sie über mich streifen, doch finde sie nicht. Als ich erneut zu Lavi spähe, entfaltet sich ein Grinsen auf seinen Lippen, das nichts Gutes verheißt.

„Zweiundzwanzig Stunden“, verkündet er amüsiert. „Noch eine weitere und wir hätten dich für tot erklärt. Das wäre schade gewesen.“

„Ach ja?“

„Natürlich. Meistens behält man die Leute so im Gedächtnis, wie man sie zuletzt gesehen hat und in deinem Fall wäre das nicht sehr optimal.“ Der Stuhl quietscht. Lavi lehnt sich zurück, seufzt und streckt sich und fühlt sich offenbar recht wohl. Zu tun hat er wohl auch nicht viel. Tim erhebt sich flatternd in die Lüfte und endlich finde ich die Motivation, mich aufzurichten. Es fällt mir leicht und so bringe ich träge Ordnung in meinen Schopf.

„Ich wünschte, wir hätten ein Bild davon machen können“, fährt Lavi in dem Moment fort und noch immer benommen blicke ich zu ihm. „Es sah aus, als würde Marie eine schlaffe Masse Nachhause tragen. Die einzigen Lebenszeichen bestanden aus dem Speichel auf seiner Schulter und dem verworrenen Nuscheln.“ Sein Zeigefinger findet nachdenklich zum Kinn. „Was war es nochmal? Es klang unter anderem, als würdest du dich vor bösen Feen fürchten.“ Er lacht herzhaft, während mein Gesicht einschläft.

„Alles Schwindel“, versucht er meine Stimme nachzuäffen. „Die Erde ist böse. Esst nicht das Gras.“

Er lacht weiter und ich sinke in mich zusammen.

„Was musstest du nur durchmachen, Allen?“

Ich schöpfe tiefen Atem, hebe die Hände und balle sie zu lockeren Fäusten.

Die alte Kraft durchflutet sie. Das Martyrium ist vorbei und seitdem verging mehr als ein Tag.

Lavi genießt offenbar beste Laune. Er beginnt zu kippeln, bekommt kurz darauf Tim zu fassen und bewegt ihn zwischen den Händen.

„Es wäre schade gewesen, hättest du noch länger geschlafen, denn heute sind bis auf den Panda und Chaoji alle hier. Komui gibt uns, soweit es möglich ist, den Tag frei, damit wir das Picknick nachholen können.“ Er weist zur Seite und zur Tür. „Gerade sind alle beim Training. Nur ich nicht. Ich wollte dich nerven.“

Wieder sehe ich dieses tiefe, befreite Grinsen und rutsche zur Bettkante.

„Ich gehe aber gleich. Kommst du mit?“ Lavi neigt sich mir samt Stuhl entgegen.

„Ich brauche erst was zu essen.“

„Logisch.“ Er kommt auf die Beine und nur beiläufig bemerke ich, wie anhaltend er mich mustert. Auch sein Grinsen weicht nicht aus seinem Gesicht und ich brauche eine Weile, meinen müden Kopf zu aktivieren. Sobald er zu arbeiten beginnt, begreife ich es und verliere unter einem Seufzen an Körperspannung.

Stoisch begegne ich seiner gleißenden Heiterkeit.

„Was hast du mir ins Gesicht gemalt?“

„Wie bitte?“ Er ist entrüstet und kopfschüttelnd reibe ich meine Wange. „Was denkst du von mir?“

„Lavi.“

„Ein böses Blümchen.“
 

Nachdem ich geduscht habe, begleitet er mich in den Speiseraum. Mir ist nicht danach, mich dorthin zu setzen. Viel lieber nutze ich die Seltenheit, die er erwähnt hat und so leistet mir eine große Schale mit Muffins, Gebäck und Früchten Gesellschaft, als wir gemeinsam zu einer der Trainingshallen schlendern. Natürlich will Lavi die Heldensaga aus meinem Mund hören, also erzähle ich sie ihm.

„Sieh an.“ Er bläht die Wangen auf, als wir das Ziel fast erreicht haben. „Was es nicht alles gibt. Vermutlich hattest du Glück, dass du keine höhere Konzentration abbekommen hast. Es werden nur winzige Fragmente gewesen sein, wenn das Innocence das ganze Wasser erfüllt hat.“

Seufzend taste ich nach dem nächsten Muffin und bleibe stehen. Neben uns erhebt sich die große, hölzerne Tür und grinsend öffnet Lavi sie.

„Du siehst jedenfalls viel besser aus. Ich denke, du wirst es schaffen.“

„Ja?“

Ein leises Quietschen erhebt sich, sofort schlüpft Tim durch den Spalt und wie atme ich durch, als ich dann in die Halle trete und mich dieser ungewohnte Anblick erwartet. Linali und Miranda haben es auf einer Bank bequem und genießen eine kurze Pause, während Crowley und Marie sich keuchend auf den Matten bewegen. Und Kanda.

Natürlich schenken meine Augen ihm die meiste Aufmerksamkeit und zelebrieren seinen Anblick, als wäre er ihnen so noch nie zuvor begegnet. Surrend spaltet der Bokken die Luft und wie fasziniert bin ich erneut von der raschen und doch geschmeidigen Beinarbeit. Er bewegt sich alleine und doch in der Nähe der anderen, feilt wohl an der Perfektion einzelner Bewegungsabläufe und scheint so konzentriert, dass er uns vorerst nicht bemerkt.

„Allen!“ Freudig kommt Linali auf die Beine. Ich werde begrüßt, als läge eine Unendlichkeit zwischen dem heutigen Tag und dem letzten Treffen. Konzentriert halte ich meine Schale fest, als Crowley mich in die Arme schließt. Marie schickt mir ein Lächeln, Lavi schlägt mir auf die Schulter und flüchtig spüre ich auch Kandas Aufmerksamkeit. Ein knappes Mustern, eine angedeutete Geste und so fasst er den Bokken neu und vertieft sich abermals.

Mein Mund kommt von da an kaum zum Essen, bleibt permanent in Bewegung und Kanda vorerst der einzige, der seine Übungen ernst nimmt. Wir sitzen beisammen und wie gerne rede ich und höre zu und tanke die letzte Kraft aus dieser Geselligkeit. Natürlich kommt Lavi nicht um weitere Kommentare, natürlich versucht Linali ihn in seine Schranken zu weisen, während Crowley fassungslos ist bezüglich meinem vergangenen Leiden. Wir lachen viel, irgendwann befasse ich mich dann doch wieder mit meiner Futterschale und als sich die erste Aufregung gelegt hat, ist Marie der Einzige, der mir auf der Bank noch Gesellschaft leistet. Kauend beobachte ich meine Freunde, während er an seiner Wasserflasche nippt.

Der Kuchen ist lecker, auch die Schokolade der Muffins schmeckt nach der wunderbaren Heimat und wie oft seufze ich und kann kaum glauben, dass mir vor kurzem wirklich noch der Appetit fehlte.

„Es tut mir Leid, dass ich dich vollgesabbert habe“, wende ich mich irgendwann an Marie und biete ihm zur Versöhnung eine Erdbeere an. Er nimmt sie, obwohl es offenbar nichts zu verzeihen gibt.

„Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht“, sagt er nur und dann sitzen wir dort und kauen und unterhalten uns.

Lässt man die letzte Mission außen vor, denke ich, haben wir es doch derzeit gut.

Wir sehen uns des Öfteren und sind heiter, soweit auch gesund und gekräftigt genug, uns jedes Mal wieder auf den Weg zu machen. Keine Schicksalsschläge, so beißend und scharf, dass sie sich zu tief fressen und Spuren hinterlassen. Vielleicht etwas Bitterkeit, doch die lässt sich hinabschlucken.

An diesem Tag bin ich dankbar.

Während meine Freunde trainieren, wir uns unterhalten, letzten Endes beinahe gemeinsam die Halle verlassen und das Picknick vorbereiten. Es ist keine Selbstverständlichkeit und das darf es auch nicht sein. Als handle es sich um einen Aberglauben, dass das genommen wird, dem man zu wenig Achtung schenkt.

Draußen beginnt es zu regnen, doch wir sind zufrieden mit dem Boden der Lounge und im Grunde auch amüsiert über diese Spontanität, eine Decke auszubreiten und eine Weile viele Blicke auf sich zu ziehen.

Kanda ist nicht bei uns. Vermutlich hält er sich noch immer in der Trainingshalle auf und während bei zusammen sitzen und zahllose Worte fließen, frage ich mich, wann er das Hauptquartier wieder verlässt.

Wohin wird es ihn ziehen? Wohin mich?

Wieviel Zeit bleibt uns?

Die Gedanken sind dieselben, jedes Mal, wenn ich mich innerhalb der Mauern bewege, die ich ‚Zuhause‘ nenne. Ich würde wieder mit ihm gehen.

Permanent an seiner Seite sein und das Versprechen einlösen, das ich Marie gab.

Ich denke und rede so viel an diesem Tag und als die Teller und Schalen beinahe leer sind und der Boden auch allmählich etwas zu hart, da kommen wir auf die Beine, räumen auf und lassen uns abermals auseinander ziehen. Linali und Crowley werden am Abend aufbrechen. Miranda ist müde, auch Marie zieht sich zurück und so scheint Lavi der einzige zu sein, der meinem Pegel an Energie noch ebenbürtig ist.

Ich schlief zu lange, will auf den Beinen bleiben, mich bewegen und habe keine Einwendung gegen Lavis Plan, unseren Abteilungsleiter zu retten.

Während er uns einen Tag frei hielt, scheint er laut Linali selbst unter Papier und Arbeit zu ersticken. Sein Stöhnen soll problemlos durch die Tür dringen und wenn er sie öffnet und sich zeigt, dann soll selbst Kaffee nicht mehr helfen. Also besuchen wir Jerry, lassen ihn etwas kreieren und schlüpfen in die Rolle von Essenskurieren. Auch in der Wissenschaftsabteilung wird man immer fündig, wenn man Unterhaltung sucht.

Sie sich zum Ziel zu nehmen, ist jedenfalls nie ein Fehler.

„Wenn Komui schläft, male ich ihn auch an“, entschließt sich Lavi, als wir das Ziel erreichen.

Konzentriert balanciere ich das Tablett aus.

„Solche Scherze können nach hinten losgehen.“

„Ach, Quatsch.“

Kaum öffnen wir die Tür, da scheint uns eine düstere Wolke aus Müdigkeit und Überforderung zu erreichen. Sie wabert durch den ersten Spalt, dicht gefolgt von Gähnen und Stöhnen und selbst diese Alltäglichkeit genieße ich. Mehrere Wissenschaftler schlafen und auch Jonny scheint nicht mehr anwesend, während er in eine Mappe starrt. Auf Lavis Gruß folgt undeutliches Nuscheln und so bahnen wir uns unseren Weg durch die Wolke. Komuis Tür ist geschlossen und wie leise drängt Lavi die Klinke hinab, wohl hoffend, dass Komui tatsächlich ein wehrloses Opfer darstellen könnte. Er sendet mir ein Grinsen, ich verdrehe die Augen, doch dann dringen Stimmen zu uns. Komui ist nicht alleine. Komui schläft auch nicht und zermürbt verliert Lavis Grinsen an Kraft.

„Du hast es schwer“, kommentiere ich, wie er sich hängen lässt und dann öffnet er die Tür.

Wir haben Spaß, wir sind leicht und umso deutlicher spüren wir die abrupte Anspannung, die die Luft in dem großen Raum zu beherrschen scheint. Langsam lasse ich das Tablett sinken, während sich River zu uns umdreht und wie unpassend scheint seine Mimik, wenn man unseren heiteren Tag betrachtet.

Wie ein eiskalter Schnitt und ein jähes Ende von allem, das unbesorgt ist.

Regungslos hält Komui den Hörer des Telefons am Ohr. Auch seine Augen erreichten uns, erreichten mich und perplex erkenne ich die flüchtige Regung seines Gesichtes. Er scheint zu erschrecken. Vielleicht durch die Worte, die an seine Ohr dringen, doch sein Blick bleibt mir treu, während sich seine Lippen aufeinander pressen. Leise schließt Lavi die Tür hinter uns. Er späht kurz zu mir, doch ich reagiere nicht.

„Verstanden“, lässt Komui in dem Moment die Stille enden.

Endlich senkt sich sein Blick. Ziellos rückt seine Hand an diversen Unterlagen, während wir näher treten.

Ich bin nicht sicher, wann ich Komui zuletzt so sah.

Was auch immer vor sich geht, es scheint sich nicht um einen Notfall zu handeln, auf den er sofort zu reagieren hat. Er macht auch nicht den Eindruck, nach einer Lösung zu suchen. Als wäre das Ergebnis bereits vorhanden und endgültig. Als gäbe es Verluste, die man hinzunehmen hat.

„Ich schicke euch Unterstützung und rufe später zurück.“ Somit lässt er die Hörer sinken, weitet die Augen und reibt sich den Mund. Ich blicke zu River. Er bearbeitet die Unterlippe mit den Zähnen und stemmt die Hände in die Hüften.

Vorsichtig werde ich das Tablett auf dem Sofa los. Es verliert seinen Nutzen und ist nicht mehr von Bedeutung, denn hier gibt es keine Freude oder Platz für verschmitztes Wohlwollen.

„Komui?“

Abrupt findet seine Aufmerksamkeit zu mir zurück. Nur ein kurzer Blick, bevor er mir abermals ausweicht und auf seinem Stuhl nach Bequemlichkeit sucht.

„Es ist gerade etwas unpassend, Allen.“

„Was ist passiert?“, spricht Lavi es aus und wie perplex sehen wir ein verwerfendes Kopfschütteln.

River regt sich etwas unentschlossen. Eine flüchtige Mimik verrät, dass er etwas am Geschehen nicht begreift, doch Komui fährt fort, bevor auch er Fragen stellen könnte.

„Es hat nichts mit euch zu tun“, sucht er nach Worten. „Das ist meine Angelegenheit. Wenn ihr uns jetzt bitte entschuldigen würdet.“

Wir täten ihm wohl einen Gefallen, wenn wir uns sofort umdrehen und den Raum verlassen würden, doch natürlich zögern wir und lassen eine erneute Stille entstehen. Weitere Worte zu finden, scheint Komui schwer zu fallen, also bleibt es bei einem Nicken, einem erwartungsvollen Blick.

Neben uns reibt sich River die Wange.

Es ist unangenehm. Alles an dieser Situation und mit anhaltendem Zögern zeigt auch Lavi sich unwillig.

Was Komui betrifft, betrifft fast ausschließlich auch uns und nicht zuletzt seine Anspannung bringt den Beweis. Es handelt sich um etwas, das wir nicht erfahren sollen und dabei weiß er doch, wieviel wir ertragen. Wie viele Wahrheiten nahmen wir auf uns, mit wie vielen grausamen Tatsachen lernten wir umzugehen und nun schickt er uns fort.

„Später?“, frage ich, Komui und seine Reaktion mit meinen Augen zersetzend.

„Vielleicht“, sagt er nur. „Wir werden sehen. Kümmert euch nicht darum. Macht euch einen schönen Abend.“

Noch immer starre ich ihn an, als würde sich die Wahrheit dadurch offenbaren. Doch sie bleibt unsichtbar, nicht zu greifen und kurz darauf setzt sich mein Körper wirklich in Bewegung. Ich wende mich ab, mustere ihn ein letztes Mal, forschend, suchend, und kapituliere.

Aus welchem Grund auch immer, vor mir wurde eine Mauer gezogen, gegen die ich nicht ankomme. Also erlöse ich Komui vom Bohren und Fixieren und auch Lavi akzeptiert die Sackgasse. Vielleicht ist das, was Komui sagt, das Richtige. Vielleicht kann er diese Entscheidung in dem Moment besser treffen als wir.

Ich rümpfe die Nase, blicke flüchtig und beiläufig auf den Schreibtisch und nicht einen Schritt bin ich gegangen, da halte ich inne.

Die Landkarte fällt kaum auf zwischen dem Chaos, das auf Komuis Tisch herrscht, doch wie ein erbarmungsloser Wink stach sie hervor. Die rote Markierung lässt den winzigen Namen an Größe gewinnen und fast stößt Lavi gegen mich, als ich mich abrupt umdrehe, an River vorbei lehne und auf die Karte starre. Sie liegt dort, als wäre sie gerade von Bedeutung. Entrüstet finden meine Augen von ihr zu Komui und verfolgen, wie er sich zermürbt das Gesicht reibt. Wir scheint er den Zufall zu verfluchen und wie auch die eine Sekunde, die es gebraucht hätte, die Karte unter anderen Papieren zu begraben.

Ich spüre, wie mein Gesicht an Farbe verliert, bevor meine Hand auf die Karte niedergeht.

„Bingen“, bringe ich hervor und höre Komuis erschöpftes Ächzen. „Komui, handelt es sich um Bingen?“

Er schüttelt den Kopf. Nicht, um zu verneinen, sondern um zu kapitulieren.

Lügen wären von nun an sinnlos und liegen ihm ohnehin nicht besonders, da er ein zu guter Mensch ist.

„Allen“, seufzt er und sinkt gegen die Rückenlehne.

„Ich will es wissen. Was ist in Bingen passiert?“

Dumpf und schwer schlägt das Herz in meiner Brust. Meine Finger bewegen sich über das dünne Papier, kriechen in sich zusammen, bis ich die Hand zur Faust balle und Komui mich ansieht, beinahe flehend.

„Du willst es wissen“, antwortet er letztendlich, um mir noch eine Möglichkeit zu schenken, doch ich nicke sofort und weiß selbst nicht, ob es tatsächlich richtig ist.

Schmerzen nahm ich in meinem Leben schon immer recht spontan auf mich und auch diesmal kann ich mich nicht abwenden, obwohl ich das Unglück kommen sehe.

Unter einem geräuschvollen Ausatmen rutscht Komui im Stuhl tiefer. Abermals finden seine Finger zum Gesicht und in den nächsten Momenten reibt er sich nur die Augen. Leise raschelt das Papier, als ich die Faust lockere, mich einfach nur unentschlossen rege, indessen jedes Blinzeln vergessend oder Lavis Anwesenheit.

Es spielt keine Rolle in diesem Augenblick.

Nicht die geringste.

Komui schürzt die Lippen, als wären sie noch nicht bereit, die Worte passieren zu lassen. Er ringt mit sich, kämpft mit dem Unabwendbaren und letztendlich gelingt es ihm nicht, mir in die Augen zu sehen.

„Alle Menschen in Bingen sind tot, Allen.“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. „Sie haben rituellen Selbstmord begangen.“
 

-tbc-

8

Abermals ist es still geworden in dem großen Raum, in dem stets Chaos und Geräusche herrschen. Hinter mir höre ich Rivers Atemzüge und realisiere nicht sofort, dass meine ausbleiben. Ich mustere Komui und ich mustere ihn lange, als wäre ich ein vollendeter Narr, der darauf hofft, die Realität hätte ihn an der Nase herumgeführt. Dabei ist es kein Material für einen Witz und auch sonst fehlt jede Möglichkeit, daraus ein Missverständnis zu kreieren. Meine Lippen sind trocken, während sich vor mir mit einem Mal ein fassungsloses Ausmaß offenbart. Eine Gegebenheit, so immens, dass ich sie in diesem Moment nicht annähernd begreifen kann.

Lavi schweigt, auch River lässt die Stille gewähren und ich suche nach Worten und bin nicht sicher, welche die richtigen wären.

Es ist ein leises, undefinierbares Geräusch, das mich kurz darauf aus meiner Starre befreit und auf das mein Bewusstsein reagiert wie ein aufgeschrecktes Tier. Mein Körper dreht sich um und dann starre ich auf die Tür, als hätte ich befürchtet, sie würde sich öffnen. Als hätte das Schicksal in seiner Gnadenlosigkeit ausgerechnet Kanda hierhergeschickt.

Doch die Tür bewegt sich nicht.

Meine Schultern heben und senken sich unter einem gedrungenen Durchatmen und so wende ich mich wieder an Komui und beende das Schweigen mit einem zögerlichen Räuspern. Die Kontrolle kehrt zurück, da ich sie gewaltsam an mich reiße und wie beiläufig taste ich nach der Karte und falte sie zusammen.

„Du hast Finder geschickt.“

„Mm.“ Komui deutet das Nicken nur an.

„Du sagtest ‚alle‘. Die Kinder?“

„Mm“, raunt Komui, den Blick zum Boden gesenkt.

Absent betaste ich die Karte. Nach außen hin ist sie nur noch ein weißes Papier, das keine Besonderheiten birgt. Ich bewege sie zwischen den Händen, fühle ihre raue Struktur und versuche mich an das Gesicht des Kindes zu erinnern, das ich am Fuße der roten Statue ansprach.

Waren seine Haare blond oder schwarz?

Nicht einmal seine Augen sehe ich vor mir.

Das einzige, wessen ich mir sicher bin, ist die Leere, die in ihnen lag.

„Allen.“ Schwerfällig richtet sich Komui auf. „Vielleicht hat ihre Religion so ein Verhalten vorgeschrieben für den Fall, der eingetreten ist. Es wäre nicht unüblich. Sie haben sich davor schon geopfert.“

Nicht die Kinder starben auf dem Friedhof, denke ich mir und will schmunzeln und mich gleichzeitig abgrundtief verdammen, da Komui tatsächlich versucht, die Schuld in all ihrem Gewicht woanders abzulegen.

„Ihr konntet es nicht wissen“, fährt er fort, doch verstummt, als ich die Hand hebe und ihn darum bitte.

Keine weiteren Worte. Wer sucht, findet sogar die kläglichsten Auswege.

Ich spüre, wie Rivers Aufmerksamkeit mich streift. Der Ausgang in Bingen war ein Thema, von dem nur Kanda, Komui und ich wussten. Aus einer offiziellen Mission wurde ein Geheimnis und vermutlich hätte nie jemand nachgefragt. Nun jedenfalls hebt sich der Vorhang und nicht nur River genießt mit einem Mal freie Sicht auf die Wahrheit. Auch Lavi tut es.

Sie alle hören, was ich zu sagen habe, doch es kümmert mich nicht. Seit ich dieses Wort erfasste inmitten all des Papiers, fokussierte sich mein Denken und Fühlen in eine einzige Richtung. Im Moment geht es auch nicht um Fragen der Schuld, denn es ist offensichtlich, wer sie trägt, also keine Verschwendung von Zeit und Worten. Was für mich hier und jetzt eine Rolle spielt, ist eine einzige Begebenheit.

„Kanda darf nicht davon erfahren.“

Komui neigt sich zur Seite, reibt sich den Mund. Es ist ein Widerspruch, den er hinter seiner Hand versteckt und erneut fühle ich mich wie ein geblendeter Bengel, der von zu hohen Zielen träumt. Dennoch strecke ich mich diesem Licht entgegen, strecke mich auch durch Maries Worte und unser Bündnis, Kanda einen Schutz zu gewähren, nach dem er niemals selbst suchen würde.

„Er wird fragen“, dringt Komuis leise Stimme zu mir. „Und er wird wissen, wenn ich ihm etwas verheimliche. Und wenn ihm diese Antwort nicht reicht, wird er sich selbst überzeugen.“

„Ich weiß“, würge ich hervor und wünschte, die Worte wieder hinabschlucken zu können, auf dass sie sich zersetzen und mir meinen Glauben lassen. Ich zische auf, reibe meinen Nacken und verberge nicht, was an Nervosität in mir aufsteigt.

Und wie könnte ich davon ausgehen, dass es mir anders erginge als Komui?

Im Gegensatz zu ihm bin ich nicht immer so aufrichtig, wie ich wirke, und der Meinung, diese Kunst annähernd gemeistert zu haben. Kanda fiel es damals jedenfalls spielend leicht, mich von meinem Thron zu ziehen und mir vor Augen zu führen, dass meine Masken für ihn annähernd unsichtbar waren. So wird er nicht nur Komui durchschauen, sondern bei mir nicht viel mehr Kraft einbüßen, um dasselbe Resultat zu erzielen.

Nur ein Zögern, nur ein flüchtender Blick und er wird wissen, wo er den Hebel anzusetzen hat, damit ich ihm unbewusst alles verrate, was er glaubt, wissen zu wollen.

Ich senke den Kopf. Noch immer klammert sich meine Hand in den Nacken und dann stehe ich dort, mit geschlossenen Augen die eigenen Gedanken jagend, konzentriert und angespannt, als ginge es um ein Leben und dessen Ende.

„Er wird bestimmt bald wieder aufbrechen wollen“, sage ich und muss mich begnügen mit dieser vorläufigen Lösung. „Gib ihm eine Mission und übersteh die wenigen Minuten, damit ihm kein Verdacht kommt. Und schick mich woanders hin, damit ich Zeit habe, um nachzudenken.“

Somit gelange ich an einen Punkt, von dem ich nicht einmal glaubte, er würde existieren.

Ich bitte Komui darum, nicht an Kandas Seite sein zu müssen.

Vermutlich gäbe es noch andere Gedanken in mir, würde ich mich nicht so fürchten vor der Gründlichkeit der annähernd schwarzen Augen.

Komuis Hand erreicht vereinzelte Missionsmappen. Wortlos streift er die obere zur Seite und blättert in einer anderen. Natürlich weiß er, dass wir aus der Not heraus handeln und gedankenlos wie ein Tier, das sich verzweifelt aus einer Falle zu befreien versucht.

Sich das Bein abzubeißen, ist derzeit wohl das klügste.

„Ich hätte euch morgen früh nach Schweden geschickt“, murmelt Komui in den Text vertieft. „Stattdessen wird Crowley ihn begleiten und du übernimmst seine Mission.“

Ich nicke, akzeptiere jeden Weg, der sich zur Flucht eignet und selbst vor dieser Situation ziehe ich mich rasch zurück. Ein letztes Nicken sende ich in Komuis Richtung, bevor ich mich abwende und gehe. Es ist eine Geste, die zu erbaulichen Entschlüssen passt und zur Lösung eines Rätsels. Als hätten wir eine Antwort gefunden, mit der sich arbeiten lässt, doch als ich mich abwende klafft hinter mir dasselbe schwarze Loch.

Nach einem kurzen Zögern folgt mir Lavi und wie schweigend halten wir uns nebeneinander, als wir die Alltäglichkeit der Wissenschaftsabteilung hinter uns lassen. Dieselben Geräusche und Stimmen formen hier einen Alltag, den nur das Holz einer Tür von grausamen Tatsachen trennt.

Als die kühle Luft des Flures mich erreicht, machen sich meine Zähne absent an meinem Daumen zu schaffen. Meine Augen bieten mir das Bild des Bodens und erst als ich die Intensität eines Blickes spüre und die erwartungsvolle Leere, die gefüllt werden will, erinnere ich mich an Lavis Gegenwart. Die Hände in die Hüften gestemmt, steht er neben mir und eine Weile sehe ich ihn nur schweigend an.

Ihn von dieser Wahrheit abzuschneiden, wäre unmöglich gewesen. Ihre bloße Gegenwart wiegt schwer genug und so atme ich tief durch und bitte ihn mit einer knappen Kopfbewegung, mir zu folgen.
 

Leer und lautlos erstreckt sich die Trainingshalle um uns, nachdem wir auf eine der Bänke sanken und während ich mich umsehe, erinnere ich mich unweigerlich daran, wie wir alle Zeit an diesem Ort verbrachten. Es ist noch nicht lange her, dass wir hier eine seltene Gemeinschaft und ebenso seltene Freude fanden und wie bizarr ist die Tatsache, dass mich eine einzige Neuigkeit so endlos weit von diesen Gefühlen entfernt. Ich spähe zu einem der Sandsäcke, auch zu den bereits leicht abgenutzten Matten, auf denen Kanda sich bewegte und dann atme ich tief durch, straffe die Schultern und schöpfe tiefen Atem. Lavi schweigt noch immer, denn von ihm werden keine Worte erwartet.

Der Zufall führte ihn zu dieser Angelegenheit und ließ ihn ein Teil von ihr werden. Durch seine bloße Gegenwart scheint er selbst mit einem Mal infiziert mit der Dunkelheit von Bingen. Als hätte ein minimaler Kontakt gereicht mit dieser widerwärtigen, hochansteckenden Begebenheit.

Doch es ist in Ordnung, schätze ich. Wenn auch nur durch den Vergleich mit der ausschlaggebenden Problematik, die jeder anderen die Schwere nimmt.

Vielleicht ist Lavi derzeit der beste Mitwisser, denke ich mir, abermals an meinem Daumen zugange, denn hinter seinen unüberlegten, von Sorglosigkeit zeugenden Worten und Witzen, erstreckt sich eine absolut durchdachte Tiefe, die ich hin und wieder aus den Augen verliere.

Zu manchen Zeiten wird sie zum Feind, der mich durchschaut, in die Irre führt und eiskalt erwischt, doch überwiegend empfinde ich die verborgene Reife Lavis als treuen Verbündeten. Also beginne ich irgendwann zu erzählen und Lavi zu eröffnen, was in Bingen geschah und was Kanda und ich taten, da wir es für das Richtige hielten.

Es ist kein Material für lange Ausschweifungen. Die Geschichte bleibt kurz und in dieser Fassung möglicherweise gnadenlos und Lavi regt sich nicht, während er zuhört. Sein Auge durchdriftet konzentriert die Umgebung, scheinbar ohne etwas zu erfassen und er deutet das Nicken nur an, als ich verstumme.

Flüchtig mustere ich ihn, doch sein Kopf scheint noch beschäftigt, als würde er jede Tatsache in ihre Einzelteile zersetzen und durchdenken. Letztendlich sagte ich ihm die Wahrheit wohl nicht nur, weil er sie verdient und ohnehin eingefordert hätte.

Vielleicht kommt es mir auch gelegen, die Ansicht eines Menschen zu hören, der weitaus weniger involviert ist, ob nun mit Bingen selbst oder mit Kanda.

„Mm.“ Unter einem unschlüssigen Brummen erwacht Lavi kurz darauf zum Leben.

Er atmet tief durch, reibt sich die Wange und flüchtig begegnen sich unsere Blicke, bevor ich ein Zucken an seinem Mundwinkel wahrnehme. Es lässt sich nicht definieren, erlischt binnen eines Augenblickes und ernüchtert erinnere ich mich an die Tatsache, dass auch Lavi sich nicht durchschauen lässt, wenn er es nicht möchte.

„Heikel, solche Angelegenheiten“, murmelt er kurz darauf, als würde er mit sich selbst sprechen. „Heikel in dem Sinne, dass es keine Antworten gibt, wenn man Fragen stellt, sondern nur weitere Fragen.“

Als ich zu ihm spähe, lehnt er sich zurück, als würde er nach Bequemlichkeit suchen.

„Haben die Menschen daran geglaubt, weil sie es wirklich wollten oder allein durch die Drogen? Und wenn sie den Glauben tatsächlich für sich annahmen, ist es nicht ihr Recht, sich für ihn das Leben zu nehmen? Waren die Kinder unschuldig oder nur die unausgereifte Version der großen Fanatiker? Hätte der erste Finder sich nicht einmischen dürfen?“ Er erwidert meinen Blick annähernd unbeteiligt. „Habt ihr richtig gehandelt? Hätte ich dasselbe getan?“

Seine Schultern heben und senken sich unter einem tiefen Durchatmen, bevor er gegen die Rückenlehne der Bank sinkt.

„Allen“, seufzt er dann. „Ich weiß es nicht und könnte es auch nie, weil ich Spekulation nicht ausstehen kann. Ihr wart dort, ihr habt die Atmosphäre gespürt und die Menschen gesehen. Dann habt ihr reagiert. Nach bestem Wissen und Gewissen. Hättet ihr ahnen können, dass es jetzt dazu kommt? Lassen wir die Fragen. Das einzige, was ich mit Gewissheit sagen kann, ist Folgendes. Ihr habt euch keinen einfachen Weg ausgesucht, denn niemand kann euch Absolution erteilen. Vielleicht ist es sogar der schwerste, denn die einzigen, die euch begnadigen können, seid ihr selbst und genau da liegt die Hürde, denn der Weg führt geradewegs bergab, wenn Selbstbelügung im Spiel ist.“ Er juckt sich das Kinn, während ich ihn nur ansehe.

„Vielleicht solltet ihr nicht zu viele Faktoren einbeziehen. Seht die Situation nüchtern, seht die Fakten und akzeptiert, was euch euer Gefühl sagt. Ist euer Gewissen leicht, dann macht es nicht schwerer. Und wenn ihr tatsächlich einen Fehler begangen haben solltet, dann müsst ihr lernen, mit ihm zu leben.“ Er begegnet meinem Blick und deutet ein Lächeln an. „Keiner von uns kann dieses Leben führen, ohne Fehler zu machen. Das wäre zu viel verlangt, denkst du nicht?“

Die leisen Flügelschläge Tims nähern sich mir und reglos verfolge ich, wie sich der Golem auf meinem Schoß niederlässt. Wieder und unweigerlich beneide ich ihn um seine emotionslosen Schaltkreise.

Neben mir streckt sich Lavi. Er gähnt, streckt auch die Beine und kreuzt sie.

„Und was unseren holden Herrn angeht“, fährt er dort. „Ob ihr es vor ihm verheimlichen könnt, spielt meiner Meinung nach keine Rolle. Auch nicht, ob er die Wahrheit erfahren sollte. Aber wenn du sie für dich behältst, geht vermutlich das ganze Gewicht auf dich über und macht es dir noch schwerer, eine ehrliche Antwort zu finden. Das ist das, was ich denke. Der Rest geschieht schon von selbst.“

Noch immer betrachte ich mir Tim.

Auf mein Gefühl hören, sagt Lavi, dabei weiß er nicht, wie zerrüttet das Land meiner Empfindungen ist.

Manchmal ist es zu dunkel, um sich zu orientieren. Man kann sich nicht nach einem Licht richten, wenn es dieses nicht gibt.

In den nächsten Momenten grüble ich über seine Antwort. Auch darüber, ob ich zufrieden mit ihr bin oder ob eine schwache, kindische Ader in mir darauf hoffte, von ihm freigesprochen zu werden. Ein weiteres Mal agiert er erwachsener, als es mir lieb ist.

Er tätschelt meine Schulter und wir wechseln nicht mehr viele Worte, bevor Lavi sich auf die Suche nach Bookman macht. Auch er hat seine Angelegenheiten. Er mustert mich ein letztes Mal, wohl um sicherzugehen, dass er mich wirklich alleine lassen kann, doch ich lächle und nehme ihm die Verantwortung und setze kurz darauf alleine in der Halle. Die Hand auf Tim gebettet verliere ich mich wieder in der Betrachtung der Leere, die mich umgibt.

Vermutlich hat Lavi Recht. Die Gedanken darauf zu fixieren, die Angelegenheit vor Kanda zu verheimlichen, kommt einer Verschwendung gleich. Es endet alleine in einem Hinauszögern und wenn der Moment kommt, werde ich keine Lösung kennen und keine Möglichkeit haben, mich an den Schwur zu halten, den ich mit Marie beschloss. Ein weiteres Mal wird sich ein Gewicht auf Kanda senken, ohne dass wir ihn beschützen konnten und wie bitter stößt mir der Gedanke auf, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Damit ist es nicht getan.

Vielleicht sollte ich mit Marie sprechen, denke ich, als ich irgendwann aufstehe und die Halle verlasse, doch letztendlich handelt es sich wohl auch bei dieser Sehnsucht nur um eine Sehnsucht nach einer leichten Lösung.

Was könnte er schon sagen und welchen neuen Weg eröffnen?
 

Die Abendstunden verbringe ich alleine, teile die Zeit nur mit endlosen Grübeleien und vermeide jeden Schritt, der mich zu Kanda führen könnte. Ich bat Komui nicht um Distanz, um mich ihm auszuliefern und auch diese Tatsache nagt an mir, denn es geschah nicht oft in letzter Zeit, dass wir gemeinsam hier waren und genug Gelegenheiten zur Verfügung standen. Stünden die Dinge anders, wäre ich an seiner Seite, pausenlos und jeder Sekunde mit Dankbarkeit huldigend.

Stattdessen sitze ich in meinem Zimmer, reglos wie ein Schatten und auf die Wand starrend. Als es dämmert, trete ich in den Speiseraum und das nicht sehr zufällig zu einer Zeit, zu der Kanda nichts mehr zu sich nimmt. Ich esse lustlos und ungestört und sehe anschließend wieder diese Wand vor mir und die Dunkelheit auf der anderen Seite meines Fensters.

So kaure ich auf der Bettkante, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt und wieder bewege ich mich nicht, während mich hin und wieder Tims Flügel streift.

Gedanken verändern sich nicht, wie man sie auch dreht und wendet. Sie können es auch gar nicht, wenn frischer Wind von außen fehlt und das einzige, worauf ich irgendwann treffe, ist der nüchterne Boden der Tatsachen, den ich in all den Stunden nicht sehen wollte. Unter einem tiefen Durchatmen schließe ich die Augen und bette die Stirn auf meinen Händen.

Wenn ich die Situation häute, gnadenlos Schicht um Schicht abtrage und mich dem stelle, was sie unter sich verbargen, dann bleibt eine einzige Frage übrig.

Wen schütze ich mit dieser Distanz?

Mich oder ihn?

Ich presse die Lippen aufeinander. Selbstlosigkeit lässt sich schnell vergessen, wenn man glaubt, einer Sache nicht gewachsen zu sein und unter einem ernüchterten Kopfschütteln komme ich auf die Beine und verlasse mein Zimmer. Ich bewege mich sicher und zielstrebig, denn der Weg vor mir offenbarte sich. Es ist der schwere Pfad, den ich beschreite.

Schwer, da er richtig ist.

So betrete ich die Wissenschaftsabteilung, grüße meine teilweise wachen Freunde mit einem flüchtigen Lächeln und stehle mich ohne ein Wort in Komuis Büro. Er gehört nicht zu den letzten Überlebenden, wie mir sein leises Schnarchen verrät. Es verbirgt sich hinter der Rückenlehne des Sofas, lässt sich nicht stören durch das Rascheln des Papiers, als ich näher trete und dann stehe ich dort und bemitleide ihn, da er es aus diversen Gründen wieder einmal nicht bis in sein Bett schaffte. Seine Haltung sieht ungemütlich aus. Aus Erfahrung weiß ich auch, dass die Armlehne sich nicht als Kopfkissen eignet.

Und ich zögere nicht. Ihn schlafen zu lassen, wäre eine demütigende Entschuldigung, um von meinem Weg abzukommen, also rüttle ich an ihm.

„Komui.“ Ich tätschle seine Schulter und bin eine Weile an ihm zugange, bis er zum Leben erwacht, bis er sich zu regen beginnt und seine müden Augen mich erfassen. Er braucht einen Moment, um die Wirklichkeit zu erreichen und ich stelle sicher, dass er es tut.

„Ich bin wach“, ächzt er, als ich erneut an ihm rüttle und dann rappelt er sich auf. Flüchtig betastet er seinen Kopf, doch das Barrett rutschte zu Boden und beiläufig hebe ich es auf. Unter meiner konzentrierten Fixierung nimmt er es entgegen. „Wie spät ist es?“

„Zu spät“, sage ich nur und spähe flüchtig zum Schreibtisch und zu den Missionsakten. „Komui, hör zu. Bist du wach? Es ist wichtig.“

„Ich bin wach“, versichert er mir abermals, offenbar ein Gähnen unterdrückend. „Was ist los?“

„Ich nehme die Mission mit Kanda“, antworte ich und sehe, wie er perplex das Gesicht verzieht. „Morgen. Ich gehe mit ihm nach Schweden und Crowley behält seine Mission. Es bleibt, wie es war.“

„Was?“ Er reibt sich die Augen, die Stirn. „Bist du sicher?“

„Ich bin sicher. Mehr wollte ich gar nicht.“ Somit tätschle ich seine Schulter. „Geh ins Bett, Komui.“
 

In der kühlen Luft der steinernen Gänge bin ich zu einem tiefen Durchatmen imstande. Der erste Schritt ist getan und das Gefühl so, wie ich es erwartete.

Diverse Geschehnisse sind uns bereits zu Füßen gelegt, denke ich, während ich mich von meinen Beinen tragen lasse. Wir werden ihnen begegnen und die einzige Wahl, die uns bleibt, besteht daraus, wie wir es tun.

Ob die Tatsachen uns eiskalt erwischen, da wir die Augen vor ihnen verschlossen oder ob wir sie kampfbereit erwarten.

Wenn die Tatsachen Kanda erreichen, ihn möglicherweise eiskalt erwischen, da er nicht von ihnen wusste, werde ich wenigstens an seiner Seite sein und kampfbereit.

Ich reibe meine Augen, gleite mit den Händen in meinen Nacken und erfasse die Tür, der ich mich nähere.

Was mich erwartet, das weiß ich nicht, doch mit Selbstvorwürfen im Nachhinein bin ich vertraut und niemals wäre ich in der Lage, Kandas Seele in die Waagschale zu legen für einen weiteren Versuch, das Schicksal zu hintergehen.

So greife ich nach der Klinke, so öffne ich die Tür und lasse Tim mit durch den Spalt schlüpfen, bevor ich die Pforte hinter mir schließe. Die Luft, die ich mit einem Mal atme und auch die annähernd lautlosen Atemzüge meines schlafenden Freundes scheinen mich zu begrüßen, mich fast zu liebkosen, als wollten sie mir danken für die Entscheidung, die mich hierherzog.

Ein Lächeln zuckt an meinem Mundwinkel, als ich zu dem Bett trete, mich beiläufig von meiner dünnen Jacke befreiend und aus den Schuhen schlüpfend. Die Dunkelheit mit den Augen erforschend, streife ich von mir, was ich nicht benötige und nur flüchtig spüre ich, wie mir sein Blick begegnet. Mich anzuschleichen, gelang mir noch nie, doch es bleibt nur ein Moment, bevor sich seine Lider wieder senken. Sein ausgestreckter Arm gibt einen Teil der Matratze frei und er scheint bereits zurück zu driften, als ich in den warmen, behüteten Kern eintauche, die Decke über mich streife und sofort Bequemlichkeit finde.

Ich bette den Kopf auf dem Kissen, nur darauf wartend, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen und so lichtet sie sich Stück für Stück und lässt mich ihn erkennen. Dass er auf dem Bauch liegt und sein Gesicht mir zugewendet ist. Selbst die langen Strähnen seines Haares figuriere ich bald aus der Finsternis heraus und ich zögere nicht, bevor ich eine von ihnen mit den Fingern erreiche und zurückstreife. Sie störte meine Betrachtung, wiegte sich vor seinem Mund unter jedem Atemzug und wie absent ergebe ich mich der Versuchung, ein weiteres Mal durch seinen Schopf zu streichen. Wie Seide gleiten seine Strähnen über meine Haut und unter der dezenten Wärme seines Atems schließe ich irgendwann die Augen.

Hier an diesem Ort und mit dieser Nähe ist das, was hinter mir liegt, kaum noch nachvollziehbar.

Dass ich tatsächlich nach Distanz suchte und mich aus dieser Wärme stehlen wollte, die wie ein beruhigender, inniger Strom jede Faser meines Körpers zu durchfluten scheint. Es gibt keine Momente in meinem Leben, in denen ich mich wohler fühle und als handle es sich um eine seltsame Gunst, fällt es mir schwer, in den Schlaf zu finden. Zu fixiert bin ich auf diese Wärme, zu intensiv spüre ich das Kitzeln seines Atems auf meinem Gesicht und Stunden um Stunden scheinen bereits an uns vorbeigezogen zu sein, als ich abermals die Augen öffne.

Eine Bewegung erfasste mich, auch die Atemzüge verloren ihre Gleichmäßigkeit und wie lange verfolge ich das unscheinbare Zucken seiner Lider. Seine Finger regten sich, strichen ziellos über den Stoff des Lakens und auch seine Lippen formen bald stumme Worte, die mich nicht erreichen.

Wieder begegnen ihm Bilder in einer Welt, in die ich nicht gelange. Es geschieht nicht selten, dass plötzliche Unruhe ihn ausfüllt. Auch nicht selten, dass ich zum Beobachter werde, doch nicht zu einem, der es akzeptiert, unbeteiligt zu bleiben.

Wie blind findet meine Hand zu seinem Rücken und bettet sich auf dem dünnen Stoff, der unsere Haut voneinander trennt. Dennoch spüre ich das Leben und das abrupte, leichte Zucken der Muskeln. Permanent, während meine Hand höherstreicht und zu seinem Kreuz, auf dem ich beruhigende Kreise zu ziehen beginne.

So dünn das Band auch ist, ich glaube ihn zu erreichen und wie lange berühre ich ihn, wie lange streiche ich über seinen Rücken, bis er sich unter meiner Hand und unter einem tiefen Durchatmen hebt und senkt.

Nur im Schlaf scheint er die Fähigkeit zu besitzen, sich wirklich fallen zu lassen.

Die alte Ruhe fließt zurück in seinen Körper, auf dem meine Hand bald darauf reglos gebettet liegt und so wie er zurückdriftet in die alte Tiefe, scheine ich ihm zu folgen. Ich werde schwer und verliere das Gefühl für alles, was ich liebe.
 

-tbc-

9

Sanft drifte ich zurück in die Realität, als das warme Licht der Morgensonne durch das Glas des Fensters dringt. Vorerst blendet es mich, lässt mich blinzeln. Meine Hand findet zu meinen Augen, reibt sie, während ich mich einem tiefen Gähnen hingebe. Der Tag beginnt friedlich. Ohne Eile oder die Bedeutung der Zeit, die stets zu schnell verrinnt in besonderen Momenten. Und dieser gehört zu ihnen.

Als ich abermals die Lider hebe, scheint die restliche Müdigkeit abrupt von mir zu bröckeln und wie wach und aufmerksam betrachte ich mir das schlafende, reglose Gesicht vor mir. Er liegt mir zugewandt und wie halte ich inne in jeder Bewegung, um das dünne Band des Augenblickes nicht zu stören. So heilig sind diese Anblicke, so selten. Meistens wacht er vor mir auf.

Die Decke wärmt ihn nur noch teilweise und auch sein Haar lässt mich befürchten, dass seine Nacht weniger Eintracht besaß als meine. Vielleicht hatte er abermals zu kämpfen, nachdem ich einschlief. In einer Ferne, in die ich nicht mehr hineinreichte.

Beiläufig spüre ich über meinem Kopf eine Regung. Tim nahm einen Teil der Matratze für sich ein. Sein Flügel streift meinen Schopf, doch ich beachte ihn nicht. Absent erreichen meine Finger meine Lippen und folgen ihrem Verlauf ziellos. Viel lieber würde ich sie nach Kanda ausstrecken, ihn erreichen und berühren, doch ich befürchte, ihn dadurch aufzuwecken und er ist kein Freund von zu aufdringlichem Starren.

Wider durchkämmt Tims Flügel mein Haar, bevor ich seinen runden Körper an meinem Kopf spüre. Er rückt näher, drängt sich gegen mich und stirnrunzelnd werde ich meine Betrachtung kurz untreu. Ich rege mich, versuche ihn zurückzudrängen, treffe jedoch auf Widerstand.

„Tim“, zische ich, als ich nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Zähne an meinem Kopf spüre. Er knabbert an meinen Haaren und augenrollend versuche ich all das auszublenden. Noch habe ich Gelegenheit. Noch ist der Moment nicht zerstört. So gebe ich mich wieder diesem entspannten Gesicht hin, betrachte mir die gesenkten Lider und stummen Lippen. Jedem Zentimeter der makellosen Haut will ich frönen, jedem feinen Haar der Brauen huldigen und ihrem Verlauf. Tim zieht an meinem Schopf, als ich vorsichtig die Hand nach einer störenden Strähne ausstrecke und sie aus seinem Gesicht streife. Ganz langsam und zögerlich, ohne auf seine Haut zu treffen. So streife ich die Strähne zurück, spüre das Kitzeln, als meine Haut seinem Haar begegnet und wie albern komme ich mir vor, wie hilflos und verfallen, als ich kurz darauf tief durchatme, seufze.

Ich bin der einzige, der ihn so sieht, der es darf und der das Bild endlos zu würdigen weiß. Vor niemandem sonst würde er jemals all seine Mauer niederreißen und niemand sonst würde diese Tatsache abgrundtief lieben.

„Tim!“ Unwillkürlich schneide ich eine Grimasse. Allmählich tut es weh. Er erzwingt meine Aufmerksamkeit, zwingt meine Hand zu ihm und kaum habe ich ihn ertastet, da schließen sich seine Zähne um meine Finger.

„Hör auf damit“, zische ich erneut, doch erstarre in blankem Schrecken, als Kanda unter einem tiefen Atemzug zum Leben erwacht. Er regt sich nur flüchtig, regt den Kopf auf dem Kissen und starr lasse ich Tim auf meiner Hand kauen. Der Moment darf noch nicht enden. Ich muss ihn verteidigen, doch gleichzeitig meine Hand befreien. Ich brauche sie, denn mein Verlangen beschränkt sich nur kurz auf meine Augen. Nur wenige Augenblicke und ich werde hungriger und muss ihn abermals berühren.

Die Augen konzentriert auf sein Gesicht gerichtet, versuche ich Tim loszuwerden und wie endlos wirkt die Zeit, bis ich es schaffe. Dann dränge ich den Golem über die Kante der Matratze und lasse ihn hinabrutschen.

„Bleib weg“, warne ich ihn noch, bevor ich mir die leichten Zahnabdrücke auf meiner Hand betrachte, doch das Gefühl des Sieges ist von kurzer Dauer, denn abermals regt sich Kanda vor mir.

Er schürzt die Lippen. Seine Hand gleitet unter das Kissen und nur kurz meine ich das Zucken seiner Lider zu erkennen, da erreicht ihn meine Hand und bettet sich auf sein Ohr. Warm decke ich es zu, doch übe ebenso einen leichten Druck aus, als könne ich ihn dadurch zurückdrängen und aus der Realität.

„Schlaf.“ Unwillkürlich verlieren sich meine Finger in einem leichten Kraulen. „Es ist viel zu früh zum Aufwachen. Bleib liegen. Bleib genauso liegen.“

Eine eindeutige Regung zieht durch seine Mimik und augenrollend streichle ich ihn weiter.

Er taucht auf und er ist nicht begeistert. Ich bin es auch nicht, als sich die leisen Flügelschläge Tims im Zimmer erheben und sich kurz darauf sein Körper in all seinem Gewicht auf meinen Kopf senkt. Er lässt sich nieder und es dauert nicht lange, da senkt sich einer seiner Flügel vor meine Augen. Das Bild des schlafenden Gesichtes wird dunkel. Unter meiner Hand spüre ich die erneute Regung Kandas.

„Tim!“ Verbittert bewege ich den Kopf, versuche ihn hinabrutschen zu lassen und als sich sein Flügel von meinen Augen hebt, sehe ich Kanda blinzeln.

„Was wird das?“ Nur undeutlich erreicht mich sein Murren und umso konzentrierter kraule ich ihn weiter.

„Scht. Nicht reden.“

Endlich erhebt sich Tim wieder in die Lüfte. Er lässt mich in Ruhe, der stille Frieden kehrt zurück mit all seinen Gelegenheiten, doch zersplittert unter Kandas zermürbten Brummen. „Was zur Hölle…“

„Du sollst still sein und schlafen!“

Und natürlich heben sich seine Lider. Der seltene Moment verfliegt, zurück bleibt eine provokante Brise des Vergangenen und kaum sieht er mich an, geradlinig und durchaus bitter, da ächze und kapituliere ich. Während seine Augen ein Loch in mich brennen, löse ich mich von ihm und sinke stöhnend auf den Rücken.

„Es ist ganz schön selbstsüchtig von dir, meinen Egoismus nicht zu beherzigen.“ Ernüchtert reibe ich mein Gesicht und werde auf Tim aufmerksam, der über uns flattert. „Hoffentlich bist du jetzt zufrieden.“

Neben mir stemmt sich Kanda in die Höhe. Er will vermutlich aufstehen, denn der Halbschlaf existiert in seinem Leben nicht. Entweder er schläft oder er ist wach und in wachem Zustand kann man sich ebenso gut in Bewegung setzen.

Resigniert verfolge ich, wie er sich das Haar zurückstreift.

Der Tag begann vielversprechend, doch die weitere Entwicklung ist mit einem Mal genauso fragwürdig wie die Zuneigung, die Tim in nächster Zeit erhalten wird. Die Decke, von der Kanda sich befreit, bekomme ich ins Gesicht und als ich sie von mir streife, da rutschte er zur Bettkante.

Stoisch bemerke ich, wie sich Tim erneut mit meinen Haaren befasst und es gibt keine positiven Erwartungen mehr in mir, als Kandas schwarzer Golem auf dem Tisch abrupt zum Leben erwacht und sich flatternd in die Luft erhebt. Eine weitere Störung. Eine schlimmere, eine endgültige.

Ich bleibe liegen und lasse Tim an mir zerren, während sich das kurze Rauschen der Verbindung erhebt und anschließend die Stimme, die ich erwartete.

„Guten Morgen, Kanda.“ Komui hört sich an, als würde er selbst noch schlafen. „Hoffentlich habe ich dich nicht geweckt.“

Kanda antwortet mit einem Murren, das klingt, als hätte es etwas mit mir zu tun und augenrollend winke ich ab, denn ich bin nicht nur unschuldig, sondern auch der Hauptleidtragende.

„Wie auch immer“, übergeht Komui die gewohnte Reaktion. „Es gibt eine Mission. Kommst du in einer Stunde zu mir?“

„Mm“, brummt Kanda nur und nach wenigen weiteren Worten beendet Komui die Verbindung.

Das Rauschen verstummt, flatternd sinkt der Golem zurück auf den Tisch und in der kurzen, darauffolgenden Stille streift sich Kanda das Hemd über den Kopf. Eine Bewegung, die mir nicht entgeht und betrachteten sie sich gerade noch stoisch die Wand, driften meine Augen abrupt zur Seite.

Als würden sie gelockt von diesem Rücken, den sie doch schon oft sahen. Trotzdem zelebriere ich jede Gelegenheit und wie entrückt betrachte ich mir die Regungen seiner Schulterblätter und den Verlauf seiner Wirbelsäule.

Irgendwo in der Realität erhebt sich abermals ein Rauschen, doch ich schenke ihm keine Beachtung. Viel zu faszinierend ist das Gleiten dieser langen Strähnen über die makellose Haut.

„Einen schönen guten Morgen, Allen“, glaube ich Komuis Stimme wieder zu hören. „Hast du gut geschlafen?“

Als sich Kanda das Haar über die Schulter streift, gehört meine Aufmerksamkeit den leichten Konturen seiner Rippen und dem wunderschönen Zusammenspiel mit den sich deutlich abzeichnenden Muskeln. Jede Bewegung bringt etwas hervor, das es wert ist, beachtet zu werden.

Absent löst sich meine Hand von der Decke und driftet der blanken Haut entgegen.

„Allen?“, dringen abermals ferne Geräusche zu mir. „Schläfst du noch?“

Fast habe ich sie erreicht. Ich meine bereits die Wärme des anderen Körpers auf meinen Fingerkuppen zu spüren und wie sehne ich mich danach, sie auf diese Haut zu setzen, sie zu spüren, ihr zu folgen, mich zu verlieren. Meine Augen sättigen mich nicht. Ich muss sie berühren.

Und Berührung gibt es, denn abrupt erreicht Kandas Hand mein Bein. Weder zögerlich noch sanft und wie zucke ich zusammen, wie blinzle ich mich wach und kehre zurück an den Ort, an dem mich Komui noch immer ruft.

„Ja!“ Zerzaust richte ich mich auf. „Ja, ich bin da.“

„Bist du das?“ Komui scheint amüsiert.

„Ja“, bringe ich abermals hervor. Mein Bein schmerzt und wie missmutig taste ich nach der Stelle.

„Reicht dir eine Stunde, um wach zu werden und zu frühstücken?“

„Ja.“

„Gut.“ Ein Schlürfen erhebt sich in der Leitung und wie bildlich sehe ich vor mir, wie er an der Kaffeetasse hängt. „Dann sehen wir uns nachher.“

Dann ertönt das kurze Rauschen, dann kehrt die Stille zurück und ächzend sinke ich auf die Matratze zurück.

Kandas Verhaltend entsteht entweder durch Gleichgültigkeit oder Naivität, denke ich, als ich abermals zu ihm spähe. Als wüsste er nach all der Zeit nicht, dass es mir in gewissen Situationen schwer fällt, mich auf etwas zu konzentrieren.

Er beugt sich hinab, tastet auf dem Boden nach seinen Schuhen und wieder handelt mein Körper ohne mein bewusstes Zutun. Als hätte meine Hand einen eigenen Willen, streckt sie sich abermals nach ihm aus, legt sich um seinen Oberarm und zieht ihn zu mir. Der Widerstand, den sie spürt, ist zu spärlich, um ernst gemeint zu sein und so ziehe ich ihn zu mir und schließe die Arme um seinen Hals. Wie schwer und warm sinkt sein Körper auf mich. Kitzelnd streift sein Haar meine Schulter und während ich tief und genüsslich seufze, dringt sein Brummen zu mir.

„Eine Stunde“, erinnert er mich. „Das ist ohnehin schon knapp für die Mengen, die du in dich reinstopfst.“

„Heute reicht mir eine halbe.“ Ich umschließe ihn fester, genieße seinen Geruch mit geschlossenen Augen und spüre, wie er sich mir ergibt.
 

Genügsam verfolge ich bald darauf, wie Komui sich einen Überblick auf seinem Tisch verschafft. Er wurde nicht viel ordentlich in letzter Zeit und so öffnet er eine schwarze Mappe, doch legt sie nach kurzem Durchblättern zur Seite, um nach einer anderen zu tasten. Seinem Haar zu urteilen, verbrachte er die vermutlich viel zu kurze Nacht auf dem Sofa, auf dem ich es bequem habe. Auch die Kaffeetasse ist längst leer und wie offensichtlich unterdrückt er ein Gähnen, als er fündig wird. Dann reibt er sich den Mund und rollt mit den Schultern, bevor seine Augen zu mir finden. Sie taten es öfter, seit wir den Raum betraten, doch offenbar kann er nicht länger hinabschlucken, was sie in ihm auslösen.

„Deshalb fragte ich, ob dir eine Stunde reicht“, spricht er es aus und die Hand in einer Papiertüte voller Muffins, Croissants und Donuts hebe ich die Brauen.

Ich bin nicht nur hier, um mit der Mission vertraut gemacht zu werden. Ich frühstücke, denn mein Besuch im Speisesaal fiel kurz aus und endete in allerhand schnellem Essen, das mich hierher begleitete. Zumindest trocknete ich meine Haare nach dem Duschen genug, um mein Gesicht vor Rinnsalen zu schützen. Kauend erwidere ich Komuis skeptischen Blick.

„Geht es dir gut?“

Ich nicke nur, denn mein Mund ist zu voll, doch gleichzeitig seufzt mein Befinden wohlig unter einem Gedanken. Komui hat nicht die geringste Ahnung, wie gut es mir geht. Entspannung erfüllt meinen gesamten Körper, Ruhe meine Glieder und eine friedliche Leere meinen Kopf. Es könnte mir nicht besser gehen, ganz gleich, was vor uns liegt.

„Na gut.“ Komui scheint überfordert zu sein, weshalb er sich den Mappen zuwendet.

Ich stiere indessen in die Tüte, schiebe einen Croissant zur Seite und erkenne stirnrunzelnd einen Blaubeermuffin. Der muss aus Versehen dazwischen gerutscht sein, denn Jerry weiß, dass ich die nicht besonders mag.

„Ich bitte euch, nach Faltning zu reisen, einer Kleinstadt in der Nähe Ljusdals.“ Als Komui eine kleine Landkarte zückt, tritt Kanda neben ihn. Sie betrachten sich das Papier, während ich nach einem Donut fische.

„Vor wenigen Wochen meldete sich ein dort stationierter Finder mit einem Verdacht und ich bat ihn, vorerst mehr Informationen zu sammeln, bis es genug Hinweise gibt, um der Sache nachzugehen.“ Beiläufig reicht Komui Kanda eine Mappe und kurz befreie ich mich von meiner Last, um auf die Beine zu kommen und die zweite an mich zu nehmen. Meine Finger hinterlassen eine dezente Spur von Schokolade auf der schwarzen Oberfläche.

„In der letzten Zeit wurden dort insgesamt vier Kinder als vermisst gemeldet und wenig später tot aufgefunden“, fährt Komui fort. „Der Finder nimmt an, dass es sich nicht um normale Entführungsfälle oder Serienmorde handelt, denn in diesem Zeitraum verschwanden ebenso drei der Mütter spurlos. Und zufälligerweise sichtete er vereinzelte Akuma in der Nähe des Stadtrandes.“

Beiläufig meine Finger von der Schokolade befreiend, bette ich die Mappe auf meinen Beinen und öffne sie.

Bisher klingt es nach einer Spur, die unsere Beachtung auf jeden Fall wert ist. Als würden die Puzzleteile perfekt ineinandergreifen und uns ein klares Bild offenbaren.

„Es gibt nur wenige Gefühle, die stärker sind, als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind“, höre ich Komui murmeln und blicke auf. „Wer wäre bereit, ihre Kinder zurückzuholen, wenn nicht sie?“

„In dem Fall könnte ein Broker involviert sein“, antworte ich und sehe Komui nicken.

Niemand befasst sich gern mit Angelegenheiten dieser Art, denke ich, als er gedankenverloren schweigt. Auch mich würde es endlos schwer machen, wäre ich nicht gerade so leicht. Alles in mir ist angereichert mit Zufriedenheit, Gleichmut und der Stärke, mich dieser Herausforderung stellen zu können. Es sind traurige Tatsachen, die uns in letzter Zeit begegnen und unweigerlich spähe ich zu Kanda und sehe ihn in seiner Mappe blättern.

Wie vielen ähnlichen Missionen begegnete er wohl schon in all den Jahren?

Es gibt keine unterschwellige Mimik in seinem Gesicht, keine Veränderung seiner Haltung. Als würden wir in den nächsten Tagen lediglich ein Innocence transportieren oder ein Lager bewachen. Wieder macht er den Eindruck, als müsse er gar nicht leicht sein, um sich vor der Tiefe zu schützen und unweigerlich erfasst mich das Bewusstsein, die kommende Mission als bedrohlich zu empfinden. Bedrohlich für ihn.

Als würde das Schicksal Marie und mir mit verächtlichem Hohn vor Augen führen, dass es in unserer Welt unmöglich ist, jemanden zu schützen.

Als bestünde unser Weg aus nichts anderem als schrecklichen Bildern.

Beinahe schrumpft der Ausgang in Bingen zu einem kleinen Faktor, der den anderen in nichts nachsteht.

„Der Finder wird euch morgen Abend am markierten Treffpunkt erwarten“, holt mich Komuis Stimme zurück in die Realität. „Er wird euch sämtliche Informationen geben und euch auf der Mission unterstützen. Meldet euch, wenn ihr Verstärkung braucht oder etwas anderes. Haltet mich auf jeden Fall auf dem Laufenden. Ich weiß nicht, wie groß und schwer diese Angelegenheit wirklich ist.“

Als ich auf die Beine komme, hinterlasse ich eine dezente Spur aus Krümeln, die den Zustand des Umfeldes dennoch nicht sichtbar verschlimmert. Flüchtig streiche ich über meinen dünnen Mantel und klemme mir die Tüte unter den Arm.

Wir können aufbrechen. Auch Tim erhob sich längst in die Lüfte und während Kanda um den Schreibtisch tritt, noch immer in die Mappe vertieft, da streifen mich Komuis Augen. Es ist ein spürbarer Blick, dem ich begegne und mit einem angedeuteten Lächeln antworte.

Er weiß von der Angelegenheit, die unausgesprochen über uns schwebt und ebenso auch von der Tatsache, dass sie wohl nicht mehr lange in Stille dahinvegetieren wird. Ich entschied mich, Kanda zu begleiten und einzusehen, dass mein Rückzug nicht nur auf Kandas Schutz basierte, sondern überwiegend auf meinem, da ich glaubte, nicht der Richtige zu sein für solche schweren Worte. Und ich irrte mich. Niemand besitzt mehr Recht und gleichzeitig Verpflichtung, sie auszusprechen.

„Macht‘s gut.“ Komuis Lächeln wirkt etwas matt, als er die Hand hebt, sich abermals in der Position wiederfindet, in der er uns der Gefahr entgegensendet und selbst sitzen zu bleiben hat in den Mauern voll Schutz und Entfernung. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als uns Glück zu wünschen, darum zu bitten, dass wir uns in jedem Fall melden und zu hoffen, dass wir es auch wirklich tun.

Während Kanda bereits auf dem Weg zur Tür ist, trete ich den Schreibtisch und wie perplex entspannt sich Komuis Miene, als ich den Blaubeermuffin im Meer aus Papier und Chaos ablege.

„Schenke ich dir.“

„Danke.“ Das kleine Gebäck scheint bei ihm tatsächlich etwas auszulösen. Vermutlich kam er bisher noch nicht zum Frühstück, vermutlich wird er es in absehbarer Zeit auch nicht und wie gerührt ist er, als er den Muffin an sich nimmt. „Ich habe tatsächlich Hunger. Das ist wirklich nett dir.“

Lächelnd hebe ich die Mappe und wende mich ab.

Zum Wegschmeißen wäre der Muffin auch wieder zu schade.
 

-tbc-

10

Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich nicht umhin, meinen Weggefährten zu mustern. Ich tue es öfter, flüchtend, mir einbildend, dass er es nicht bemerkt, da seine Augen ihrer Gewohnheit, sich ausschließlich auf das Ziel zu richten, nicht untreu werden.

Die Hand hin und wieder in der Tüte versenkend, kaue ich und tarne damit meine Schweigsamkeit. Es bleibt Zeit, die richtigen Worte zu suchen und zurechtzulegen. Zeit, daran zu glauben, dass es sie wirklich gibt.

Beiläufig reiche ich Tim einen Donut und spüre sofort, wie er meinen Fingern entgleitet, bevor sich das Flattern über meinen Kopf erhebt.

Was wir bieten, ist kein unnormales Bild, denn wir gehören nicht zu den Menschen, die das Wort dem Gedanken vorziehen. In der gemeinsamen Abgeschiedenheit meiden wir Gespräche nicht, aber bringen sie auch nicht hervor, um das Schweigen zu beenden.

Als ich hinter Kanda die angenehm kühle Bahnhofshalle betrete, ist Jerrys Proviant schon aufgebraucht und jeder Hunger gestillt. Raschelnd rutscht die Tüte in einen Mülleimer, bevor wir uns verschlingen lassen von den Geräuschen und Bewegungen dieses Ortes. Dampf kriecht zischend aus den Kurbeln eines ankommenden Zuges und über den steinernen Boden, über den wir ziehen. Reisende eilen vorbei und kurz lasse ich mich ablenken vom laut schallenden Flügelschlag einer Taube.

Diese Gleise zu erreichen löst bis heute ein seltsames Gefühl in mir aus, eine Mischung aus Fernweh und bedrohlicher Ungewissheit, die ich nicht näher zu definieren weiß.

Neben mir regt sich Kanda. Er vertiefte sich in den Fahrplan, späht flüchtig an mir vorbei und wie aufmerksam mustere ich ihn, wie erwartungsvoll das Driften seiner Augen verfolgend und kurz darauf, wie sie zu mir finden. Er sieht mich nicht an, schenkt lediglich meiner Uniform ein flüchtiges, missmutiges Interesse, dann erreicht mich seine Hand, dann spüre ich ihre flüchtigen Berührungen auf meiner Schulter und sehe, wie so einige Krümel von ihr rutschen.

Ein angedeutetes Kopfschütteln bietet er mir noch, bevor er an mir vorbeizieht. „Komm.“

„Jawohl.“ Ich schüttle meinen Arm und befreie den Ärmel von ähnlichen Mitbringseln, folge Kanda durch eine Gruppe ankommender Fahrgäste und genieße die Stille des Zuges, den wir kurz darauf betreten. Nur wenige Augen und Stimmen sind es, die uns erreichen, auch ein freies Abteil ist sofort gefunden und dann sitzen wir uns gegenüber. Tim schlägt auf meinem Schoß mit den Flügeln, während sich Kanda erneut in die Missionsmappe vertieft.

Er bietet ein vertrautes Bild, auch die vertraute Verhaltensweise, jede Einzelheit wissen zu wollen, bevor er sein Ziel erreicht. Seine Augen driften über jedes Wort, betrachten sich auch die Karte eine ganze Weile. Der Zug setzte sich längst in Bewegung. Auf der anderen Seite des Fensters zieht die Welt an uns vorbei, doch er beachtet sie ebenso wenig wie ich.

Meine Hände erreichten Tim, betteten sich auf ihm und erforschen ihn nun blind, während meine Augen auf mein Gegenüber gerichtet sind. Mein Interesse gilt Kandas Gesicht und stört sich nicht an der offensiven, annähernd provokanten Intensität, auf die er nicht eingeht. Er könnte meinen Blick erwidern und somit auch die Provokation, das auszusprechen, was ich verschweige. Es fühlt sich an wie eine Befürchtung, so haltlos, als wäre sie aus der Luft gegriffen und dennoch lässt sie mich nicht los. Ich fühle mich, als wäre er mir längst auf die Schliche gekommen. Selbst wenn ich gekonnt so täte, als würden wir uns im Alltag bewegen, in der Normalität, ohne dass etwas Unausgesprochenes über uns schwebt, ich befürchte, seine erbarmungslosen Sinne würden mir in den Rücken fallen, wäre ich mir meiner Deckung zu sicher.
 

Als wir am nächsten Tag in den Mittagsstunden eine abgelegene Haltestelle in der Nähe Ljusdals erreichen, trennt uns eine graue Mauer aus Regen von der Welt. In unserem Kern erreichen uns nur das laute Rauschen und die vor Feuchtigkeit geschwängerte Sommerluft. Es bleibt genug Zeit. Der Fußweg nach Faltning wird sich auf wenige Stunden beschränken und so tauchen wir ein in den Schutz der altersgrauen Überdachung und sinken auf die Holzbank. Hinter uns ein verschwommenes Feld, vor uns die leeren Gleisen und eine Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckt.

Unter einem tiefen Atemzug lehne ich mich gegen das Holz, strecke die Beine, kreuze sie und atme abermals die erfrischende Luft. Der Himmel über uns ist grau, von weitem erreicht uns sogar ein dumpfes Grollen. Das Gestein unter unseren Füßen ist ebenso farblos und trist und doch denke ich mir unweigerlich, wie ich diese Situation liebe. Die Welt um uns herum könnte nicht schöner sein in diesen Momenten. Es wirkt friedlich, dieses Unwetter.

Flüchtig streift mich Kandas Schulter. Er verschränkt die Arme, lehnt sich ebenso an und so sitzen wir nebeneinander und blicken in den Regen, in dem sich Tim flatternd bewegt.

„Ich mag solche Missionen nicht“, seufze ich irgendwann, fast unwillkürlich, als hätte sich der Gedanke seinen Weg in die Freiheit erkämpft. „Missionen, in die Menschen involviert sind. Angelegenheiten, unter denen Menschen leiden.“

Ich spüre, wie Kandas Augen zu mir finden. Er mustert mich, während ich Tim beobachte.

„Mit Akuma umzugehen, ist leichter“, fahre ich fort. „Da sind die Fronten klarer. Als wäre es ihr Schicksal, durch unsere Hand vernichtet zu werden.“

Kanda wendet sich wieder dem Regen zu.

„Wir kriegen in letzter Zeit viele solcher Fälle.“ Ich seufze. „Der Broker in Bangkok, der Priester in Bingen, jetzt das. Ich hoffe, der Finder hat sich geirrt.“

„Auf mich wirken die Fakten eindeutig“, erreicht mich Kandas Stimme.

„Eindeutig, ja.“ Ich rümpfe die Nase. „Hoffst du nie darauf, dass die Fakten manchmal täuschen?“

Neben mir lässt sich Tim auf die Bank sinken. Der Regen rinnt von seinem Körper, während Kanda ein undefinierbares Brummen von sich gibt. Seine Hand findet zu seiner Wange und reibt sie, bevor sie sich zum Kragen der Uniform senkt. Er macht den Eindruck zu grübeln aber es ist nicht die Antwort, die er abwägt.

„Mit Hoffnung beschäftige ich mich nicht“, liefert er sie mir. „Es ist leichter, die Tatsachen abzuwarten und dann auf sie zu reagieren. Das Bild ist immer klar und eindeutig. Man wird nie enttäuscht.“

„So weit bin ich noch nicht“, murmle ich.

Erneut bricht das Grollen durch die dicke Wolkendecke. Das Gewitter scheint sich zu nähern.

„Ich denke“, seufze ich, „dieser Zug ist typisch menschlich. Verstehst du, gerade unsympathische Situationen deutet man doch gern anders. Vielleicht sind sie nicht so schlimm, wie sie im ersten Moment wirken? Vielleicht täuschen sie auch komplett?“ Ich blähe die Wangen auf, schüttle den Kopf. „Die Fähigkeit, die du dir da angeeignet hast, ist so abartig wie sie bewundernswert ist.“

Wieder spüre ich eine Regung neben mir, gefolgt von einer Berührung, der ich gedankenlos nachgebe. Kandas Arm senkt sich in meinen Nacken, übt einen nur zu erahnenden Druck auf mich aus und wie ächze ich, als ich diese Stütze nutze und mich um ein Stück zu ihm lehne.

„Vermutlich macht es das wirklich leichter.“ Ich kreuze die Beine neu, bette den Hinterkopf auf seinem Arm. „Vielleicht sollte ich weniger nachdenken, sondern die Geduld entwickeln, die Dinge abzuwarten.“

„Dazu wärst du nicht in der Lage.“

„Denkst du?“

„So ein Mensch bist du nicht.“

Ich wende den Kopf zu ihm, sehe ihn an. Seine schwarzen Augen erforschen noch immer die graue Mauer vor uns. Und keine Regung seiner Miene, kein Zucken seiner Lippen. Nichts, das mir einen Hinweis geben könnte. Still ruht sein Arm auf meinen Schultern und eine Weile ist es nur das Rauschen und Grollen, das den Raum zwischen uns füllt. Ich spüre die Regungen seines Körpers unter jedem Atemzug, sehe ihn irgendwann blinzeln und den Blick zum Boden senken.

„Aber vielleicht“, erreicht mich dann seine Stimme, „ist deine Fähigkeit genauso bewundernswert.“

„Vielleicht.“ Absent beginne ich mich mit meinen Händen zu befassen, mit den Fingerkuppen über die schwarze Haut der linken zu gleiten. Die reine Luft scheint meinen Kopf klar und leicht zu machen. Die Gedanken sind sichtbarer, lassen sich ebenso leichter führen und letztendlich fällt es mir nicht schwer, erneut das Wort zu ergreifen. „Fällt es dir dadurch leichter, mit den Erlebnissen umzugehen?“

Als bestünde seine Haut aus glattem Stahl, kommt es mir in den Sinn, und als wären all die Dinge, die er sieht und erfährt, nichts weiter als Regen, der an dieser Oberfläche abperlt. Als könnte kein Wind ihn zum Straucheln bringen.

Vielleicht würde ich dieses Bild akzeptieren, wenn Marie mich mit seinen Worten nicht gebeten hätte, die Eindeutigkeit der Dinge anzuzweifeln. Eine stählerne Haut ist undurchdringlich, sie lässt nichts hinein aber auch nichts hinaus. Es ist als hätte Marie etwas in Kandas Stimme gehört, wofür meine Ohren zu taub sind.

Er schweigt zu meiner Frage, tut es lange und natürlich suche ich nach dem Grund.

Kennt er die Antwort oder missfällt sie ihm?

Missfällt ihm schon die Frage oder sucht er wiederum nach meinem Grund, sie ihm zu stellen?

„Was spielt das für eine Rolle?“, murmelt er irgendwann. Seine Finger beginnen absent den Stoff meiner Uniform zu erforschen. „Den Erlebnissen ist unsere Reaktion egal. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit ihnen umzugehen.“

Ich atme tief ein, tief aus, nicht sicher, ob ich mit dieser Antwort zufrieden bin.

Seine Offenheit ist stets gut getarnt und teilweise der Interpretation überlassen.

„Wir haben viel seltener die Wahl, als wir denken“, sagt er noch, bevor er seinem alten Schweigen verfällt.

Doch wieviel Raum bildet diese Ansicht in ihm?

Genug, um sie mit all den Grausamkeiten zu füllen, ohne dass sie die Oberfläche erreichen?

Ich presse die Lippen aufeinander, noch immer auf meine Hände starrend. Für den Bruchteil einer Sekunde wird die Welt in ein kaltes Licht gehüllt, als ein Blitz über den Himmel zuckt und dann verfolge ich das träge Treiben der Wolkendecke. Kandas Hand verharrt mittlerweile wieder reglos.

Der Regen verliert nicht an Stärke, auch das Grollen erstreckt sich bald darauf direkt über uns, doch ich habe es ohnehin nicht eilig, den Weg fortzusetzen.

„Ein heißer Kakao wäre jetzt toll“, seufze ich. „Was hättest du gerne?“

„Besseres Wetter.“

„Wir haben Zeit.“ Träge taste ich in meiner Gürteltasche und ziehe eine kleine Uhr hervor. Wir könnten weitere Stunden hier sitzen und würden es trotzdem pünktlich schaffen. Ich rümpfe die Nase. „Oder willst du nur weiter, weil du Hunger hast?“

„Ich will weiter, um mit den Recherchen zu beginnen.“ Er achtet nicht auf mein resigniertes Stöhnen. „Warum sollten wir erst damit beginnen, nachdem wir den Finder getroffen haben?“

„Ja, warum?“, antworte ich. „Und warum sollten wir nicht erst etwas essen, bevor wir Recherchen beginnen oder den Finder treffen?“

„Du kannst dich in der Stadt gern auf den erstbesten Stand stürzen und nachkommen, sobald du in der Lage bist, nützlich zu sein.“

„Wenn ich dir so zuhöre, frage ich mich wirklich, wieso sich alle so darum reißen, mit dir auf Mission zu gehen.“ Erschrocken halte ich inne. „Oh, Verzeihung, ich habe dich verwechselt. Keiner reißt sich darum. Ich frage mich wieso.“

„Mm.“ Es ist ihm egal und naserümpfend werde ich meiner alten Betrachtung wieder treu.

Es lässt sich aushalten, denke ich mir bald darauf, denn Momente wie dieser sind selten.

Diese Bank, mitten im Nirgendwo, gehört uns. Ich spüre das Gewicht seines Armes im Nacken, wenn ich mich konzentriere sogar die leichten Bewegungen seiner Rippen unter den entspannten Atemzügen und den Rest der Wartezeit verbringen wir überwiegend schweigend.

Während das Gewitter über uns hinwegdriftet, der Regen an Kraft verliert und als das letzte Wasser von der Überdachung rinnt und plätschernd den tristen Boden erreicht, lösen wir uns schlussendlich von dieser Situation und kommen auf die Beine. Endlos wäre ich sitzen geblieben, würden Zeit und Hunger keine Rolle spielen, doch als wir uns dann einen Weg durch das grüne Nichts bahnen, denke ich mir, dass weitere Gelegenheiten kommen werden.

Schließlich ist er bei mir und stets in einer Nähe, in der ich ihn erreiche.

Unter uns einen matschigen Boden, über uns noch immer den grauen Himmel, nähern wir uns Faltning und wie unbeschwert fühle ich mich, wie selten harmonisch bis in meinen tiefsten Kern. Ich atme die Luft des Augenblickes und als wir die Kleinstadt erreichen, empfinde ich selbst sie als hell und warm. Als wäre der Himmel blau. Als würde die Sonne scheinen.

So tauchen wir ein in ein neues Gedränge aus unbekannten Menschen, in ein Meer aus Eindrücken und Gerüchen und als würde Kanda meine leichte Stimmung teilen, lässt er eine kurze Wartezeit über sich ergehen, bis ich mir etwas Essbares besorgt habe. Zwei Stunden trennen uns noch von dem Treffen mit dem Finder und wie gleichmütig folge ich meinem Kameraden, als er seine Androhung umsetzt.

Kaum setzt er den Fuß auf diesen unbekannten Boden, fixiert sich alles in ihm auf die Suche nach Informationen. Als wären die Aussagen des Finders schlicht und ergreifend nicht relevant oder die Fragen, die er den Anwohnern bisher stellte, durch und durch sinnlos.

Die Hand in einer Papiertüte voll warmem Gebäck werde ich zu einem bequemen Teil des Geschehens. Zwar anwesend, doch sicher vor jedem Aufwand. Kanda kauft eine Zeitung, bei der Gelegenheit wird gleich der Straßenverkäufer befragt. Er stellt sich als sehr gesprächig heraus und während Kanda seine Worte auf das Wesentliche zu beschränken versucht, leere ich die Tüte und werde auf eine Uhr aufmerksam. Selbst die Zeit scheint mir zuzuspielen, denn sie verging schnell und beendet vorerst unsere Wege, die kreuz und quer durch die Stadt führten.

Am Horizont lässt sich die beginnende Dämmerung vermuten, als wir den Treffpunkt nahe des Stadtrandes erreichen. Der Hinterhof einer Bäckerei wirkt annähernd verschwörerisch verlassen, doch es ist angenehm still, nachdem die Geschäfte schlossen. Die Fenster in der Nähe trennen uns von dunklen, unbeleuchteten Räumen, nur in der Ferne sehen wir Lichter und sogar die Bürger scheint es nicht übermäßig hierher zu verschlagen. Nur selten sehen oder hören wir Menschen, die zu dieser Stunde noch Beschäftigungen nachgehen oder einem Spaziergang.

Im Dickicht eines nahen Baumes stimmt ein Nachtvogel seinen Gesang an und wie seufze ich, als ich mich auf das Dach eines großen Schuppens sinken lasse und die Beine von mir streckte. Von diesem Punkt haben wir die Umgebung gut im Blick, während wir in unseren schwarzen Roben unscheinbar verblassen.

Gemütlich ziehe ich eine weitere Verpackung hervor und öffne sie. Ein Stand in der Nähe machte es mir unmöglich, unbehelligt vorbeizuziehen und wie genüsslich atme ich den Duft der frischen Teigtaschen, während Kanda endlich den Eifer von sich streift und sich neben mich setzt.

„Die Herberge auf dem Marktplatz sah gut aus“, erinnere ich mich kauend und halte Tim von meinem Mitbringsel fern. „Ich hoffe, du hast nicht vor, die ganze Nacht herumzuziehen.“

Neben mir entfaltet Kanda die Zeitung. Ihr Rascheln verbindet sich mit dem meiner Tüte und ich kaue weiterhin, während er sich in die Artikel vertieft. Er scheint zu suchen und blättert um, während Tim über uns flattert.

„Vier Kinder und drei Mütter“, höre ich Kanda irgendwann murmeln und lasse die Teigtasche kurz vor meinem Mund sinken. Er befeuchtet seine Fingerkuppen mit der Zunge, wendet eines der großen Blätter. „Ich halte Zeitungsverkäufer für die besten Informanten und ich finde es seltsam, dass er nur von zwei gestorbenen Kindern und zwei verschwundenen Müttern wusste.“ Als er mir einen Artikel offenbart, lehne ich mich etwas zu ihm und vertiefe mich in die Schrift. „Der Verkäufer wirkte etwas schwachköpfig, deshalb wollte ich mich nicht auf seine Worte verlassen aber etwas anderes steht hier auch nicht.“

„Mm.“ Ich sauge an meinen Zähnen, versuche sie vom Spinat zu befreien. Es ist tatsächlich bizarr.

„Welche Gründe hätte man, zwei Todesfälle und einen Vermisstenfall unter den Teppich zu kehren, wenn vier publik gemacht wurden?“ Ich runzle die Stirn. „Tröstlich ist es dadurch auf keinen Fall.“

Unter einem tiefen Durchatmen lässt Kanda die Zeitung sinken. Seine Augen driften ziellos durch die aufsteigende Dunkelheit, die uns umgibt.

Es klingt ebenso wenig nach einem fehlerhaften Informationsfluss, denn tote und vermisste Menschen gelten nicht als kleines Detail, das überhört werden kann. Komui sagte uns, was man ihm zutrug, doch hier treffen wir auf eine unerwartete Lücke.

„Aber wenn es nicht tröstlich ist“, murmle ich nachdenklich, die Teigtasche zwischen den Fingern wendend, „dann wurden die Fälle vielleicht nicht veröffentlicht, weil die Einzelheiten zu grausam waren. Ich denke, die Grenze zwischen dem, was Menschen ertragen und der Eskalation ist dünn. Lynchjustiz, Massenpanik, Verfolgungswahn. Vermutlich ist das Maß längst voll, weshalb man den Bürgern nicht mehr zumuten wollte.“

Kanda bleibt seiner Betrachtung absent treu. Er reagiert nicht, deutet nicht einmal ein Nicken an und ich lasse ihn driften und versenke die Teigtasche im Mund.

„Der Finder wird es wissen“, sage ich noch und schneide eine Grimasse, als sich ein seltsamer Geschmack in meinem Mund ausbreitet. In dieser Teigtasche lauerte eine unpassende süßlich scharfe Füllung und widerwillig kaue ich die Masse, bis ich sie schlucken kann. „Das war übel.“

Während ich säuerlich in die Tüte starre, erwacht Kanda neben mir zum Leben. Er faltet die Zeitung zusammen, wirft sie neben sich und lehnt ab, als ich ihm eine Teigtasche anbiete.

„Er verspätet sich“, stellt er stattdessen fest und flüchtig spähe ich zu der kleinen Taschenuhr.

„Ja, um zwei Minuten.“ Kopfschüttelnd postiere ich die Tüte neben mir auf dem Dach. „Dafür wird er sicher gute Gründe haben.“

Kanda kommt auf die Beine. Er saß beeindruckend lange neben mir, für seine Verhältnisse recht untätig, doch nun endet der Moment und seufzend befreie ich meine Hände von den letzten Krümeln.

„Bleib doch einfach hier und warte. Iss eine Teigtasche.“

„Ich will keine.“ Nicht zuletzt seine Stimme zeugt vom drohenden Absturz seiner Laune.

Wieder atmet er tief durch, stemmt die Hände in die Hüften und starrt in die Finsternis, als erwarte er, sie mit der richtigen Entschlossenheit durchdringen zu können. Der ruhige Tagesausklang in der Herberge scheint sich weiterhin zu entfernen. Viel bleibt mir nicht übrig, denn auch Kandas Stimmung wird sich nur retten lassen durch Resultate und Fortschritte, also bleibe ich sitzen und lausche den Geräuschen der Umwelt.

Der Nachtvogel ist verstummt, fällt mir auf, doch das Gras der nahen Wiese raschelt unter den sanften Brisen. Irgendwo in der Nähe glaube ich das Plätschern eines seichten Flusses zu hören. Es ist beruhigend und bald darauf schließe ich die Augen.

Noch immer Tims Flügelschläge über mir und die lautlos Präsenz Kandas an meiner Seite, verharre ich reglos, nur darauf wartend, sich nähernde Schritte zu hören. Komui informierte den Finder über unsere Ankunft, denke ich mir und komme nicht um ein Schmunzeln. Und normalerweise würde kein Finder so leichtsinnig sein, sich bei einem Treffen mit Kanda zu verspäten. Dem Beginn der Mission wird es an Harmonie fehlen, befürchte ich, doch bin gespannt auf die Kreativität des Finders, sich eine Erklärung einfallen zu lassen.

Noch immer schmunzle ich, als aus der friedlichen Geräuschkulisse der Nacht ein scharfes Zischen hervorsticht. Kaum erwacht der Laut zum Leben, scheint er bereits an uns vorbeigezogen zu sein.

Nur eine Sekunde, eingenommen von meiner intuitivsten Reaktion und ich öffne die Augen und fahre herum, als die Hausfassade hinter uns ein dumpfes Knacken offenbart.

Etwas scheint in das Gestein eingeschlagen zu sein, doch das Bild bleibt undeutlich in der fortgeschrittenen Dunkelheit. Ich erkenne Teile des Putzes, die sich lösen, reiße mich los von dem Bild, um auf die Beine zu kommen, drehe mich um, um die Dunkelheit auszukundschaften, doch erstarre für einen Moment, als Kanda plötzlich haltlos neben mir zusammenbricht.

Seine Knie geben nach, sein gesamter Körper scheint komplett zu erschlaffen und meine Hand erreicht ihn nicht, bevor er dumpf auf dem Dach aufschlägt. Kein Abstemmen, kein Abrollen. Sein Kopf trifft auf die Ziegel, als wäre er eine Marionette, deren Fäden rissen und ich habe mich kaum geregt, als das pfeilschnelle Zischen erneut aus der Nacht heraus nach uns sticht. Nur undeutlich mischt es sich unter den ersten geräuschvollen Atemzug, nach dem ich ringe, unter dem ich mich in die Höhe stemme und wie laut brechen diesmal die Ziegel des Daches.

Das Surren endet, peitscht nicht an uns vorbei. Ich höre das Klirren des Lehms, doch bemerke nur, wie Kandas regloser Körper zu rutschen beginnt. Seine Hand wirkt leblos, als sie über die Ziegel driftet und erneut versuche ich sie zu erreichen, ihn vor dem Sturz zu retten, doch bin kaum zu einer Bewegung fähig.

So wie ich mich nach vorn stemme, so reißt es mich zurück und wie entsetzt dringt das eigene Stöhnen an meine Ohren, als ich im Halbdunkel das Gebilde erkenne, das meinen Oberschenkel durchschlug und sich tief hineinbohrte in die darunterliegenden Ziegel.

Kaum erwacht der dumpfe Schmerz in mir zum Leben, da zuckt meine schwarze Hand zu meinem Bein und schließt sich um die riesige, schwarze Nadel, die mich pfählt.

Die Zeit scheint zu rasen. Surrend driften Sekunden an mir vorbei.

Jedes Stöhnen, jeder Atemzug, jeder schmerzbetäubte Moment scheint heraufzubeschwören, was endgültig ist und wie rast das Herz in meiner Brust, als ich mich aufrichte, die Nadel fester umklammere und aus dem Dach und meinem Bein reiße.

„Tim!“ Meine Stimme bricht, als ich ihn rufe, die Nadel zur Seite schmetternd und die Betäubung durch die Schmerzen durchbrechend. „Verschwinde!“

Flüchtig rutsche ich aus im eigenen Blut, bevor ich mich über den First ziehe und mich auf der anderen Seite des Daches hinabschlittern lasse. Abermals das Surren. Wie zucke ich zusammen, als es über mich hinwegpeitscht, doch meine Hand streckte sich bereits und schlägt sich um Kandas Arm. Noch immer rutscht er, sofort zieht er mich hinab und nur beiläufig nehme ich wahr, wie Tim, von einer Wucht getroffen, an die nahe Hausfassade genagelt wird. Eine Nadel bohrte sich durch ihn, riss ihn aus der Luft und fixiert ihn an der Mauer.

Im letzten Moment aktiviere ich mein Innocence, ziehe mich zu Kanda und umklammere ihn, bevor wir gemeinsam über die Dachrinne schlittern. Gleißend schließt sich der weiße Mantel um uns, bildet eine schützende Hülle und ich spüre den Sturz, jedoch nicht den Aufprall auf dem Boden. Allein mein rasender Atem erhebt sich in dem behüteten Kern, in dem ich Kanda noch immer umklammere und nur stockend öffne ich dann die Augen.

Schmerz durchpeitscht meinen gesamten Körper, als ich mich rege, Kanda zu Boden sinken lasse und sein Gesicht zu mir wende. Sein Kopf ergibt sich dem leichten Druck meiner Hand. Keine Spannung scheint es in ihm zu geben und zitternd folgen meine Finger dem dünnen Rinnsal aus Blut, das sich seinen Weg über sein Gesicht bahnte. Seine Haut wirkt umso blasser durch die schwarzen Formen der Pentagramme, die sich wie ein Fluch über sie ziehen. Keine Mimik formt seine Züge. Seine Augen sind geschlossen und selbst mein Atem bebt, als ich eilig das Haar aus seiner Stirn streiche.

„Oh Gott.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein tonloses Hauchen, als ich die Wunde auf seiner Stirn erkenne.

Die erste Nadel durchschlug seinen Kopf und im Schutz meines Innocence sinke ich auf ihn und bette das Ohr auf seinem Mund. Kein Atem dringt über seine Lippen, keine Wärme erreicht meine Haut und wie beiße ich die Zähne zusammen und stemme mich in die Höhe.

Was auch immer in den letzten Sekunden geschah, ich überstand es als konfuses, entsetztes Fragment und ringe noch immer um Orientierung und Begreifen. Leblos liegt Kanda bei mir, ebenso regungslos bleibt Tim an die Fassade gepfählt. Mit einem Mal bin ich der einzige der sich regt, der einzige der atmet.

Verbittert klammere ich mich in den zerrissenen Stoff meiner Hose. Ich darf hier nicht bleiben, muss uns in Sicherheit bringen, doch wie kalt und stechend scheint das Akuma-Gift bereits meinen gesamten Körper zu durchströmen. Ich sehe die dunklen Gebilde auf meiner rechten Hand, spüre sie auf meinem ganzen Leib sowie ich dessen sofortigen Widerstand wahrnehme.

Das Gift wird mich ebenso wenig töten wie die Schmerzen, auch geschützt bin ich in diesen Momenten, doch letztendlich nicht vielmehr als eine verschreckte Beute in einem panisch gewählten Unterschlupf.

Die schmale Gasse ist nicht besser als die freie Flur, die es meinem Feind freistellt, die Richtung zu wählen und wie konzentriert driften meine Augen an Kanda vorbei, bevor ein Teil des Mantels von mir gleitet und ich eilig die Umgebung mustere.

Ich darf ihn nicht ansehen. Nicht hier und jetzt. Auch nicht daran denken, dass er tot ist.

Ich muss fassen, was konfus und ziellos in mir vorgeht, muss mich bewegen, zurückziehen und einen Ort finden, der mir das Ausharren ermöglicht.

Kein einziges Mal sah ich, was uns angriff. Es schien sich die Finsternis zum Freund gemacht zu haben und auch jetzt fühle ich, wie es lauert. Darauf, dass sich der Vorhang hebt und es sein Werk beenden kann.

Noch immer umgibt mich die Welt still. Noch immer schweigt der Singvogel, doch die Brisen des Windes sind so zärtlich wie zuvor. Durch einen kleinen Spalt zwischen zwei nahen Häusern erkenne ich abermals das ferne Licht hinter einem fernen Fenster und wie schwarz wirkt hingegen der Ort, an dem ich kaure. Verwunschen und hoffnungslos. Dabei waren wir so entspannt, nur wenige Augenblicke zuvor.

Erschöpft versenke ich die Finger in Kandas Uniform und ziehe ihn ein Stück zur Seite. Näher an die Mauer des Schuppens, ihn stetig einhüllend in den gleißenden Schutz.

Wo wären wir sicher, frage ich mich, als meine Augen die Umgebung abtasten.

Kein Akuma begegnet meinem Blick, mein Auge reagiert nicht und wie unbewusst klammere ich mich noch immer an Kanda, als ich zur anderen Seite spähe. Ein Keller, kommt es mir in den Sinn. Ein überschaubarer Ort mit überschaubarem Eingang wäre das Beste in dieser Situation und unweigerlich halte ich inne und lausche erneut in die Stille.

Das Plätschern, das ich auf dem Dach hörte, scheint mit einem Mal näher und sofort folge ich den Geräuschen. Vorsichtig löse ich mich von der Wand, lehne mich in die Gasse und wie makaber wirkt es, dass das Schicksal mir zumindest diesen einen erbärmlichen Wunsch, uns erfolgreich verkriechen zu können, zu erfüllen scheint.
 

-tbc-

11

Reglos kaure ich dort. Nur meine Schultern heben und senken sich unter den dünnen Atemzügen, die über meine Lippen sickern. Der Boden unter mir ist kalt und feucht, doch ich spüre ihn nicht, denn meine Existenz wird beherrscht vom quälenden Stechen meines Beines und den dumpfen Schlägen, die mein Herz durch meinen Körper jagt. Es rast, als würde es für uns beide schlagen.

Kandas Kopf ruht auf meinen Schoß. Unter meinen Händen, die auf seine Wangen gebettet sind, spüre ich die Kälte der Leblosigkeit. Kein Blut, das durch seinen Körper fließt, kein Zucken der Muskeln. Ich betrachte ihn mir nicht, darf es nicht, denn meine vollständige Aufmerksamkeit ruht auf der runden, steinernen Öffnung des alten Abwasserkanals. Das leise Plätschern führte mich zu diesem Loch, in dem ich mich verkroch wie ein verwundetes Beutetier. Und ich kroch weit, Kanda mit mir ziehend, eine Spur aus Blut und Hilflosigkeit hinterlassend.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, mein Körper würde vom Schmerz betäubt, an Beweglichkeit verlieren, doch meine Finger hielten Kandas Uniform weiterhin umklammert. Meine letzten Kräfte schliffen ihn über den Boden und als ein verrostetes Gitter den Fluchtweg beendete, endete auch meine Stärke.

Ich blinzle kaum, während ich durch das Loch die Außenwelt fixiere, ebenso kaum atmend, um jedes Geräusch früh genug aufzufangen.

Permanent erwarte ich Schatten, permanent das Auftauchen des unbekannten Feindes, doch es bleibt still. Die Nacht, von der mich wenige Meter trennen, scheint noch immer friedlich.

Flatternd bewegt sich Kandas schwarzer Golem vor der Öffnung in der Luft. Der erste Angriff, so hoffe ich, wird ihn treffen und mir die Möglichkeit schenken, rechtzeitig zu reagieren. Vielleicht ist es nicht klug, die derzeit einzige Kommunikationsmöglichkeit zu opfern, doch der Rahmen ist zu klein, um klug zu handeln. Übrig bleiben die Notwendigkeit und die Bevorzugung des geringeren Übels.

Noch immer umhüllt mich der weiße Mantel meines Innocence. Nicht nur schützend, sondern mir durch sein gleißendes Licht auch die Umgebung offenbarend. Karges Gestein umgibt mich nahezu zu allen Seiten, während dünn und kraftlos ein schmales Bächlein neben mir plätschert. Der Boden unter mir besteht aus Beton, über den sich eine dünne Schlammschicht zieht.

Stockend gleiten meine Finger zu Kandas Hals. Ein weiteres Mal, um nach einem Puls zu suchen.

Noch immer versuche ich auch zu begreifen, was innerhalb der letzten Augenblicke geschah, was uns trennte vom gemütlichen Sitzen auf jenem Dach. Dabei ist es doch ein Teil unseres Lebens, die Unvorhersehbarkeit der Dinge erdulden zu müssen.

Vor kurzem noch spielte es eine Rolle, dass der Finder sich verspätet und nun stelle ich mir die Frage, wie und gegen was ich uns zu verteidigen hätte, würden wir in den nächsten Momenten erneut angegriffen. Ich zurrte meinen Gürtel um meinen Oberschenkel, um den Blutverlust zu reduzieren, auch die Pentagramme auf meiner Haut verblassten bereits, doch das, was zurückbleibt, genügt nicht für Zuversicht und berechtigt ebenso wenig zu Ruhe. Meine Wunden heilen nicht so schnell und ein weiteres Mal beiße ich die Zähne zusammen, als sich der Schmerz peinigend aufbäumt.

Unwillkürlich driften meine Hände zu Kandas Wangen zurück und zum ersten Mal seit langem löse ich mich von meiner starren Beobachtung und betrachte ihn mir.

Im Licht meines Innocence‘ wirkt sein Gesicht nahezu weiß. Selbst seine Lippen haben keine Farbe mehr inne und wie starr bleibt mein Blick dem neuen Punkt treu.

Wie erschreckend fremd erscheint mir der Mensch, den ich doch so inniglich liebe. Wie erschreckend fremd, wenn kein Leben mehr in ihm steckt. Das Gesicht ohne jede Mimik, kein Zucken der gesenkten Lider. Keine Regung des Brustkorbes. Als wäre es eine weiße, kalte Hülle, die bei mir liegt und wie verengt sich mein Rachen unter der Vorstellung, sein Tod wäre endgültig.

Wenn es hier vorbei wäre.

Wenn ich ihn tatsächlich verlieren würde.

Nicht durch einen heroischen Kampf, um zu schützen, was uns wichtig ist. Ohne Prinzipien oder eine Wahl.

Ich weiß, er würde kämpfen, bis jeder Knochen seines Körpers zertrümmert und kein Muskel mehr zu Regung fähig wäre. Sterben würde er nicht leichtfertig, doch er würde es tun für ein Ziel voller Bedeutung und Nachhaltigkeit.

Nur nicht auf einem Dach und inmitten eines abgelegenen Friedens.

Nicht durch einen feigen Hinterhalt.

Nicht, ohne dass er etwas entgegengesetzt hätte.

Ich schöpfe tiefen Atem, schlucke gegen den Druck in meinem Hals und wie stockend neige ich mich dann hinab. Sein Tod ist nicht endgültig, sage ich mir ein weiteres Mal, als würde sich tief in mir Unsicherheit dagegenstemmen. Doch auch auf seiner Haut sind die Pentagramme bereits verblasst. Das Gift der Akuma erlosch bereits und auch die klaffende Wunde in seinem Kopf scheint sich von Innen zu schließen.

Er kehrt zurück, sage ich mir, bevor ich die Lider senke und meine Stirn auf seine Schulter bette.

Er kehrt zurück, bleibt bei mir.

So bleibe ich kauern, bald wieder auf den Eingang konzentriert, vor dem der Golem flattert, doch der Akuma nähert sich nicht und zeitweise versuche ich meinen müden Kopf zu Grübeleien zu bewegen. Dieses Versteck schenkt keine Sicherheit, macht uns genau betrachtet ebenso angreifbar, wie wir es auf dem Dach waren. Es wäre ein Leichtes, auch diesen Golem außer Gefecht zu setzen und uns zu erreichen.

Erschöpft lehne ich mich irgendwann zur Seite und suche Halt an der feuchten Mauer.

Nicht weit entfernt ist Tim wohl immer noch an diese Fassade genagelt. Ich erinnere mich an den Anblick, den er bot und auch bei ihm suche ich nach der Überzeugung, dass er sich regenerieren wird, sobald man ihn aus seiner Lage befreit. Auch er findet sein Ende nicht an einem solchen Ort. Er ist nahezu unzerstörbar und bei den Nadeln handelt es sich höchstwahrscheinlich um Waffen, die ihre Gefährlichkeit aus den Wunden und dem Gift schöpfen.

Flüchtig verschwimmt das Bild des dunklen Lochs vor meinen Augen. Meine Lider werden schwer und konzentriert löse ich mich von der Mauer und blinzle mich wach. Ich bin müde und ausgelaugt, dabei vergingen vermutlich erst wenige Stunden. Die Dämmerung ist noch weit entfernt, doch in dieser Lage streckt sich selbst eine Minute ins Endlose.

Ein leises Ächzen entrinnt mir, bevor ich meine Augen reibe. Meine Beine endsenden bereits ein leichtes Gefühl der Taubheit, doch ich bewege mich nicht, harre aus wie eine Statue, wach und angespannt und wie ewig wirkt die Dunkelheit der Nacht. Als würde es keine Tage mehr geben, keine Helligkeit. Es bleibt finster, still und kühl und als die Schwärze irgendwann doch einem dunklen Blauton weicht, wirkt es so irreal.

Ein neuer Tag bricht an.

Bald darauf beginnen die Vögel zu singen, als wäre nichts geschehen, doch sonst bleibt die Welt auf der anderen Seite des Loches still. Dieser Teil der Stadt scheint wirklich recht unbelebt. Ich höre weder Schritte noch Stimmen, obwohl die Geschäftigkeit der Bewohner längst erwacht sein muss. Was für ein Zufall, dass wir hier mit dem Finder verabredet waren, denke ich mir und spüre das Zucken eines humorlosen Grinsens an meinem Mundwinkel.

Es ist eine Farce ohnegleichen, denn trotz der Helligkeit und den nahen Menschen wage ich mich nicht aus meinem Versteck.

Vermutlich würden mich meine Beine auch nicht mehr tragen.

Vermutlich käme ich auch aus anderen Gründen nicht sehr weit, denn ich glaube zu spüren, dass er noch immer lauert, heimtückisch hinter der Mauer aus Vogelgezwitscher und Sonnenschein.

Leise dringt das Rauschen eines Atemzuges an meine Ohren. Abermals werden meine Lider schwer. Erschöpft verliert mein Kopf weiterhin an Umsicht und wie vernebelt erreicht das wiederholte tiefe Durchatmen mein Bewusstsein. Ich räuspere mich, kämpfe gegen die Trockenheit in meinem Rachen, doch wie erstarre ich, als ich begreife, dass der nächste Atemzug nicht meiner ist.

Gestochen scharf lenkt sich meine Aufmerksamkeit zurück auf Kanda. Sein Gesicht zeigt noch immer keine Regung, die Wunde auf seiner Stirn jedoch hat sich komplett geschlossen und ich wage kein Blinzeln, als ich mich auf seine Brust fixiere. Auch sie scheint so bewegungslos wie in den letzten Stunden, in der die Lungen keine Luft in sich aufnahmen, doch ich warte, den eigenen Atem unterdrückend und längst abermals nach seinem Hals tastend.

Und dann hebt sich seine Brust, dann atmet er erneut ein und aus, rauschend und tief. Meine Finger zittern, als sie nach der Halsschlagader suchen und wie konzentriere ich mich auf das Gefühl unter meinen Kuppen.

Das Schlagen seines Herzens, ich muss es eindeutig spüren und kurz darauf ächze ich, laut und erleichtert, sinke auf ihn und ergötze mich endlos an dem Leben, das in ihn zurückfloss.

Noch sind die Atempausen lang, selbst der Puls gewinnt nur langsam an Kraft und Rhythmus aber er kehrt zurück und ich klammere mich an ihn, als würde ich ihn zu mir führen wollen.

Nur selten besaß eine Nacht einen solchen Schrecken, doch mit dem ersten Licht des Tages bröckelt viel an Grausamkeit von unserer Situation. Ich bin nicht mehr alleine und lausche versunken jedem Atemzug. Sie werden tiefer, regelmäßiger und nur matt richte ich mich auf, als ich die ersten, leichten Bewegungen seines Körpers wahrnehme.

Kitzelnd bahnt sich eine Träne ihren Weg über meine Wange und beiläufig wische ich sie fort.

Dezente Farbe fließt zurück in sein Gesicht, kurz zucken auch die gesenkten Lider und endlos genieße ich jede dieser winzigen Regungen. Er erwacht nur langsam, ebenso stockend fließt Gefühl zurück in die starren Glieder. Kalte Muskeln spannen sich, blind tasten seine Finger ins Nichts und irgendwann öffnet er die Augen.

Vorsichtig stütze ich seinen Kopf, halte ihn sachte auf meinem Schoß und verfolge das ziellose Driften seiner Pupillen. Sie wirken stumpf, wie sie über das Bild der Umwelt schweifen, ohne an etwas hängen zu bleiben. Als würden sie das Gestein nicht erkennen, als würde der Eindruck nicht in ihn dringen.

Er ist noch nicht bei mir, begreife ich, als ich ihn mir betrachte.

Noch steigt er der Oberfläche entgegen und wie ruhig schlägt das Herz wieder in meiner Brust, als ich auf ihn warte, absent den Schmutz von seinen Wangen streichend. Ich flüstere seinen Namen, als er blinzelt, schluckt, noch immer nur rein körperlich zu leben scheint.

Sein Leib sucht offensichtlich nach Orientierung, die plötzlich, konfus erwachten Impulse nach Ordnung, doch bald darauf glaube ich ihn in der Schwärze seiner Augen zu erkennen. Als würde er auftauchen, als würde er mich tatsächlich erreichen.

Seine Seele scheint sich zurück an ihn zu schmiegen, ihm die alte Wärme zu schenken und es ist ein einziges Blinzeln, mit dem er letztendlich vollständig erwacht. Sein Blick erfasst mich, erfasst die Umwelt und nur wenige Momente später tastet er nach dem Boden und stemmt sich in die Höhe.

Es fällt ihm schwer. Seine Arme haben kaum genug Kraft inne und mit einem flüchtigen Druck bin ich ihm dabei behilflich, sich aufzusetzen. Er reibt sich die Augen, den Nacken, rollt mit den Schultern und dann späht er erneut um sich, aufnehmend, ganz offenbar auch nachdenklich, doch in seinen Erinnerungen klafft ein Loch, das er selbst nicht schließen kann. Unentwegt sehe ich ihn an, als bräuchte ich den Anblick als Bestätigung, die tief genug in mich dringt.

„Was ist passiert?“, erhebt sich kurz darauf seine Stimme. Als er sich etwas zu mir wendet, begegnen sich unsere Augen. Neben all den Fakten würde mein Gesicht wohl die deutlichste Antwort erbringen. Ich bin ausgelaugt von Anspannung und Schmerz und während ich vorerst nur tiefen Atem schöpfe, wird er auf mein Bein aufmerksam. Es ist nicht verwunderlich, denn alles an diesem Ort riecht nach Blut.

„Wir sind wohl in eine Falle getappt.“ Abermals erreicht meine Schulter die Mauer. „Und ich kann dir wenig sagen, denn ich habe den Akuma nicht ein einziges Mal gesehen. Seit wir hier hocken, hat er nicht mehr angegriffen.“

Noch immer spüre ich seinen Blick, glaube selbst seine Gedanken wahrzunehmen und wie beruhigt es mich, dass zumindest einer von uns fähig ist zu Konzentration und der Suche nach Lösungsansätzen.

„Wo ist Tim?“ Er streicht eine störende Strähne hinter das Ohr, bevor er näher zu mir rückt. „Lass mich sehen.“ Seine Hände erreichen mein Bein.

„Tim ist außer Gefecht gesetzt. Er hängt an der Fassade. Das Biest schießt mit riesigen Nadeln und wie es aussieht, ist es verflucht schnell.“

Ich zucke zusammen, als Kanda mein Bein aus der Schonhaltung herausbewegt. Er streckt es und schenkt meinem flüchtigen Kampf keine Beachtung, dabei fühlt es sich an, als würden Muskeln reißen und gebrochene Knochen gegeneinander schaben. Ächzend bleibe ich lehnen und ringe mit der Übelkeit, die die Welle des Schmerzes mit sich brachte.

„Er hat uns ganz schön erwischt“, stöhne ich, während Kanda abermals mein Bein betastet. Ich spüre seine Hände und den Druck, den sie auf mich ausüben.

„Halb so schlimm“, höre ich ihn dann murmeln.

„Halb so schlimm.“ Ein ungläubiges Schmunzeln zieht an meinen Lippen, bevor ich den Kopf schüttle.

So leichtfertig tut er es ab. Ich reibe mir die Augen, als wolle ich die vergangenen Bilder aus ihnen entfernen. Seinen blassen, leblosen Körper.

Fast ausnahmslos jeder hätte durch einen solchen Angriff endgültig unsere Welt verlassen.

Stoisch verfolge ich, wie er sich aufrichtet. Seine Hand findet zum Mund und reibt ihn, während er sich abermals umblickt.

„Dein Oberschenkel ist gebrochen. Damit kommst du nicht weit.“ Somit stemmt er sich in die Höhe und wie leicht scheint es seinen Beinen zu fallen, ihn zu tragen. Kein Schwanken oder Straucheln und noch immer sehe ich ihn schweigend an, als er sich hinaufstreckt zu einem kleinen Schacht. Er ist durch ein Gitter versperrt, doch nur ein leichtes Rütteln lässt es ächzen und quietschen.

„Das erste, was wir benötigen, ist ein zweiter Ausgang.“ Er tastet an seinem Gürtel und zückt ein verstecktes Messer. Wie beherrscht er sich bewegt, fällt mir auf.

Als wäre seine Kontrolliertheit gegen jede Störung gefeit. Kaum kommt er auf die Beine, da gedenkt er, sich von ihnen weiter tragen zu lassen und bevor ich mich versehe, hat er die rostigen, annähernd losen Schrauben entfernt. Ein Ruck, dann löst sich das Gitter und landet im Meer aus Schlamm. So erstreckt sich offen der Schacht über ihm und nur flüchtig betrachtet er sich die rutschige Enge.

„Jetzt hole ich erst einmal Tim“, sagt er dann, kurz zum großen Ausgang spähend, bei dem sich noch immer der schwarze Golem bewegt. „Wie auch immer wir handeln, wir brauchen ihn.“

„Kanda.“

Seine Augen driften an mir vorbei, während er das Messer wieder in der Scheide verstaut. Seine Gedanken scheinen kaum noch hier zu sein, denn während es für den Körper Schranken gibt, bewegen sie sich grenzenlos voran, durch jeden Winkel dieser Situation und stetig dem Feind entgegen. Und wie müssen sich die Beine danach sehnen, ihnen zu folgen. Ohne dass sie durch Worte zur Reglosigkeit und Geduld gezwungen werden.

„Kanda.“

„Es spielt keine Rolle, dass wir nichts über den Akuma wissen, in einem Gebiet ist er so durchschaubar wie der Rest seiner Sippe.“ Somit streckt er sich hinauf und betastet den rostigen Rahmen, den das Gitter zurückließ. „Ein Akuma greift prinzipiell an, wenn er in der Lage dazu ist. Das bedeutet, es ist ihm offenbar nicht möglich, sich in diesem Kanal zu bewegen. Wären weitere Akuma hier aufgetaucht, hätten sie längst angegriffen. Ich denke, du bist hier sicher.“ Seine Hand scheint festen Halt zu finden und wie resigniert schöpfe ich tiefen Atem.

„Yu.“

Endlich hält er inne, endlich finden nicht nur seine Augen sondern auch seine Gedanken zu mir und wie zermürbt erwidere ich seinen Blick, während er den Arm sinken lässt.

Nur einen Moment des Stillstandes, mehr fordere ich nicht und wie unwillkürlich schüttle ich erneut den Kopf und reibe meine müden Augen, bevor ich seinen Blick geradlinig erwidere.

„Die Nadel hat deinen Kopf durchschlagen“, erhebe ich dann die Stimme. „Du warst tot. Ich habe deinen leblosen Körper in diesen Kanal gezerrt und die ganze Nacht bei ihm gesessen. Du kennst deine Gabe, ich allerdings war mir nicht sicher, ob dein Herz jemals wieder schlagen wird. Das war nicht ‚halb so schlimm‘.“

Keinen Moment lang verlieren sich unsere Blicke und wie offensichtlich ist seine Nachdenklichkeit in diesen stillen und reglosen Sekunden. Meine Worte erreichten ihn mit dem Nachdruck, den ich beabsichtigte und lange sehen wir uns an, bevor er die Lippen schürzt. „Was erwartest du von mir?“

„Dass du meine Sorgen ernst nimmst“, antworte ich. „Diese Nacht war nicht banal. Sie war ein Alptraum. Ich hatte Angst um dich und jeden Grund dazu. Es ist wichtig für mich, dass du das anerkennst.“

Er deutet ein Nicken an, erreicht mich mit wenigen Schritten und dann erreicht mich seine Hand. Ich spüre sie, wie sie flüchtig über meinen Schopf gleitet und hinab zur Wange, auf der sie sich bettet, einen Moment länger, als wolle sie mich davon überzeugen, dass Wärme in ihr steckt. Und wieder schöpfe ich tiefen Atem, entlastet diesmal und genüsslich, bevor er sich von mir trennt.

„Das tue ich.“

Ich sehe ihm nach, als er zu dem Schacht zurückkehrt. Abermals blickt er auch zum großen Eingang des Tunnels. Natürlich ist mir nicht wohl dabei, dass er den Schutz aufgibt und sich einem Feind ausliefert, den wir nicht einzuschätzen wissen. Würde ihm etwas zustoßen, ich wäre nicht einmal in der Lage, ihn zu erreichen.

„Pass auf dich auf“, bitte ich ihn, als er sich erneut emporstreckt und seine Finger nach Halt suchen.

„Mich so zu erwischen gelingt ihm nicht zweimal“, antwortet er, tastet, wird fündig. Und wie leicht und behände zieht er sich dann empor. Als fiele es seinen Armen nicht einmal annähernd schwer, sein eigenes Gewicht zu stemmen. Als hätte er nie bei mir gelegen.

Er wird verschluckt vom dunklen Schacht, tastet höher, stemmt kurz darauf den Fuß auf den Gitterrahmen und so verschwindet er vor meinen Augen. Leise Geräusche zeugen davon, dass er höher steigt, hin und wieder bröckelt etwas Schmutz und Gestein zu Boden und wie konzentriert lausche ich in die annähernde Stille, bis auch der letzte Laut verstummt.
 

-tbc-

12

Nur das entfernte Flattern des schwarzen Golems dringt zu mir, als ich mich abermals gegen die Wand lehne. Mein Körper verliert weiterhin an Kraft, als würde sie aus einem Riss in meiner Hülle sickern und bald sinkt auch mein Kopf gegen das feuchte Gestein.

Was für eine erbärmliche Lage, denke ich mir, während der Schmerz in meinem Bein zu einem permanenten dumpfen Begleiter wird. Eine pulsierende Pein lähmt mich mit jedem Moment mehr und mit müdem Verstand versuche ich mich daran zu erinnern, wann ich mich zuletzt in einer solchen Situation befand. Ich bin niemand, der irgendwo kauert. Ich gehöre zu jenen, die auf den Beinen bleiben, nicht nur sich selbst bewegen sondern auch die Dinge, die die Welt ausmachen. Hier in diesem dreckigen Loch bin ich kaum in der Lage, mich aufrecht zu halten und dazu gezwungen, die Dinge von jemand anderem bewegen zu lassen.

Es ist widerlich, dieses Gefühl. Fast glaube ich, es hinterlässt einen beißenden Geschmack in meinem Mund, wie Säure, der sich nicht hinabschlucken lässt.

Meine Lider sind schwer. Alles an mir scheint an Gewicht zu gewinnen und wie konzentriert halte ich mich aufrecht und wach, taste irgendwann in einer Tasche und ziehe meine kleine Uhr hervor. Kandas Weg ist nicht weit, doch ich weiß nicht, was ihn erwartete und wie schwierig es wird, Tim zu erreichen. Eine halbe Stunde ist kein Grund zur Sorge, versuche ich mich zu überzeugen und verfolge das Wandern des Sekundenzeigers. Er wird zurückkommen. Er tat es schon einmal.

Unter einem leisen Ächzen schließe ich die Augen. Meine Gelenke beginnen zu schmerzen, doch ich kann die Haltung nicht aufgeben, denn hier gibt es keine Position, die bequemer wäre.

Aushalten. Warten. Hoffen.

Ich flüstere einen stummen Fluch, taste nach meinem Gesicht, reibe es. Noch immer haftet auf meiner Haut die dünne Schicht meines Blutes. Der säuerliche Kupfergeruch dringt in meine Nase. Annähernd wird mir übel von ihm und dann sitze ich dort, mit geschlossenen Augen an das feuchte Gestein gelehnt, und konzentriere mich auf die Geräusche in meiner Umgebung. Ich höre den Golem, hin und wieder auch das Tropfen von Wasser, doch noch immer keine Stimmen oder Schritte. Als wäre dieser Teil der Stadt tatsächlich verlassen. Als gäbe es hier nur Böses und keine Menschen. Dabei sahen wir so viele von ihnen. Sie tummelten sich auf den Straßen und sie unterhielten sich und lachten.

Ich spüre das Abdriften meines Bewusstseins. Selbst mein Verstand wird schwer vor Schmerz und Schwäche und ich bäume mich dagegen auf, versuche zu blinzeln, versuche wachzubleiben, doch fühle mein Scheitern.

Ich bin sicher, sage ich mir. Die ganze Nacht saß ich mit Kanda hier und nichts geschah. Stunde um Stunde blieben wir unter uns. Auch Kanda ist in der Nähe. Vermutlich wird er bald zurückkommen und mich wecken. Vermutlich wird Tim bei ihm sein und die ganze Lage etwas heller durch diesen Erfolg. Auch einen Plan wird es bald geben und nach dieser kurzen Pause werden meine Beine in der Lage sein, mich weiterzutragen.

Das Flattern des Golems wird leiser, scheint sich zu entfernen. Auch das dezente Geräusch des Wassers verstummt und bevor ich es begreife, umhüllt mich diese warme Dunkelheit. Sie macht mich leicht, nimmt mir den Schmerz, setzt meinen Körper in Bewegung und gibt mir irgendwann das Gefühl, ich läge auf dem Rücken. Vielleicht rutschte ich an der Wand hinab.

Es spielt keine Rolle, denn die Haltung tut meinem Bein gut. Der pulsierende Schmerz verging. Selbst das Atmen fällt mir leichter und wie stockend bewege ich die Hände, als ich zurücktreibe in die Wirklichkeit. Es sind neue Kräfte, die ich in meinem Körper spüre, als wäre ich nicht bewusstlos geworden, sondern hätte lediglich geschlafen. Als würde das genügen. Mit geschlossenen Augen nehme ich irgendwann sogar das vertraute Flattern des Golems wahr. Ich erinnere mich, dass er sich am Eingang des Kanals bewegte, doch plötzlich scheinen die Geräusche weitaus näher, als würde er sich direkt neben mir befinden.

Auch das Tropfen des Wassers ist vergangen und als ich weiter zu Bewusstsein komme und die Luft atme, fühlt auch sie sich nicht mehr so feucht an. Die Welt um mich herum scheint eine andere zu sein und benommen beginne ich zu blinzeln.

Etwas liegt unter meinem Kopf und stellt sich als hart heraus, als ich ihn bewege. Meine Hände erreichen den Boden, betasten ihn und stockend erreicht mich die Tatsache, dass es trockenes Holz ist, das ich unter meinen Fingern fühle. Ein tiefer Atemzug durchströmt meinen Körper, als ich letztendlich die Augen öffne.

Es war hell um mich herum, als ich sie schloss aber hier umgibt mich viel mehr Dunkelheit, nur matt und rötlich erhellt durch den flackernden Schein einer Kerze.

Verschwommen glaube ich die verputzte Decke eines Raumes zu erkennen, doch eine Regung lenkt meine Augen sofort zur Seite. Vor kurzem war ich noch allein. Jetzt bin ich es nicht mehr und ich blinzle, um mir sicher zu sein, dass es sich nicht um ein Traum handelt.

Neben mir sitzt Kanda. Den Arm auf das Katana gestützt und soeben noch auf das Umfeld konzentriert, erwidert er meinen Blick.

„Du bist wieder da.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein leises Nuscheln, als ich nach meinem Gesicht taste. Die Benommenheit bröckelt nur langsam von mir. „Hast du Tim gefunden?“

Er antwortet nicht und träge reibe ich meine Stirn. Es fühlt sich anders an, realisiere ich. Auch der Geruch von Blut sticht nicht mehr in meiner Nase und irritiert erkenne ich kurz darauf den schwarzen Golem, der direkt über mir flattert. Und nicht nur er ist bei uns. Auf meinem Bauch spüre ich ein vertrautes Gewicht und taste danach.

„Tim.“ Ich fühle die vertraute Oberfläche seines Körpers. Sein Flügel streift meine schwarze Hand und wie erleichtert ächze ich, dabei weiß ich doch, dass er nicht so leicht zerstört werden kann. Neben mir rauscht ein tiefes Durchatmen und sofort blicke ich erneut zu Kanda.

„Was du gesehen hast, war nicht real“, erreicht mich seine Stimme. Er regt sich, bettet das Katana auf seinem Schoß und wendet sich mir um ein Stück zu. „Es war eine Illusion.“

Als sich unsere Augen wieder begegnen, verziehe ich nur das Gesicht. Ich hörte, was er sagte, aber die Herausforderung für meinen Kopf ist zu groß. Tim regt sich unter meiner Hand, während ich Kanda nur anstarre. Er sieht sauber aus, bemerke ich in dem Moment. Seine Haut macht nicht den Eindruck, als hätten vor kurzem Dreck und Blut auf ihr gehaftet.

„Die Nadeln haben diesen Effekt“, fährt er fort. „Wird man von ihnen getroffen, verliert man sofort das Bewusstsein und erlebt offenbar etwas anderes. Ich verstehe noch nicht, wie es funktioniert, aber das macht diesen Angriff verflucht gefährlich.“

„Du wurdest getroffen“, bringe ich stockend hervor. „Dein Kopf…“

„Du wurdest zuerst getroffen“, widerspricht er. „Alles, was du gesehen hast, ist nicht passiert.“

Kein weiteres Wort gelingt mir. Weiterhin brennen meine Augen ein Loch in sein Gesicht, während ich all das zu realisieren versuche. Was in dem Kanal geschah, fühlte sich so real an. Ganz im Gegensatz zum jetzigen Moment. Kanda spricht davon, dass es sich hier um die Realität handelt, dabei habe ich gerade jetzt das Gefühl, die Augen öffnen und aufwachen zu müssen.

Perplex betrachte ich mir erneut das Umfeld. Ich liege in einem trockenen Kellerraum, neben uns brennt eine kleine Kerze. Tim ist bei uns. Auch er wurde offenbar nicht getroffen. Neben mir senkt Kanda den Kopf und reibt sich den Nacken. Er wirkt nachdenklich. Und er wirkt etwas müde.

Ich erinnere mich an sein Gewicht auf meinem Schoß, sehe auch sein bleiches, lebloses Gesicht noch vor mir und selbst die Gefühle scheinen mich erneut zu erreichen. Die Angst um ihm. Die Angst um uns. Aber er starb nicht. Ich rettete ihn in der Illusion, er mich offenbar in der Wirklichkeit.

„Du wurdest nicht verletzt“, flüstere ich, während er die Hand im Nacken bettet. Sein schwarzes Haar verbirgt sein gesenktes Gesicht.

„Ich wurde gestreift“, antwortet er. „Ich war nur wenige Sekunden weg.“

Unentschlossen hebe ich die rechte Hand. Bisher ließ ich sie ruhen, doch kaum versuche ich mit ihr mein Gesicht zu erreichen, da spüre ich das dumpfe Zucken eines Schmerzes in meiner Schulter. Dort durchschlug die Nadel also meinen Körper, doch die Blutung versiegte längst. Vorsichtig stemme ich mich in die Höhe.

„Wie lange ist es her?“, erkundige ich mich.

„Fast zwei Stunden.“

„Hast du den Akuma gesehen?“

„Nur kurz.“ Kanda richtet sich auf, bewegt die verspannten Schultern. „Wir haben einiges vor uns.“

Zaudernd nicke ich. Meine Augen erreichten ihn erneut, doch ich kenne den Grund für ihr Suchen nicht. Er schenkt meiner Musterung keine Beachtung, starrt nachdenklich auf einen nicht existenten Punkt und wie geistesabwesend betaste ich Tim, der noch immer auf meinem Schoß sitzt.

Vorsichtig schenke ich der Situation Glauben, dabei ist es irritierend, von einer Wirklichkeit in eine andere gerissen zu werden. In mir klafft ein Zwiespalt, den ich mir zu erklären versuche und wie abrupt erreichen sie mich erneut, die Bilder seines leblosen Körpers.

Weshalb gerade so eine Illusion, frage ich mich. Ich hätte alles sehen können und wäre ebenso wehrlos gewesen, doch ich sah seinen Tod und fühlte meine abgrundtiefe Angst. Meine Augen brennen, also blinzle ich, schürze die Lippen und spüre, wie trocken sie sind.

„Die Illusion“, höre ich bald darauf mein Flüstern. Fast lautlos erreicht es Kanda. „Was, glaubst du, war das für eine?“

„Mm.“ Er wird seiner ziellosen Beobachtung nicht untreu.

Vielleicht sucht auch er noch nach der Antwort. Vielleicht hat er sie jedoch bereits gefunden.

Unweigerlich erinnere ich mich an die Zeit, als die Alpträume mich noch in jeder Nacht fanden. Ich erinnere mich an den Alp und an die Bilder, die er mir zeigte. Ich wusste sie recht zu deuten und hasste sie umso mehr, denn sie zielten auf alles ab, das ich als Schwäche und wunden Punkt bezeichnete.

Damals sah ich meine Freunde und hörte ihre Schreie. Damals litt ich so unsagbar unter meiner Hilflosigkeit, durch die ich sie nicht retten konnte. ‚Machtlosigkeit‘ hieß meine größte Angst, die den Tod meiner Freunde, meiner Familie, zum bitteren Nebenprodukt machte.

Wieder vergesse ich das Blinzeln, während ich Kandas Profil sehe. Ich nähere mich, doch ertappe mich dabei, wie ich innehalte. Noch kann ich die Hand nicht nach der Wahrheit ausstrecken, dabei schlug sie mir längst entgegen. Ob ich die Augen vor ihr verschließe, ist ihr gleich. Das ändert nichts an ihrer Tatsächlichkeit.

Leise räuspere ich mich, bevor ich ein trockenes Schlucken hinabwürge.

Und dann wage ich es: Das Geständnis mir selbst gegenüber, das sich nicht rückgängig machen lässt.

Offenbar zeigte mir die Illusion, wovor ich mich am allermeisten fürchte.

Ich atme tief ein, tief aus, reibe meine Augen und suche nach Beherrschung.

Die Einsicht sollte mich nicht überraschen, versuche ich mich zu überzeugen, denn meine Gefühle machen meine größte Schwäche zu keinem großen Rätsel.

„In meiner Illusion bist du gestorben“, flüstere ich.

„Es war nicht real“, antwortet er.

Zwei Stunden liegt der Angriff zurück und meine Illusion überdauerte die ganze Nacht. Das Zeitverhältnis spielte offenbar keine Rolle mehr und während ich Kanda noch immer ansehe, frage ich mich, wie lange die wenigen Sekunden andauerten, die ihn in einer Illusion hielten.

„Was hast du gesehen?“, frage ich ihn.

Es ist als würden sich die Worte die Freiheit erkämpfen, da sie sich nicht länger in mir hielten. Dabei schluckte ich sie doch hinab, denn es waren die falschen für unsere Lage und eine Antwort würden sie ohnehin nicht nach sich ziehen.

„Das spielt keine Rolle“, erfüllt Kanda meine Erwartungen und lässt die Atmosphäre enden, indem er sich mir zuwendet. Die Thematik ist abgeschlossen und bewusst versuche auch ich sie vorerst aus meinen Gedanken zu löschen. Die Situation ist schwierig genug und fordert jede Facette unserer Aufmerksamkeit.

„Der Akuma ist allem Anschein nach ein Level-3“, fährt Kanda fort. „Er tarnt sich hervorragend, weshalb es für uns unmöglich war, ihn zu bemerken. Die Tarnung muss er allerdings aufgeben, kurz bevor er angreift und hier beginnt das Auffällige. Er setzt kein Akuma-Gift ein.“

„Wie bitte?“ Perplex verziehe ich das Gesicht.

„Die Nadeln verursachen keine tödlichen Wunden, sondern machen nur wehrlos.“ Er deutet ein Kopfschütteln an, reibt sich den Mund und erwidert meinen irritierten Blick. „Er hat es eindeutig auf Leute wie uns abgesehen, greift uns an, tötet uns aber nicht. Was sagt uns das?“

„Das meinst du doch nicht ernst.“

„Ich sehe keine andere Erklärung.“ Beiläufig greift er nach seinem Golem und versenkt ihn unter seiner Uniform. „Auch wenn ich den Sinn nicht verstehe. Der Graf war bisher nur darauf aus, unser Innocence zu zerstören, uns zu töten und nach dem Herz zu suchen. Offenbar will er uns jetzt plötzlich lebend in die Hände kriegen. Der Akuma scheint nur zu diesem Zweck kreiert worden zu sein.“

„Dann war es tatsächlich eine Falle“, erwidere ich. „Der Finder hat uns hergelockt. Vielleicht sind sogar diese Menschen aus diesem Zweck gestorben.“

„Vermutlich“, tut Kanda meine Worte ab. „Das bringt uns jetzt nur nicht weiter. Wir müssen aus dieser Sackgasse raus und Kontakt mit Komui aufnehmen. In der Herberge am Marktplatz gibt es hoffentlich ein Telefon. Dort müssen wir hinkommen. Er ist höchstwahrscheinlich noch draußen und lauert auf uns aber jetzt wissen wir es. Das gibt uns eine Chance.“

„Ihn zu zweit zu erwischen, wird schwer sein“, erwidere ich.

Kanda nickt. „Wir tun ihnen vermutlich einen Gefallen, wenn wir noch mehr Exorzisten holen. Aber wir brauchen Verstärkung. Vor allem brauchen wir Marie.“

Es stimmte. Die Unsichtbarkeit schützte den Akuma nicht davor, Geräusche zu verursachen.

Es ist seltsam, geht es mir durch den Kopf, als Kanda auf die Beine kommt. Die Akuma wurden zu dem Zweck erschaffen, uns zu töten. Seit jeher suchen sie uns und greifen uns an und dennoch fühle ich mich anders mit diesem neuen Feind. Es gleicht einer Treibjagd und wir sind die Beute.

Als Kandas Hand sich mir entgegenstreckt, ergreife ich sie und ziehe mich in die Höhe. Das Loch in meiner Schulter macht permanent mit einem dumpfen Stechen auf sich aufmerksam, doch es lässt sich ertragen und macht mich nicht wehrlos. So oder so, Kanda und ich sind nicht dafür gemacht, uns in einem Keller zu verkriechen. Wir nehmen es mit dem gesichtslosen Feind auf. Wir haben schon anderes überlebt.
 

So verlassen wir den Kellerraum durch eine hölzerne Tür und betreten einen anderen. Das zersplitterte, kleine Fenster verrät, wie Kanda an diesen Ort kam. Es scheint sich um das Untergeschoss des kleinen Lagerhauses zu handeln, auf dessen Dach wir saßen. Bedacht näheren wir uns dem Fensterrahmen von der Seite. Draußen erwartet uns noch immer die Finsternis der Nacht, doch am Tag hätten wir nicht viel mehr gesehen. Es macht letztendlich keinen Unterschied. Kanda streift sich die Handschuhe über, sichert den Halt der Schwertscheide am Gürtel und einen letzten Blick wechseln wir, bevor er an den Fensterrahmen tritt und hinausspäht.

„Bleib nahe bei mir“, flüstere ich Tim zu, während Kandas Hände auf der kleinen Fensterbank nach Halt suchen. Ein letztes Mal lauscht er in die Stille der Nacht, bevor er sich nach oben zieht. Annähernd lautlos und behände verschwindet er nach draußen und wie zügle ich meinen Atem, als ich nach seiner Hand greife und mich hinaufstemme.

Die kleine Gasse, die wir somit erreichen, bietet uns wenig Schutz. Tim lässt sich auf meiner Schulter nieder, als Kanda und ich Rücken an Rücken innehalten und die schwarzen Kanten der umliegenden Dächer taxieren. Auch mein Auge würde reagieren, doch dazu hat der Akuma in Sichtweite zu sein und es wird bereits brenzlig, wenn das der Fall ist.

Langsam setzen wir uns in Bewegung. Stets nahe beieinander und stets die Dächer im Blick, stehlen wir uns in einen nahen Durchgang. Die Herberge ist nicht weit entfernt und dennoch würde sich der Weg wohl anfühlen wie eine Ewigkeit. Nur vorsichtig tun wir einen Schritt nach dem anderen. Aufmerksamkeit ist wichtiger als Eile und wie sensibel werden meine Sinne in den Momenten purer Anspannung.

Jedes entfernte Rascheln alarmiert mich, überall glaube ich Schatten zu sehen und selbst die Brisen des Windes wirken mit einem Mal wie üble Vorboten. Nahe an der Hausfassade erreichen wir das Ende des Durchganges und mustern die breite Straße, die vor uns liegt. Sie haben wir zu überqueren, doch auch der Rest des Weges würde es uns nicht leicht machen. Wenn wir den gegenüberliegenden Bürgersteig betraten, erwarteten uns weitere Straßen, also ein halbwegs offenes Feld, das es dem Akuma noch leichter machen würde.

Konzentriert kontrolliere ich meinen Atem. Ich spüre Kandas Anwesenheit, spüre seine Schulter an meiner.

„Wir sollten auf Abstand gehen“, flüstere ich ihm zu. „Er kann uns beide nicht gleichzeitig erwischen.“

Ich sehe Kanda nicken und wir zögern nicht, bevor wir unseren Schutz aufgeben. Was geschehen würde, ist nicht von wenigen Augenblicken abhängig und so lösen wir uns aus der Gasse, springen über die Bordsteinkante und lassen die Straße hinter uns wie zwei flüchtende Schatten.

Wir sind schnell, verursachen kaum einen Laut und halten nicht inne, als wir die nächste Straße erreichen. Wieder halten wir uns nahe der Hausfassade, stets das gegenüberliegende Dach im Blick und nicht der Hast verfallend. Wir nähern uns dem Marktplatz und wie still ist es um uns herum. Als gäbe es keinen Feind, der uns jagt. Als wäre dies eine angenehme Sommernacht.

Doch er ist in der Nähe. Ich spüre ihn, als würde seine säuerliche Präsenz zu uns driften.

Und die Tatsache, dass er nicht die erste Gelegenheit zum Angriff nutzt, macht ihn nur gefährlicher. Er scheint zu kalkulieren und besitzt somit eine größere Gabe, als die roh auf Angriff programmierten Akuma.

Als wir eine Kreuzung erreichen, halten wir kurz inne und orientieren uns. Auf der anderen Seite der Kreuzung erwartet uns ein breiter Grünstreifen.

Bäume und Gebüsche sind ein Vorteil für den Akuma und ein Nachteil für uns und sofort nicke ich, als Kanda in die Richtung einer Quergasse weist. Wir haben einen Umweg auf uns zu nehmen, Sicherheit mit Zeitaufwand zu erkaufen und wieder fixieren wir all die umliegenden Dächer.

Es ist ermüdend und anstrengend, jeden Schritt zu durchdenken und nur kurz driften meine Augen über das Dickicht des Grünstreifens, bevor meine Hand Kandas Uniform erreicht. Innerhalb eines Augenblickes bekomme ich ihn zu fassen und ziehe ihn in die kleine Nische eines Ladeneinganges. Wir pressen uns gegen die Tür, bringen uns gerade so außer Sichtweite des runden Körpers, der sich aus der Dunkelheit des kleinen Parks herauslöst.

Abrupt hat sich ein Level-1 zu uns gesellt, doch mein Auge ihn früh genug entdeckt. Ich beiße die Zähne zusammen, während wir innehalten und ins in die kleine Versenkung pressen, die uns kaum Schutz bietet. Vor allem nicht, wenn sich der Akuma uns weiterhin nähert.

Während Kandas Augen mit gestochener Schärfe das gegenüberliegende Dach fixieren, wage ich einen flüchtigen Blick. In der Zwischenzeit sind es sogar Level-1, die die Kreuzung passieren, ganz offensichtlich suchend, doch sich letztendlich für eine andere Richtung entscheidend.

Ein ungläubiges Grinsen zuckt an meinem Mundwinkel, als ich mich zurücklehne.

Als wir die Stadt erreichten, habe ich keinen einzigen Akuma ausfindig gemacht. Mit einem Mal sind sie jedoch hier und eine immense Bedrohung, obwohl sie grundsätzlich keine würdigen Gegner für uns darstellen. Wenn sie uns jedoch entdecken, wären wir gezwungen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Aufmerksamkeit, die wir dem Level-3 gleichzeitig entziehen und er bräuchte nur einen Moment, um uns zu erwischen.

Die halbe Stadt scheint mit einem Mal belagert von den monströsen Körpern und den in Pein erstarrten Masken. Wie oft haben wir innezuhalten, wie oft den Augen der Akuma auszuweichen, während wir uns gleichzeitig vor den Angriffen des Level-3 schützen müssen.

Jeder Schritt muss durchdacht werden. Selbst der Kies auf dem Boden wird zur Gefahr und es fühlt sich tatsächlich an, als läge die halbe Nacht hinter uns, als wir endlich den Marktplatz erreichen und auf seiner anderen Seite die Herberge erspähen. Hinter ihren Fenstern liegt Dunkelheit. Die Besitzer und mögliche Gäste scheinen zu schlafen und nur kurz versuche ich die Distanz einzuschätzen.

Würden wir auf diesen Platz hinaustreten, wären wir umgeben von einem riesigen Kreis aus Dächern und Gassen. Selbst wenn wir rennen, bräuchten wir einige Sekunden und zumindest ich zweifle nicht daran, dass die instinktgesteuerten Level-1 die Herberge in Schutt und Asche legen würden, sobald sie uns in ihr verschwinden sehen.

Ich mustere die Gassen, versuche ihre Schwärze zu durchdringen, doch kein Level-1 scheint sich hier aufzuhalten. Letztendlich hat es wieder keinen Sinn zu zögern. Besser wird die Gelegenheit nicht und wir wechseln einen letzten Blick, bevor wir uns dieser Hürde stellten. Ich stoße mich ab, verlange alles von meinen Beinen und wie sprinten wir über das Kopfsteinpflaster.

Vielleicht ist es die Beklemmung durch unsere Situation, doch ich sehe bildlich vor mir, wie sich der Akuma aus der Finsternis der Nacht herauslöst, wie er sichtbar wird und uns anvisiert.

Fast glaube ich schon das Zischen der Nadeln zu hören, da erreichen wir die andere Seite des Platzes und wie laut erhebt sich das Krachen der Tür, gegen die sich Kanda rammt. Das Schloss berstet, die Tür bricht aus dem Rahmen und mit einem letzten Satz springen wir in den Innenraum der Herberge.

Ächzend stemme ich mich gegen den hölzernen Tresen der Rezeption, während Kanda die Tür zurück in den Rahmen drängt.

Wir haben es geschafft und draußen herrscht noch immer diese ironische Stille.

Als wären wir paranoid geworden und vor Schatten geflüchtet.

Zischend taste ich nach meiner Schulter. Die Bewegung hat meiner Verletzung nicht gut getan. Unter dem Stoff der Uniform spüre ich das Kitzeln von hinabrinnendem Blut. Es benetzt meine Finger, während Kanda die Vorhänge vor die beiden Fenster zieht. Vorerst sind wir sicher oder hoffen zumindest, es zu sein.

Das Ticken einer großen Wanduhr verbindet sich mit unserem geräuschvollen Atem und nur einen Augenblick halten wir inne, um zur Besinnung zu kommen, da erreicht uns aus dem Flur das leise Kratzen einer nahen Tür.

Unser Auftauchen war alles andere als unauffällig. Natürlich haben wir jemanden geweckt. Als sich das Knarren der hölzernen Bodendielen erhebt und der Flur in ein mattes Licht gehüllt wird, zieht Kanda an mir vorbei. Jemand schleicht sich näher.

„Sei still“, hören wir kurz darauf ein leises, angespanntes Flüstern. Ein Rascheln folgt und ächzend stemme ich mich in die Höhe. Kanda erreicht den Flur, das Knarren des Bodens ihn, und nur undeutlich erkenne ich die Bewegung eines großen Knüppels. Er schwingt ihm entgegen, doch Kandas Hand begegnet ihm schnell, umfasst ihn und löst ihn mühelos aus dem fremden Griff. Ein Ächzen ertönt, gefolgt von hastigen Schritten.

„Bitte!“, höre ich dann die Stimme eines Mannes. „Nehmen Sie, was Sie wollen, aber tun Sie uns nichts!“

„Wir wollen Ihnen nichts tun.“ Schwerfällig löse ich mich vom Tresen, während Kanda den Knüppel auf eine nahe Bank wirft. Als ich um die Ecke trete, blicke ich in die bleichen, angstvollen Gesichter eines älteren Ehepaares in Nachthemden. Die Öllampe, die die Frau hält, scheppert. „Es tut uns wirklich Leid, dass wir so eingedrungen sind aber wir befinden uns in einer Notlage.“

„Wo ist Ihr Telefon?“, fällt Kanda mir beinahe ins Wort.

Verstört starren uns die beiden an, doch nach wenigen Momenten sind es unsere Uniformen, denen sie Beachtung schenken. Eine Regung geht durch ihre Gesichter, bevor sie Blicke wechseln.

„Sie sind vom Schwarzen Orden?“, bringt der Mann dann hervor und nach einem kurzen Zögern nicke ich. Es geschieht nicht oft, dass Menschen diesen Zusammenhang bilden, doch hier scheint es sich endlich um einen glücklichen Zufall zu handeln. Das Ehepaar entspannt sich etwas.

„Mein jüngerer Bruder ist ein Finder“, erklärt der Mann, während Kanda die Hände in die Hüften stemmt.

„Wir brauchen Ihr Telefon.“ Seine Geduld neigt sich dem Ende entgegen.

„Wie gesagt befinden wir uns in einer schwierigen Lage“, versuche ich zu vermitteln. Mit großen Augen verfolgt die Frau, wie Tim über uns flattert. „Wir müssen das Hauptquartier kontaktieren.“

„Dringend“, fügt Kanda hinzu und nach einem letzten Zögern scheint auch die letzte Unsicherheit von dem Mann zu bröckeln. Er nickt, hebt den Arm und zieht an uns vorbei.

„Hier entlang, bitte.“
 

Als ich mich auf einen Stuhl in einem der Hinterräume sinken lasse, spüre ich die Schwäche in meinen Beinen. Der Herbergenbesitzer bot mir den Platz an und wie sinke ich gegen die Rückenlehne, während Kanda mit Komui telefoniert. Die Atmosphäre in dieser unseligen Lage ist angenehmer geworden und das Ehepaar beruhigt. Die Frau bietet mir einen Tee an und dankbar nicke ich, während der Mann sich zu mir setzt. Nach dem anfänglichen Schrecken sind die beiden jetzt sogar sehr eifrig, ich könnte fast meinen, stolz. Als würden sie es genießen, Mitgliedern des Ordens zu helfen, dem sich auch ihr Verwandter verschrieb.

Müde öffne ich meine Uniform. Ich muss meine Wunde versorgen, die Blutung stillen und mir gegenüber höre ich ein Ächzen, als ich mich aus dem Stoff winde und meine Schulter befreie.

„Grundgütiger.“ Der Mann schnappt nach Luft. „Sie brauchen einen Arzt!“

„Sieht schlimmer aus, als es ist. Haben Sie einen Verbandskoffer?“

„Natürlich.“ Sofort springt er auf die Beine und eilt aus dem Raum. „Ich bringe Ihnen auch Wasser!“

Vorsichtig presse ich die Hand auf die Wunde. Das getrocknete Blut klebt auf meiner Haut, überzieht längst schon meine Finger und erinnert mich an die Momente in der Illusion. Fast fühle ich mich in sie hineinversetzt. Ich schöpfe tiefen Atem, schließe die Augen.

Aus der nahen Küche dringen Geräusche zu mir. Die Frau ist eifrig beschäftigt und kurz versuche ich auch Kandas Stimme in der Ferne zu hören, doch die eiligen Schritte des Mannes verschlucken jedes andere Geräusch. Flatternd lässt sich Tim auf dem kleinen Tisch vor mir nieder. Sein Flügel berührt mein Knie, als wolle er mich trösten, mir Mut machen. Als hätte ich es nötig.

Ich hoffe, dass das Umfeld sicher ist. Und ich hoffe, dass wir das gute Ehepaar mit unserer Gegenwart nicht in Gefahr bringen. Es kennt den Orden, doch tut es nur entfernt, denn die Informationen, die Finder an ihre Verwandten weitergeben dürfen, existieren so gesehen nicht. Wie könnten die beiden also das Ausmaß einschätzen?

Dabei hatten wir keine andere Wahl, als sie zu involvieren.

Kanda telefoniert noch immer, als ich den Verbandskasten bekomme, auch warmes Wasser, um mich zu waschen. Das Blut zu entfernen, ist eine Herausforderung. Auf dem Tisch steht bereits eine Kanne mit frischem Tee, während zwei Augenpaare jeden meiner Handgriffe verfolgen.

Ebba und Isak heißen die beiden Herbergenbesitzer, die derzeit nur zwei Gäste haben.

„Wie schlimm ist es?“, erkundigt sich Isak irgendwann. Er sieht besorgt aus und es ist ihm nicht zu verübeln. Erneut tauche ich das Tuch in das bereits rote Wasser, wringe es aus und suche nach den richtigen Worten.

„Zu diesem Zeitpunkt ist es schwer zu sagen“, antworte ich letztendlich. „Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass wir Verstärkung bekommen. Und vielleicht“, ich halte inne und begegne ihren Blicken, „sollten Sie das Haus erst einmal nicht verlassen.“

Isaks Augen senken sich zum Boden, während sich Ebba bekreuzigt. Selbst die sensibelste Antwort gibt einen Grund zur Sorge und nachdenklich verfolge ich, wie sich die Hände der beiden erreichen. Sie suchen nach Halt und flüchtig presse ich die Lippen aufeinander.

„Aber ich sage Ihnen eines“, ergreife ich dann wieder das Wort. „Wir werden Sie beschützen.“

Als Schritte zu mir dringen, blicke ich zum Flur. Kanda kehrt zurück und eine flüchtige Stille herrscht zwischen uns, als er einen der Stühle näherzieht und sich neben mir niederlässt.

„Marie ist gerade in Deutschland.“ Beiläufig nimmt er das Tuch aus meiner Hand. Eine Geste bittet mich darum, mich umzudrehen. „Komui versucht gerade, ihn zu erreichen. So oder so wird er aber nicht vor morgen Abend bei uns sein. Und Komui will nicht, dass er sich der Stadt alleine nähert, also wird er auch Lavi schicken, der sich praktischer Weise in Norwegen herumtreibt.“

Lavi und Marie, also. Die Dinge könnten schlimmer stehen.

Kurz durchsucht Kanda den Verbandskasten, bevor sich eine Kompresse auf die hintere Wunde drückt.

„Halten.“

Sofort taste ich nach hinten und fixiere das Stück Stoff, während Kanda die Schicht des Blutes von meiner Haut entfernt.

„Die Finder werden sich vorerst von der Stadt fernhalten“, fährt er fort. „Sie würden sowieso nicht lange überleben, uns vermutlich noch in die Quere kommen.“

Ich bemerke den Blick, den das Ehepaar wechselt, räuspere mich, doch einen solchen Wink versteht Kanda prinzipiell nicht. Er bleibt an meinem Rücken zugange. „Haben Sie hochprozentigen Alkohol?“

Wieder macht sich Isak auf den Weg.

„Möchten Sie vielleicht auch einen Tee?“, erkundigt sich Ebba, doch Kanda dankt ab. Verträglich greife ich nach meiner Tasse und schenke der Frau ein Lächeln, das sie etwas brüchig erwidert.

„Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu warten.“ Vorsichtig nippe ich an der Tasse und balanciere sie gerade noch so aus, als Kanda meinen Oberkörper etwas nach vorne drängt.

Wenige Momente später bringt Isak einen guten Schnaps und so komme ich weiterhin in den Genuss der herzlichen Behandlung. Kanda geht routiniert vor, zögert nicht, bevor er die Wunden desinfiziert und um meine Kräfte steht es nicht viel besser, als Ebba nach Nadel und Faden sucht.
 

Meine ganze Schulter wird von einem dumpfen Schmerz beherrscht, als ich irgendwann auf einem kleinen Sofa liege und hinter den vorgezogenen Gardinen die beginnende Dämmerung sehe. Die Nacht ist vorbei. In Kürze werden die Menschen wieder durch die Straßen ziehen. Die allgemeine Geschäftigkeit wird den Eindruck vermitteln, in den dunklen Stunden wäre nichts geschehen.

Komui rief längst zurück. Marie und Lavi sind auf dem Weg und werden sich melden, sobald sie in der Nähe sind. Solange werden wir uns in diesem Haus verkriechen und ich alle möglichen Kräfte sammeln, die für das Kommende nötig sind.

Tim hat es auf meinen Beinen bequem. Hin und wieder spüre ich seine Bewegungen, während ich versuche, in den Schlaf zu kommen. Meine Augen geben mir das Gefühl, sie hätten es nötig, doch mein Bewusstsein kann sich nicht von der Realität trennen, als fürchte es weitere Fiktionen. Das monotone Ticken der Uhr durchdringt die Stille, als ich einmal mehr die Lider hebe, den Kopf auf der Lehne wende und zu Kanda blicke.

Er bewegt sich wenig, sitzt in einem nahen Sessel und wenn ich ihn mir so betrachte, dann scheint er fern. Den Ellbogen auf das Polster gestützt, bewegt er absent die Finger am Mund und schenkt meiner offensichtlichen Beobachtung keine Aufmerksamkeit.

Ich könnte nicht beschreiben, was ich an ihm wahrnehme, doch etwas stört mich an seinem Verhalten.

Seit ich zu mir kam und ihn neben mir sitzen sah, spüre ich ein gewisses Jucken, das ich nicht näher lokalisieren kann.

Was sah er, frage ich mich wieder.

Wovor fürchtet er sich am meisten?

Ich könnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, wovor er sich ein wenig fürchtet, ganz zu schweigen vom Gipfel seiner Ängste, wenn dergleichen überhaupt in ihm existiert. Doch er ist ein Mensch, erinnere ich mich an Maries Worte. Menschen fühlen, denn sie können nicht anders und so wird auch er etwas versteckt halten, das die Illusion zutage förderte.

Er blinzelt, starrt schon wieder auf einen Punkt, der nicht existiert. Manchmal bewegt er die Lippen, doch nur, um sie kurz darauf schon hinter der Hand zu verbergen. Er möchte nichts sagen. Es macht nur den Eindruck.

„Geht es dir gut?“ Fast unwillkürlich stelle ich ihm die Frage, spreche sie aus, bevor ich mich wirklich dazu entschloss und entgegen seines abwesenden Anscheins reagiert er sofort. Er blickt zu mir und bietet mir das, was ich erwartete und die Frage im Grunde sinnlos machte. Er wirkt skeptisch. Als wäre die Thematik aus dem Himmel gegriffen. Als gäbe es absolut keinen Anlass, sie zu stellen.

Generell ist es eine Frage, auf die er selten positiv reagiert. Wenn überhaupt.

„Ja“, antwortet er letztendlich in einem Tonfall, der meine Sorge ein wenig belächelt. „Mir passt nur das Warten nicht.“

„Mm.“ Träge blicke ich zur Zimmerdecke auf.
 

-tbc-

13

Kurz nachdem die Sonne aufgeht, erwacht die Stadt zum Leben. Menschen tummeln sich auf den Straßen, über die wir uns in der Nacht angespannt schlichen. Auf dem großen Marktplatz vor der Herberge werden die Stände aufgebaut und es dauert nicht lange, bis die Massen hinaus auf diese weite Fläche fließen. Das bunte Meer aus Stadtbewohnern macht den Eindruck, hier handele es sich um den Alltag. Sogar um einen ganz besonders schönen, denn die Sonne scheint und die Stimmung ist ausgelassen.

Reglos lehne ich am Fenster und blicke durch einen Spalt der Gardine nach draußen. Nur flüchtig betrachtete ich mir die angrenzenden Dächer, bevor mein linkes Auge reagierte und die heitere Schar nun aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Überall sehe ich das matte Leuchten gefangener Seelen, die über das Meer aus Köpfen driften. Es wird zu einem makabren Bild, denn neben diesem Sonnenschein und all der Bewegung kommt es zu einer Ansammlung, die einer Belagerung gleicht. Nur einmal versuche ich die Akuma zu zählen, bevor ich ratlos den Kopf schüttle.

„Wie viele?“ Kurz wirft auch Kanda einen Blick auf den Marktplatz und ächzend trete ich vom Fenster weg und sinke auf einen nahen Stuhl.

„Zu viele. Irgendetwas braut sich zusammen.“ Ich rutsche tiefer und taste nach Tim. Er lässt sich auf meinem Bauch nieder und in der folgenden Stille zähle ich abermals das Stechen meiner Schulter. Kurz schließe ich auch die Augen, atme bewusst gegen die Schmerzen und dann findet meine Aufmerksamkeit zurück zu Kanda.

Mit verschränkten Armen lehnt er am Fensterrahmen, sondiert die Umgebung, das Meer aus Freude und Bewegung, das an der Fassade dieses Hauses abrupt zu enden scheint. Seine Miene ist entspannt und auch sonst macht er den Eindruck, das Kommende gelassen zu erwarten. Absent driftet meine Hand über Tims Körper. Marie und Lavi sind auf dem Weg und werden sich melden, sobald sie in Reichweite sind. Von diesem Moment trennen uns jedoch noch Stunden.

„Wir können den Kampf nicht in dieser Stadt austragen“, sage ich irgendwann, müde an Tims Flügeln zupfend. „Nicht mit dieser Masse an Akuma und dem unsichtbaren Jäger. Nicht in der Nähe all dieser Menschen.“

Kanda regt die Arme und neigt den Kopf, um seinen Überblick zu erweitern. Er antwortet nicht, scheint nachdenklich.

„Letztendlich haben wir immer dieselben Chancen wie er“, seufze ich. „Auf einer freien Fläche erwischen wir ihn ebenso gut wie er uns und wenn uns die Gegend die Möglichkeit bietet, uns zu verstecken, dann wird er dasselbe tun. Zumindest nützt ihm seine Unsichtbarkeit nichts mehr, wenn Marie bei uns ist.“

Das Knarren der Bodendielen lenkt unsere Aufmerksamkeit zur Tür. Es ist Isak, der zu uns tritt.

Für die Außenwelt bleibt diese Herberge heute geschlossen. Vermutlich wirkt sie nicht einmal besonders auffällig, während in ihr eine parallele Welt zu existieren scheint. Der ältere Mann wirkt angespannt, während er sich die Hände reibt und inne hält. Er sucht nach Worten und schickt uns ein brüchiges Lächeln.

„Möchten Sie vielleicht etwas essen?“, erkundigt er sich dann und während sich Kanda kopfschüttelnd wieder dem Fenster zuwendet, richte ich mich auf. Natürlich möchte ich etwas essen und obwohl diese beiden Helfer beinahe unpassend erscheinen, wenn man unsere Lage betrachtet, bin ich doch dankbar für diesen fragwürdigen Zufall, sie getroffen zu haben. Als würde uns das Leben einen kleinen Hoffnungsschimmer senden.

„Dann werden wir Ihnen etwas zubereiten.“

„Danke.“

Er nickt, versucht sich wieder in einem Lächeln, bleibt stehen, reibt seine Hände abermals und sucht nach weiteren Worten.

„Wie geht es weiter?“, erkundigt er sich kurz darauf.

„Sobald unsere Freunde uns kontaktieren, werden wir dieses Haus verlassen“, antworte ich. „Das Beste wäre es, wenn wir die Verfolger komplett aus der Stadt locken könnten. Wir werden alles tun, damit Sie nicht noch mehr involviert werden.“

Das sage ich ihm und hoffe inständig, dass wir dieses Versprechen wirklich halten können.

Isak schöpft tiefen Atem. Er wirkt erleichtert.

„Wir brauchen Pläne von der Stadt und der Umgebung“, meldet sich Kanda in dem Moment zu Wort und löst sich vom Fenster. Auch damit kann Isak dienen und während uns bald darauf die entfernten Geräusche in der Küche erreichen, vertiefen wir uns in das Papier, das wir auf einem großen Tisch ausbreiteten.

Es liegt an uns, ein Konstrukt des Widerstandes zu bauen, da wir den Feind so gut kennen, wie es uns möglich ist. Wenn Lavi und Marie die Umgebung erreichen, muss ein Plan stehen, nach dem sie sich richten können und der all das nicht weiterhin in die Länge zieht.

Erleichtert stelle ich fest, dass die Herberge recht nahe am Stadtrand liegt und wir diesen innerhalb kurzer Zeit erreichen könnten. Wenn wir schnell sind und nicht zu vielen Umwegen gezwungen werden.

Neben mir stemmt sich Kanda mit den Ellenbogen auf den Tisch, drängt Tim mit dem Arm zur Seite und studiert das Umfeld, das uns hinter dem Stadtrand erwarten würde. Vorerst sind es Wälder, die sich dort erstrecken, doch nicht weiter als einen Kilometer. Kandas Finger driften über das Papier und messen die Distanz.

Die Aussicht, den Jäger in diesem Meer aus Stämmen und Geäst zu erwischen, liegt nahe bei null, doch gleichzeitig dürften auch wir halbwegs sicher sein, wenn wir nicht stehen bleiben.

„Was ist das?“, weise ich auf die dunkle, mit leichten Strukturen versehene Fläche, die auf den Wald folgt. Ich lehne mich zu Kanda, versuche die ergraute Schrift zu entziffern. „Ein Tagebau?“

„Scheint so.“ Flüchtig reibt er sich den Mund, noch immer in die Betrachtung vertieft.

Eine freie Fläche, denke ich. Sie bietet keinem von uns Schutz, doch gleichzeitig glaube ich, dass sie uns doch zum Vorteil gereichen dürfte.

„Nach dem Gewitter gestern dürfte der Boden noch sehr schlammig sein“, beweist mir Kanda denselben Gedankengang. Sein Zeigefinger tippt auf die braune Fläche. „Wenn uns der Jäger dorthin folgt, kriegen wir ihn.“

„Und wenn er es nicht tut, verliert er uns aus den Augen“, nicke ich. „In diesem Fall können wir ihn jagen, denn er muss uns sehen, Marie ihn aber nur hören.“

„Mm.“

Es fühlt sich gut an, dieses weitere realistische Stück Hoffnung, das unsere Situation in ein neues Licht rückt. Vorerst wurden wir zum Rückzug gezwungen, doch nur um uns strategisch neu zu ordnen. Der nächste Schlag kommt von uns und was auch immer uns erwartet, innerhalb der Stadt und dem folgenden Wald, wir müssen durchbrechen, koste es was es wolle.
 

Wir wechseln weitere Worte, brüten über die Planung und versuchen ebenso zu bedenken, was uns in die Quere kommen könnte. Letztendlich wurden unsere Erwartungen bisher stets in geringem Maß erfüllt. Die Mehrheit stellt das dar, was man als Unplanmäßigkeit bezeichnet. Vermutlich werden wir überrascht, vermutlich müssen wir improvisieren, doch unser Konstrukt ist erbaut aus all dem, was sich uns derzeit bietet und nicht zuletzt die Tatsache, dass ich diesen Weg gemeinsam mit Kanda gehen werde, schenkt mir Zuversicht.

Nachdem ich etwas gegessen habe, nutzt Kanda einen Teil der verbleibenden Zeit, um etwas zu schlafen. Ich sitze am Tisch, während er das Sofa für sich einnimmt und nicht nur einmal blicke ich zu ihm. Er liegt auf der Seite, kehrt mir den Rücken, bettete den Kopf auf der Armlehne und seine tiefen Atemzüge verrieten mir, dass er binnen kürzester Zeit einschlief. Vermutlich beschränkt sich seine Pause auf wenige Stunden. Im Bestfall, wenn wir wirklich ungestört bleiben, bis sich Lavi und Marie melden.

Meine Lider sind schwer, während ich mich mit Tim befasse. Irgendwann schaue ich mir seine Erinnerungen an, versuche mit den Momenten in Berührung zu kommen, an die ich mich nicht erinnere und wie konzentriert betrachte ich mir, was er preisgibt. Ich stemme das Kinn in die Hand, während die flackernden Bilder vor mir laufen und ich uns erkenne, umgeben vom nächtlichen Frieden auf jenem Dach.

Wir warteten, ich aß Teigtaschen, Kanda warf einen Blick auf seine Uhr. Mein Mund bewegt sich stumm, kurz darauf kommt Kanda auf die Beine und wie lehne ich mich diesen Szenen entgegen, wie warte ich auf das, zu dem ich keinen Kontakt habe und wie bizarr wirkt es, als ich mich selbst auf diesem Dach zusammensacken sehe. Die Nadel wurde in ihrer Schnelligkeit nicht erfasst und sah ich es selbst bei Kanda, so bin ich es nun selbst, der jegliche Körperspannung verliert und wie leblos auf die Ziegel sinkt.

Leicht verzerrt erkenne ich, wie Kanda reagiert. Er fährt herum, starrt zu mir, starrt in die Dunkelheit und nur kurz macht sein Körper Anstalten sich duckend in eine Deckung zu begeben, da verliert auch er jegliche Körperspannung. Eine leichte Drehung verrät, dass die Nadel seinen Arm streifte, bevor auch er zusammenbricht und ich spüre nicht, wie sich mein Atem verflacht, als ich mir dieses Bild betrachte.

Zwei Tote glaube ich auf diesem Bild zu sehen und mein Atem stockt. Ich lehne mich noch näher, hoffe einen kurzen Blick auf den Angreifer werfen zu können, doch es vergehen tatsächlich nur wenige Augenblicke, bis Kanda sich wieder zu bewegen beginnt. Innerhalb weniger Sekunden ist sein Bewusstsein wieder Teil der Situation und kaum richtet er sich auf, da erreicht seine Hand den Griff Mugens.

Wie schnell kann er sich von dem lösen, was er sah.

Das denke ich, doch sehe ihn kurz darauf inne halten. Ich glaube zu erkennen, wie sich sein Körper unter fahrigen Atemzügen regt, während er sich auf die Dachziegel presst. Erneut scheinen seine Augen mich zu erreichen, doch eine Regung in der Dunkelheit und außerhalb des Bildes lässt den Moment abrupt enden. Kanda erwacht zum Leben, zischend verlässt die Klinge die Scheide und dann kommt er auf die Beine. Sein Körper bewegt sich mit der bekannten Schnelligkeit, scheint leicht Halt auf den Ziegeln zu finden und nur flüchtig erfassen meine Augen, wie sich das Mondlicht in Mugens Klinge widerspiegelt, bevor Kanda das Bild der Erinnerungen mit einem Sprung verlässt.

Unruhig driftet das Bild über meinen reglosen Körper. Tims Prioritäten zu diesem Zeitpunkt waren deutlich und so bleibt das kurze Aufeinandertreffen zwischen Kanda und dem Feind unerreichbar.

Wie ein Schatten kehrt Kanda kurz darauf zurück und driftet an mir vorbei. Nur seine Hand erreicht mich, schlägt sich in meine Uniform und zieht mich mit sich. Ich rutsche über die Dachziegel wie eine leblose Puppe und flüchtig glaube ich zu erkennen, wie Kanda Tim ruft, bevor das Bild der Erinnerung flackernd erlischt.

Eine Weile sind meine Augen ziellos auf den Golem gerichtet, bevor ich abermals zu Kanda blicke.

Was auch immer er sah, es ließ ihn für einen Moment erstarren und so vertraut wir einander auch sind, er verbot mir, den Fuß in dieses Gebiet zu setzen, indem er meine Frage unbeantwortet ließ. Zermürbt reibe ich mir das Gesicht, bevor ich an meinem Gürtel nach einer der Taschen taste und meine Uhr hervorziehe. In der Zwischenzeit sind die späten Nachmittagsstunden angebrochen. Die Zeit vergeht, Lavi und Marie nähern sich der Stadt und so undurchsichtig es auch ist, das uns erwartet, ich wünschte, sie wären bereits hier und würden uns erlauben, uns endlich in Bewegung zu setzen.
 

Kanda schläft unerwartet lange, bevor er sich zu regen beginnt. Er dreht sich auf dem Polster und wendet sich auf die Seite, bevor mich ein tiefes Durchatmen erreicht. Nur langsam scheint er an die Oberfläche zu driften und ich fühle mich wie ein erbärmlicher Teil der Situation, nachdem ich Stunde und Stunde damit zubrachte, ihn zu beobachten und mir von einem Schlafenden Zeichen zu erhoffen, die mir ein Wacher nicht geben wollte. Auf jedes Zucken seiner Miene achtete ich, auf jede ziellose Bewegungen seiner Hand. Er machte den Eindruck zu träumen, ohne dass ich einzuschätzen wusste, was ihm widerfuhr. Vor seinen Augen schienen Bilder abzulaufen, denen er folgte, doch letztendlich blieb er ruhig und natürlich schwieg er auch in diesem Zustand.

Ich verfolge wie seine Hand träge den Nacken ertastet und ihn kratzt. Ein weiterer tiefer Atemzug zeugt davon, dass er die Realität fast erreicht hat und entrückt in diese Beobachtung zucke ich zusammen, als sich vor mir das Rauschen einer sich aufbauenden Verbindung erhebt. Jemand kontaktiert uns, abrupt endet der stille Moment und natürlich richtet sich Kanda bereits auf, als uns eine Stimme erreicht.

„Allen? Yu? Hört ihr mich?“

„Lavi.“ Erleichtert lehne ich mich Tim entgegen. In der Leitung rauschen schnelle Atemzüge. Er scheint in Bewegung zu sein. „Wo bist du?“

„Marie und ich haben uns gerade getroffen“, antwortet er keuchend. „Wir sind etwa drei Kilometer nördlich von Faltning. Geht es euch gut?“

„Wir sind in Ordnung“, versichere ich ihm und wie befreiend ist es, dass das Ende dieser Sackgasse voll Untätigkeit nahe ist. Kanda tritt zu mir und erneut spähe ich zur Karte. „Lavi, hör zu. In der Stadt bricht die Hölle aus, wenn ihr sie betretet. Hier können wir nicht kämpfen.“

„Was schlägst du vor?“

„Westlich der Stadt liegt ein alter Tagebau, zu dem wir uns durchschlagen würden. Wenn ihr dort auf uns wartet, haben wir zumindest ein paar der wenigen Vorteile auf unserer Seite. Macht euch darauf gefasst, dass wir nicht alleine kommen.“

„Klingt spannend. Womit haben wir es zu tun?“

Ich erkläre ihm das nötigste und als wir die Verbindung beenden, schöpfe ich tiefen Atem und lehne mich zurück. Lavi wird sich melden, sobald sie den Tagebau erreicht haben. Erst dann setzen wir uns in Bewegung setzen und wie wünschte ich, die Zeit würde schneller vergehen und die Sicherheit der Zivilisten sicherstellen. Jeder Augenblick, den wir in diesem Haus zubringen, senkt über Ebba und Isak eine Gefahr, die sich schwer einschätzen lässt.

Von da an halte ich mich auf den Beinen, bin ziellos im Raum unterwegs und nicht selten trete ich an das Fenster heran und spähe nach draußen. Man könnte meinen, der Marktplatz vor der Herberge würde sich leeren, doch das tut er nicht in einem Maß, das uns Zuversicht brächte. Die Stadtbewohner sind es, die sich allmählich zurückziehen, zurück bleibt der Feind und nicht selten erfasse ich die Blicke der menschlichen Hüllen und ihr Driften in unsere Richtung. Als wüssten sie, wo wir uns verstecken. Misstrauisch verfolge ich ihr zielloses Schlendern über den großen Platz. Gründe für eine Belagerung sind hier nicht gegeben, denn wir zogen uns zurück in ein Haus, das aus Holz besteht und binnen weniger Momente dem Erdboden gleichgemacht werden könnte. Was hält sie zurück, frage ich mich und spüre mit Unwillen, wie die Situation mehr und mehr zu einer undurchsichtigen Lage heranwächst.

Auch den Dächern schenke ich Aufmerksamkeit, taste ein jedes mit den Augen ab und frage mich, ob es nicht längst unsichtbare Pupillen gibt, die meine Blicke erwidern.

Ein weiteres Mal spähe ich zu der kleinen Uhr an der Wand und presse die Lippen aufeinander.

Kanda verließ den Raum vor kurzem. Ich höre, wie nicht weit entfernt die hölzernen Bodendielen unter seinen Schritten knirschen und knacken. Er behält den Hinterhof im Blick, die Richtung unserer Flucht, doch auch dort treiben sich bereits die ominösen Gestalten herum. Das Haus ist eingekreist und nicht selten lausche ich in die erdrückende Stille und befürchte, dass mit einem Mal die Fenster unter Explosionen bersten. Jederzeit könnten sie uns angreifen und nahezu unmöglich wäre es, das ältere Ehepaar in einer solchen Situation zu schützen.

Ächzend sinke ich irgendwann auf das Sofa und strecke die Beine zu mir. Tim leistet mir Gesellschaft, doch schweigt noch immer. Vielleicht trafen auch Lavi und Marie auf ihrem Weg auf Widerstand. Ich kenne die Lage des weiten Umfeldes nicht. Es wäre seltsam, es zu tun, während ich nicht einmal die meines nahen Kreises begreife. Ich bette den Hinterkopf an der Rückenlehne und schließe die Augen.

Die Wunde, die die Nadel in meiner Schulter hinterließ, ist verhältnismäßig klein. Sie riss kein großes Loch und obwohl ich die Schmerzen noch immer spüre, so weiß ich doch, dass sie mich in den nächsten Stunden nicht blockieren werden. Ich werde Kandas Schnelligkeit gerecht und auch im folgenden Kampf wird er mir keine Aufmerksamkeit schenken müssen. Vorsichtig taste ich unter meiner Uniform und fühle kurz darauf die Kompresse, die die vordere Naht schützend unter sich verbirgt.

Unwillkürlich zucke ich zusammen. Die Stille endet, doch nicht durch eine Explosion. Rauschend baut sich die Verbindung auf und sofort löse ich mich von der Rückenlehne.

„Lavi?“ Ich neige mich Tim entgegen. Kanda tritt in den Türrahmen und zunächst ist es erneut Lavis Keuchen, das uns erreicht.

„Wir sind am Tagebau“, ächzt er.

„Wie sieht er aus?“, erkundige ich mich sofort. Wieder rauscht sein Keuchen in der Leitung.

„Wie eine riesige Schlammgrube, die kaum Verstecke bietet. Bist du sicher, dass wir es hier austragen sollen?“

„Uns bleibt keine andere Wahl.“

Als die Verbindung kurz darauf endet, begegne ich Kandas Blick. Er deutet ein Nicken an und so komme ich auf die Beine. Es ist bizarr, doch es beruhigt mich, mich endlich der Ungewissheit ausliefern zu können. Wie Kanda es sagte, Untätigkeit in einer solchen Lage ist unerträglich und wie leicht fällt es mir aus dem Raum zu treten. Ebba und Isak zogen sich in ein Zimmer im Erdgeschoss zurück und als ich an die Tür klopfe und ihre Gesichter im abgedunkelten Raum erkenne, da begreife ich, dass das Warten auch an ihnen nicht spurlos vorüberging. So selbstlos sie uns auch halfen, an diesem Punkt muss es enden.

Ich bitte sie, die nächsten Momente im Keller zu verbringen, doch fühle mich gleichzeitig wohl damit, ihnen spätestens jetzt Zuversicht schenken zu können. Was die Gefahr anzog, wird nun aus ihrem Leben verschwinden. Die letzte Bedrohung besteht aus einem frühen Angriff, durch den das Haus Schaden nimmt, doch ich habe nicht vor, den Akuma so viel Zeit zu bieten. Ein letztes Mal schüttle ich ihre Hände, bedanke mich für alles und als ich sie in Sicherheit weiß, verschwindet auch die letzte Hürde auf unserem Weg.

Leise kehre ich zurück in das erste Obergeschoss und trete neben Kanda an das Fenster.

Auf der anderen Seite des Glases liegt bereits die Dämmerung und nur kurz blicke ich zu den sich bewegenden Schatten in der Gasse unter uns. Die anderen Dächer sind nah und leicht zu erreichen, doch lange können wir nicht vorlieb mit ihnen nehmen, denn so schnell wir auch wären, wir wären ein leichtes Ziel.

Ich hebe die Hand, signalisiere Kanda, dass ich so weit bin und betrachte mir das endlos erscheinende Meer aus Häusern, das uns vom Wald trennt.

Leise entriegelt Kanda das Fenster, ebenso leise schöpfe ich tiefen Atem und als ich dann in die Knie gehe, spüre ich bereits die nötige Anspannung meines Körpers.

Rennen. Das ist unser Plan, doch in der sich tiefer neigenden Dunkelheit könnte uns alles erwarten.

Flüchtig ertaste ich Tim, der neben mir flattert. Ich tätschle ihn, hoffe dass auch er den Weg unbeschadet übersteht und als Kanda das Fenster mit einem Mal weit öffnet, da setze ich mich in Bewegung.

Ich stoße mich ab, springe mit einem Satz nach draußen und tauche ein in die frische Luft, die wir so lange mieden. Angenehmer Wind umspielt mich, bevor ich auf ein nahes Dach niedergehe und dünne Ziegel unter meinen Stiefeln brechen.

Mit einem Mal geben wir uns zu erkennen, tauchen ein in die bedrohliche Präsenz all derer, die auf uns lauerten und kaum komme ich auf die Beine, da erreicht auch Kanda das Dach. Begleitet nur von leisen Geräuschen bewegen wir uns wie Schatten und ich bin dankbar für jeden Schritt, um den ich mich von jenem Haus entferne.

Ein Knacken erhebt sich in der Gasse unter uns, als wir das Dach überqueren und es bleibt keine Zeit, den Boden zu überblicken, bevor wir über die Regenrinne gleiten und vom Dach hinab in das Dämmerlicht der Straßen. Nur aus den Augenwinkeln erfasse ich eine Bewegung und kaum setze ich auf dem Boden auf, da stoße ich gegen den Körper eines Mannes. Er stolpert zur Seite, eilig komme ich auf die Beine und nur kurz spähe ich zu ihm und erkenne seine empörte Miene, bevor ich Kanda folge. Nur ein Moment bleibt, zwischen Feind und Mensch zu differenzieren, doch spätestens als ich hinter mir lautes Fluchen höre, entspannt sich zumindest dieser Augenblick.

Fast beruhigend begleitet uns die empörte Stimme des Mannes, während wir eine Straße hinabrennen und uns kurz darauf in eine Gasse zurückziehen. Es bleibt keine Zeit, das Umfeld zu mustern. Keine Zeit, nach Verfolgern zu suchen, doch ich glaube zu spüren, wie sich die Luft um uns herum verdünnt. Man ist uns auf den Fersen und nicht nur hinter uns scheint sich der Feind zu regen ganz zu schweigen von jenem unsichtbaren Schrecken, den ich immer in unserer unmittelbaren Nähe wahrzunehmen glaube.

Mit einem Sprung setze ich über eine Pfütze hinweg, folge Kanda in einen schmalen Pfad zwischen zwei Häusern, doch nur wenige Schritte setzen wir in ihn hinein, bevor sich aus dem Dämmerlicht die Umrisse einer kleinen Gruppe hervorheben. Mit einem Mal erheben sich fünf Männer vor uns und Kanda reagiert, bevor es mein Auge tut. Kaum erleuchten die verlorenen Seelen über ihren Köpfen, da springt er auf einen nahen Müllcontainer, hechtet sich hinauf zur Regenrinne des Hauses und zieht sich hinauf.

Schlingernd nähert sich uns bereits die Gruppe, zuckend zerfressen die ersten Risse ihre Hüllen, doch bevor die wahren Formen der Akuma hervorbrechen, folge ich Kanda. Ich strecke den Arm, kurz darauf erreichen sich unsere Hände und schon verschwinde auch ich auf dem Dach.

Wieder verlieren wir den Schutz der Häuser, wieder geben wir uns zu erkennen, doch nur wenige Meter haben wir hinter uns zu bringen, bevor wir in die nächste Gasse hinabspringen. Unscheinbar entwickelt sich im Dämmerlicht der Stadt Unruhe. Unauffällige Menschen setzen sich in Bewegung, überall meine ich bald darauf Schritte und Geräusche zu hören, überall Schatten zu sehen, doch halte erst inne, als sich in weiter Ferne ein gellender Schrei erhebt. Es ist die entsetzte Stimme einer Frau und keuchend versuche ich die Richtung auszumachen, bevor ich Kanda über eine Straße folge. Ein kalter Schauer kriecht über meinen Rücken, als ich die ersten Menschenopfer durch die Akuma-Belagerung befürchte.

Vielleicht flüchtete die Stadtbewohnerin, vielleicht entkam sie unverletzt. So viele Gedanken zerfressen meinen Kopf, während ich mich in die entgegengesetzte Richtung bewege. Ich kann nicht umdrehen, kann nicht helfen, kann niemanden retten und wie beiße ich die Zähne zusammen.

Die Luft um uns scheint sich weiterhin zu verdünnen. Überall driften Schatten aus den Gassen, das Knacken von Bewegungen rückt näher und kurz darauf erreicht uns ein fernes Krachen. Etwas scheint in sich zusammenzustürzen, bedrohlich schwelt die Katastrophe und nur flüchtig erkenne ich die stockenden Bewegungen zweier Menschen, die sich uns auf einer schmalen Straße nähern, da aktiviere ich mein Innocence. Kurz begegne ich Kandas Augen, doch es braucht keine Worte, um ihm mein Vorhaben begreiflich zu machen. Seine Hand findet zu Mugen, während wir uns den beiden Akuma nähern. Diesmal kein Ausweichen, doch es hat schnell zu gehen und wie bete ich, dass die Explosionen wie ein Magnet das Böse aus der Stadt ziehen und stattdessen auf unsere Spur.

Kurz erhellt das bläuliche Leuchten Mugens das nahe Umfeld, bevor wir auf die beiden treffen. Wir erreichen sie schnell, lassen ihnen kaum die Zeit, ihre wahre Gestalt zu zeigen und gerade halten sie inne, gerade wollen ihre Hülle von ihnen platzen, da schmettere ich den einen gegen eine nahe Mauer. Im selben Moment frisst sich die leuchtende Klinge durch den anderen und es bleibt bei einem flüchtigen Kontakt, bevor wir die beiden hinter uns lassen und kurz darauf die Hitze der nahen Explosionen spüren. Laut zerreißt es die Körper der Akuma, dunkel steigt hinter uns der Rauch gen Himmel und wie hoffe ich, dass er das Böse anlockt und von den Stadtbewohnern entfernt.

Immerzu bleiben wir in Bewegung und mit jeder Minute scheint die Stadt um uns herum mehr zum Leben zu erwachen. Es ist nicht mehr nur das Schallen unserer Schritte und unser gehetzter Atem, es ist nahes Knirschen und Rascheln, während die Schatten näher und näher zu rücken scheinen. Spätestens die Explosionen trieb viele Menschen aus ihren Häusern und nicht nur einmal erkenne ich Leute auf den Straßen, über denen keine geknechtete Seele hängt. Augen erfassen uns stets nur kurz, während wir wie Schatten dem Wald entgegenflüchten und nicht selten spähe ich zu nahen Dächern.

Keine Ziegel brechen, keine Dachrinnen knarren. Es ist als würden wir uns jenen speziellen Verfolger nur einbilden und dennoch haben wir in Bewegung zu bleiben. Unablässig tragen uns unsere Beine geradeaus, durch unzählige Gassen und über unzählige Straßen. Wir dürfen nicht langsamer werden, dürfen nicht stehen bleiben. Trotz der leichten Schmerzen, die in meiner Schulter rumoren, bleiben meine Beine stark genug und dem ewig erscheinenden Sprint gewachsen.

Wie eilig gleite ich irgendwann vom letzten Dach, die Lichter der Stadt im Rücken, während uns das dunkle Dickicht der letzten Etappe erwartet. Keuchend streife ich durch eine große Wiese, versuche sie so rasch wie möglich zu überqueren und nur wenige Momente vergehen, bevor wir in das schützende Meer aus Bäumen und Gebüschen springen. Mit einem Mal drängen sich Holz und Blattwerk zwischen uns und den bedrohlichen freien Himmel und nur kurz versuche ich die übrige Distanz abzuschätzen, bevor ich mich an einem Stamm vorbeischiebe und meinem alten Tempo treu werde.

Stöcke brechen unter unseren Füßen, Blätter rascheln unter unseren eiligen Bewegungen und wir kommen nicht weit, bevor sich allseits Geräusche um uns zu erheben scheinen. Das Unterholz knirscht hinter uns, knirscht zu unseren Seiten, Äste brechen, während die Wipfel rauschen, als würde ein scharfer Luftzug sie erfassen.

Ächzend setze ich über einen liegenden Baumstamm hinweg und wie endlos wirkt der Wald. Der Tagebau scheint sich vor uns zurückzuziehen, während ich das Gefühl habe, wir würden an Geschwindigkeit verlieren. Die Verfolger rücken näher. Überall in der Dunkelheit zwischen den Stämmen glaube ich die verzerrten Grimassen zu erkennen, überall das Driften der monströsen Körper. Ich spüre, wie die fremde Präsenz uns erstickend einholt, dabei sind wir bei Kräften und unsere Beine dem Weg und der Eile gewachsen.

Wie ein goldenes Leuchten weist Tim uns den Weg. Stetig bewegt er sich vor uns, driftet durch das Meer der Stämme und nachdem uns aus dem schwachen Licht der jungen Nacht immer wieder neue Bäume entgegendrifteten, endet der Wald mit einem Mal.

Wir springen ins Freie, klar und weit erstreckt sich der dunkelblaue Himmel über uns und nach wenigen Schritten höre ich das Knirschen von Gestein unter unseren Stiefeln. Eine weite leere Fläche erwartet uns und, wie Lavi es sagte, nur wenige felsige Erhebungen, hinter denen man Schutz finden könnte.

Hier liefern wir uns also aus und hoffen darauf, dass der Feind uns ebenso ausgeliefert ist.

Nach wenigen eiligen Schritten spüre ich bereits die Glätte des Bodens. Schlamm erstreckt sich unter uns und unzählige Pfützen, deren Tiefe nicht einzuschätzen ist. Konzentriert suche ich nach sicherem Halt, während ich meine Geschwindigkeit beibehalte und nachdem sich für wenige Momente nur das Schmatzen des Schlammes unter unser Keuchen mischte, scheint der nahe Waldrand mit einem Mal unter unzähligen Bewegungen zu ächzen. Es knirscht, es raschelt und unter einem dumpfen Krachen driftet ein Meer aus Schatten ins Freie.

Keuchend spähe ich zurück, erkenne nur flüchtig, was uns tatsächlich verfolgte.

Auf dem Marktplatz meinte ich viele von ihnen zu erkennen, doch diese Masse verschlägt mir kurz den Atem. Ich würge ein Schlucken hinab, hole tief Luft und setze mit einem Sprung über eine breite Lache hinweg.

Spätestens jetzt realisiere ich die Masse an Verfolgern und die bizarre Situation in ihrem vollen Ausmaß.

Wie sieht ein Hinterhalt aus, wenn nicht so?

Eine schiere Flut aus Akuma scheint aus dem Wald zu strömen, während wir weiter auf die freie Fläche flüchten und nur wenige weitere Schritte setzen wir auf dem schlammigen Untergrund, bevor sich aus der Dunkelheit vor uns eine Bewegung herauslöst. Ein Schatten scheint mit einem riesigen Sprung aus dem Himmel vor uns niederzugehen, ein dumpfes Vibrieren begleitet seinen ersten Kontakt mit dem Boden und mit einem Mal bilden sich glühende Strukturen auf einer gewaltigen Fläche. Der Dreck zu unseren Füßen beginnt zu glühen und kurz beschatte ich die Augen mit der Hand, als ein gigantisches Flammenmeer um uns herum hervorbricht. Eine feurige Säule schließt uns in sich ein, doch die Flammen erreichen uns kaum spürbar. Sie berühren uns, umspielen uns, doch lassen uns nicht inne halten.

Ein gewaltiger Feuerdrache bricht ums uns herum aus dem Boden, windet sich gen Himmel und inmitten der Flammen drehe ich mich um und erkenne, wie er sich lodernd am Wald vorbeiwindet. Unzählige Akuma zerreißt es bei dem flüchtigen Kontakt. Unzählige Explosionen tauchen die steinerne Fläche vorübergehend in ein grelles Licht und binnen weniger Augenblicke geht eine wahre Flut aus Verfolgern zugrunde. Hinter dem schwarzen Rauch, der von ihren Kadavern aufsteigt, ist der Wald nicht mehr zu erkennen und während ihre Überreste qualmen, erlaube ich meinen Beinen zum ersten Mal eine kurze Pause. Flüchtig laufe ich mich stolpernd aus, verliere in einer Pfütze kurz das Gleichgewicht, doch mit einem Mal erreichen mich Schritte. Eine Hand schließt sich um meinen Arm, zieht mich empor, bevor ich zu Boden gehen kann und während sich die grellen Flammen des Feuerdrachen vor dem dunklen Himmel auflösen, erkenne ich Lavi.

Er kam uns entgegen und keuchend ertaste ich seinen Arm. Rasch finde ich den alten Halt, nicke ihm zu, atemlos und vorerst nicht in der Lage zu Worten.

„Bewegt euch!“ Wie ein Schatten zieht Kanda an uns vorbei und sofort folgen wir ihm, weiter hinaus auf die freie Fläche. Noch immer dürfen wir nicht stehen bleiben, noch immer sind wir die Gejagten, doch spätestens jetzt besitzen wir die Mittel, uns aus dieser Rolle zu befreien. Wir blicken nicht zurück, während wir uns einer flachen Ansammlung von Gestein nähern und nur flüchtig betrachte ich mir diesen zweifelhaften Schutzwall, bevor ich eine weitere Gestalt erkenne, die dort auf uns wartet.

Reglos steht Marie neben den Felsen. Die Hand zum Ohr erhoben winkt er uns zu sich und kurz darauf springen wir über und rutschen hinter die flache Blockade. Keuchend lasse ich mich sinken und lehne mich gegen das Gestein. Kurz können wir neuen Atem schöpfen, kurz unsere Glieder schonen und in den ersten Augenblicken höre ich nur unser Keuchen, während wir dort hocken und kauern, getrennt von der einen Gefahr und der anderen ausgeliefert.

„Was zur Hölle war das denn?“ Ächzend lehnt sich Lavi neben mich. „Ihr kommt also nicht alleine, ja?“

Erschöpft ertaste ich mein Gesicht und den Schlamm, der bereits auf meiner Haut haftet.

Wie angenehm ist es, die Verfolger flüchtig außer Acht lassen zu können und so schließe ich kurz die Augen und schüttle selbst fassungslos den Kopf.

„Ja, wir sind hier wohl in irgendetwas reingeraten“, antworte ich atemlos und komme nicht um ein knappes Grinsen.

„Tatsächlich?“ Lavis Schulter erreicht meine. „Seid ihr verletzt?“

„Wir sind fit genug.“ Ich spähe zu Marie. Er kauert zwischen uns, die Augen geschlossen, noch immer konzentriert lauschend und wie beruhigt mich seine Anwesenheit. Was wir nicht sehen, wird er hören und so sind wir wohl zumindest vor gnadenlosen Überraschungen sicher. Kurz findet seine Hand zu Kandas Schulter. Es ist als würde er sich wortlos von seinem Wohlbefinden überzeugen. Wortlos auch, um die zurückgekehrte Stille nicht zu stören.

Durch einen Spalt der Felsen späht Kanda zum weit entfernten Waldrand, vor dem die Überreste der Akuma brennen und qualmen. Lavi wartete lange genug, um die Mehrzahl von ihnen zu vernichten. Die, die noch nachrücken, stellen das geringste Problem dar.

„Dieser Jäger“, flüchtig blickt sich Lavi um, „seid ihr sicher, dass es nur einer ist?“

„Gar nichts ist sicher“, antwortete ich und taste nach Tim, der sich auf meinen Knien niederlässt.

„Warum auch?“ Lavi nimmt die Situation mit trockenem Humor. „Von etwas Gutem kann man nie genug kriegen. Also was tun wir, um eine Chance zu haben?“

„Der Jäger muss zu uns kommen“, erwidere ich. „Er ist unsichtbar, Schlamm ist es nicht. Wir kriegen ihn nur, wenn wir ihn zumindest etwas sehen können.“

„Und ihr wisst nur von dieser einen Fähigkeit?“ Neben mir stemmt sich Lavi etwas in die Höhe und späht über die Felsen. „Hoffen wir mal, dass er nicht noch mehr Überraschungen bereithält.“

„Ja, hoffen wir das mal“, stimme ich zu und blicke abermals zu Marie. Seine Lippen bewegen sich lautlos, als würde er zählen.

„Wie ist die Lage?“, wendet sich Lavi an ihn.

„Vom Wald aus nähern sich uns etwa dreißig“, erhält er zur Antwort. „Hinter uns befindet sich keiner von ihnen.“

Langsam wende ich mich den Felsen zu und erhebe mich auf die Knie. Das Gestein ist kalt, als ich die Hand darauf bette und kurz darauf spähen wir alle drei zu den schwarzen Schatten, die sich zwischen uns und den brennenden Überresten bewegen. Sie nähern sich uns.
 

-tbc-

14

„Wo ist der Jäger?“, flüstere ich angespannt und verenge die Augen.

„Im Wald gibt es immer noch Bewegungen“, antwortet Marie. „Bis jetzt könnte er sich zurückhalten.“

„Dann sollten wir ihn herauslocken“, meldet sich Kanda neben mir zu Wort. „Ändern wir etwas an der Lage, sonst sitzen wir morgen noch hier.“

Und schon beginnt er sich zu bewegen, befreit Mugen aus der Scheide und lässt mich kurz unter dem blauen Aufleuchten der Klinge blinzeln. Wie immer ist er derjenige, der das Tempo vorgibt. Er derjenige, der zuerst auf die Beine kommt.

„Wir kümmern uns in erster Linie um die Akuma“, fährt er fort. Nur einen flüchtigen Blick schickt er der dunklen Eben, die sich um uns erstreckt und viel mehr ist auch nicht nötig. Als ich hinter dem steinernen Schutzwall hervorspähe, bewegen sich bereits die monströsen runden Körper durch die qualmenden Kadaver. Es bleiben nur noch wenige Momente, ehe sie uns erreichen. Wenige Momente also für weitere Worte. Und Kanda nutzt sie.

„Marie, du konzentrierst dich auf den Jäger und informierst uns, solltest du ihn ausfindig machen. Wir sorgen dafür, dass du ungestört bleibst. Lavi, der Schlamm ist unser Vorteil. Kümmere dich darum.“

„Jawohl, Chef.“ Lavi salutiert und ein letztes Mal schöpfe ich tiefen Atem, bevor ich mich in die Höhe stemme. Endlich ist es an der Zeit zurückzuschlagen und nach einer Kontrolle zu greifen, die wir nie besaßen. Mit Lavi und Marie an unserer Seite sind wir dem Kommenden gewachsen und ich hoffe inständig, dass ich mich in diesem Gebiet nicht irre.

Kurz darauf verlassen wir den fragwürdigen Schutz. Wir kommen auf die Beine, ziehen hinaus auf die trostlose Fläche und wie leicht wäre der Kampf und wie absehbar sein Ausgang, würde es sich nur um den Feind handeln, den wir tatsächlich sehen. Würde nicht eine bestimmte Befürchtung als kalte Gänsehaut über meinen Rücken kriechen, während ich mich im Meer der Akuma bewege und einen nach dem anderen in Stücke reiße. Nicht selten finde ich im schlammigen Boden nicht den richtigen Halt. Ein Schmatzen begleitet jeden unserer eiligen Schritte, binnen weniger Augenblicke dringt die Feuchtigkeit durch jeden Spalt unserer Uniform und zu spät hebe ich den Arm vor das Gesicht, als ein gigantischer Wirbelsturm aus dem Boden hervorbricht und den ganzen nassen Dreck des Bodens mit sich reißt.

Explosionsartig scheint sich der gesamte Schlamm auf der Ebene zu verteilen, dumpf drängt sich der Orkan in meinen Rücken und abermals ringe ich um Gleichgewicht, ehe ich eilig nach meinem Gesicht taste und meine Augen von dem Schlick befreie. Mit einem Mal ist er überall. Ich blinzle mehrmals, bevor ich die Umgebung wieder deutlich vor mir habe und sich ein schwarzer Schatten über mich neigt. Ein verzerrtes Gesicht lehnt sich mir entgegen und kaum weiche ich zur Seite und aus der Schussbahn der Kanonen, da wird der Akuma von der Wucht des Hammers getroffen und zurückgeschmettert. Nur kurz erkenne ich Lavi inmitten des Chaos, da drängt sich ein weiterer Körper zwischen uns und zerstreut uns heillos über die weite Fläche.

Überall brechen Explosionen hervor, überall steigen Flammen auf und irgendwann bleiben mir ein paar Momente, um den Ort zu überschauen. Kanda und Lavi geht es gut, realisiere ich. Auch Marie folgt in sicherer Distanz seiner Aufgabe aber bisher schweigt er.

Der Schlamm haftet an uns, haftet auch an den Akuma, doch nirgends verrät er die Bewegungen des unsichtbaren Feindes. Dabei lichtete sich bereits das Gedränge und die Zahl der übrigen Akuma wirkt nun weitaus überschaubarer. Als wäre der Sieg nahe.

Mit einem weiten Satz entfernt sich Kanda von einem Akuma, ehe eine weitere Explosion hervorbricht. Nicht weit entfernt schlittert er durch den Schlamm, ehe er sicher zurück auf die Beine kommt und kurz blicke ich zum schwarzen Waldrand, der uns umgibt.

Wir achten aufeinander. Immerzu haben wir ein Auge auf unsere Kameraden und würden jene Nadeln einen von uns erreichen, wir wären sofort bei ihm. Doch der Jäger wagt sich offenbar nicht hervor. Vielleicht zog er sich sogar komplett zurück, denke ich mir aber ein knapper Blick zu Marie beweist das Gegenteil. In seiner Haltung erstarrt, lauscht er noch immer in die Welt hinein. Sogar die knappe Regung seines Kopfes erkenne ich, als würde er sich auf eine Richtung konzentrieren. Der Jäger ist noch da, realisiere ich. Alles andere wäre Wunschdenken.

Eine nahe Bewegung löst mich von Marie und zieht mich zurück in den Kampf, der noch immer um mich herum tobt. Vereinzelte Level-2 krochen aus dem Wald wie die letzten, versiegenden Rinnsale eines Stroms und ich hoffe, dass sie es tatsächlich sind. Ächzend nehme ich es erneut mit dem rutschigen Boden auf, permanent darauf konzentriert, Halt zu finden und mich auszubalancieren, während die Feuchtigkeit gefühlt bis zu meinen Knochen dringt und der Schmerz meiner Schulter mit jedem Moment mehr meiner Aufmerksamkeit fordert. Es muss enden, denke ich, als die Wucht einer der Kreaturen mich trifft und um mehrere Meter zurückschlittern lässt. Ich stemme mich ab, stemme mich in die Höhe, sehe sie erneut auf mich niedergehen und schleudere sie mit einem Hieb zur Seite, ehe sie mich erreicht. Und inmitten meines Keuchens und dem allseitigen Krachen, dringt plötzlich aus Tims Richtung das kurze Rauschen einer sich aufbauenden Verbindung zu mir.

„Kanda!“, höre ich Maries Stimme, von den anderen Golem widerhallend wie ein Echo. „Er kommt von links!“

Sofort fahre ich herum, nach Kanda Ausschau haltend, zurückstolpernd, etwas Distanz zwischen mich und den Feind bringend. Das Herz pulsiert dumpf in meiner Brust, als ich ihn zwischen dichten schwarzen Rauchschwaden erkenne. Soeben ging der letzte Akuma in seiner Nähe in Flammen auf. Auch in Lavis Richtung erhebt sich eine Explosion und ich begreife nicht, weshalb der Feind auf einen solchen Moment wartete. Unsere Sinne finden weniger Ablenkung. Zumindest zwei von uns sind sofort aufmerksam und während ich mich Kanda nähere, bewegt sich dieser wenig. Den Wald des Randes fixierend steht er inmitten des Schlammes. Ich erkenne die Bewegungen seiner Schultern und das untätig gesenkte Schwert, während das nicht weit entfernte Dickicht des Waldes raschelt. Etwas regt sich, nähert sich und sofort verschnellern sich meine Schritte.

Endlich eine Spur, der wir folgen können. Endlich ein Stück mehr Kontrolle, doch als ich Kanda beinahe erreicht habe, erkenne ich nur einen langsamen Schritt zur Seite. Konzentriert tritt er auf und findet Gleichgewicht, während der unsichtbare Feind sich ihm nähert und nur kurz erkenne ich, wie er sich langsam zu ducken beginnt, ehe eine Salve von Schüssen aus dem Nirgendwo krachend vor mir in den Boden schlägt. Einer der letzten Akuma fand den Weg in meine Nähe und sofort weiche ich zurück, unwillig abgelenkt. Ein kurzer Blick zu der sich nähernden Kreatur, dann ein weiterer zurück zu Kanda und noch immer sehe ich ihn dort stehen wie eine Statue, reglos dem Waldrand zugewendet. Er macht nicht den Eindruck, sich einem Kampf zu stellen, realisiere ich, als ich weiteren Schüssen auszuweichen habe. Die Distanz zwischen uns wächst unerträglich. Viel eher gleicht er einer Zielscheibe.

Funken stieben mir entgegen, keine Sekunde später drängt sich der Akuma vor mich und annähernd gehetzt stoße ich mich ab und gehe auf ihn nieder. Ein letztes Mal entzünden sich die Mündungsfeuer, bevor auch er in Flammen aufgeht. Überall ist Rauch und beißender Gestank. Hustend entferne ich mich vom brennenden Kadaver, spähe um mich und erkenne Lavi, der mit einem Satz über weitere qualmende Überreste hinwegsetzt. Er ist auf dem Weg zu Kanda und sofort drehe auch ich mich um. Meine Beine bewegen sich längst in seine Richtung, während meine Augen nach ihm suchen und stolpernd verlieren sich die Schläge meines Herzens aus ihrem Rhythmus, als ich seine Gestalt inmitten des Qualmes zusammenbrechen sehe.

Wie zuvor sackt er zusammen wie eine leblose Puppe. Fast glaube ich das kaum wahrnehmbare Surren in der Luft zu hören, noch bevor er im Schlamm liegen bleibt. Ein Zucken lässt mich wachwerden. Mit einem Mal beginne ich zu rennen und tue nur wenige Schritte, bis Lavi mich überholt.

„Er ist da!“, erreicht uns Maries Stimme erneut. Sie erhebt sich keuchend, als wäre auch er in hastiger Bewegung. „Er ist bei Kanda!“

Wir rennen und rutschen, springen durch den Qualm und über Hindernisse und wie endlos wirkt plötzlich der Weg zu ihm. Nur wenige Sekunden scheinen sich endlos zu dehnen und beinahe haben wir unseren regungslosen Kameraden erreicht, da geht etwas auf ihn nieder. Ein Luftzug erreicht uns, tief drängen sich unsichtbare Klauen hinab in den Schlamm und zur selben Zeit wird Kandas Körper von einer Bewegung erfasst, als würde ein riesiges Maul seinen Leib umschließen. Schlaff schlittert sein Arm durch den Dreck, als sich sein Körper zur Seite neigt und wie unauffällig wirkt die Bewegung des anderen. Nur kurz sehe ich das blaue Leuchten des Schwertes, das in die Höhe schnellt und stolpernd laufen wir uns aus, als Kanda mit einem Mal zum Leben erwacht. Ein dumpfes Knacken erhebt sich, als die Klinge in der Luft auf einen Widerstand trifft, gnadenlos zur Seite gerissen wird und sich durch unsichtbare Materie frisst. Lavis Keuchen vermischt sich mit meinem, als wir dort stehen und sich mit einem Mal der Feind vor uns materialisiert.

Eine schwarze, von spitzen Schuppen bedeckte Haut umschließt einen verformten Körper, der in seiner Gestalt dem einer Eidechse am nahesten kommt. Krumme Beine schlingern zuckend durch den Schlamm, während das Maul Kandas Körper freigibt und sich die schmalen Pupillen in den runden Augen verdrehen. Das Schwert drang in den Kopf und teilte ihn annähernd in zwei Hälften und nach wenigen letzten Zuckungen verliert der Körper auch die letzte Spannung und sinkt auf Kanda.

Ich vergesse zu blinzeln, während der kurze Todeskampf endet. Selbst der Atem gefror in meiner Brust und auch, dass Marie uns erreichte, nahm ich nicht wahr. Und ich stehe noch immer nur dort, als Lavi den Fuß gegen den leblosen Körper setzt und das Biest von Kanda wälzt. Komplett von Schlamm umhüllt windet sich dieser ins Freie. Das offene Haar haftet an seiner Uniform und stockend folgen ihm meine Augen, als er auf die Beine kommt und den Dreck des Bodens zur Seite spuckt. Mit einem Mal ist es still.

Nur das Knacken der Flammen umgibt uns und langsam beginne ich wieder zu atmen.

„Bist du verletzt?“, höre ich Marie fragen, doch Kanda verneint.

Er wurde nicht getroffen, realisiere ich. Er konzentrierte sich, wich aus und mimte anschließend das Opfer.

„Was zur Hölle“, bringt Lavi neben mir hervor. Erneut erreicht sein Fuß den seltsamen Körper und setzt ihn etwas in Bewegung. Er explodiert nicht, löst sich nicht auf. Stattdessen sickert eine Flüssigkeit aus der klaffenden Wunde, als handle es sich bei diesem Feind tatsächlich um ein organisches Wesen.

Es lauerte uns auf, verfolgte und verletzte uns und liegt jetzt zu unseren Füßen. So etwas wie Triumph wäre wohl angebracht aber ich spüre nichts Derartiges in mir.

„Das war der letzte“, bestätigt Marie.

„Was zur Hölle ist das?“ Lavi beschäftigt sich immer noch mit dem Kadaver. Er beugt sich hinab, benetzt die Finger mit dem dunklen Sekret, riecht daran und versucht es einzuordnen, wirkt aber ratlos.

„Ich rufe die Finder“, erwidert Marie. „Wir müssen Komui kontaktieren.“

Von Kanda driften meine Augen zur Seite und über das Meer aus Schlamm, Flammen und Rauch. Erst dieser Anblick lässt realisieren, wieviel Aufwand man auf sich nahm, um die unsichtbare Kreatur zu unterstützen. Was sich uns hier bietet, wirkt tatsächlich wie eine Hetzjagd. Auch das Verhalten der Bestie verfestigt das unverständliche Rätsel. Es hatte die Gelegenheit, Kanda zu töten. Mehrere Augenblicke vergingen und es tat nichts anderes, als ihn mit seinem Maul zu erfassen und dabei nicht einmal zu verletzen. Keine spitzen Zähne drangen durch seine Uniform, als wollte es ihn tatsächlich nur aufheben.

Perplex schüttle ich den Kopf, stemme die Hände in die Hüften und kontrolliere meinen Atem.

Es ist vorbei, sage ich mir. Es ist wirklich vorbei und niemand von uns nahm Schaden.
 

Wir entfernen uns nicht weit, kontaktieren die Finder und wachen über den Kadaver, während wir auf sie warten. Als etwas noch nie Dagewesenes wird er höchstwahrscheinlich in das Hauptquartier überführt und Komui ausgeliefert und ich hoffe, dass er bald darauf wenigstens ein paar der unzähligen Fragen beantworten kann. Als die Finder eintreffen, nehmen sich Lavi und Marie der Sache an. Telefonate werden geführt, kurz darauf streifen die Finder durch das qualmende Feld und so bleiben Kanda und mir die ersten Momente, um innezuhalten und zur Ruhe zu kommen.

Ich sinke auf eine absolut ungemütliche Ansammlung von Gesteinsbrocken und strecke die Beine.

Die Finder sind entfernt, auch Marie und Lavi beschäftigt und so verliert sich kein Blick in unsere Richtung, als Kanda zu mir tritt. Seine Bewegungen wirken müde, als er sich das Haar zurückstreift. Ein dünnes Band zwischen den Lippen, bringt er etwas Ordnung in die wirren, dreckigen Strähnen und eine Weile sitze ich nur schweigend neben ihm und befasse mich mit Tim.

Ich fühle mich zermürbt. Meine Schulter sendet ein dumpfes Stechen durch meinen Körper und kurz taste ich unter meiner Uniform, um sicherzustellen, dass die Nähte nicht rissen. Alles riecht nach dem stechenden Qualm. Das einzige, das überwiegt, ist die Schicht aus Schlamm, die unsere Uniformen fast bis zur Unkenntlichkeit unter sich verbirgt.

Dreck dringt erneut in meine Augen und müde reibe ich sie mir.

Neben mir höre ich ein tiefes Durchatmen. Der Zopf ist gebunden, doch als ich mir Kanda betrachte, verliert diese kleine Tatsache an Bedeutung. Er macht keinen besseren Eindruck durch dieses kleine Fragment der Ordnung. Er tastet nach Aschepartikeln, die auf seiner Wange haften, will sie wohl von sich streifen aber seine Hand hinterlässt nur eine weitere Schicht aus Dreck auf seiner Haut. Er belässt es dabei, kapituliert und lässt sich kurz darauf auf den Überresten einer alten Mauer nieder, die sich mir gegenüber erstreckt.

Wir bieten tatsächlich einen erbärmlichen Anblick, bemerke ich und spüre ein mattes Schmunzeln auf meinen Lippen. Tim regt sich auf meinem Schoß und absent betaste ich seinen goldenen Schweif.

Wieder stelle ich mir die Frage, ob wir diese Mission unterschätzten oder vielleicht zu optimistisch waren, da wir lange vor so einem drastischen Hergang verschont blieben.

Wieviel Anspannung und Vorsicht haben wir aufzubringen, wenn wir uns einem neuen Auftrag stellen?

Wieviel Kraft wird uns das kosten?

Auch nachdem wir diesen Akuma zerstörten bleibt doch das Gefühl, gejagt zu werden.

Mir gegenüber rollt Kanda mit den Schultern und streckt den Rücken durch. Er wirkt verspannt, streckt kurz darauf die Beine und stemmt sich etwas zurück. Er schöpft tiefen Atem, bevor sein Kopf in den Nacken sinkt und er zum Himmel späht, zu dieser dunklen, sternen- und trostlosen Schicht. Die letzten Stunden bestanden aus Ablenkung in allerreinster Form, doch hier, wo es wieder still wurde und wir innehalten können, erreicht mich abermals dieses seltsame Gefühl, das sich in mir einnistete.

Für flüchtige Augen macht er den Eindruck verdienter Müdigkeit aber nichts in mir ist flüchtig, wenn es mit ihm zu tun hat. Auch sein Verhalten während des vergangenen Kampfes lässt mir keine Ruhe. Wo endet Mut und wo beginnt Waghalsigkeit, frage ich mich. Er warf sich dem unbekannten Feind zum Fraß vor und auch wenn dieser Weg zum Erfolg führte, zweifle ich an seinen Beweggründen. Als würde er fragwürdige Prioritäten setzen, in denen sein Leben weit hinter dem Sieg über diesen Feind liegt.

„Bist du verletzt?“, formuliere ich es in die Richtung, in der ich am wenigsten Widerstand erwarte. Er antwortet mit einem knappen Kopfschütteln, bevor er den Kragen seiner Uniform um ein Stück lockert. Und ich nicke, dabei bin ich alles andere als zufrieden.

Bis heute habe ich nicht begriffen, wie man in diesem Gebiet zu ihm durchdringt, stattdessen jedoch sehr schnell, dass man kaum einen Schritt hineinsetzen kann, ohne bereits auf eine Grenze zu stoßen. Auf den ersten Blick scheint es, als würden meine Sorgen an seinem Stolz kratzen, doch so simpel ist er nicht.

„Es geht dir wirklich gut?“, wage ich trotzdem den Schritt, denn Kanda ist weder simpel noch besteht er aus Glas. Was ich entfache, kann ich mir vorstellen aber das ist es mir wert. Lieber suche ich die Wahrheit in Zynismus und Abwehr als gar keine zu erhalten.

Kurz sucht er auf dem steinernen Untergrund nach Bequemlichkeit, rückt sich zurecht.

„Verhätschle mich nicht“, bekomme ich dann zu hören. Seine Stimme ist ruhiger als ich erwartete und ohne zu zögern gehe ich den nächsten Schritt.

„Habe ich nicht vor“, antworte ich und taste nach Tims Flügeln. „Ich habe nur das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“

Kanda schöpft erneut tiefen Atem, als würde er an diesem Punkt beginnen, um Beherrschung zu kämpfen. Schon erhebt sich vor mir die erste Grenze, denn die Reaktion ist eindeutig. Spätestens jetzt sollte ich das Thema beenden aber meine Sorge macht mich stur. Was sollte er schon sagen, was mir wehtun könnte?

Im Lauf der Zeit bekam ich schon viel von ihm zu hören.

„Fang mit deinem Verhalten an“, erwidert er kurz darauf. „Ich brauche keine Rücksicht oder Beistand.“

„Das weiß ich.“ Zermürbt lasse ich Tims Flügel los.

„Tust du das?“

„Natürlich tue ich das“, versichere ich ihm, nur schwer ein Ächzen unterdrückend. Binnen kurzer Zeit gibt er mir das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen und gerade suche ich nach einem Weg, mich hindurch zu graben, da wendet er das Gesicht zu mir. Mit einem Mal spüre ich seinen Blick und erwidere ihn ratlos. Ich war mir sicher, er würde das Thema beenden.

„Dann sag mir, was du von Bingen gehört hast.“

Noch immer sehen wir uns an, während meine Miene entgleist. Seine Worte erwischen mich eiskalt und durchbrechen jeden Kontext dieses Zeitpunktes. Nicht einmal annähernd erwartete ich diese Wendung, die mir den Boden unter den Füßen nimmt. Er hält den Blickkontakt aufrecht. Er wartet und wie lange starre ich ihn nur an, bevor ich perplex blinzle und nach einer Antwort suche.

Das ist der falsche Moment, ist die einzige Gewissheit, die ich in mir spüre.

Bisher war ich mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen richtigen gibt, um so etwas zu sagen.

„Was?“, bringe ich letztendlich nur hervor. Mein Herz lebt auf, jagt dumpfe, spürbare Schläge durch meinen Körper, während ich den Moment einfrieren und rückgängig machen will. Ich hätte ihn nie gefragt, hätte ich von dieser Entwicklung gewusst. Niemals.

„Komui wollte Finder senden und hat es seitdem nicht mehr erwähnt“, antwortet Kanda gnadenlos schnell. „Zumindest du hättest längst nachgefragt, also scheinen die Tatsachen klar zu sein.“

„Tu das nicht.“ Zermartert senke ich das Gesicht in die Hände. Meine Stimme ist nicht mehr als ein frustriertes Ächzen. Ich erkundigte mich nicht nach seinem Befinden, um ihm den Gnadenstoß zu geben, doch allmählich stelle ich mir die Frage, ob er selbst nicht genau darauf abzielt. Will er ihn?

Ich reibe meine Augen, beiße die Zähne zusammen und wie verbittert wende ich mich ihm letztendlich zu.

„Warum machst du das?“

„Wovon redest du?“, stellt er die Gegenfrage und wie zerfrisst es mich, dass er dabei tatsächlich aussieht, als meine er es ernst. Ich presse die Lippen aufeinander, suche mit ratlos erhobenen Händen nach Worten.

Ich bin der Letzte, der ihm wehtun will aber er scheint mich dazu auserkoren zu haben.

„Warum“, flüstere ich ihm angespannt in unsere Abgeschiedenheit zu, „warum lässt du dich nicht zumindest etwas schützen?“

Eine eindeutige Regung zuckt durch seine Miene, als er sich mir entgegenlehnt und die Ellbogen auf die Knie stemmt.

„Wovor?“, verlangt er zu wissen. „Ich bin kein kleiner Bengel, der die Welt nicht begreift. Wer Entscheidungen trifft, trägt die Konsequenzen.“

„So einfach?“ Ungläubig verziehe ich das Gesicht, doch er nickt.

„So einfach. Also was sagt mir deine Reaktion?“

„Dass du ein Vollidiot bist“, antworte ich verbittert.

„Was sagt mir deine Reaktion über Bingen?“, berichtigt er gleichgültig.

Ich schweige verbissen. Hier ist also der perfekte Augenblick, um ihm von den Bewohnern Bingens zu erzählen. Von den Folgen unserer Entscheidung und den Tatsachen, die auf immer Tatsachen bleiben. Er hat Recht, pulsiert es in einem dunklen Winkel meines Bewusstseins. Er trifft keine Entscheidung, wenn er nicht mit den Konsequenzen leben kann. Prinzipiell tut er selten etwas unüberlegtes, auch wenn es nach außen hin nicht den Eindruck macht. Er will die Wahrheit und es ist ernüchternd, dass er sie bekommt, selbst wenn ich schweige.

Ich schürze die Lippen und presse sie aufeinander. Sein Blick löst sich von mir, driftet in eine andere Richtung und beweist meine Befürchtung, dass seine Frage beantwortet ist. Er hakt nicht nach, es ist geklärt und unter einem stummen Kopfschütteln starre ich zurück zu Boden.

Vielleicht bin ich tatsächlich der einzige, der ein Problem damit hat, denke ich mir. Vielleicht trügt mich meine Wahrnehmung, wenn es um ihn geht. Und vielleicht wünsche ich es mir auch nur.

„In meiner Illusion bist du gestorben“, höre ich mich plötzlich flüstern, abwesend an Tim zugange. Ich betrachte ihn mir, während die Stille erneut zwischen uns driftet. Kanda antwortet nicht und wie erschreckend leicht fällt es mir, die Wahrheit vor ihm zu offenbaren. „Wenn sie uns wirklich das zeigen, wovor wir uns am meisten fürchten…“ Meine Stimme versickert in meinem Hals und mit einem Räuspern zwinge ich sie hervor. „Ich habe dich sterben sehen.“

„Das erklärt, warum du zur Glucke wirst“, antwortet er ernüchternd schnell und kurz darauf treffen sich unsere Blicke. „Wodurch sollte ich sterben?“, fährt er fort. „Ich lebe weiter. Das tue ich immer.“

Mein Mund bewegt sich, als hätte ich dazu noch etwas zu sagen aber letztendlich kommt mein Ton über meine Lippen. Einen Moment bleiben die schwarzen Augen mir noch treu, bevor sie zur Seite driften und sich Kandas Aufmerksamkeit auf den Zustand seiner Uniform richtet. Zischend tastet er unter seinem Kragen, holt weiteren Schlamm hervor und schüttelt ihn von seiner Hand, während ich ihn noch immer anstarre.
 

-tbc-

15

Unser Schweigen endet, bevor es noch unangenehmer werden könnte, denn Marie macht uns ausfindig. Nachdem Komui die Fakten erreichten, möchte er mit uns sprechen und es kommt mir gelegen, der Situation nicht weiter ausgeliefert zu sein. Nass, dreckig, müde und mit zerstiebenden Gedanken patsche ich durch all den Schlamm und zu Lavi, der neben dem angekoppelten Golem wartet. Auch er gibt sich mit der Bequemlichkeit des Gesteins zufrieden und macht mir etwas Platz, als ich mich zu ihm geselle.

„Wir sind da“, melde ich mich, bewusst den Blick zu Kanda meidend und generell alles, das meine Konzentration aus der Gegenwart saugen könnte. Das erste, was sich in der Leitung erhebt, ist ein Ächzen.

„Ich bin froh, dass ihr wohlauf seid“, ertönt dann Komuis Stimme und wie passend ist ihre Nüchternheit, auch treffend, wenn man unsere Lage bedenkt. „Im Augenblick sind wir leider gezwungen, uns den neuen Umständen anzupassen. Wir dürfen keine Risiken eingehen, solange die Pläne des Grafen im Dunkeln liegen. Vorerst wird keiner von euch alleine unterwegs sein. Jede Mission, und sei sie noch so simpel, wird zu zweit durchgeführt und im Beisein von mindestens zwei Findern.“ Kaum hörbar und im Hintergrund rascheln Unterlagen und bildlich habe ich vor Augen, wie Komui auf seinem überladenen Tisch nach etwas sucht. Er klingt müde nach all den Stunden, die er in seiner Distanz mit Bangen, Hoffen und jeder möglichen Organisation zubrachte.

„Die Überreste des Jägers werden in spätestens zwei Tagen hier sein und die Untersuchungen höchste Priorität haben“, fährt er fort. „Ich werde euch über alles informieren, das euch eine Hilfe sein könnte. Bis dahin passt bitte auf euch auf. Auch wenn die Lage kompliziert ist, wir dürfen uns nicht stoppen lassen und sollten unsere Arbeit fortsetzen so gut es uns möglich ist.“

Neben mir verschränkt Lavi die Arme vor der Brust. Ich glaube, ein angedeutetes Nicken zu erkennen aber als ich zu ihm spähe, blickt er nur zu Boden.

„Wie geht es jetzt weiter?“, seufzt Komui, als würde er sich die Frage selbst stellen. „Lavi, du warst auf dem Weg Nachhause. Marie musste seine Mission unterbrechen. Würdest du ihn begleiten und seine Mission wiederaufnehmen?“

„Klar“, erhält er sofort zur Antwort und unbewusst richte ich mich um ein Stück auf.

„Allen“, wendet sich Komui da an mich. „Ich hörte, du bist verletzt und Kanda ist schon seit einer Weile unterwegs. Ihr beiden kommt besser erst einmal zurück und sammelt neue Kräfte.“

Etwas nähert sich. Meine Sinne melden sich, als hätten sie eine greifbare Gefahr gewittert und kaum suchen meine Augen nach Kanda, da meldet er sich zu Wort und bestätigt jede Befürchtung.

„Ich muss keine Kräfte sammeln“, sagt er, während ich mich resigniert abwende. „Gib mir eine Mission. Ich ziehe weiter.“

Es ist so erbärmlich, dass ich Kanda nur problemlos einzuschätzen weiß, wenn es sich um Situationen handelt, die sich gegen mich richten. Ich presse die Lippen aufeinander, bin kurz davor, Komuis Zögern zu nutzen, aber bleibe letztendlich still. Natürlich könnte auch ich darauf beharren, mich gut genug zu fühlen, um ebenso weiterzumachen. ‚Weiterzumachen‘ im Sinne von ‚Kanda zu begleiten‘ aber ich weiß, dass er meine Verletzung zum Grund machen wird, es abzulehnen. Es wäre nicht das erste Mal. Unscheinbar bewege ich die Hände, balle sie kurz zu Fäusten und suche anschließend nach Entspannung. Es ist wie es ist, sage ich mir. Und nichts kann ich daran ändern.

Er entzieht sich mir, geht einen Weg, auf dem ich ihm nicht folgen kann.

Es passt ihm wahrscheinlich gut, nach unserem Gespräch.

„Bist du sicher?“, höre ich Komui fragen und natürlich ist Kanda das. Wieder rauscht ein Seufzen in der Leitung. „Es tut mir leid, aber ich kann dich wirklich nicht alleine gehen lassen und derzeit ist niemand in der Nähe, der dich begleiten könnte.“

„Meine Verletzung ist nicht so schlimm, dass ich zurückkommen muss“, ergreife ich das Wort. „Es reicht, wenn ich kurz in einem Krankenhaus vorbeischaue. Ich bin einsatzbereit.“

„Mm.“ Komui scheint nachzudenken. Wieder rascheln Unterlagen. Neben mir ist Lavi damit beschäftigt, sich Schlamm aus den Haaren zu ziehen.

„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte“, meldet sich plötzlich Marie. „Meine Mission war überschaubar. Vermutlich wird es nicht einmal zu Kämpfen kommen. Allen und Lavi könnten sie übernehmen und ich begleite Kanda.“

Es ist nicht die perfekte Lösung aber alles, was ich gerade erwarten kann. Natürlich hat Kanda kein Problem mit diesem Vorschlag. Auch Lavi ist zufrieden und ich murmle etwas, das sich zumindest danach anhört. Im Grunde tat Marie nichts anderes, als nachzugeben, da er mit den Umständen zumindest etwas vertraut ist. Also verhindern wir das Abdriften in tiefere Stimmungsgefilde und letztendlich, schätze ich, hat es auch etwas Gutes, vorerst Abstand zu gewinnen. Ich höre kaum zu, während Komui Kanda mit einer Mission vertraut macht. Nur eines fange ich auf: Kanda und Marie zieht es nach Island. Wenn das mal kein Abstand ist.

Nachdem die Verbindung erlischt, bleibt Kanda sich treu. Der Aufbruch lässt nicht lange auf sich warten und aufmerksam habe ich dafür zu sorgen, Marie in einem unbemerkten Moment zur Seite zu nehmen. Kanda wechselt wenige Worte mit einem der zugeteilten Finder und Lavi kämpft immer noch mit dem Schlamm, also bleiben wir unter uns.

Das erste, was ich ihm biete, ist ein ehrliches, frustriertes Ächzen, das er mit einem Schmunzeln beantwortet, als wüsste er längst, in welche Richtung wir uns hier bewegen.

„Ich begreife es nicht“, flüstere ich ihm anschließend zu. „Wie soll man so einen sturen Idioten schützen? Verrate es mir.“

„Darauf weiß ich auch keine Antwort.“

Die Hände im Nacken, spähe ich an ihm vorbei, längst wieder auf der Suche nach der heiligen Lösung für alles.

„Alle Menschen in Bingen sind tot, Marie. Unser Handeln hat dazu geführt und natürlich hat er davon erfahren.“

Und auch das war im Grunde zu erwarten, doch ich ließ mich so von meinen Sorgen benebeln, dass ich der Gegenwart wohl zu wenig Beachtung schenkte. Die Herausforderung, vor die er mich stellt, scheint vorauszusetzen, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen. Ich bin müde, voller Schlamm und genervt und kurz lauscht Marie nur meinen Flüchen, bevor seine Hand meine Schulter erreicht.

„Das hättest du nicht verhindern können“, sagt er. „Mach dir nicht zu viele Sorgen und vergiss nicht, auf dich selbst zu achten. Wir müssen vorsichtig sein in diesen Zeiten, also konzentrier dich auf das, was in deiner Macht liegt.“

Er sendet mir ein Lächeln und ich weiß es würdigen, auch wenn es für mich nicht mehr bedeutet, als dass ich es zumindest versucht habe. Man kann nicht jeden Kampf gewinnen, das wissen wir am besten aber ein wirklicher Sieg ist bis jetzt ebenso wenig zu verbuchen.

Kurz darauf verabschieden wir uns voneinander. Kanda will aufbrechen, Marie richtet sich wie gewöhnlich nach ihm und lange sehe ich ihnen nach, als sie sich über die Ebene entfernen.

Ich hätte es nicht verhindern können. Lavi sagte dasselbe. Herausfinden würde er es so oder so. Die Herausforderung wäre eine andere und natürlich hatte er Recht. Er aus seiner Distanz sah die Dinge wohl klarer.
 

Als es Lavi und mich in die entgegengesetzte Richtung zieht, versuche ich nicht allzu schweigsam zu sein, dabei ist die Wolke über mir dicht und finster und letztendlich wird er ohnehin längst wissen, dass etwas in mir wuchert. Während ich mir eine unglaubwürdige Maske aufsetze, scheint er nur zu warten, bis ich ihn einweihe aber noch kann ich es nicht aussprechen, nicht ordnen, was als Chaos meinen Kopf beherrscht.

Wir sind nicht lange unterwegs, bis wir eine Haltestelle erreichen und haben auch nicht lange zu warten, bis sich ratternd und qualmend ein Zug nähert und uns in die nächste Stadt bringt.

Wir haben es nicht eilig, genug Zeit für eine Dusche, eine Mahlzeit und die Reinigung unserer Uniformen. Der Schlamm trocknet und bröckelt, während unsere Mägen knurren und als ich durch das Fenster des Abteils die hohen Gebäude der nächsten Zivilisation näherkommen sehe, bin ich beinahe erleichtert, mit Lavi unterwegs zu sein. Wenn er keinen Grund hat, sich zu beeilen, dann sucht er auch nicht nach einem. Vermutlich werden die nächsten Tage ruhig. Ruhig genug, um mich ordentlich in meinen Gedanken schmoren zu lassen.

Nachdem das Quietschen der Bremsen ertönte, treten wir hinaus auf den Bahnsteig in ziehen durch den weißen Rauch, der, von den Kurbeln ausgestoßen, über den steinernen Boden kriecht. Wie im Zug erreichen uns auch hier Blicke. Menschen halten inne, bis sie uns unter all dem Schlamm als menschliche Wesen erkennen. Auch ausweichen tun sie gern. Ein weiteres Mal fahre ich mit den Händen über die Uniform und wische Dreck zu Boden. Von außen sehen wir nicht mehr ganz so katastrophal aus, denn der meiste Schlamm lässt sich nicht sehen, dafür jedoch umso besser spüren. Ich spüre ihn auf meiner Haut, winde mich in der unangenehmen Hülle und folge Lavi planlos durch die Menschenmengen. Er scheint ein Ziel vor Augen zu haben, während ich mit mir selbst beschäftigt bin und dass er abrupt stehenbleibt, bemerke ich erst, als ich gegen ihn stoße. Er späht in die Masse aus Menschen, die sich vor uns bewegt und nur kurz habe ich seinem Blick zu folgen, bis ich im Treiben jemanden erspähe.

Stockend löse ich die Hände von meiner Uniform und schöpfe unbewusst tiefen Atem. Es ist ein unerwarteter Anblick, ein unerwartetes Aufeinandertreffen aber irgendetwas in mir scheint sich sofort zu entspannen. Ich richte mich auf, spüre ein Lächeln auf meinen Lippen.

„Die Welt ist klein“, seufzt Lavi neben mir und sofort ziehe ich an ihm vorbei.

„Lass uns fragen, ob er Zeit hat.“
 

Seufzend lehnt sich Tiedoll zurück. Der Tee scheint zu schmecken und auch sonst macht er den Eindruck, sich wohlzufühlen in der Ecke des Gasthauses, in der wir es uns gemütlich gemacht haben. Die Freude war groß und ich es ist immer noch und auch wenn Tiedoll keine Zeit hätte, er nimmt sie sich. Es ist lange her, dass wir uns zu Gesicht bekamen und unweigerlich erinnere ich mich an diesen Zeitpunkt.

Mittlerweile ist es mehr als ein Jahr her, dass wir uns in China trafen und inmitten meines seelischen Umbruchs. Kanda und ich betraten das Land von Japan aus. Wir hatten damals nicht viele Worte füreinander übrig, doch meine Sinne für ihn waren längst erwacht und das Gespräch, das mich nachts in jenem Wirtshaus erreichte, verkomplizierte die Dinge zusätzlich. Ich hörte Kandas Stimme, hörte Ehrlichkeit und Ausdrücke, die so gar nicht zu ihm zu passen schienen. ‚Bleib auf dem Weg‘, schienen sie mir zu sagen, auch wenn dieser aus nicht mehr bestand als selbstsüchtigem Drang. Ich fiel schon damals und verfiel kurz darauf komplett.

Das Band zwischen Kanda und seinem Meister war heilig und faszinierend und im Nachhinein wunderte ich mich wenig, denn Marshall Tiedoll gehört wohl zu den Menschen, denen man leichtfertig Vertrauen schenkt und sicher nicht enttäuscht wird.

Seine Gegenwart ist angenehm, alles an unseren gemeinsamen Momenten, die wir endlich in sauberer Kleidung genießen, während unsere Uniformen gereinigt werden. Kein Schlamm mehr in den Haaren, kein Geruch nach Dreck und Morast. Selbst den Mägen geht es besser und die letzte Last bröckelt von mir, als ich die Beine unter den Tisch strecke und mich anlehne. Es ist ruhig um uns herum. Das Haus ist nicht sonderlich gut besucht und so bleibt uns jede Gelegenheit für Gespräche. Nachdem der gröbste Hunger gestillt war, begannen die Worte zu fließen und selbstverständlich wurde Tiedoll in erster Linie auf den neuesten Stand gebracht. Wir erzählen, wie es uns geht, wie wir Chaoji erleben, informieren ihn über wichtiges sowie belangloses aus dem Hauptquartier und sehen ihn staunen, hören ihn lachen und nachfragen. Wie immer ist er interessiert an der Welt, an der er mitunter nur aus großer Distanz Teil hat. Dass er im Hauptquartier war, liegt lange zurück. Seit Monaten traf er nur auf Finder, also brauchte es wenig Überzeugungsarbeit, um ihn kurz innehalten zu lassen.

Zu Beginn sind die Gespräche wirklich leicht und heiter, als würden wir die Gelegenheit nutzen, uns kurz abzuwenden vom Ernst unserer derzeitigen Lage. Das Auftauchen des Jägers liegt noch nicht lange zurück und seitdem waren wir alle in Bewegung, weshalb Tiedoll unter jenen ist, die noch nichts von ihm erfuhren. Während wir ihm auch davon berichten, lehnt er sich uns Stück für Stück entgegen, konzentriert und offenbar längst eigene Gedankengänge verfolgend. Wir erzählen von dem ersten Kontakt und seinen Folgen, der Art des Jägers und seinen vermeintlichen Absichten. Er stellte wirklich eine Bedrohung dar und ich zweifle daran, ob die Tatsache, uns dessen nun bewusst zu sein, etwas daran verändern wird.

Als es nach endlosen Worten vorübergehend still an unserem Tisch wird, sinkt Tiedoll stockend zurück gegen die Lehne. Seine Augen durchdriften ziellos das Umfeld, während er sich den Bart kratzt.

„Mm“, macht er vorerst nur, als wären seine Gedankengänge noch nicht abgeschlossen und er braucht seine Momente, bevor eine knappe Regung durch sein Gesicht zieht. „Das gefällt mir nicht“, murmelt er letztendlich und schüttelt andeutungsweise den Kopf. „Ganz und gar nicht.“

„Worüber ich schon länger nachdenke, ist der Fall in Bangkok“, melde ich mich zu Wort und spähe zu Lavi. „Auch dort wurden zwei unserer Kameraden entführt, lebendig, um Versuche an ihnen vorzunehmen. Was ist, wenn auch damals schon ein Jäger beteiligt war? Die genauen Umstände der Entführungen sind bis heute nicht komplett geklärt.“

Ein Gebäck zwischen den Fingern bewegend, antwortet Lavi vorerst nicht. Tiedoll mustert mich über den Tisch hinweg.

„Genügen die Akuma dem Grafen nicht mehr als Waffe?“, fahre ich fort. „Sucht er nach neuen Mitteln, um gegen uns vorzugehen?“

„Wovon ich fast überzeugt bin, ist, dass es sich nicht um Informationsbeschaffung handelt“, murmelt Lavi. „In diesem Fall wären Finder die leichtere Beute. Sie sind nicht in dem Grad eingeweiht wie wir aber hätten sicher einiges zu erzählen, wenn man den Hebel richtig ansetzt.“

Auch wenn ich sofortigen Widerstand in mir spüre, versuche ich mich an jene Laboratorien Bangkok zu erinnern. An jene Räume, in denen unsere Kameraden ihr Leben ließen. Neben kalten Behandlungsliegen gab es zahllose Geräte und Maschinen und nicht zuletzt erinnere ich mich auch an eine alte Tafel, die an der Wand angebracht war. Sie offenbarte eilige Notizen und zeugte davon, dass die Exorzisten dort nicht nur einmal starben.

Die medizinische Ausstattung legte nahe, dass sie mehrfach wiederbelebt wurden, bevor ihre Körper kapitulierten. Man wollte sie am Leben erhalten, unter allen Umständen Zeit und Raum schaffen, um ein Ziel zu erreichen, das wir nicht klar sehen.

„Und ihr sagt, der Jäger ist bisher nur einmal wirklich in Erscheinung getreten?“, erkundigt sich Tiedoll.

„Kanda und ich wurden zuerst angegriffen“, antworte ich. „Nachdem wir entkommen sind, blieb er in der Nähe, um es erneut zu versuchen.“

„Und als Lavi und Marie dabei waren, wirkten die Angriffe des Jägers wahllos?“, möchte Tiedoll weiter wissen, doch darauf fällt die Antwort nicht leicht. Nachdenklich versenkt Lavi das Gebäck im Mund, während sich Tiedoll Tee nachschenkt.

Bei dem ersten Hinterhalt, erinnere ich mich, setzte der Jäger zuerst mich außer Gefecht, um anschließend Kanda anzugreifen. Auf ihn fixierte er sich auch bei unserem zweiten Aufeinandertreffen.

„Vielleicht geht der Jäger nicht überlegt vor“, sagt Lavi dazu. „Aber auch wenn er nur instinktiv agieren würde, würde er den leichtesten Weg wählen. Marie war auf dem Tagebau nicht leicht auszumachen und Allen war in meiner Nähe. Nur Yu bewegte sich etwas außerhalb, was sicher ziemlich einladend war.“

„Natürlich kann man nach zwei Angriffen keine Vermutungen aufstellen“, erwidert Tiedoll. „Aber gerade bei einem unbekannten Widersacher muss man auf alles achten, selbst wenn es irrelevant wirkt.“

„Bleibt abzuwarten, was Komui bei der Untersuchung herausfindet.“ Lavi wischt sich die letzten Krümel von den Händen. „Zuviel in das hineinzuinterpretieren, was wir bisher wissen, ist gefährlich. Wir brauchen mehr, damit aus Vermutungen Tatsachen werden, sonst könnten wir uns verrennen. Ist eine miese Lage, wie wir es auch drehen und wenden.“

„Es beruhigt mich, dass Komui euch vorerst nicht alleine ziehen lässt.“ Von Lavi blickt Tiedoll zu mir und deutet ein Lächeln an. „Ich schätze, das ist bisher die beste Maßnahme, die zu eurer Sicherheit getroffen werden kann.“

Das geringste Übel, denke ich mir. Wir neigen nicht dazu, uns zu verstecken oder defensiv zu agieren, wenn wir einer Bedrohung gegenüberstehen. Meistens tun wir, was nötig ist, doch wie gegen einen Feind vorgehen, der mit bloßem Auge nicht sichtbar ist? Es fühlt sich tatsächlich an, als würden wir warten und uns im Ernstfall lediglich verteidigen. Tatsächlich eine miese Lage, milde ausgedrückt. Mir passt nichts an der Situation aber damit bin ich in der Runde nicht alleine.

„Wir haben schon anderes überstanden“, fasst Tiedoll es zusammen und wendet sich wieder seinem Tee zu. „Seit langem stehen wir bekannten Feinden gegenüber. Wenn sie uns das Leben auch schwer machen, wir können sie einschätzen. Ein solcher Fall macht uns wach und sobald wir die Hintergründe begreifen, werden wir auch dieser Bedrohung gewachsen sein.“

Ich schätze, damit hat er Recht und wir nicken und ich hoffe, die Thematik ist damit beendet, denn sie gehört zu jenen, die die Stimmung senken und zu nichts führen, so sehr man auch diskutiert. Es erleichtert mich, dass sich Tiedoll kurz darauf einem anderen Thema zuwendet und ich bemerke nicht sofort, wie ich gedanklich abschweife, nur noch körperlich anwesend einer anderen Begebenheit folge.

Unauffällig finden meine Augen irgendwann zu Tiedoll.

In letzter Zeit hatten Marie und ich ein gemeinsames Thema. Ein weiteres der Sorte, die in einer Sackgasse enden. Wir sprachen über Kanda und ein kurzer Abschnitt des Weges fühlte sich an, als läge ein Erfolg nicht im Bereich des Unmöglichen. Maries Worte in jenem Paradies, das ich mit Übelkeit und Hunger genoss, erfüllten mich mit Wärme und ließen mich für einen Moment glauben, zu schaffen, was wir uns vornahmen. Ein paar Schritte ging ich in Hand in Hand mit dieser Denkweise, bevor sich unerwartet die Sackgasse vor mir erhob und Kanda mir vor Augen führte, dass er jede Barriere, die ich fürsorglich um ihn zog, mühelos durchbrach.

Vor kurzem stellte ich Marie eine Frage, die er nicht beantworten konnte.

Wie war man in der Lage, jemanden zu schützen, der es nicht zuließ?

Die letzte Zeit erfüllte mich mit Bitterkeit und Frust. Es blieb nicht nur bei der Wirkung, die Bingen auf mich selbst hatte. Hinzu kamen meine offenbar zum Scheitern verurteilten Absichten mit endloser Ungewissheit und keiner Erklärung. Es spielt keine Rolle, welcher Weg der richtige ist, denn mehrere stehen mir wahrscheinlich nicht zur Verfügung. Nur ein einziger, der schwer zu bewältigen ist. Ich kenne solche Wege, beschritt selten andere, doch stets konnte ich selbst entscheiden, wann ich einen Schritt nach vorne setzte und wieviel ich bereit war, dafür zu opfern.

Als ich bemerke, wie lange ich Tiedoll schon beobachte, betrachte ich mir eine der Servietten.

Der Mann, der mir gegenübersitzt, könnte eine Antwort haben, denke ich und spüre, wie sich meine Lippen aufeinanderpressen, als würden sie mir zwar den Gedanken verzeihen aber die Umsetzung verbieten. Es ist wohl tatsächlich etwas lächerlich und letztendlich würde mit Tiedoll zu sprechen, nicht nur bedeuten, eine mögliche Antwort zu erhalten, sondern eine Befürchtung zu teilen, die Kanda betrifft. Tiedoll würde viel erfahren. Ich selbst könnte damit leben, mich ihm um einen Deut zu offenbaren, wenn dieser Zweck das Mittel heiligt, doch ich gehe nicht davon aus, dass Kanda diese Einstellung teilt. Schon jetzt sucht er Distanz und ich schätze, er wird sich nicht in meine Nähe zurückgezogen fühlen, wenn ich diese Möglichkeit nutze, die mir verdächtig passend erscheint und er letzten Endes selbstverständlich davon erfährt.

So kämpfen Für und Wider, bis ich begreife, dass sie einander ebenbürtig sind. Eine Dummheit zu begehen, ist leichter, wenn man es selbstlos für jemand anderen tut und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Trotzdem muss ich es bei einer kleinen Dummheit belassen, also suche ich nach einem Mittelweg, hoch genug dosiert, um zu wirken, mich jedoch nicht umzubringen.

Tu es, scheint das Schicksal mir zuzuflüstern, als Lavi auf die Beine kommt. Nachdem wir aßen und sprachen, ist sein Kopf offenbar frei genug, sich mit der Mission zu befassen, also sucht er bei den Gastwirten nach einem Ansprechpartner und schenkt uns einen Moment, dem ich mich unentschlossen und argwöhnisch stelle. Tiedoll leert die Kanne, leert auch die Zuckerdose und scheint außer dem wunderbaren Geschmack nichts mehr zu erwarten.

„Haben Sie in letzter Zeit bis auf uns noch andere getroffen?“, setze ich vorsichtig den Fuß in das bedrohliche Gebiet, doch sehe nach einem flüchtigen Grübeln schon ein Kopfschütteln.

„Ihr seid seit zwei Monaten die ersten“, bekomme ich zu hören. „Davor traf ich Crowley. Wir hatten denselben Weg, also hat er mich begleitet. Es war sehr angenehm. Und davor?“ Er seufzt. „In solchen Fällen scheint die Welt doch sehr groß zu sein. Ich denke, ich sollte in nächster Zeit einmal das Hauptquartier besuchen.“

Nickend taste ich nach Tim, der neben mir Lavis Platz für sich einnahm. Natürlich wird es mir nicht leicht gemacht und natürlich stehe ich auch hier in einer Sackgasse, die ich nur mit deutlicheren Fragen überwinden kann. Wie hätte es mich beruhigt, wenn Tiedoll Kanda erst vor kurzem begegnet wäre. Er hätte ihn gesehen, ihn erlebt, sich mit ihm unterhalten und ich bin sicher, auch die richtigen Worte gefunden, hätte er gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Hier jedoch bewegen sie sich in so enormem Abstand, dass niemand in den Bereich des anderen hineinreicht und ich pendle zwischen ihnen wie ein Fragment, das zwar seinen Nutzen kennt, doch nicht die Art, ihn zu erfüllen.

Mir gegenüber nippt er an seiner Tasse, schmeckt den Tee und genießt ihn. Er lässt sich nicht stören, hat es bequem und nur kurz sitze ich ihm schweigend gegenüber, ehe mich sein Blick trifft. Flüchtig und doch geradlinig, bevor seine schmunzelnden Lippen erneut hinter der Tasse verschwinden.

„Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?“, fragt er und trinkt, nicht auf mein Gesicht achtend oder auf meine Mimik, die ihm die Antwort präsentiert. Soviel zu den vorsichtigen Wegen und niedrigen Dosen. Ich reibe meine Wange, greife nach meinem Glas und für eine Weile drehe ich nur daran und suche nach den richtigen Worten. Selbst jetzt, denke ich, würde mir Tiedoll ein Ausweichen erlauben und daran glauben, dass ich derartige Entscheidungen selbst treffen kann.

„Wann haben Sie Kanda das letzte Mal gesehen?“, fahre ich dennoch fort und bemerke, wie er die Tasse sinken lässt. Ein Wort lässt ihn sofort reagieren und innerlich schmunzle ich über die Krankheit, mit der Kanda ihn früh infizierte. Heilung ausgeschlossen. Seine Aufmerksamkeit erreicht neue Höhen, wenn es sich um diesen Menschen handelt.

Er scheint nachzudenken, jedoch schnell zu kapitulieren und dann verfolge ich, wie er unter einem erneuten Seufzen an Körperspannung verliert.

„Das liegt fast ein viertel Jahr zurück. Elf Wochen und neunzehn Tage, um genau zu sein.“ Meine Mimik kommentiert er mit einer verwerfenden Geste. „Und natürlich trafen wir uns nur durch Zufall. Gott bewahre, dass er aus seinem Raster fällt. Ich denke, es ist ihm wichtig, mein liebster Problemfall zu bleiben.“

Schmunzelnd betaste ich Tims Körper. Das Thema ist eröffnet und Tiedoll widmet sich ihm gern.

„Aber so ist das mit uns.“ Er zuckt mit den Schultern. „Irgendwann bekomme ich ihn schon wieder zu fassen.“

„Mm.“ Ich ziehe an Tims Flügeln, kreuze die Beine unter dem Tisch und verfolge, wie sich der Golem spielerisch in meinem Finger verbeißt. Natürlich spüre ich Tiedolls Blick, spüre seine Erwartungen und das Feuer, das ich selbst gelegt habe, doch die nächsten Schritte sind nicht leicht.

„Ich habe mich eines gefragt“, entscheide ich mich kurz darauf für eine Richtung, die ich für klug halte. „Wir erleben einiges und es ist nicht immer leicht.“

Mir gegenüber nickt Tiedoll und unter einem tiefen Durchatmen befeuchte ich die Lippen mit der Zunge.

„Ich habe manchmal den Eindruck, all das würde ihm nichts ausmachen. Wie geht er damit um und wovon ist es abhängig? Einstellung? Sichtweise? Abhärtung?“

„Mm.“ Wieder tastet Tiedoll nach seinem Bart. Die Tasse vor ihm ist leer, während er zum ersten Mal seit langem aus dem Fenster blickt. Seine Reaktion ist nicht eindeutig, um Grunde sogar noch viel weniger als das. Er scheint nachdenklich und stört sich weder an meinem Starren noch an der Stille. Er lässt sich Zeit, bis ich ein Lächeln auf seinen Lippen erkenne und er meinen Blick annähernd verschmitzt erwidert.

„Du hast ihn gern.“

Stöhnend verdrehe ich die Augen. „Wie könnte man das auch nicht?“

„Nicht wahr?“ Tiedoll scheint meinen Sarkasmus bewusst zu überhören. Sein nächstes Seufzen klingt nach Genuss. „Wie könnte man ihn nicht gern haben. Und dabei habe ich dir noch nicht einmal viel aus unserer Vergangenheit erzählt. Das waren Zeiten. Viel zu schnell vorbei.“

Die Erinnerungen scheinen ihm gut zu tun, doch ich habe das Gefühl, er würde vom Thema abweichen und hoffe, dass es sich hier nur um einen flüchtigen Umweg handelt.

„Fakt ist“, fährt er fort und sofort löse ich mich von Tim, „ihr alle seid Menschen. Ihr seid jung. Und jeder von euch hatte einen anderen Weg, der euch hierher geführt hat.“ Nachdem sein Gesicht erstrahlte, macht es mit einem Mal einen wehmütigen Eindruck. Kurz sieht er mich nur an, bevor er matt lächelt. „Wer von euch hat sich dieses Leben ausgesucht? Wer war dafür gemacht? Keiner von euch gleicht dem anderen und auch dieses Dasein führt ihr auf unterschiedliche Weise. Jeder so, wie er es braucht, bestenfalls möchte. Und das ist gut und natürlich. Aber eines habt ihr alle gemeinsam.“ Er erwidert meinen Blick eindringlich. „Ihr fühlt. Aber wenn es darum geht, wie ihr diese Gefühle verarbeitet oder wie sie nach außen dringen, entfernt ihr euch sofort wieder voneinander. Kandas Art ist nicht deine Art.“

„Das heißt, er hat eine gute Art gefunden?“, erwidere ich. „Eine Möglichkeit, mit den Dingen zurechtzukommen, ohne größeren Schaden zu nehmen?“

Mir gegenüber runzelt Tiedoll die Stirn, als würde er erst jetzt bewusst auf das Offensichtliche eingehen. Bisher befasste er sich überwiegend mit mir, doch der Mittelpunkt ist ein anderer. Noch immer sieht er mich an, braucht die Frage nicht zu stellen, ich aber einen Moment, um sie zu beantworten.

„Ich war oft mit ihm unterwegs“, überwinde ich mich. „Wir haben schlimmes gesehen und schwere Entscheidungen getroffen. Wenn man sich bereit erklärt, die Konsequenzen für etwas zu tragen, sollte man diese Konsequenzen davor kennen. Und wie oft tut man das wirklich?“ Ein schwaches Lächeln zieht an meinen Lippen, während ich auf den Tisch starre.

„In diesem Fall hast du dasselbe gesehen und dieselben Entscheidungen getroffen“, antwortet Tiedoll. „Solltest du dich nicht auch um dich selbst sorgen?“

„Das tue ich. Und ich weiß, dass es mir so gut geht, wie es mir möglich ist.“

„Warum denkst du, es wäre bei ihm anders?“, folgt sofort die nächste Frage und erst jetzt begreife ich wirklich, wie tief ich mich in einem Netz verfing, das ich im Grunde meiden wollte. Eine der Wahrheiten habe ich zu offenbaren, um etwas zu erhalten, das mir hilft und somit auch Kanda.

Ich atme tief ein, tief aus, reibe meinen Hals und lasse Tiedoll warten. Vielleicht hoffe ich darauf, dass Lavi zurückkehrt und diese Frage ohne Antwort versickert, doch wir bleiben ungestört und nur kurz habe ich mich an die letzten Tage mit Kanda zu erinnern, um den letzten Antrieb zu erhalten. Selbst meine Schulter entsendet ein Stechen, als wolle es mich zurückführen zu jenen Stunden, in denen er viel zu oft schwieg.

„Wir alle sehen und erleben unterschiedliches“, sage ich letztendlich. „Einige erzählen davon, andere werden emotional. Alles, was hilft und jeder auf seine Weise. Manchmal hat man sogar das Gefühl, einem Kameraden helfen zu können. Und kann man es nicht, dann ist man zumindest in der Lage, den anderen einzuschätzen. Bei ihm ist es anders. Und die letzte Zeit war schwer.“ Somit nicke ich, abschließend, denn mehr kann ich nicht sagen und hoffe darauf, dass Tiedoll in den Bruchstücken einen Sinn findet. Er mustert mich noch kurz, ehe er flüchtig schmunzelt und wieder aus dem Fenster blickt.

„Ich verstehe.“

Sicher tut er das. Ich bin jemand, der sich Gedanken um einen Kameraden macht und das ist gut und im Rahmen der Normalität, weder übertrieben noch auffällig. Um diesen Rahmen nicht zu überschreiten, habe ich es in Kauf zu nehmen, keine Antwort zu erhalten, die mich wirklich zufrieden stellt und die Dinge erleichtert. Im Grunde tat ich nicht viel mehr, als einen Teil der Verantwortung abzugeben und Tiedolls Blick in eine Richtung zu lenken. Ich weiß nicht, wozu es führen wird, doch die Ungewissheit der Zukunft ist eine Begebenheit, mit der ich lebe.
 

-tbc-


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich danke allen Lesern, die bisher ein Feedback hinterlassen haben. :)
Ich kann leider nicht auf jeden Kommentar eingehen, möchte aber erwähnen, dass sie sehr wichtig sind, um den Schreiber zu motivieren. Wenn die Reaktionen ausbleiben, kann man die Geschichte auch nur für sich verfassen und braucht sie nicht online zu stellen.
Gerade bei einem solchen Monsterprojekt braucht man etwas Ansporn, also ein Lob an diejenigen, die es bisher geschafft haben, mir zu sagen, wie sie mein Werk finden.

Da ich allgemein darauf hingewiesen wurde, dass meine Kapitel manchmal etwas zu lang und deswegen anstrengend zu lesen sind, uppe ich ab jetzt etwas kleinere Happen, die hoffentlich leichter zu verdauen sind. :)

-Asche Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bitte den unglücklichen Übergang zwischen den Kapiteln zu verzeihen ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank an die Kommentatoren :)
Durch euch bin ich motiviert. Ich hoffe, die Story gefällt euch auch weiterhin. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (19)
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Von:  lula-chan
2019-05-19T06:29:43+00:00 19.05.2019 08:29
Ein tolles Kapitel. Gut geschrieben. Gefällt mir. Echt gut gemacht. Die Stimmung und Allens innerer Konflikt kommen sehr gut rüber. Ich bin gespannt, wie das weitergeht.

LG
Von:  Kiya
2019-05-04T12:37:54+00:00 04.05.2019 14:37
Yay ein neues Kapitel! Freue mich sehr, dass es weitergeht, rs war wieder sehr spannend. Allens inneres Gefühlsleben kommt gut zur Geltung, ich hoffe Kanda öffnet sich ihm noch ein wenig.
Von:  lula-chan
2019-05-03T22:50:55+00:00 04.05.2019 00:50
Ein tolles Kapitel. Gut geschrieben. Du stellst das echt gut dar. Gefällt mir.
Oh Mann. Oh Mann. Das entwickelt sich echt ... interessant. Da haben sie ja echt mit was zu kämpfen. Wenigstens ist dieses unsichtbare Viech nun tot. Na mal sehen, was Komui dazuzusagen hat. Ich bin gespannt.

LG
Von:  lula-chan
2018-08-30T18:34:22+00:00 30.08.2018 20:34
Tolles Kapitel. Gut geschrieben. Allens Gefühle kamen sehr gut rüber.
Oh Mann. Das wird ja immer besser. Wenigstens haben sie einen Plan, der durchaus funktionieren kann. Dass Marie und Rabi nun da sind, ist mehr als gut. So haben sie eine gute Chance.
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Von:  Kiya
2018-08-30T15:24:18+00:00 30.08.2018 17:24
Ahh saucool ein neues Kapitel! Und ich dachte schon ich müsste mich auf eine lange Wartezeit einstellen und schwupps ist ein neues Kapitel da.

Es war zu erwarten, dass es Allen keine Ruhe lässt was Kanda wohl gesehen hat. Und jetzt wo ich die Vorgeschichte kenne, war es für Allen wohl umso schlimmer so einen krassen Alptraum gehabt zu haben.
Die Spannung und Unruhe vor dem nahenden Kampf ist auch schön beschrieben.

Ich freue mich schon sehr auf das nächste Kapitel :)
Von:  Kiya
2018-08-13T10:58:48+00:00 13.08.2018 12:58
Ich bin jetzt erst über deine FF gestolpert und sie hat mir ausgesprochen gut gefallen! Ich habe alles am Stück gelesen und die Story hat mir einige nette Stunden mit meinem OTP beschert. Du schreibst sehr ausführlich und interessant und ich hoffe demnächst ein weiteres Kapitel drüber Geschichte lesen zu können :)

Liebe Grüße :)
Antwort von: abgemeldet
13.08.2018 17:36
Danke für deine Rückmeldung. :)
Freut mich sehr, dass ich dir nette Stunden verschaffen konnte. Da es mit den nächsten Kaps wohl noch etwas dauert, schau dir doch Teil 1 (Unseen souls) an, wenn du Zeit überbrücken willst. In der Story geht es darum, wie die beiden überhaupt zusammen kommen. :D
Grüße - Asche
Antwort von:  Kiya
14.08.2018 09:57
Japp hab schon bisschen mit lesen angefangen, danke :)
Von:  lula-chan
2018-03-10T20:04:12+00:00 10.03.2018 21:04
Tolles Kapitel. Echt gut geschrieben.
Also war das alles nur eine Illusion? Oh Mann. Das ist echt hart.
Was Kanda wohl gesehen hat? Es muss ihm zumindest sehr zu schaffen machen. Ob er es Allen wohl noch irgendwann erzählt?
Das ist doch mal eine ganz neue Methode. Was der Millenniums-Graf wohl vorhat?
Ich bin schon richtig gespannt, wie es nun weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Antwort von: abgemeldet
11.03.2018 10:20
Hi lula-chan,
freut mich, dass es dir gefällt. :)
Ich gebe mir Mühe, damit das nächste Kapitel nicht so lange auf sich warten lässt.
Von:  lula-chan
2017-12-25T18:04:02+00:00 25.12.2017 19:04
Tolles Kapitel. Es ist sehr gut geschrieben und hat mir außerordentlich gut gefallen. Die Gefühle Allens sind sehr gut und authentisch beschrieben.
Zum Glück ist Kanda wieder aufgewacht und zu den Lebenden zurück gekehrt. Hoffentlich schafft er es heil mit Tim zurück.
Ich bin schon gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Von:  Otogi
2017-12-18T13:03:39+00:00 18.12.2017 14:03
Hallihallo :)

Also erstmal hab ich mich super gefreut, als ich gesehen habe, dass ein neues Kapitel draußen ist und es war auch wieder wunderschön zum lesen.
Kanda merkt doch sicher schon längst, dass Allen ihm irgendwas verschweigt, aber ich mag es, mit welchen Worten er an die Sache rangeht. Und Kanda hat ja auch recht mit dem, was er sagt. Es ändert letzendlich ja nichts an dem Geschehen, da wäre ich wohl seiner Meinung. Ich bin mir sowieso sicher, dass er seine Gefühle wieder nicht zeigt, sollte Allen ihm etwas sagen. Schade eigentlich, weil er sich Allen bestimmt öffnen könnte, ohne, dass Allen sich ein Urteil darüber bildet, das ist ja eigentlich auch das Schöne an ihrer Beziehung.

Kommt es mir nur so vor, oder habe ich das Gefühl, dass sie unvorsichtiger werden, wenn sie zu zusammen unterwegs sind? Oder der Feind war einfach nur geschickter diesmal, ich bin ja sehr gespannt, was los ist.

Und zu der Seme-Uke Thematik. Ich finde deine Einstellung für mich auch absolut logisch. Natürlich mag ich diese Rollenverteilung der Beiden, weil es zu ihnen passt und ich sie ja auch genauso sehe~
Allerdings kann ich mir Allen auch als Seme vorstellen. Einfach, weil er letztenendlich auch ein Mann ist und sicher auch mal kann, wenn er es will. Aber ich sehe das bei jedem Yaoi-Pärchen so, das hat weniger was mit den Charakteren an sich zu tun, sondern an meiner persönlichen Interpretation, darum hinterfrage ich immer die Rollenverteilung ^^.
Im Grunde wollte ich nur sichergehen, dass ich in deiner FF nichts falsch verstehe und es macht dem ja auch gar keinen Abruch, im Gegenteil ;) Ich mag es ja, wenn Kanda Seme ist~

Und ja, das mit dem Schreiben für sich selbt kenne ich sehr gut. Ich schreibe auch sehr viel für mich selbst und entscheide mich nur dann, es hochzuladen, wenn ich sicher bin, dass es ein Ende hat, weil ich ungern etwas unvollständiges hochladen möchte. Ansonsten schreibe ich viele einzelne Szenen, manchmal überkommt es einen einfach :)

Nunja, vielmehr hab ich nicht zu sagen.
Ich liebe deine FF und sie inspiriert mich zu so einigen Dingen, wenn ich sie lese :D
In dem Sinne, weiter so, es ist großartig :3
Von:  lula-chan
2017-12-04T15:19:39+00:00 04.12.2017 16:19
Tolles Kapitel.
Wieder mal sehr gut geschrieben. Allens Gefühle werden wirklich gut dargestellt.
Oh, Gott! Kanda darf nicht tot sein. Das darf er einfach nicht. Hoffentlich wirken seine Regenerationsfähigkeiten und retten ihm das Leben.
Allen muss sie jetzt erstmal an einem sicheren Weg bringen. Zum Glück scheint er aber schon den passenden Ort gefunden zu haben.
Ich bin schon richtig gespannt, wie es weitergeht, und freue mich auf das nächste Kapitel.

LG


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