Hangover
Der Herbst färbte das Laub der Bäume golden und erfüllte die Luft mit seinem würzigen Duft. Ergreifende Farbspiele vor einem stahlblauen Himmel. Das graue Asphaltband der Straße durchschnitt die Hügel und wand sich westwärts zum Atlantik. Der Wind, der durch das offene Wagenfenster pfiff, war kühl. Ich fragte mich unwillkürlich, wie lange es her war, seit ich zum ersten Mal diese frische, saubere Luft geatmet hatte. Ich hatte schon immer die Großstattgerüche, den Schweiß, die Auspuffgase gehasst. Falls ich jemals mein eigenes Geschäft betreiben sollte, dann sollte es auf dem Land oder an der Küste sein. Immer falls und sobald. Ich konnte es mir nicht leisten, in Konjunktiven zu denken.
Noch eine Stunde Fahrt bis ich Steve wiedersehen würde - noch sechzig Minuten - und dann...Ich schüttelte den Kopf und stellte das Radio ein. Es brachte nichts, an die nächste Stunde zu denken. Ich war nicht auf dem Weg zum Flughafen, um die Landschaft zu bewundern. Ich hatte nur wieder ein Stück meiner Vergangenheit zu überwinden - ein Stück, das mich wütend machte.
Steve Thomas, sinnierte ich, fünfundfünfzig Jahre alt. Der Einzige, mit dem ich nie gerechnet hätte. Das einige Kind von Justice Lawrence Thomas und Lorraine Isabelle Thomas. Dundee-Absolvent, einer der besten seines Jahrgangs. Er war bestimmt beliebt gewesen, dachte ich und schnaubte verächtlich. Sein Studium hat ihm ja viel gebracht. Verfolgt von der Mafia und im Übrigen sollte er tot sein. Seine Familie verraten und in Todesgefahr gebracht.
Bemüht, meine Wut nicht überhand nehmen zu lassen, versuchte ich mich abzulenken indem ich Rika einen langen vielsagenden Blick zu warf. Ich hoffte inständig, dass sie wusste auf was sie sich da einließ.
Ich konnte mich noch zu gut an Kaibas Gesichtsausdruck erinnern, als Rika ihm von Steves geplantem Besuch erzählt hatte. Wenn Blicke töten könnten. Aber was brachte das dem Guten schon sich aufzuregen? Rika und Mokuba waren sich schon längste einig gewesen. Ob es wohl damals auch so zwischen ihnen gewesen war?
Plötzlich fühlte ich mich wie ein Außenseiter. Was für ein Unsinn! Die Drei kannten sich nun mal schon seit einer Ewigkeit.
Mein Blick hatte offensichtlich keine Wirkung. Rika beachtete mich gar nicht. Erneut wendete ich mich um. Vielleicht hatte Mokuba ja etwas zu sagen.
Fehlanzeige!
Meine letzte Hoffnung: Kaiba.
Das hätte ich wohl besser gelassen. So wie der aussah, hätte ich auch aus dem Fenster springen können. Das hätte ihn sicherlich kaum gestört.
Mein Gott! Was für eine Atmosphäre! Als wäre jemand gestorben. Na das war doch das Problem, Robin! Eben nicht!
Ich machte mir etwas vor. Ich war es doch, die sich am meisten davor fürchtete diesem Mann zu begegnen. Dem Mann, der mein Leben zerstört hatte. Der Grund für den Zerfall meiner Familie. Ich musste mich doch irgendwie ablenken können!
Ein Kribbeln überfiel mich. Meine Knie wurden weich. Was ging denn jetzt ab? Ich sah auf, in Seto Kaibas Augen. Er betrachtete mich. Machte er sich Sorgen? Sein Ausdruck war so weich. Wie es ihm wohl bei der ganzen Sache ging? Man, ich machte mir ja schon Gedanken, um Kaibas Gefühle. Das ging jetzt echt zu weit! Wieso wurde mein Herzschlag immer schneller, wenn Kaiba mich ansah? Schon klar! Die körperliche Anziehung zwischen uns. Aber dieser rasante Herzschlag war anders. Vielmehr das Gefühl zu wissen, dass, so lang Kaiba in meiner Nähe war, ich nichts zu befürchten hatte. Ich begann doch nicht etwa Gefühle für den Typ zu entwickeln?
Nie und nimmer!!!
In weniger als einer Stunde wurde ich mit Steve konfrontiert. Ich musste den Kopf heben, ein ganzes Stück, um den riesigen Mann mit einem unsympathisch, hübschem Gesicht anzusehen. Ein Hauch von Zitronenduft umgab ihn, der mich an die Gärtnerei erinnerte.
"Na, so was. Die kleine Robin! Ich habe dich ja nun wirklich seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Ganz schön gewachsen", sagte er mit seinem breiten New - England - Dialekt.
Wie hatte ich das nur vergessen können? Diese Stimme. Als Kind hatte ich mich immer so wohl gefühlt, wenn ich sie hörte. Seit dem Geschehen in der Gärtnerei, machte sie mir Angst.
Schnell trat ich einen Schritt zurück. Seine Augen funkelten gierig über mich hinweg. Seine Miene änderte sich und er sprach weiter.
"Ach, und wenn das nicht meine süße, kleine Rika ist! Na, mein Schatz, wie geht es dir?" Er trat auf sie zu und streckte seine Hand nach ihr aus. Weit kam er jedoch nicht. Mokuba schlug Steves Hand weg und stellte sich zwischen die beiden.
"Ich glaube, Small Talk ist unangebracht. Mr. Thomas, sie befinden sich aus einem einzigen Grund hier. Ihre Tochter möchte die Nachricht ihres Todes nicht noch einmal verkraften müssen. Wir werden ihnen Asyl gewähren. Weiterer Kontakt wird überflüssig sein."
Selten hatte ich Mokuba so ernst erlebt. Jetzt sah er seinem Bruder zum Verwechseln ähnlich. Wie er sich so schützend vor Rika stellte. Irgendwie malerisch. Mich überkam schon wieder so ein merkwürdiges Gefühl. Einbildung! Alles Einbildung, Robin! Du hast jetzt ganz andere Probleme.
"Natürlich, aber du bist doch der kleine Mokuba, nicht wahr?! Hat Rika nicht immer deinen Arsch gerettet? Jetzt ist es also umgekehrt was?!", spottete Steve und sah nun Kaiba an. Die beiden waren fast gleich groß, dennoch hatte Kaiba einen viel erhabeneren Blick. Ich beneidete ihn für seine Coolness. Ich konnte zu dem Zeitpunkt nicht ahnen wie er innerlich vor Wut kochte und um Selbstbeherrschung rang.
"Oh, wie angenehm dich auch mal wieder zusehen, Seto. Stattlich, stattlich. Nein, wirklich. Ich habe viel von dir gehört; von dir und deiner Firma." Ein seltsam vertrautes Grinsen huschte über Steves markante Gesichtszüge.
Was war aus diesem Menschen geworden? Der einst charmante, wohlerzogene Mann schien verwelkt. Wo hatte er die letzten Monate gelebt? Auf der Flucht und unter ständiger Angst entdeckt zu werden. Ich war es gewesen, die sichergestellt hatte, dass alle ihn für tot hielten. Ich war es gewesen, die ihm Schutz geboten hatte. Und auch jetzt kam er zu mir, um sein verdammtes Leben zu schützen. Und dabei brachte ich Mokuba und Kaiba in Gefahr. Es sah so aus, als würden immer die Menschen, die mir etwas bedeuteten, in Gefahr geraten. Nur durch meine Existenz.
Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich hatte mich von meiner Vergangenheit abgewandt. Ich würde es nicht zulassen, dass sie mich wieder einholte.
Noch einmal blickte ich auf zu Rika. Sie schien in einer Art Zwiespalt zu stecken. Einerseits freute sie sich sicherlich ihren tot geglaubten Vater wiederzusehen, andererseits musste sie von Furcht geplagt sein.
Wut überkam mich. Ich konnte mir nicht helfen. Der Gedanke an Steve machte mich wahnsinnig. Mit ihm leben? Für wie lange überhaupt? Wie lange gedachte dieser Verbrecher zu bleiben?
"Entschuldigt mich. Ich brache frische Luft." Und das wortwörtlich. Hätte ich mich in diesem Moment nicht von der kleinen Menschentraube fortbewegt, wäre ich erstickt.
Niemand schien meine Flucht zu bemerken. Alle waren wohl mit sich selbst beschäftigt. Wie hatte ich vergessen können, dass diese Begegnung nicht nur für mich als Schock kam. Wir alle hatten unsere Gründe Steve zu hassen. Obwohl ich mir über Kaibas Beweggründe nicht wirklich sicher war. Aber das war ich so oder so nie gewesen.
* * *
Zeit verging langsam und stetig. Niemand suchte nach mir. Ich bekam das Gefühl, dass die Gruppe sich ohne mich auf den Rückweg gemacht haben musste. Und dann traf es mich. Wenn sie schon zurückgefahren waren, wie sollte ich dann zurückkommen? Laufen? Was für eine geniale Idee einfach abzuhauen. Ich hatte mich mal wieder selbst übertroffen. Vielleicht hatte ich ja Glück.
Mit schnellen Bewegungen rannte ich zum Landeplatz, doch dieser verweilte wie ausgestorben. "Super, und was machst du jetzt, Robin?"
"Was hälst du davon, wenn wir zurückfahren?"
Ich schrie vor Schreck wie ein aufgestochenes Schwein.
Keine Nerven.
Wie sollte ich die auch haben nach der ganzen Zeit, die ich für Seto Kaiba gearbeitet hatte? Bei dem Gedanken an ihn, beruhigte ich mich unweigerlich. War es doch seine Stimme gewesen, die gesprochen hatte.
Entgeistert sah ich ihn an.
Mein Herz hörte nicht auf zu rasen, als ich sah wie er immer näher kam.
"Ich hoffe wirklich, dass dich das jetzt aus der Fassung bringt", murmelte er, lehnte sich vor und drückte seine Lippen auf meine.
Ich stand stocksteif. Konnte mich nicht rühren. Meine Augen waren weit aufgerissen, starrten ihn an wie ein Kaninchen die Schlange.
Seine Lippen waren warm, das immerhin bemerkte ich. Und weicher als sie momentan aussahen. Er berührte mich nicht mit seinen Händen. Ich war mir sicher, dass ich unweigerlich aus meiner Haut gefahren wäre, wenn seine Hände mich angefasst hätten.
Aber es war nur sein Mund, der leicht und zart den meinen berührte.
Ich sah es ihm an. Er hatte sich innerlich gewappnet, dass ich mich belästigt fühlen würde oder desinteressiert wäre. Aber er hatte bestimmt nicht erwartet, dass ich mich fürchten würde. Meine Angst musste er körperlich spüren können, sie war so stark, dass sie innerhalb von Sekunden in Hysterie umschlagen konnte. Deshalb berührte er mich nicht, so sehr er sich das vielleicht gewünscht hatte, gestattete sich nicht einmal, mit seinen Fingern über meine Arme zu streichen.
Wenn ich zurückgetreten wäre, hätte er nicht versucht, mich davon abzuhalten. Aber meine absolute Unbeweglichkeit war meine einzige Verteidigung.
Er war derjenige, der zurücktrat und dadurch die Atmosphäre lockerte, obgleich seine Bewegung darauf schließen ließ, dass etwas in seinen Eingeweiden nagte, das mehr war als sein Begehren. Es war gleichzeitig eine kalte Wut auf denjenigen, der mich derartig verletzt hatte.
"Das Ganze geht zu schnell". Doch gleichzeitig spürte ich wie mein Körper nach seinem schrie. "Ich kriege keine Luft mehr, ich kann nicht mehr denken. Was geschieht da eigentlich mit mir?"
Leise lachend zog er mich in seine Arme und vergrub seinen Kopf in meinem Haar.
"Falls es auch nur ansatzweise dem ähnelt, was in mir vorgeht, dann werden wir wahrscheinlich demnächst explodieren. Wir könnten innerhalb weniger Minuten zurück in meinem Wagen sein und ich garantiere absolute Diskretion meiner Angestellten. Danach würde es uns beiden deutlich besser gehen!"
"Ich schätze du hast Recht, aber ich..."
"...du kannst so etwas nicht so überstürzt angehen, sonst wärst du nicht Robin." Er trat wieder einen Schritt zurück und betrachtete mich. Zum ersten Mal hatte ich einen leisen Verdacht warum er mich immerzu betrachtete. Mokuba hatte es mir gesagt. War es tatsächlich so, dass er mich für mehr als gutaussehend hielt und obendrein vollkommen stimmig?
"Wie ich bereits sagte, mag ich Robin nun mal. Und Robin will vorläufig hofiert werden, wie mir scheint."
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob diese Feststellung mich eher verblüffte, amüsierte oder doch beleidigte. "Auf gar keinen Fall."
"Und ob! Robin will Blumen und Worte, geraubte Küsse und Spaziergänge bei schönem Wetter. Robin will Romantik, und ich bin derjenige, der ihr das beschert. Du müsstest mal dein Gesicht sehen." Er packte mich am Kinn wie sonst ein Erwachsener ein eingeschnapptes Kind, und ich kam zu dem Schluss, dass ich tatsächlich beleidigt war. "Jetzt schmollst du wie ein kleines Mädchen."
"Tue ich nicht!" Ich hätte ihm mein Gesicht entwunden, doch er verstärkte seinen Griff, beugte sich ein wenig vor und küsste mich wieder zärtlich auf den Mund.
"Ich bin derjenige, der dich sieht, meine Kleine - und wenn du nicht einen herrlichen Schmollmund ziehst, will ich ein Engländer sein. Du denkst, ich mache mich über dich lustig, aber das trifft nicht oder höchstens teilweise zu. Was ist falsch an ein bisschen Romantik?"
Seto Kaiba und Romantik? Das musste ein Witz sein. Doch seine Stimme war so warm und einladend wie ein Glas Whiskey vor einem prasselnden Kaminfeuer.
"Wirst du mich also mit sehnsüchtigen Blicken und kokettem Lächeln bedenken, wenn du am anderen Ende eines Raumes bist, wirst du wie zufällig deine Hand auf meinen Arm legen? Wirst du mich in heißer Verzweiflung irgendwo im Dunkeln küssen? Wirst du mich" - er strich mit den Fingerspitzen über eine meiner Brüste und mein Herzschlag setzte aus - "ab und zu verstohlen berühren?"
Ich entwand mich aus seinem Bann. Ich war mir so sicher, dass er all dies nur tat, um mich von Steve abzulenken.
"Aber ich bin nicht auf der Suche nach Romantik!"
"Ach nein? Ob du danach suchst oder nicht - jetzt hast du sie nun mal gefunden." Er war völlig von sich überzeugt. "Und wenn ich dich zum ersten Mal liebe, wird es langsam, süß und innig sein. Das ist ein Versprechen. Lass und jetzt besser zurückkehren - ehe die Art, wie du mich ansiehst, mich dazu zwingt mein Versprechen zu brechen, noch während ich es ausspreche. Rika, Mokuba und dieses Würstchen sind schon vorgefahren. Wir sollten die drei nicht zu lang alleine lassen."
"Du willst jedenfalls stets die Oberhand behalten - und immer alles kontrollieren."
Wieder nahm er meine Hand, auf eine geradezu störend freundschaftliche Art. "Nur deshalb, weil ich es ganz einfach gewohnt bin. Aber wenn du das Kommando übernehmen und mich verführen willst, Robin, bin ich durchaus bereit und in der Lage, mich schwach und willenlos zu geben."
Verdammt, ehe ich es verhindern konnte, brach ich in lautes Lachen aus. "Du, schwach und willenlos? Das kauft dir doch keiner ab, Mr. ich bekomme alles was und wen ich will."
"Wenigstens wirst du mir die Gelegenheit geben!", sagte er mit rauer Stimme, während er mich zu einer Limousine schubste. "Du wirst in meinem Park arbeiten, damit ich dich ansehen und leiden kann."
"Allmächtiger, du bist wirklich immer wieder eine Überraschung, Seto Kaiba."
"Da hast du ganz sicher Recht." Er hob meine Hände und half mir in den Wagen. "Übrigens Robin, du küsst wirklich ganz fantastisch."
Dazu fiel mir beim besten Willen nichts Gescheites ein, dass ich hätte erwidern können.
* * *
"Also hat er sich eingebildet, nur weil ich mich ein-, zweimal habe von ihm zum Essen ausführen lassen und ihm erlaubt habe, mir seine Zunge in den Rachen zu schieben - was nicht annähernd so aufregend war, wie er dachte -, dass ich mich voller Stolz vor ihm ausziehen und ihn an mich heranlassen würde. Sex ist ja ein durchaus angenehmer Zeitvertreib", fuhr Rika fort und leckte sich die Schokolade von den Fingern, "aber mindestens in der Hälfte der Fälle wäre man besser bedient, wenn man sich einfach die Nägel lackieren und vor den Fernseher hocken würde."
"Vielleicht liegt es an den Männern, denen du deine Gnade gewährst." Ich winkte mit meinem Glas. "Sie sind alle derart geblendet von deinem Aussehen, dass sie am Ende vor lauter Aufregung nichts mehr hinkriegen. Was du brauchst, liebe Rika, ist ein Mann, der dich aushalten kann und dabei auch noch Spaß hat."
Das alles war Rikas Idee gewesen.
Ein Frauenabend.
Steve war in Gewahrsam genommen worden von den beiden Kaiba Brüdern. Seto selbst hatte mir zugesichert, dass Steve keine Chance haben würde in meine oder Rikas Nähe zu kommen. Nach langer Zeit genossen ich und Rika wieder Zweisamkeit.
Rika sah mich mit einem breiten Lächeln an.
"Und wenn ich ihn finde und er so reich ist, wie ich es mir vorstelle, werde ich ihn sorgfältig um diesen Finger wickeln" - sie reckte ihren rechten Zeigefinger in die Luft - "und ihm erlauben, mir seine Liebe und all seine weltlichen Güter zu Füßen zu legen."
Wir blickten uns lange an und brachen dann in lautes Gebrüll aus. Die Schokolade fiel vom Bett und eine der vielen leeren Flaschen kippte auf den weißen Teppich. Mühsam streckte ich mich, um die Süßigkeit wieder einzusammeln.
Mein Blut war angenehm gewärmt, und in meinem Kopf herrschte ein wohliges Schwindelgefühl. Der logische Teil meines Selbst sagte, es läge am Wein. Doch mein Herz, mein bisher so einsames Herz, sagte, es läge an der Gesellschaft. An der Gesellschaft einer Frau. Lange war es her, dass ich einen derart unbeschwerten, närrischen Abend mit meiner besten Freundin zugebracht hatte.
Ich griff nach ein paar Chips, knabberte daran und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. "Ich hab es so vermisst mit dir zu reden, Rika."
"Aber hallo. Und ich erst. Jetzt sag' doch endlich mal! Was läuft zwischen dir und diesem Kaiba?"
Da es mir ganz offensichtlich die Sprache verschlagen hatte, sprach Rika einfach weiter. "Wenn du mich fragst, solltest du ihn für deine Bedürfnisse benutzen. Ich meine er ist steinreich und ein richtiges Schnuckel. Auch wenn sein Charakter unter aller Sau ist, aber er ist bestimmt nicht schlecht im Bett! Und er scheint dich sehr zu mögen. Das heißt wohl was bei diesem blöden Esel! Oder könnte es sein, dass du dich in ihn verliebt hast?"
"Ich liebe ihn ganz sicher nicht."
Rika grinste. Meine Antwort war zu schnell gekommen.
"Bist du dir sicher, Sis?"
Sobald die Worte heraus waren, fiel mir die Kinnlade herunter. "Also - ich weiß nicht, ob ich ihn liebe oder nicht. Um Himmels willen - wie schrecklich, wie grauenhaft! Und es wird mir jetzt erst klar. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich in Seto verliebt habe..."
"Tja, ich denke, er ist ein dummer Arsch, und du solltest dich mit deinem Herz von ihm fernhalten. Obwohl, zum Sex würde ich ihn schon benutzen." Rika nahm sich eins von Seto Kaibas selbst gebackenen Schokoladenplätzchen und schmatze genussvoll. "Ich glaube du hast mittlerweile genug Wein getrunken, um mich mit deinen Kleidern spielen zu lassen!"
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Vielleicht lag es daran, dass ich nie eine richtige Schwester gehabt hatte, die einfach in meinem Kleiderschrank herumwühlte.
Mit meiner Vorliebe für gute Stoffe und klassische Linien hatte ich mich selbst auch nie als besonders modebewusst gesehen.
Doch die gedämpften Entzückensschreie von der Stelle, an der Rika ihren Kopf in den Schrank gesteckt hatte, erweckten den Eindruck, als besäße ich die Gardarobe eines Models.
"Oh, sieh dir diesen Pullover an! Echtes Kaschmir."
Rika riss einen jagdgrünen Rolli aus dem Schrank und hielt ihn sich selig an die Wange.
"Ich schätze, dass einige von den Stücken auf mich von Seto zugeschnitten wurden. Er hat durchblicken lassen, dass ich, wenn ich in seinem Haus wohnen will, anständig rumlaufen soll."
In ein schwarzes Cocktailkleid gehüllt, dass sie sich eben aus dem Schrank gezogen hatte, brachte sie einen Haufen anderer Kleider zu dem Bett, auf dem ich saß.
"Robin, dieses Kleid ist ein Traum, aber du solltest den Saum unbedingt ein Stückchen kürzer machen."
"Das ist wohl eher was für dich. Dabei bist du doch schon größer, als ich."
"Unmerklich. Hier, zieh es einmal an, und lass mich dich ansehen."
"Nun, ich..." Aber Rika zwängte sich schon aus dem Kleid, und wehrlos gegenüber einer Frau, die nichts als einen Büstenhalter und einen knappen Slip trug, überwand ich mühsam meine Schüchternheit und zog mich langsam aus.
"Ich erinnere mich also richtig, dass du schöne Beine hast", erklärte Rika mit einem zustimmenden Nicken. "Warum willst du sie unter einem solchen Saum verstecken? Das Ding müsste wirklich gute zweieinhalb Zentimeter kürzer sein. Zieh es noch mal aus. Ich mach' es dir kürzer."
"Oh, wirklich, das brauchst du..."
"Keine Wiederrede! Vier Zentimeter kürzer, dazu die hochhackigen schwarzen Schuhe, die an den Zehen offen sind, und die Männer werden in Scharen über dich herfallen."
"Ich will gar nicht, dass sie über mich herfallen. Dann muss man sie erst alle aus dem Weg schaffen, wenn man irgendwohin will."
"Falls genug von ihnen stürzen, brauchst du nur über ihre leblosen Körper zu steigen." Rika fand ein schieferfarbenes Kostüm und zwängte sich mit wackelnden Hüften in den Rock. "Aber nicht wahr, Robin du lässt Kaiba doch sicher noch an dich heran?"
"An mich heran?"
"Dieser Rock gehört ebenfalls etwas gekürzt. An dich heran", nahm sie den Faden wieder auf. "Bis jetzt hast du doch noch nicht mit ihm geschlafen, oder?"
"Ich..." Ich machte einen Schritt zurück und nahm mein Weinglas in die Hand. "Nein! Nein, natürlich nicht."
"Das dachte ich mir schon. Ich nehme an, wenn du es getan hättest, würden deine Augen stärker blitzen als bisher. Ich hoffe du versorgst mich mit genauen Details, wenn du es tust - denn im Augenblick habe ich keinen Kerl, mit dem ins Bett zu gehen sich lohnt."
"Ich weiß nicht...ehm...ja. Wenn du es wissen willst. Ich glaube, aber nicht daran."
Plötzlich sah Rika mich schockiert an. "Machst du neuerdings immer das, was man von dir verlangt?"
Ich atmete langsam aus und ergriff erneut nach meinem Wein. "Ich fürchte, ja."
"Tja, nun!" Rika umfasste mein Gesicht und gab mir einen Kuss. "Das werden wir sofort ändern."
* * *
Als ich am nächsten Morgen erwachte, tanzten winzige Gestalten in derben Holzschuhen ein rustikales Ballett in meinem Kopf. Ich konnte jeden ihrer Schritte, jeden ihrer Sprünge in meinen Schläfen zählen. Es war eher verwirrend als unangenehm, und vorsichtig öffnete ich meine Augen.
Ich zischte, als ich das blendende Licht der Morgensonne traf, machte die Augen wieder zu und nochmals, vorsichtiger, wieder auf.
Überall lagen Kleidungsstücke herum. Zuerst dachte ich, es wäre vielleicht ein schlimmer Sturm über die Villa weggefegt, ähnlich eines Tornados in der Geschichte vom Zauberer von Oz, der sämtliche Besitztümer der armen Dorothy in ihrem Zimmer herumgeschleudert hatte.
Das würde auch erklären, weshalb ich diagonal, halb nackt, mit dem Gesicht nach unten, auf einem meiner zerwühlten Laken lag.
Beim Klang des leisen Schnaubens unter meinem Bett hielt ich erst erschreckt die Luft an und atmete dann keuchend wieder aus. Bestenfalls hatte ich es mit irgendwelchen Nagern zu tun; schlimmstenfalls war es eine dieser verrückten Puppen, die zum Leben erwacht waren und Messer und Ähnliches mit sich herumschleppten, um damit die Hände und Füße der Menschen zu pieksen, wenn diese sie achtlos nachts über die Bettkante hängen ließen.
Als Kind hatte ich Albträume von diesen grauenhaften Püppchen gehabt und wirklich niemals irgendeine Gliedmaße über den Rand meines Bettes hängen lassen. Schließlich wusste man ja nie.
Was auch immer sich gerade unter mir befand, ich war damit allein und musste mich verteidigen. Glücklicherweise lag auf meinem Kopfkissen ein marineblauer, hochhackiger Schuh. Ohne zu fragen, wie er dorthin geraten war, nahm ich ihn wie eine Waffe zur Hand und atmete tief ein.
Mit zusammengebissenen Zähnen kroch ich näher an den Rand meiner Matratze, spähte vorsichtig hinunter und machte mich bereit für das, was getan werden musste.
Auf dem Boden lag Rika, wie eine Mumie eingehüllt in meinen dicken weißen Morgenmantel, den Kopf auf einem Stapel zerknitterter Pullover, zu ihren Füßen eine leere Weinflasche.
Ich starrte sie entgeistert an, kniff eilig meine Augen zu und riss sie wieder auf.
Die Beweise waren nicht zu übersehen. Da gab es nichts zu leugnen. Weinflaschen, Gläser, leere Schalen, verstreute Gardarobe.
Ich war weder von Nagetieren noch von bösen Puppen heimgesucht worden, sondern hatte mich ganz einfach zusammen mit einer Gleichgesinnten betrunken.
Aus meiner Kehle drang ein lautes Kichern, und eilig vergrub ich meinen Kopf in dem zerwühlten Laken, denn sonst hätte ich sicherlich Rika geweckt und ihr erklären müssen, weshalb ich kopfüber am Rand meines Bettes hing und wie eine Verrückte gackerte.
Ich hielt mir den vor Lachen schmerzenden Bauch, rollte auf den Rücken und starrte glücklich an die Decke meines Zimmers.
Steve war hier und es ging mir bestens. Uns beiden ging es bestens. Mir und Rika. Er würde keine Gelegenheit bekommen uns wieder zu zerstören.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich aus dem Raum. Ich würde duschen, Kaffee aufsetzen und meine Schwester mit einem üppigen Frühstück überraschen.
Trotz der heftigen Kopfschmerzen hätte ich unter der Dusche beinahe getanzt.
Dies war die schönste Nacht meines Lebens gewesen. Es war mir egal, wie jämmerlich das klang, und fröhlich hielt ich den Kopf unter den heißen Strahl. Wie gut hatte es getan, zu reden und zu lachen, sich närrisch zu benehmen. Diese Frau war einfach wieder in meinem Leben aufgetaucht, hatte sich mit mir zusammen amüsiert und mir das Gefühl gegeben, wieder Teil dessen zu sein, was uns schon seit Jahren miteinander verband.
Ganz einfach Freundschaft!
Immer noch lächelnd trat ich aus der Dusche, trocknete mich ab und nahm dann ein paar Kopfschmerztabletten aus dem Schrank. Ich schlang mir das Handtuch um die Hüften. Plötzlich hatte ich das merkwürdige Gefühl beobachtet zu werden. Es konnte nicht Rika gewesen sein. Ihr Schnarchen war bis hierher zu hören.
Wer hatte mich beobachtet?
Mit tropfnassen Haaren trat ich auf den Flur.
Bei meinem Schrei klirrten die Scheiben - er drang pfeifend aus meiner Kehle und zuckte wie ein greller Blitz durch meinen Kater bereits dröhnenden Schädel. Dann zerrte ich keuchend mein Handtuch vor den Busen und starrte mein Gegenüber mit großen Augen an.
"Tut mir Leid - wollte dich nicht erschrecken -, aber ich habe ordnungsgemäß mein Zimmer verlassen und war auf dem Weg zu deiner Freundin Rika." Kaiba stand mit hochgezogenen Brauen vor mir.
"Ich war - ich stand unter der Dusche."
"Das ist nicht zu übersehen. Was für eine Augenweide du doch bist, rosig und dampfend von dem heißen Wasser, mit schimmernd nassem Haar. Da bedarf es meine ganze Willenskraft als Mann, nicht einen Schritt nach vorn zu machen und einfach irgendwo in dich hineinzubeißen", sagte er frustriert und gleichzeitig entzückt.
"Du - du kannst doch nicht einfach so hier herummarschieren."
"Tja, wenn ich mich recht entsinne, kann ich das doch. Stimmt meine Vermutung, oder etwa nicht?"
"Ja, aber..."
"Ich suche Rika. Schon gesehen?"
"Wir sind noch nicht angezogen."
"Eindeutig, obgleich ich es mir verkneifen wollte. Aber da du selbst davon sprichst, lass mich dir sagen, dass du ...", er trat ein wenig näher, um zu schnuppern, "wundervoll duftest!"
"Wie soll ein Mensch bei dem Getöse bitte schlafen?"
Ich zuckte zusammen, als Rikas Stimme aus meinem Zimmer ertönte. ""Um Himmels willen, küss sie endlich Kaiba, und kau ihr nicht länger am Ohr!"
"Tja, nun, ich war gerade bei den Vorbereitungen."
"Nein!" Mein Aufschrei war derart idiotisch, dass ich mir wünschte, ich würde auf der Stelle im Erdboden versinken.
Das Beste, was ich tun konnte, war ins Schlafzimmer zu flitzen und einen Pullover vom Boden zu reißen. Ehe ich allerdings auch eine passende Hose zu fassen bekam, stand Kaiba bereits hinter mir.
"Mutter Gottes, was für ein geheimes weibliches Ritual endet denn in einem solchen Chaos?"
"Himmel, Kaiba, halt endlich die Klappe. Mein Schädel dröhnt auch so bereits genug."
Er hockte sich neben das Durcheinander brauner Haare und berührte leicht den Morgenmantel den Rika trug.
"Mädchen, du weißt doch, dass du von zu viel Wein immer einen dicken Schädel bekommst."
"Nimm deine Pfoten weg, du herzloser Gorilla, sonst trete ich dir in den Südpol, dass du bis nach London fliegst!"
"Ich trete dir in den Hintern, wenn du nicht sofort aufstehst und dich an die Arbeit machst. Ich lass dich hier schließlich nicht zum Vergnügen übernachten!"
Noch nie hatte ich Kaiba in einem solchen Ton sprechen hören. Was meinte er eigentlich für eine Arbeit? Rika arbeitete doch gar nicht für ihn.
Nachdem Rika mit einem wiederwilligen Schnauben geantwortet hatte, erhob Kaiba sich mit einem leichten, selbstzufriedenen Lächeln.
"Nun, was soll man da machen? Aber zumindest habe ich das alte Kaiba'sche Gegenmittel gegen Kater in meiner Küche."
"Ja?" Rika rollte sich auf die Seite und sah ihn aus trüben Augen an. "Wirklich? Gott segne dich, Kaiba! Der Mann ist ein teuflischer Engel, Robin. Ich sage dir, er ist manchmal so nett, dass einem die Augen ausfallen."
"Nun..." Immer noch schockiert über Rikas plötzlichen Stimmungswechsel, presste ich immer noch verschiedene Textilien vor meine Brust.
"Robin, kann ich mir vielleicht den blauen Kaschmirpullover ausleihen?"
"Hm, ja, natürlich."
"Oh, was bist du doch für ein Schatz." Sie hüpfte durch das Zimmer und kniff mir in die Wange. "Keine Sorge, was ich kann, räume ich noch auf, bevor ich gehe."
"Tja, nun, in Ordnung. Ich koche inzwischen Kaffee."
"Das wäre phantastisch. Obwohl Tee noch besser wäre, falls Mr. Oberschlau hier welchen im Haus hat."
"Kaffee?", fragte Kaiba, nachdem Rika aus der Tür stolziert war. "Ich denke das kannst du dir sparen."
"Sparen?"
Er trat auf mich zu. "Ich bin schon seit einigen Stunden auf den Beinen und habe mich bereits darum gekümmert. Was macht dein Schädel heute Morgen?", wollte er wissen, während er hinter mir das Zimmer verließ und die Treppe hinunter in Richtung der sonnenhellen Küche stapfte.
"Dem geht es gut."
Er zog verwundert seine Braue hoch. "Dann zeigt das Besäufnis also keine Nachwirkungen?"
"Vielleicht habe ich ein bisschen Kopfschmerzen." Ich war zu stolz auf meinen Kater, um verlegen zu sein. "Aber meine Aspirin-Tabletten wirken bereits."
"Da habe ich etwas wesentlich Wirksameres für dich." Wie beiläufig fuhr er mit einer seiner Hände über meinen Nacken, wobei er auf wundersame Weise genau die Stelle traf, bei deren Berührung ich am liebsten laut geschnurrt hätte, ehe er, als wir in der Küche ankamen, seine Spezialmischung von der Anrichte holte und auf den Tisch stellte. Es enthielt eine dunkelrote, gefährlich aussehende Flüssigkeit.
"Kaibas Katermittel. Damit kommst du sofort wieder auf die Beine."
"Sieht grässlich aus."
"Ganz so furchtbar ist es gar nicht, auch wenn Mokuba behauptet, das Rezept bräuchte geschmacklich noch eine leichte Verbesserung." Er nahm ein Glas vom Regal.
"Ich habe wirklich nur leichte Kopfschmerzen."
Zweifelnd betrachtete ich das von ihm gefüllte Glas.
"Dann trink eben nur ein bisschen, und ich mache derweilen Frühstück."
"Ach ja?"
"Ein paar Schlucke von meinem Heilmittel und etwas zu essen." Er drückte mir das Glas entschieden in die Hand. Ich war wohl noch ein wenig bleich, und unter meinen Augen zeichneten sich violette Ringe ab. "Dann wirst du vergessen haben, dass du letzte Nacht eine hedonistische Orgie gefeiert hast."
"Es war keine Orgie. Schließlich waren überhaupt keine Männer anwesend."
Er sah mich grinsend an. "Dann solltest du mich nächstes Mal dazu einladen. So, und jetzt trinkst du hiervon etwas und kochst den Tee, während ich den Rest übernehme."
Es schien mir wie eine nette Fortsetzung eines gelungenen Abends, dass nun ein gutaussehender Mann in dieser Küche für mich Frühstück zubereitete. Das war in meinem ganzen Leben noch nie da gewesen.
Erstaunlich, wie schnell und wie vollkommen sich ein Leben ändern konnte. Ich war verblüfft.
Vorsichtig nippte ich an dem Gebräu, stellte fest, dass der Geschmack durchaus erträglich war, trank tapfer auch den Rest und setzte dann Teewasser auf.
"Was hättest du gerne? Würstchen oder Schinken?"
"Ehm, eigentlich esse ich solche Dinge nicht."
"Du isst solche Dinge nicht? Aber was frühstückst du dann?"
Den entrüsteten Klang seiner Stimme fand ich ehrlich amüsant. "Für gewöhnlich stecke ich mir nur eine Scheibe Vollkornbrot in den Toaster und drücke die kleine weiße Taste."
"Eine einzige Scheibe Toast?"
"Und eine halbe Orange oder ein Glas frisch gepressten Saft. Aber ich muss zugeben, hin und wieder vergesse ich mich und esse wahrhaftig ein ganzes Brötchen mit etwas Käse. Aber ich hätte nicht gedacht, dass du so sehr auf deine Nahrung achtest, Seto. Du wirkst eher so, als wäre eine Tasse Kaffee dein perfektes Frühstück."
"Ich schätze mal, dass könnte tatsächlich so rüber kommen. Und das nennt eine vernünftige Frau frühstücken?"
"Ja, und zwar auf eine sehr gesunde Art."
"Briten!" Kopfschüttelnd nahm Kaiba ein paar Eier aus dem Kühlschrank. "Ich frage mich, weshalb ihr euch einbildet, auf diese Weise unsterblich zu werden. Und vor allem, weshalb wollt ihr das überhaupt, wenn ihr euch gleichzeitig einige der grundlegendsten Freuden des Lebens versagt?"
"Irgendwie komme ich täglich aufs Neue über die Runden, ohne morgens lange auf einem Stück fettigen Schweinefleischs herumzukauen."
"Oh, sind wir heute vielleicht schlecht gelaunt? Tja, das wärst du sicher nicht, wenn du vernünftig frühstücken würdest. Nun, ich werde mein Möglichstes für dich tun."
Ich drehte mich schnaubend um, aber mit der Hand, die nicht die Eier hielt, umfasste er entschieden meinen Nacken, zog mich eng an seine Brust und nagte sanft an meiner Lippe. Ehe ich mich von diesem zärtlichen Angriff erholt hatte, folgte bereits ein langer, liebevoller Kuss, der die wenigen Gedanken, die ich noch im Kopf gehabt hatte, zur Gänze auslöschte.
"Müsst ihr unbedingt schon vor dem Frühstück schmusen?" beschwerte sich Rika, die sich müde in den Raum schleppte.
"Unbedingt!" Kaiba fuhr mit seiner Hand erst meinen Rücken hinunter und dann wieder hinauf. "Und, wenn es nach mir geht, auch danach."
"Schlimm genug, dass du einfach so hereingetrampelt kommst und einem den Schlummer missgönnst." Rika griff stirnrunzelnd nach dem Mittel, dass Kaiba mir schon gegeben hatte und schenkte sich ein Glas voll ein. Sie leerte es in einem Zug und wandte sich dann wieder an den Bruder ihres Freundes. "Machst du uns jetzt Frühstück oder nicht?"
"Ich bin gerade dabei. Was ist? Möchtest du etwa auch einen Kuss?"
Rika schnaubte verächtlich. "Also freiwillig ganz sicher nicht. Wer küsst dich schon freiwillig ohne Ausschlag zu bekommen? Außerdem, ist es viel zu großzügig herum zu laufen und Küsse zu verteilen meinst du nicht?"
"Wenn Gott nicht gewollt hätte, dass die Lippen einer Frau geküsst werden, hätte er sie sicher nicht in so angenehmer Reichweite geschaffen."
Großzügig? Obgleich das lockere, neckische Zwischenspiel zwischen Rika und Kaiba mich eben noch zum Lachen gebracht hatte, fragte ich mich jetzt, was großzügig bedeutete. Bedeutete es, dass er in der Gegend herumlief und einfach jede Frau, die ihm begegnete, mit seiner Zärtlichkeit verwöhnte? Ganz sicher besaß er das erforderliche Talent.
Das dazu erforderliche Aussehen.
Den nötigen Charme, wenn er sich mal dazu herabließ welchen blicken zu lassen.
Doch was ging mich das an? Schließlich hatten wir keine Beziehung. Und das wollte ich auch gar nicht. Nicht wirklich...
Ich wollte nur wissen, ob ich eine von vielen Frauen für ihn war oder - zum ersten Mal in meinem Leben - doch etwas Besonderes. Nur einmal in meinem Leben etwas Besonderes!
"Und wovon träumst du jetzt?", erkundigte Kaiba sich.
Ich riss mich zusammen und befahl mir, nicht schon wieder zu erröten. "Ich träume nicht." Ich griff nach dem Tee und versuchte, es nicht weiter seltsam zu finden, dass Rika einfach in Kaibas Schränken nach Tellern und Besteck zu wühlen begann.
Nie zuvor hatte sich Rika, gehschweigeden Kaiba, so ungezwungen benommen. Die beiden kannten sich nun schon sehr lange. Auch wenn Mokuba gemeint hatte, dass Kaiba sich nie für Rika interessiert hatte, so war ihr Verhältnis recht eng. Dass sie sich nicht leiden konnten, konnte man jedoch gut erkennen. Die kleinen Streitereinen gaben mir dennoch das Gefühl irgendwie dazuzugehören.
Irgendwie waren ich und Kaiba im Verlauf weniger Monate so etwas wie Freunde geworden. Und er schien von mir nichts anderes zu erwarten, als dass ich ich selbst war.
Was ich als kleines Wunder erachtete.
"Warum rieche ich noch keinen Speck?", wollte Rika wissen, als sie ihre Tellersuche beendet hatte.
"Robin mag keinen Speck zum Frühstück", erklärte Kaiba ihr.
Ich strahlte, als Rika sich eine Tasse Tee einschenkte.
"Nächstes Mal werd' ich welchen probieren!"
Während des Frühstücks schmiedeten ich und Rika Pläne, gemeinsam zum Einkaufen nach Cardiff zu fahren und erhielt eine Einladung zum Essen bei dem Rika mit Kaibas Kochkünsten konkurrieren wollte.
Rika arbeitete tatsächlich hier. Nur für eine kleine Weile, da wir momentan eine Arbeiterknappheit hatten und Kaiba wusste schließlich das Rika ausgebildet war. Keine nervigen Vorstellungsgespräche. Ich schätze, dass Mokuba auch seine Finger mit im Spiel gehabt haben musste.
In der Küche roch es nach frischen Eiern und Kaffee. Das Windspiel vor der Tür sang in der leichten Brise, und als ich mich erhob, um mir statt Tee diesmal Kaffee nachzuschenken, erblickte ich Mokuba, der draußen auf dem Weg zur Villa war.
Ich prägte mir alle diese Dinge gründlich ein, um mich, wenn ich einmal wieder traurig oder einsam wäre, an der Erinnerung dieser glücklichen Augenblicke zu erfreuen.
Später, als ich allein war und zu meiner Arbeit zurückkehrte, kam es mir vor, als hätte meine Umgebung all die Wärme, all die positiven Energien des Vormittags gespeichert.
Ich hätte nie erwartet, dass Kaiba so nett sein konnte. So natürlich. Er war eben doch nur ein Mensch und keine herzlose Maschine auch wenn er gerne mal den Eindruck machte. Aber wozu? Die Frage nach Seto Kaiba drang wieder zu mir durch. Vielleicht sollte ich es ihm einmal gleichtun und etwas über ihn als Person herausfinden.