2.3 - Hausfriedensbruch
2.3 - Hausfriedensbruch
Kai Hiwatari hatte sich schnell in der Detektei Kon eingelebt. Sie arbeiteten jetzt beide schon über einem Monat zusammen und Probleme dabei waren weitgehend nicht erkennbar, auch wenn Kai sich schon das eine oder andere Mal verkneifen musste, dass sein neuer Partner - der in seinen Augen eher sein Chef war - alles ein wenig zu locker sah. Was ihn aber daran am meisten ärgerte war, dass er es trotz seiner Lässigkeit schaffte, alle Fälle zu lösen, die ihm aufgetragen wurden; was an sich ja schon ein Wunder war, da es immer mal Aufträge gab, die man sowieso nicht lösen konnte. Das war zumindest seine Meinung.
Er ließ sich nicht anmerken, dass er vor diesem Rätsel stand, auch wenn er Rei im Geheimen mittlerweile noch mehr beobachtete, um irgendwie zu erfahren, woran es lag, dass dieser mit den Aufträgen so einfach umgehen konnte. Sein Gefühl sagte ihm, dass es an der ganzen Sache irgendeinen sehr unangenehmen und mysteriösen Punkt gab. Aber durch bloßes Beobachten schien er diesen nicht enthüllen zu können und das Letzte, was er tun wollte, war, Rei darauf anzusprechen.
Außerdem gab es da noch eine Sache - aber die trieb Kai schon fast in den Wahnsinn.
Bereits an seinem ersten Arbeitstag hatte er Reis besten Freund Yuriy Ivanov kennen gelernt, der sich anscheinend genau so viel in der Detektei aufhielt wie Rei selbst. Mal davon abgesehen, dass Kai Yuriy überhaupt nicht leiden konnte, fand er es fast störend, dass dieser Rei berühren konnte und er bei ihm, sobald er ihm auch nur näher als zwei Meter kam, sofort einen großen Satz in andere Richtung machte.
Ihr erstes Aufeinandertreffen war noch dazu sehr eigenartig abgelaufen. Yuriy tendierte dazu, eine sehr laute und hyperaktive Persönlichkeit zu sein, so dass allein beim Öffnen der Tür zu Reis Büro schon die gesamte Straße Bescheid wusste, wer wem mal wieder einen Besuch abgestattet hatte. Dennoch schien er aber auch genau so schnell wieder auf Ernsthaftigkeit umzuspringen, wenn er Rei mal wieder einredete, dass er bei einem Fall unbedingt seine Hilfe brauchte. Kai hatte das von Anfang an nicht leiden können und sich still schweigend und mit einem besonders grimmigen Gesichtsausdruck die Schläfen massiert, während er wartete, dass der Störenfried mit seinem neuen Partner endlich verschwand und er wenigstens alleine in Ruhe den nötigen Papierkram fertig machen konnte.
Rei war, bei Anwesenheit seines Freundes, das genaue Gegenteil von dem, was er normalerweise gegenüber Kai zeigte. Er war aufgeschlossen, fröhlich, lachte über Yuriys Scherereien und ließ sich auch einige Male von ihm berühren; beispielsweise mit einem freundschaftlichen Auf-die-Schulter-klopfen. Als Kai ihn darauf ansprach, erklärte Rei ihm, dass sie schon Jahre lang befreundet waren. Mit dieser Erklärung konnte er zwar wenig anfangen, trotzdem hielt es ihn nicht davon ab, zwischen seinen einsamen Schreibtischarbeiten darüber zu grübeln.
Trotz ihrer guten Zusammenarbeit hatte Kai das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen stand, das diese maßgeblich beeinträchtigte. Er fragte sich, ob es eine Möglichkeit gab, das zu besiegen und zu vertreiben, doch umso länger er darüber nachdachte, umso unmöglicher schien es ihm, nachdem er mit Rei noch nicht einmal ein etwas intimeres Gespräch anfangen konnte, ohne dass dieser sofort hektisch auswich oder Yuriy am Ort erschien. Doch laut Rei war Kai schon bei den Unterlagen eine große Hilfe und er war sehr dankbar, nicht mehr alleine arbeiten zu müssen.
Die Zeit verging und die Aufträge kamen und lösten sich wie von selbst. Rei war und blieb das große Mysterium für Kai, der es mittlerweile aufgegeben hatte, sich in diesem Bereich weiter vorzuwagen. Er war nur mehr ein stiller Beobachter, der abschätzend auf die richtige Situation wartete, die das Rätsel lösen sollte.
Der letzte Fall, den sie in dieser Zeit übertragen bekommen hatten, befasste sich mit einem möglichen Mord einer Bardame (Kai konnte sich einen Kommentar dazu nicht verkneifen: "Wer lyncht denn schon eine Stripperin? War wohl nicht gut genug."). Da sie mit Zeugenbefragungen nicht wirklich weitergekommen waren, hatten sie sich dazu entschieden, den Ort des Geschehens aufzusuchen, wobei es sich selbstverständlich dann um eine zwielichtige Stripbar handelte, in der ebenso zwielichtige Gestalten herum saßen und halbnackten tanzenden Mädchen Geldscheine in deren Tanga steckten.
Rei war sich schon beim Betreten der Bar sicher gewesen, dass er so etwas niemals außerdienstlich aufgesucht hätte und fühlte sich etwas wohler, als er zu Kai blickte, der stumm neben ihm stand und bereits die abgegrenzte Stelle musterte, auf der ursprünglich die Leiche gelegen war. Nachdenklich versuchte er es ihm gleich zu tun, konnte sich jedoch nicht wirklich konzentrieren, während sich ein paar junge vollbusige Mädchen neben ihm an einer Stange räkelten und ihre langen Beine immer wieder in seine Richtung streckten, sodass er genau zwischen sie sehen konnte. Mit geröteten Wangen wandte er sich ab und überließ Kai die übrige Untersuchung.
Im späteren Verlauf des Abends lernten sie auch den Besitzer der Bar kennen, was Reis Laune deutlich aufhellte. Kai beobachtete mit kritischem Blick, wie sein Partner sich immer wieder näher an den anderen drängte und ihn schließlich so auffällig anrempelte, dass sich selbst der Barbesitzer einen empörten Blick nicht verkneifen konnte. Dann aber nickte Rei Kai mit entschlossenem Gesicht zu und sie verließen gemeinsam den stickigen Ort.
Davor, auf der Straße, blieben sie stehen und Kai zündete sich eine Zigarette an. Er wirkte müde und überarbeitet.
"Er hat sie nicht ermordet.", brach Rei das Schweigen und blickte auf den Rauch, den sein Partner ausstieß.
"Wer sonst?", erwiderte dieser grimmig und starrte in den bedeckten Himmel.
"Sein Sohn. Er hat es ihm erzählt."
Kai, der gerade einen weiteren Zug seiner Zigarette hatte nehmen wollen, hielt in seiner Bewegung inne und starrte ihn an. Dies war nicht das erste Mal, dass er Dinge zu wissen schien, die sie auf normalem Wege nie erfahren hatten. Am Anfang hatte er das noch als Zufall abtun können, doch mit der Zeit wurde es immer auffälliger.
"Sein Sohn besitzt einen eigenen Bogen, weil er in einem Bogenschützenverein Mitglied ist. Und damit hat er sein Opfer getroffen, daher auch die eigenartige Wunde. Er hat den Pfeil entsorgt, wollte aber nicht sagen, wo."
Nachdenklich hob Kai eine Augenbraue und musterte ihn. Was ihn viel mehr als dieser Fall interessierte, war, wie er an dieses Hintergrundwissen gelangt war. "So, und woher willst Du das wissen?"
Rei zuckte mit den Schultern und lächelte sanft. "Ich weiß es."
Ein eiskalter Schauer lief über Kais Rücken, während er erneut an seiner Zigarette zog und diese dann unbeachtet auf dem Boden austrat. Geheimniskrämerei, dachte er genervt und vergrub seine kalten Finger in den Taschen seines schwarzen Mantels.
"Wir sollten uns schnell überlegen, womit wir handeln."
Kai schloss die Augen. Der kalte Abendwind spielte mit seinen graublauen Haaren und schob ihm ein paar störende Strähnen in sein blasses Gesicht. Ein Fall lässt sich lösen, ein anderer nicht.
"Ich schlage vor, wir suchen erst den Jungen. Laut dem Besitzer müsste er im Moment bei seiner Freundin sein. Er kehrt immer erst früh morgens zurück nach hause, also stehen wir vor der Wahl, ob wir ihn dort aufsuchen oder bis morgen warten, was aber insofern kritisch wird, weil er angeblich tagsüber arbeitet und zwar im Außendienst, was wiederum bedeutet, dass die Chance, dass wir ihn abpassen, ziemlich gering ist, da wir keinen genauen Zeitpunkt wissen." Rei verzog das Gesicht. Es verwirrte ihn, dass Kai immer noch schwieg und seine Gedanken nicht äußerte. Er verdrängte sein Vorhaben - ihn zu berühren - so schnell er konnte...
"Ich geh' nach hause."
Rei blickte verwirrt zu ihm hoch. "Was?"
"Du kommst gut ohne mich zurecht, das habe ich nur mal wieder zu deutlich gemerkt.", sprach sein Partner und ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzublicken.
"Was habe ich Dir getan?", fragte er und konnte sich natürlich genau vorstellen, worum es in dieser Unterhaltung wirklich ging.
"Nichts." Kai konnte so stur sein! Unglaublich.
Rei blickte auf den Asphalt und fragte sich, wie ihre Zusammenarbeit wohl in Zukunft weitergehen sollte. Er hatte durchaus gemerkt, dass zwischen ihnen eine angespannte Stimmung herrschte, da Kai hinter sein "Geheimnis" kommen wollte, jedoch war da etwas in ihm, was ihm verbot, darüber zu reden. Eine Erinnerung.
"Es tut mir leid, Kai."
"Es gibt nichts, was Dir leid tun muss." Seine Stimme klang so kalt.
"Doch. Ich bin nicht ehrlich mit Dir -"
"Ich verdiene Dein Vertrauen nicht. So ist das.", unterbrach Kai ihn und schritt ohne ein weiteres Wort hinfort, nichts als den kalten Wind zurücklassend.
Enttäuscht blickte Rei ihm hinterher. Alles hatte so gut angefangen, sie waren beide so gut miteinander zurecht gekommen, doch nun schien es, als wäre all dies nicht mehr wichtig. Er wollte nur zu gern ehrlich mit Kai sein und ihm seine Geschichte erzählen, doch er fürchtete sich davor und schämte sich, wenn er ehrlich war, auch dafür, obgleich es ja gar nicht seine eigene Schuld war, dass er diese unsägliche Fähigkeit besaß.
Der wolkige Himmel wirkte trostlos und müde. Rei blieb noch eine Weile am selben Ort stehen, dann machte auch er sich auf den Weg zurück in seine Wohnung, die über der Detektei lag. In seinen Gedanken sah er immer noch Kai vor sich, dessen Schatten langsam in der Dunkelheit der Gassen verschwand und nichts als Schuldgefühle zurückließ.
*
Leicht niedergeschlagen schmiss Kai seinen Mantel auf den Boden und schlüpfte aus seinen Schuhen, ehe er das Wohnzimmer betrat. Mit den Gedanken war er immer noch bei seinem neuen Chef Rei und dessen Eigenarten. Wenn er doch nur wüsste, was mit ihm los war... Dann wäre das alles viel einfacher gewesen. Doch anscheinend sollten die Dinge lieber hart bleiben.
Ausgestreckt auf dem Sofa starrte er aus dem Fenster. Dahinter verbarg sich eine grausame und einsame Dunkelheit. Er seufzte frustriert auf und angelte nach einer Schachtel Zigaretten.
Heh, meinen Job bin ich los.
Fast eine Stunde saß Kai auf der Couch und starrte aus dem Fenster; ging seinen Gedanken nach. Es gab für ihn nichts anderes, womit er sich in diesem Augenblick hätte beschäftigen können. Er war ein einsamer Mensch, der auf einer recht ärmlichen Basis lebte, auch wenn er eigentlich einen mehr als nur hohen Betrag auf seinem Konto vorweisen hätte können. In seiner Freizeit las er meistens oder schlief. Einen Fernseher besaß er nicht. Im Sommer begann er meist zu joggen, weil er sich in seinem Körper unwohl fühlte; wofür es jedoch äußerlich keinen Grund gab.
Er war gerade dabei, ein wenig wegzudämmern, als es leise an seiner Tür klopfte. Halb verschlafen und ziemlich genervt überlegte er einen Augenblick, ob er nicht öffnen und nachsehen sollte, wer etwas von ihm wollte. Doch andererseits konnte er sich nicht vorstellen, wer um diese Zeit noch etwas von ihm wollte und darum ließ er es bleiben. Es hätte natürlich auch nur Einbildung sein können.
Während er erneut in den Schlaf abdriftete, wurde das Klopfen an der Haustür lauter und der nächtliche Besucher begann so lang und oft zu klingeln, bis Kai davon wieder wach wurde und ziemlich wütend zur Tür stapfte, um der Person davor die Meinung zu sagen.
Doch als er die Tür öffnete und gerade seinem Ärger Luft machen wollte, war das einzige, was er vernahm ein lautes Klatschen verbunden mit Schmerzen in seiner Nase und Sterne vor seinen Augen. Er stolperte einige Schritte rückwärts, ehe er sein Gleichgewicht wieder fand. Seine Nase blutete.
"Du bist wahrlich ein Trottel!"
Kai blinzelte und spürte das warme Blut auf seinem Gesicht. Die Stimme kam ihm bekannt vor.
"Was soll das?", brachte er stöhnend hervor und hielt die Hand an seine Nase, um den Blutfluss irgendwie zu stoppen. Es gelang ihm nicht. Das Blut tropfte auf sein Hemd und auf den Boden.
"Das wollte ich Dich gerade fragen!" Es war Yuriys Stimme. "Du denkst wohl auch, Du hast die Wahrheit mit Löffeln gefressen, was?"
Kai blinzelte erneut und sah mit verengten Augen auf Reis rothaarigen Freund, der ihn wütend anfunkelte. Sarkastisch fragte er sich, ob er vielleicht nur zufällig Opfer eines Mordes werden würde.
"Rede gefälligst mit mir! Was hast Du mit Rei gemacht?", fauchte Yuriy und Kai fragte sich im Moment genau dasselbe, da er sich nicht wirklich vorstellen konnte, was der andere überhaupt bei und vor allem von ihm wollte.
"Was soll ich schon mit ihm gemacht haben?", erwiderten seine blutigen Lippen und er versuchte dabei einen coolen Ton zu bewahren, "Ich habe gekündigt. Er braucht nicht wirklich jemanden, der ihm bei seiner Arbeit hilft."
"Das glaubst aber auch nur Du! Aber das ist ja auch kein Wunder, Du kennst Rei ja auch nicht wirklich. Du bist nur ein dahergelaufener Trottel, der sich sowieso keinerlei Ahnung hat, womit er es wohl zutun hat!"
Was für ein Gewaltpotenzial dieser Kerl doch besitzt, dachte Kai bitter amüsiert und lehnte sich an die Wand des Flurs. Das Blut lief immer noch. Ob er die Rechnung für die Behandlung der gebrochenen Nase wohl der Polizei zusenden konnte?
"Womit hab ich's denn zutun?"
*
Der Regen schlug ihm hart ins Gesicht, als er den Fußweg zur Detektei entlang rannte. Sein Mantel war durchnässt vom Niederschlag, dem Blut und dem körpereigenen Schweiß, seine Haarsträhnen klebten in seinem Gesicht, sodass er kaum etwas sehen konnte. Dennoch war für ihn das das Geringste, worüber er sich Sorgen machen wollte; auch wenn es ihn nachhaltig beeinflusste, da er beim Überqueren der Hauptstraße beinahe von einem PKW erwischt wurde. Der Fahrer hatte nur noch im letzten Moment ausweichen können.
Kai erinnerte sich an das, was er von Yuriy gehört hatte. Am Anfang hatte er gedacht, der andere würde sich nur über ihn lustig machen. Doch je länger er darüber nachdachte, umso klarer wurde das Ganze für ihn... auch wenn er es immer noch nicht wirklich fassen konnte. So etwas hörte man schließlich nicht alle Tage.
"...Er hat die Fähigkeit, Gedanken anderer Menschen zu lesen, wenn er sie berührt..."
"...Ich hätte Dich intelligenter eingeschätzt. Es geht nicht darum, dass Du das errätst, aber Du hättest Dich ruhig im Umgang mit ihm ein wenig bemühen kann, anstatt gleich das Handtuch zu werfen, nur weil Du keine Ahnung hast, wie Du mit etwas, was Dir unbekannt ist, umgehen sollst! Das ist feige, Hiwatari, feige! Ich will nicht, dass mein bester Freund einen Feigling als Partner hat, aber da er Dich leiden kann, gebe ich Dir noch eine Chance..."
Kai rüttelte an der Haustür, doch sie war verschlossen. Hektisch drückte er mehrmals auf die Klingel, doch als Rei die Tür nicht öffnete und auch an keinem der Fenster erschien, fragte er sich ernsthaft, was er nun tun sollte. Was, wenn Rei gar nicht zuhause war? Wenn er irgendwohin abgehauen war?
"...Zufällig weiß ich, dass er Dich sehr gut leiden kann..."
Er lehnte sich erschöpft und vor Schweiß triefend gegen die Holztür und schnappte erstmal nach Luft. Reis Wohnung schien still; kein Licht brannte. Minutenlang starrte er auf die Fenster im ersten Stock und ihm kam der Gedanke, dass diese gar nicht so hoch lagen und er eigentlich problemlos hinaufklettern konnte. Andererseits war das doch auch irgendwie unsinnig - er konnte doch nicht einfach in die Wohnung seines Partners einsteigen... Oder doch?
"...Wenn Du ein Trottel bist, dann bleibst Du jetzt daheim..."
Die Sohlen seiner Schuhe rutschten vom nassen Fensterbrett. Mit einer Hand gelang es ihm noch rechtzeitig sich am Fensterrahmen schräg über ihm festzuhalten, der jedoch schon ein gefährliches Knacken von sich gab. Kai biss auf seine Unterlippe und zog sich langsam mit den Händen am kleinen Vordach herauf, was sich als schwerer herausstellte als er erwartet hatte, da alles viel zu glitschig und nass war. Der Regen hatte volle Arbeit geleistet. Schwer atmend saß er schließlich auf dem Vordach und spähte mit Argusaugen in die dunkle Wohnung.
"...Was Du tun sollst? Junge... Braucht jemand wie Du wirklich einen Menschen, der Dir sagt, was Du tun sollst?..."
Sein Fuß rutschte an der Seite des Vordaches ab und nur mit Mühe und Not konnte er das Gleichgewicht auf dem dünnen Metall halten. Er blickte sich um und suchte nach einer Möglichkeit, was er jetzt tun konnte; da fiel ihm das gekippte Fenster links neben dem Vordach auf. Das einzige Problem war, dass es zu weit entfernt war. Vielleicht war es doch eine dumme Idee gewesen, einsteigen zu wollen. Hausfriedensbruch. Doch was sonst hätte er tun sollen? Lieber tat er das, als das Gefühl zu haben, gar nichts tun zu können, nicht an Rei gelangen zu können.
Während er auf dem kleinen Dach saß und die Beine baumeln ließ, wobei er seine Chancen überdachte, starrte er in den dunklen Himmel, aus dem es immer noch in Strömen schüttete. Die kalte Nässe war mittlerweile schon fast an seine Knochen durchgedrungen und er fühlte sich müde, erschöpft und fror. Zwischendurch galt sein Blick immer wieder dem gekippten Fenster neben ihm, das ihn förmlich einzuladen schien. Nach kurzer Zeit konnte er sich vom Gedanken, dort reinzuklettern, nicht mehr abbringen und überlegte, welche Möglichkeiten er hatte, dorthin zu gelangen.
Kurze Zeit später war das Fenster offen und Kai auf halbem Weg in die Wohnung. Sobald er den Boden betrat, fiel ihm auf, wie durchnässt war. Der Teppich sog die Nässe in sich hinein und die betroffene Stelle verdunkelte sich. Die Luft in der Wohnung war warm, wenn auch etwas stickig. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, bemerkte aber schnell, dass er leer war. Frustriert fragte er sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hier einzusteigen. Er zweifelte langsam daran und war gedanklich schon wieder durch das Fenster.
Er hatte Reis Wohnung noch nie zuvor von innen gesehen, auch wenn sie oberhalb seiner Detektei lag. Sie waren zwar Partner, dennoch hatten sie wohl beide verhindert, dass es mehr wurde als nur das. Rei war nicht unbedingt der Mensch, mit dem man leicht eine Freundschaft eingehen konnte. Kai hätte es zwar versuchen können, dennoch rief er sich ins Gedächtnis, dass dies nicht der Grund gewesen war, weswegen er in dieses Land gekommen war und einen Job gesucht hatte. Freundschaften konnte er an einem anderen Ort suchen.
Kai entfernte sich einige Schritte vom Fenster und sah sich den Raum genauer an. Es handelte sich um eine Art Abstellkammer, die jedoch im Gegensatz dazu so furchtbar sauber und aufgeräumt war, dass er sie niemals Rei zugetraut hätte. Das hieß nicht, dass sein Partner ein Chaot war, aber wenn man sich seinen Schreibtisch in der Detektei einmal genauer besah, konnte man schon den einen oder anderen Gedanken an etwas Ähnliches nicht verdrängen...
Während er darüber philosophierte, was hätte werden können, wäre Rei nicht ein so rätselhafter und ängstlicher Mensch, trugen ihn seine Beine bereits durch die Tür hinaus auf den Gang der Wohnung. Seine Gedanken wurden erst wieder in die Realität zurückgerissen, als er ein Geräusch aus einem der Zimmer vor sich vernahm, das eindeutig einem Klirren glich. Kai hielt inne und überlegte einen Augenblick, ob Rei jemals angemerkt hatte, dass er einen Mitbewohner oder eine Freundin besaß. Er wollte nicht in einem äußerst peinlichen Moment reinplatzen. Nein, im Grunde war es sowieso schon viel zu übertrieben, überhaupt auf diese Art und Weise - durch das Fenster... - in die Wohnung reinzuplatzen. Sollte er sich schämen?
Innerlich fluchend schüttelte Kai den Kopf und ging mit entschlossenem Schritt die letzten Meter bis zur Zimmertür. Sie war wenige Zentimeter geöffnet, sodass er ohne Probleme einen Blick in das Innere des Raumes riskieren konnte. Doch das einzige, was er erkennen konnte, war ein kleiner Berg mit Bierdosen und -flaschen. Verwirrt blinzelnd schob er einen Fuß zwischen Tür und Rahmen und öffnete sie ein Stück weiter. Der Berg ging deutlich in die Breite. Schräg dahinter befand sich eine Matratze ohne Bettgestell, auf dem ein deutlich angetrunkener Rei lag und sein Gesicht unter den Händen verbarg.