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1000 kleine Tode

oder: Die Kunst des Sterbens
von

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Liebeslänglich

Das Copyright der Story liegt alleine bei mir und darf nicht - auch nicht in Teilen - ohne mein Wissen und schriftliche Zusage anderweitig veröffentlicht oder auf sonstige Weise verarbeitet werden.
 

~
 

An manchen Tagen sollte man besser im Bett bleiben. Das ist Gesetz. Keiner weiß wieso, aber die Wirkung dieses ungeschriebenen Gesetzes offenbarte sich schneller als einem lieb war.

Es fängt ganz unscheinbar beim Frühstück an, wenn einem die einzige, noch saubere Krawatte in die gefüllte Kaffeetasse baumelte, und endet damit, dass man in einer öffentlichen Toilette über eine blutüberströmte, leblos scheinende Frau gebeugt da stand und sich fragte, was man tun solle.

Sie auf dem schmierig-feuchten Fliesenboden zwischen all den nassen Papier- und Zigarettenresten liegenlassen und abhauen, oder lieber doch einen Rettungswagen rufen?

Terenz entschied sich für Ersteres und verließ den Waschraum.
 

Im Flur, der zu den Toiletten führte, blieb Terenz erst einmal stehen und orientierte sich.

Er musste raus aus dem Einkaufszentrum, und zwar auf direktem Weg, ohne aufgehalten zu werden! Am besten fiel er dabei so wenig wie möglich auf, bis er draußen im Freien war.

Doch das war schwerer, als es sich erst anhörte.

Wie benimmt man sich, wenn man so wirken musste, als ob nichts vorgefallen wäre, obwohl genau das kurz zuvor der Fall gewesen ist?

'Es - ist - überhaupt - nichts - vorgefallen!', beschwor sich Terenz in Gedanken.

Na ja, ein bisschen vielleicht doch...

Ein bisschen, das sich Leuten, die die Vorgeschichte nicht kannten, wohl kaum in zwei Sätzen erklären ließ. Und eine blutende Frau war doch immerhin was, oder?

'Gut, es ist etwas vorgefallen!', gestand sich Terenz schließlich geknickt ein. Und es war zu spät, um zurück zu gehen, die Frau zu finden und so zu tun, als wäre er der Retter.
 

Terenz eilte weiter in gemäßigtem Schritttempo durch das Kaufhaus. Weder zu schnell, so dass es aussah, als wäre er auf der Flucht, noch ging er zu langsam, um nicht Gefahr zu laufen, bei einem eventuellen Sprint aus dem Einkaufscenter aufgehalten zu werden.

'Hände in die Jackentaschen!', ermahnte Terenz sich selbst in Gedanken. Wie hatte er das nur vergessen können?! Er musste die Blutspritzer am unteren Ärmel verdecken.

Seine Hose hatte zum Glück nichts abbekommen, die hätte er schwer vor allzu neugierigen Blicken verbergen können.

Jetzt noch den Rücken etwas straffen und gerade gehen, aber nicht zu viel, so dass es zu steif aussah. Bloß nicht stolpern!

Und jetzt ruhig aber trotzdem schnell genug raus aus dem Kaufhaus, ehe man die Frau in der Toilette fand!
 

Terenz hetzte zur großen Glastür am Ende der Einkaufspassage, die ihn von der erhofften Freiheit trennte.

Er hatte die Tür nach draußen fast erreicht und freute sich schon auf seine Freiheit, als er prompt mit dem Fuß an einer nach oben gebogenen Seitenkante des Teppichs hängen blieb, der vor dem Ausgang lag und die Besucher des Konsumpalastes mit einem großen Rotbedruckten 'Herzlich Willkommen!' begrüßte.

"Bescheuerter, unnötiger Teppich!", fluchte Terenz und griff im Fallen nach dem erstbesten, das er zu fassen bekam.

"Passen Sie doch auf, Mann!", wurde Terenz von einem bärtigen Mann angefahren, dessen Arm er erwischt hatte.

"War keine Absicht", nuschelte Terenz. Er senkte den Kopf und wich den strafenden Blicken des Mannes aus. Ein potentieller Zeuge!

Der unfreiwillig zum Haltegriff degradierte Passant sah auf den schlaksigen jungen Mann hinab, der sich noch immer an seinem Arm festklammerte. "So früh am Tag schon betrunken!?", meckerte der Bärtige weiter und gab Terenz einen recht unsanften Schubs, der diesen aus der sich automatisch öffnenden Tür beförderte.

Endlich draußen!
 


 

Öfter als einmal hatte Terenz sich ein Auto gewünscht und jetzt war wieder so ein Moment. Es regnete und ihm blieb mal wieder nur der beschwerliche und gefährliche Weg zu Fuß durch die Stadt. Und den musste er sich so einfach wie es nur ging, gestalten, weil er nicht von der Arbeit heimspazierte, sondern einen Tatort zu verlassen hatte!

Terenz stellte den Kragen seiner guten Jacke auf und zog den Kopf schutzsuchend etwas zwischen die Schultern. Ein Regenschirm wäre jetzt nicht schlecht, stellte Terenz fest, während er über den nass glänzenden Bürgersteig trottete und ihm das Regenwasser über den Kopf, den Hals hinab rann.

Vielleicht sollte er noch etwas weiter am rechten Rand des Bürgersteigs entlang schlendern. Oder lieber links? Rechts waren die Schaufenster und viele Passanten, die davor standen.

Man konnte natürlich auch die Straßenseite wechseln. Dann waren die Geschäfte links und man hatte die rechte Hälfte für sich.

Aber was dann mit den entgegenkommenden Fußgängern, die einem bestens ins Gesicht schauen konnten?

Also, die Straßenseite zu wechseln war eine ebenso schlechte Idee.

Terenz fasste sich an die Stirn, hinter der die Gedanken wie Gummibälle umher sprangen und sich nicht fassen ließen.

An was man nicht alles denken musste, wenn man gerade zum Gesetzesbrecher geworden war...

Dann ging er halt durch den Park. Punkt.

Bei diesem Mistwetter war sowieso kaum jemand dort und wenige Leute bedeuteten wenige Zeugen.

Terenz bog in eine ruhige Seitenstraße ein und betrat den Stadtpark durch das geöffnete schwarze Eisentor.
 

Wie ein Schiffbrüchiger zum Rettungsboot, so strebte Terenz auf die erstbeste Parkbank zu, die er sah, und ließ sich dort mit einem erleichterten Seufzen nieder.

Erst mal kurz sitzen bleiben, verschnaufen und nachdenken, was am besten zu tun ist.

Er war so weit weg vom Einkaufszentrum und dem nächsten Polizeirevier, dass er es mit Leichtigkeit schaffen würde, nach Hause zu gelangen.

Auch der Regen war nicht mehr so hinderlich. Er entpuppte sich zu Terenz' Helfer, denn er hielt die Leute aus dem Park, die diesen sonst in Scharen bevölkerten.

Terenz beugte seinen Oberkörper leicht nach vorne, zog den Kragen seiner Jacke wieder etwas enger zu und starrte hinab auf seine Schuhspitzen.
 

Wie hatte das alles nur so ausufern können?!

Es lag nicht an ihm. Auf keinen Fall!

Nein, sie war - irre. Ja, das war sie. Irre. Total durchgeknallt. Leuten wie ihr kam man besser nicht näher.

Claire... Wie er diesen Namen inzwischen verabscheute!

Dabei hatte sie bei ihrem allerersten Treffen so nett gewirkt. Überhaupt nicht wie das Biest, als das sie sich später herausstellte.

Er hätte jeden lauthals ausgelacht, der ihm früher gesagt hätte, was mit dieser Frau noch alles auf ihn zukommen würde. Aber zum Lachen war Terenz schon lange nicht mehr zumute.
 

~
 

"Wie ist Ihr Name, Miss?"

"Claire Goldberg", antwortete die Frau dem Polizisten leise, der sich zu ihr gesellt hatte.

"Dürften wir Sie befragen, wie es zu diesem Vorfall kam?"

Die bleichgesichtige Frau bejahte die Frage mit einem leichten Kopfnicken. "Aber sicher, fragen Sie nur."

Der Polizist, der neben der Notärztin auf dem Boden kniete und die Verletzte etwas stützte, winkte einen weiteren Beamten zu sich hinüber. "Landers, notieren Sie die Aussage der Frau. Und Sie", der Polizist zeigte auf einen dritten Officer. "Sie befragen die Augenzeugen, wenn es welche gibt!"

Die beiden Polizisten, die Claires Aussage aufnehmen wollten sahen die auf dem Marmorboden sitzende Frau gespannt an, die gerade von der Ärztin ein Klammerpflaster auf ihre Kopfwunde gedrückt bekam.

"Fangen wir am besten ganz vorne an", meinte der Beamte, der Claire nach ihrem Namen gefragt hatte. Er unterbrach sich selbst und schaute sich in dem Waschraum um. "Aber zuerst sollten wir uns ein bequemeres Plätzchen suchen, wo sie sich hinsetzen können, Miss Goldberg."
 

Bereitwillig ließ sich Claire von den beiden Polizisten auf die Beine helfen. Sie taumelte noch etwas beim Aufstehen und setzte sich schnell auf einen Plastikhocker, der an der Tür zum Männerwaschraum stand, in dem man sie bewusstlos aufgefunden hatte.

"Wollen Sie nicht doch lieber mit uns ins Krankenhaus fahren?", mischte sich die Rettungshelferin ein. "Aussagen können Sie auch später noch."

"Nein danke, es geht schon wieder", erwiderte Claire abweisend. "Ich bin selbst vom Fach und weiß schon, wann es mir gut geht und wann nicht", fügte sie auf die zweifelnden Blicke der Sanitäterin hinzu.

"Okay, auf Ihre Verantwortung. Aber melden Sie sich schnellstmöglich bei einem Arzt." Die Notärztin sammelte die gebrauchten Mullbinden und die Plastikverpackungen zusammen, schloss ihren Koffer und verließ mit ihrer Kollegin die Unfallstelle.
 

"So, Miss Goldberg, dann schießen Sie mal los", fing der Polizist das Verhör an. Er schnappte sich den Notizblock seines Kollegen Landers und schrieb selbst. "Haben Sie den Mann erkennen können, der Sie überfallen hat?"

"Ja, sicher! Er heißt Terenz und sieht wirklich sehr gut aus, glauben Sie mir", ereiferte sich Claire ohne Umschweife. "Er ist mindestens 1,85 m groß, hat kurz geschnittenes braunes, leicht welliges Haar, das sich immer über seine Ohren zu kräuseln beginnt, wenn er es nicht rechtzeitig schneiden lässt, und die schönsten grauen Augen, die Sie sich vorstellen können", endete Claire schließlich ihre Beschreibung. "Schade, dass er bei dem Aussehen praktisch hinter seinem Schreibtisch versauert. Er hätte viel mehr Möglichkeiten, wenn er sich bemühen würde."

Der Polizist stutzte kurz und sah Claire über seinen Notizblock hinweg verwirrt an. "Sie wissen, wo er arbeitet?"

Claire nickte heftig.

"Kann uns ja nur behilflich sein", murmelte der Beamte schulternzuckend. "Gibt es sonst noch irgendwelche Angaben, die Sie über ihn machen können?"

Claire nannte nacheinander Terenz' vollständigen Namen, seine Adresse, Geburtstag und Sozialversicherungsnummer.

"Na das nenne ich doch mal eine exakte Täterbeschreibung!" Der Polizist pfiff anerkennend. "Kennen Sie ihn schon länger?"

"Kann man so sagen", berichtete Claire und lächelte triumphierend.

"Hat er Sie früher auch schon einmal bedroht?"

Claires Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. "Nicht direkt. Die letzten paar Mal, als wir uns gesehen haben, war er ziemlich ausfallend mir gegenüber." Claire stockte kurz. "Etwas Angst hatte ich schon", fuhr sie leise fort. "Wissen Sie, man kann den Leuten ja schlecht in die Köpfe hinein schauen, um zu wissen, wie sie sind..."

Der Beamte legte seine Hände auf Claires, die sie auf ihrem Schoß krampfhaft ineinander verschränkt hatte. "Wir bekommen den Kerl schon", machte er der Frau Mut.

Claires Kopf hob sich und sie sah den Mann vor sich vertrauensvoll an und nickte dankbar.

Der Polizeibeamte griff wieder nach seinem Funkgerät und gab Claires Beschreibung des Täters an alle Einsatzkräfte durch. "Seien Sie vorsichtig", warnte er seine Kollegen. "Es kann sein, dass der Mann gewalttätig ist. Rechnen Sie also mit allem!"
 

~
 

Terenz indessen saß noch immer nichts ahnend auf seiner nassen Parkbank.

Diese Person, Claire, war regelrecht besessen von ihm, das konnte Terenz ohne eingebildet zu klingen zugeben. Einen Reim konnte er sich darauf zwar nicht machen, aber es war so. Und alles, obwohl Terenz nie irgendwelche Annäherungsversuche gestartet hatte, die ihr hätten signalisieren können, dass er sie besser kennen lernen wollte - doch sie hatte das scheinbar so aufgefasst. Aus welchem Grund auch immer.

Zuerst hatte alles noch nach Zufällen ausgesehen, wenn sie sich irgendwo über den Weg liefen. In der Poolhall etwa, wo er manchmal mit Freunden Billard spielte. Neue Leute waren dort keine Seltenheit. Es war eine öffentliche Kneipe und kein privater Club.

Dass sie sich öfter an seinem Arbeitsplatz trafen, war ebenso wenig verwunderlich, immerhin war er Bankangestellter und sie eine Kundin.

Doch diese 'Zufälle' häuften sich mit der Zeit erschreckend.
 

Es begann mit Anrufen, die sie noch geschickt als Fragen zur ihrem Bankkonto getarnt hatte, aber das Schönreden der Tatsachen hielt nicht lange vor.

Seine Aufforderung an sie, ihn bitte nur an seinem Arbeitsplatz anzurufen, hatte sie frechweg ignoriert. Es wurde sogar noch schlimmer.

Neue Rufnummern, Geheimnummern, nichts funktionierte bei der Frau.

Drohungen, sie anzuzeigen, wenn sie das nicht ließe, hatten sie leider auch nicht abschrecken können.

Nach drei Monaten war Terenz nervlich am Ende und spielte mit dem Gedanken, sich eine andere Wohnung zuzulegen.

So lachhaft, wie es klang, sie hatte auch diese Adressen heraus bekommen. Restlos alle! Die Adressen der Wohnungen, die er in seiner Verzweiflung besichtigen wollte, nicht nur derer, die er schon besichtigt hatte!

Da konnte man ja von Glück sagen, dass eine neue Wohnung jobmäßig doch nicht in Frage kam - jedenfalls nicht auf die Schnelle, wie Terenz es gerne gehabt hätte. Sie hätte wohl am Tag des Umzuges freudestrahlend vor der Tür gestanden, um ihn in seinem neuen Heim zu begrüßen. Zuzutrauen war es ihr...
 

Das Vorhaben, die Plätze zu meiden, wo er Gefahr lief, sie anzutreffen, hatte er auch in Windeseile wieder aufgegeben. Sie war überall. Wenn er sie nicht sah, hatte er trotzdem das Gefühl, hinter der nächsten Häuserecke vor ihr zu stehen.

Und egal, wo er sich befand, er wurde den Gedanken nicht los, von ihr beobachtet zu werden, ohne zu wissen, ob sie es denn tatsächlich in der Nähe war.

Wunderte es noch jemanden, dass seine Freunde mittlerweile lieber ohne ihn weggingen, weil er stets wie auf glühenden Kohlen da saß, wie ein bis zum Ende gespannter Springteufel, der gleich hochschnellte, sobald man den Deckel seiner Schachtel öffnete?

Es wundert niemanden, oder?!
 

Die Witze seiner Freunde, ob er denn in seinen jungen Jahren schon in die Midlifecrisis käme, waren auch nicht mehr besonders lustig. Nicht in Terenz' Lage.

Krise - ja; Midlife - nein.

Von Leben war schon seit Monaten keine Rede mehr...

Er bräuchte wahrscheinlich eine Frau, hatten sie weiter gescherzt, vielleicht würde er dadurch ja ruhiger werden?

Gott, er hatte doch eine Frau am Hals!

Dummerweise eine, die er nicht wollte...
 

Am Anfang fielen Terenz' Reaktionen noch trotzig aus: Er wollte sich nicht so einfach unterkriegen lassen und hatte den Spieß umgedreht und sie mit dem konfrontiert, was sie tat.

Er war erst recht dort erschienen, wo er sie schon einmal gesehen hatte, hatte auch auf alle Anrufe geantwortet, ihr seine Meinung gesagt, aber statt sie abzuschrecken hatte er sie wohl noch mehr dazu animiert, ihre Obsession - ihn - noch hartnäckiger zu verfolgen.

Sie fand seinen Mut, ihr gegenüber zu treten, wohl auf eine perverse Art bewundernswert.

Locker ließ sie zu seinem Leidwesen nicht. Und langsam aber todsicher entwickelte Terenz einen ausgeprägten Verfolgungswahn.

Diese andauernde Vorstellung überall beobachtet werden zu können, war zermürbend, es fraß sich durch seine Psyche wie eine fette hungrige Raupe durch ein grünes Blatt und wuchs so explosionsartig schnell an wie ein bösartiger Tumor.

Leider gab es kein Medikament gegen diese Frau. Terenz hätte eines gebrauchen können.
 

Vorgestern erfuhr Terenz auf einmal, dass sie irgendwie an die Adresse seiner Eltern gekommen sein musste.

Sie war sogar hingefahren und hatte sich seinen arglosen Eltern als seine Freundin bekannt gemacht. Natürlich hatte seine Mutter ihn daraufhin sofort angerufen und ihm Vorwürfe gemacht, warum er ihr denn noch nicht seine Verlobte vorgestellt habe, wie es sich gehörte. Sie wäre ja so nett, reizend und humorvoll.

Terenz hätte sich am liebsten auf der Stelle übergeben.

Das war doch krank!

Abstreiten brachte nichts, sie wusste leider zuviel über ihn, womit sie seine Eltern anscheinend hatte überzeugen können.

Diese Person war einfach zu unberechenbar. Dachte Terenz hoffnungsvoll, es würde sicher nicht mehr schlimmer werden, wurde er gleich enttäuscht.

Klang alles bisher noch auf eine Art harmlos? Das lässt sich ändern.

Es gibt eine Steigerung, die das Vorangegangene wie Kindereien aussehen lässt.
 

Die Irre, wie Terenz Claire nur noch nannte, hatte es ohne zu lügen geschafft, auf der Post einen Nachsende-Antrag für seine Briefe und Päckchen zu beantragen.

Dachte sie damals nicht daran, dass es ihm irgendwann mal auffallen musste, wenn er plötzlich keine Post mehr bekam?

Dachte sie sich überhaupt noch etwas?

Wohl eher nicht...

Terenz war aus allen Wolken gefallen, als man ihm bei der Post eröffnet hatte, dass der Nachsende-Antrag korrekt ausgefüllt und unterschrieben war.

Die größte Frechheit jedoch war, dass sie mit seinem Nachnamen unterschrieben hatte und mit ihrem Vornamen. Als wären sie verheiratet!

Die Liste ihrer Straftaten wuchs und wuchs. Die Urkundenfälschung war nur ein Bruchteil davon.

War sie sich noch bewusst, was sie tat oder war es nur ein Spiel für sie?

Terenz jedenfalls sah es nicht als Spiel. Und das Aufeinandertreffen auf der Toilette des Einkaufszentrums heute war nur eine logische Folge der ganzen Vorkommnisse.
 

Verletzen wollte Terenz sie nicht - Himmel, er begab sich doch nicht auf ihr Niveau hinab. Er wollte nur seine Ruhe haben.

Es war doch nur ein kleiner Rempler, den er ihr gegeben hatte, um selbst aus dem Waschraum fliehen zu können. Wie konnte er ahnen, dass sie dabei auch noch ausrutscht und mit dem Kopf gegen das Waschbecken knallt?!

So schwächlich hatte sie früher auch nie gewirkt, wenn sie ihn pausenlos belästigt hatte.

Die riesige Erleichterung, die er im ersten Augenblick verspürt hatte, ließ sich nach den Monaten der Belagerung nicht in Worte fassen. Sie war phänomenal!

Aber er hatte die Frau womöglich schwer verletzt.

Vielleicht war sie sogar tot?

Terenz erschauerte.

Er hätte sie nicht dort in diesem Waschraum liegen lassen sollen, meldete sich sein Gewissen.

Konnte er jetzt noch einen Rettungswagen verständigen?

Zu gefährlich, er könnte sich am Telefon verraten!

Man hatte sie sicher sowieso schon gefunden.

Hoffentlich...

Und wenn nicht...?

Doch zurück laufen?

Nein, besser nicht...
 

Terenz wollte nicht mehr in ihre Nähe kommen müssen. Um keinen Preis!

So leicht hatte er sich noch nie im Leben gefühlt, obwohl er doch Mitschuld an dem Unfall war. Es war das erste Mal seit langem, dass er sich so befreit vorkam, wie gerade jetzt. Er konnte wieder atmen, endlich genießen, wieder er selbst zu sein. Für einen winzigen Moment zumindest.

Genauer gesagt, bis zu dem Punkt, als ihm bewusst wurde, dass er etwas Schlimmes mit etwas genau so schlimmem vergolten hatte.

Er war mittlerweile keinen Deut mehr besser, als sie.

Jetzt war er wieder nicht er selbst. Er war ein lausiger Gesetzesbrecher, genau wie sie, und - durch ihre Schuld.

Terenz ballte seine Hand zur Faust und schüttelte sie unbewusst.

Schon wieder sie! Sie war wie ein Fluch! Man wurde sie nicht los! Noch nicht einmal jetzt, wo sie ihm garantiert nicht mehr folgen konnte!

"Diese-", fuhr Terenz wütend auf, verstummte aber, als in diesem Augenblick ein Spaziergänger älteren Semesters mit seinem Yorkshire-Terrier an der Leine an ihm vorbei dackelte.

Die befremdlichen Blicke, die der alte Herr Terenz zuwarf, ließen den jungen Mann auf seinem Platz in sich zusammensinken.

Oder waren das keine befremdlichen Blicke?

Waren das nicht misstrauische Blicke?

Wissende?

Wissend darüber, was Terenz getan hatte?

Zur Hölle! Man hatte sicher schon eine Suchmeldung nach ihm durchgegeben, fiel es Terenz siedend heiß ein. Erstarrt saß er auf der nassen Parkbank und wartete, was der Alte mit dem kleinen kläffenden Hund nun tun würde.
 


 

Nichts tat der Spaziergänger, wie sich kurz darauf herausstellte.

Der ältere Herr ging einfach weiter seines Weges und zog dabei das bellende Fellbündel an der Leine hinter sich her.

Terenz sah ihm nach, bis der Alte um eine Biegung aus seinem Sichtfeld verschwunden war.

Rentnern musste es ja wirklich langweilig sein, wenn sie bei strömendem Regen mit ihren Hunden im Park Gassi gingen...

Aber, das war nicht sein Problem. Er musste nur zusehen, wie er nach Hause kam, ohne dabei verhaftet zu werden!

Als wäre er der normalste Mann des Planeten, erhob sich Terenz von seinem feuchten Sitzplatz, strich sich seine völlig durchnässte Jacke glatt und schlenderte zum Ende der Grünanlage, bog aber statt nach rechts, wie der alte Mann mit dem Hund, nach links ab, um den Park zu verlassen.

Man sollte den Architekten, die für mehrere Ausgänge gesorgt hatten, eine Ehrenmedaille verleihen, frohlockte Terenz, als das Tor des Parks in sichtbare Nähe rückte.
 

'Man sollte diese Architekten hängen!', fluchte Terenz Sekunden später, als er sah, was ihn am angestrebten Ausgang erwartete:

Der Rentner samt Hyperventilierendem Yorkshire-Vieh stand da. Und er hatte sich anscheinend auch noch Unterstützung aus dem Ghetto gesucht.

'Hat der Alte Beziehungen zur Mafia?', fragte sich Terenz fröstelnd und stoppte seine Schritte.

Die Typen, die neben dem klapprigen Opi standen hatten allesamt eines gemeinsam: Sie waren größer und kräftiger als Terenz!

Bei allen guten Geistern, wie kam er jetzt an diesen zwielichtigen Gorillas vorbei?

Der Alte ging ja noch. Seine bösen Blicke waren eher erheiternd, statt einschüchternd.

Blieb noch das Gorilla-Problem.

Kurz vor dem Tor machte Terenz eine abrupte Kehrtwende auf dem Absatz und rannte zum gegenüberliegenden Parkausgang.
 

Der Moment der Überraschung war auf Terenz' Seite und es dauerte einige Zeit, bis die Gehirnakrobaten geschaltet hatten, was Terenz tat.

Diese finsteren Kerle hatten wohl geglaubt, er liefe seelenruhig an ihnen vorbei?!

Denkste!

Noch im Rennen verfluchte Terenz das Medienzeitalter. Und er verfluchte die Rentner, die nichts besseres zu tun hatten, außer Suchmeldungen im TV oder Radio zu verfolgen und die Verbrecher danach auch noch aufzuspüren!

Doch Terenz war schneller als der Opi und der Terror-Terrier. Und die Schrankwandbreiten Riesenbabys hatten wohl zu viele Steroide erwischt, die sie zwar kräftiger, aber nicht gerade heller im Köpfchen gemacht hatten.

1 : 0 für den Verbrecher!
 

~
 

"Verdächtiger im Stadtpark gesichtet!", knarzte es aus dem Funkgerät des Polizeibeamten, der noch immer samt Kollegen im Vorraum der Herrentoilette des Einkaufscenters saß und die mittlerweile sichtlich erholte Claire verhörte.

"Entschuldigen Sie", wandte sich der Officer an Claire und widmete sich dem kleinen rechteckigen Gerät an seiner Uniform, aus dem nun in Polizisten-Kauderwelsch die Uhrzeit und Straße durchgegeben wurde, wo man besagten Mann aufgegabelt hatte.

"Verstanden, wir machen uns sofort auf den Weg!", antwortete der Polizist seiner Zentrale. "Wie es ausschaut, haben wir den Typen", berichtete der Beamte Claire freudestrahlend. Er erhob sich und setzte seine dunkelblaue Mütze auf den Kopf.

"Oh, kann ich nicht mit Ihnen kommen?", bat Claire den Beamten, der im Begriff war, zu gehen, mit einem lieblichen Augenaufschlag.

"Wollen Sie ihn etwa selbst verhaften?", scherzte der Polizist.

Claires Gesicht erhellte sich schlagartig. "Darf ich?", wollte sie hoffnungsvoll wissen.

"Sie wollen mir doch nicht meinen Job streitig machen!", lachte der Beamte über den vermeintlichen Witz der Frau. Er tippte sich zur Verabschiedung an den Schirm seiner Mütze und machte sich mit seinen Kollegen auf den Weg.

"Bitte."
 

Der Polizist blieb stehen. Er drehte sich zu Claire um und sah sie zweifelnd an.

Claire setzte auf das Verständnis des Polizeibeamten. "Ich möchte gerne mit eigenen Augen sehen, wie dieser Mistkerl verhaftet wird. Er hat mir so lange schon Kopfschmerzen bereitet, dass ich unbedingt sicher sein muss, dass sie ihn habe. Eher könnte ich nicht ruhig schlafen. Außerdem würden sie am Ende nicht aus Versehen auch noch den Falschen festnehmen."

"Na gut", gab der Polizeibeamte den bettelnden Blicken schließlich nach. "Aber Sie dürfen sich auf keinen Fall in die Festnahme einmischen, sondern bleiben schön im Streifenwagen sitzen!"

"Gerne!", kam es von Claire als Antwort.
 


 

Im Streifenwagen herrschte angespannte Stille.

Der Polizist, der Claire verhört hatte, saß auf dem Beifahrersitz und betrachtete sich die begeisterte Frau, die im Fond des Streifenwagens saß und sich auf das Geschehen außerhalb des Autos konzentrierte.

'Irgendwie seltsam', dachte der Beamte auf dem Beifahrersitz. So lange er schon auch im Dienst war, war ihm nie ein Opfer wie diese Frau untergekommen. Sie war nicht wie die typischen Menschen, die gerade einen Überfall hinter sich hatten.

Nein, Claire benahm sich vollkommen anders.

Sie lächelte doch tatsächlich und sah aufgeregt aus dem Fenster des Streifenwagens, als befänden sie sich auf einer Busrundreise, statt mitten in einem Polizeieinsatz.

"Da ist er!", schrie Claire in dem Moment auf und riss damit den Polizisten aus seinen Gedanken.
 

"Da hinten läuft er!" Claire zeigte in die entsprechende Richtung.

Der Polizeibeamte folgte Claires ausgestrecktem Finger. Und wirklich. Da lief ein junger Mann und wurde von etwa einem halben Dutzend wütender Passanten verfolgt. Gerade kauerte er sich in einer Seitenstraße zwischen ein paar geparkte Autos. "Ist er das wirklich?"

"Ja, das ist Terenz. Ganz sicher!", bestätigte Claire ihr Gesagtes und besah sich lächelnd die Szene, die sich auf der Straße zutrug.

"Landers, halten sie den Wagen an!", kommandierte der Polizist seinem fahrenden Kollegen, der dem Befehl sofort nachkam.

Mit quietschenden Reifen stellte sich der Streifenwagen am Anfang der Straße, in die Terenz sich geflüchtet hatte, quer und versperrte eben diese.

"Sie bleiben sitzen!", rief der Polizist Claire zu, bevor er mit gezückter Pistole aus dem Wagen sprang und seinem Kollegen folgte, der schon voraus lief.

Noch zwei weitere Streifenwagen kamen an.

Claire jubelte innerlich. Das war besser als jeder Samstagabend-Krimi im Fernsehen!
 


 

"Hauen Sie endlich ab!", schrie Terenz einem der Gorillas hysterisch entgegen, der sich ihm gefährlich näherte.

"Das hätten Sie wohl gerne", knurrte der Typ zurück. "Hat die Frau, die sie überfallen haben, auch so etwas zu Ihnen gesagt? Haben Sie darauf gehört?" Der Gorilla schlug seine Handflächen gegeneinander und verschränkte seine Finger. "Jetzt sind Sie an der Reihe, mal etwas von Ihrer eigenen Art und Weise mit schwächeren Menschen umzugehen zu kosten!", höhnte er und ließ dabei die Knöchel seiner Finger knacken.

"Mist!" Terenz sprang hinter seinem Versteck hervor. Er musste weg! Der Typ da meinte es verdammt ernst!

Terenz warf einen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war. Polizisten! Überall, wo man hinsah blaugekleidete Beamte!

'Schöne Zwickmühle', dachte Terenz. Hinter ihm ein wütender Mob und vor ihm die Polizei.

Terenz setzte gerade an, um wegzulaufen, wurde aber von einem erneuten, unerwarteten Ereignis gestoppt.
 

Nein, nicht jetzt! Terenz hätte geschrieen, wenn er es noch gekonnt hätte. Er griff sich an seinen Hals, der sekündlich enger wurde.

Kein Asthmaanfall! Nicht jetzt!

Das Aerosol, wo war der verflixte Inhalator?

Hektisch fuhren Terenz' Hände zu seinen Hosentaschen.

Nichts drin!

Gott, irgendwo musste doch dieses verfluchte Medikament sein, er hatte es doch heute Morgen eingesteckt!

Unzählige Schweißtropfen traten auf Terenz' erhitzte Stirn. Seine Luftröhre war mittlerweile nur noch so weit wie eine Kugelschreibermine. Das einzige, das immer größer wurde, war die Panik.

Wenn er nicht sofort das Aerosol fand, würde er hier verrecken!

Hilfesuchend wankte Terenz auf die Polizisten zu, die ihn anbrüllten, er solle augenblicklich stehen bleiben und die Hände hinter den Kopf nehmen.

Wie sollte er das tun? Er bekam keine Luft! Keine Zeit für irgendwelche Verhaftungen, sie sollten ihm gefälligst helfen, statt ihn anzumotzen!
 

"Stehen bleiben!", schrie einer der Beamten und hielt seine Pistole drohend auf Terenz gerichtet, der auf ihn zu geschwankt kam.

"... Bitte...", stieß Terenz mit aller Kraft und Luft, die ihm noch geblieben war, aus, doch von den Polizisten in Lauerstellung kam keine Reaktion. Keine, wie sie sich Terenz gewünscht hätte.

"Haben Sie was mit den Ohren? Das ist die letzte Warnung, Mann!", fuhr der nervöse Polizist Terenz an. "Einen Schritt weiter und ich schieße!"

'Oh, verflucht!' Terenz hielt inne und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen geparkten Wagen.

Wieviel Zeit ihm wohl noch blieb, bis er umfiel?

Die Hände des jungen Mannes suchten seine Jacke von Außen ab. Er hatte das Spray eingesteckt, zu hundert Prozent, und es musste auch noch da sein - wenn... wenn er es nicht auf der Flucht verloren hatte...

"Hände über den Kopf, du Mistkerl!", keifte der Beamte erneut.

Der gab wohl keine Ruhe. Wann merkte der Polizist denn endlich, dass es Terenz mies ging? Wenn er mit blau angelaufenem Gesicht auf dem Asphalt lag?
 

"Was tun wir jetzt?", wandte sich einer der Polizisten an einen Kollegen.

"Abwarten. Wenn er aber näher als dreißig Schritte kommt, gibt es den ersten Warnschuss!" Der Beamte, der dem Jüngeren geantwortet hatte, griff nach seinem Funkgerät. "Sehen Sie zu, dass die Gaffer endlich verschwinden! Es reicht, dass wir diese selbsternannten Sheriffs hier haben!", wies er seine übrigen Kollegen missmutig an.

Regungslos beobachteten sie Terenz, der noch immer gegen das Auto gelehnt da stand und irgendetwas mit sich auszumachen hatte.

"Der hat vielleicht Nerven", spie der jüngere Beamte ungeduldig aus und nickte zu Terenz.

"Landers, hören Sie zu", der ältere Polizist hob den Kopf und versicherte sich ein letztes Mal, dass Terenz noch an seinem Platz stand. "Ich sage ihm noch einmal, er solle aufgeben, wenn er es nicht tut, dann sind Sie an der Reihe. Ich habe keine Lust mehr, mit diesem Spinner zu spielen!"

Der Jüngere nickte.

"Nicht schießen, so lange er nichts tut, das gefährlich werden könnte!"

Der Jüngere nickte erneut und wandte seine Aufmerksamkeit wieder auf Terenz, der, die Hand gegen den Brustkorb gepresst, da stand.
 


 

Terenz keuchte. Warum bekam er ausgerechnet jetzt einen so heftigen Anfall? Der Sauerstoffmangel ging immer weiter in den Lebensbedrohenden Bereich und er konnte sich nur noch mit Mühe auf seinen butterweich gewordenen Beinen halten.

Das Aerosol...

Terenz hob vorsichtig seine zittrige Hand und ließ sie vorne in seine geöffnete Jacke schlüpfen. Ganz langsam, damit sich die Polizisten nicht bedroht fühlten, fuhr seine Hand zur Innentasche seiner Jacke.

Der größte Fehler, der ihm an diesem Tag unterlaufen sollte.
 

Ausgerechnet in der Sekunde, in der Terenz endlich die ersehnte Wölbung unter seiner Jacke ertastete und das Aerosol aus der Jackeninnentasche zog, brach die graue, regnerische Wolkendecke auf und ein Sonnenstrahl fiel auf Terenz - und die silberfarbene Spraydose in seiner Hand, die daraufhin aufblitzte.

"Er hat eine Waffe!", brüllte jemand und einen Wimpernschlag danach krachten zwei Schüsse durch die Luft.

Getroffen sackte Terenz auf die Knie.

Das Aerosol glitt ihm aus der Hand und rollte unter ein Auto.

Im Zeitlupentempo sank Terenz selbst vornüber zu Boden.
 

Was für ein Tag. Was für ein Ende.

Im dreckigen Rinnstein liegend sollte er also seinen letzten Atemzug tun?!

Wenigstens schmerzten die Schusswunden in seinem Bein und seinem Arm nicht so sehr. Der verkrampften Luftröhre sei Dank, die ihm alle seine Sinne raubte...

Das war jetzt endgültig die Krönung dieses miesen Tages, beschloss Terenz im Wegdämmern.

Ein paar Kugeln im Körper, ein Asthmaanfall und zu allem Übel war sein Anzug jetzt auch unrettbar hinüber. Die Flecken gingen doch nie wieder raus...

Terenz' Gedanken kamen zur Ruhe.

'Sterben ist so einfach, man könnte sich glatt daran gewöhnen', war das letzte, das Terenz durch den Kopf ging, bevor er das Bewusstsein verlor.
 

~
 

Terenz lächelte im Schlaf. Seine Geister begannen allmählich wieder zu erwachen.

Schade eigentlich, es war gerade so schön.

Er hörte etwas - leises Piepen. Gab es Vögel im Himmel?

Weshalb eigentlich nicht? Es roch ja auch nach Desinfektionsmitteln, warum also sollte es keine Vögel im Himmel geben?!

Langsam öffnete Terenz die Augen. Sein verschwommener Blick klärte sich mit jedem Blinzeln seiner schwerfälligen Lider.

Gott trug also ein Namensschild, dachte Terenz, als er das kleine rechteckige Plastikkärtchen auf dem Kittel der Person sah, die sich über ihn beugte.

Klar, man musste ihn ja irgendwie unter all den Leuten im Himmel unterscheiden können.

Und Gott hieß mit Nachnamen 'Goldberg'?

Terenz versuchte zu lachen, aber kein Ton kam aus seinem Mund. Hatte er noch immer einen Asthmaanfall?

Moment!

Goldberg?!

Gott hieß nicht Goldberg! Claire, die Irre, hieß Goldberg!

Terenz' Augenlider schnellten blitzartig auf.

Claire! Wie kam die denn hier her?

Terenz hätte sich gerne die Hände vors Gesicht geschlagen, aber zwei Lederriemen, die seine Handgelenke ans Seitenteil des Krankenbettes banden, ließen solche Aktionen nicht zu.

Reg- und Fassungslos musste er zusehen, wie die Krankenschwester um ihn herum wuselte und die Geräte überprüfte, die um sein Bett standen.

Die war doch nicht wirklich Krankenschwester, oder?!

Eine Kranke als Krankenschwester...
 

Terenz musste sie wohl allzu sehr angestarrt haben, denn Claire fuhr sich nun mit ihrer Hand über den Verband, der quer über ihre Stirn verlief.

"Oh, das ist nur eine Platzwunde", begann sie zu erklären. "Nichts Schlimmes, es musste nicht mal genäht werden. Sie müssen sich keine Sorgen machen."

Terenz röchelte dumpf, so weit es die angeschlossene Atemhilfe zuließ.

Sorgen? Um diese irre Kuh?!

Er lag doch hier im Krankenbett, die Arme seitlich daran festgebunden, damit er sich nicht die Schläuche aus den Venen riss. Es war sein beschissener Körper in dem wegen dieser dummen Pute zwei Kugeln gesteckt hatten! Und er sollte sich um sie sorgen! Alles andere wünschte er ihr, aber Mitleid hatte die keines von ihm zu erwarten! Sollte ihr der Kopf doch von den Schultern fallen, was interessierte es ihn?!
 

Claire drehte sich wieder zu ihrem Patienten um, der mit jedem ihrer Blicke unruhiger wurde.

Warum strafte man ihn so dermaßen, dass er ausgerechnet mit der Person hier sein musste, der er zu entkommen versucht hatte?!

Terenz sah zur Tür, als würde diese gleich aufgehen und jemand eintreten, der ihm sagte, das alles wäre nur ein Missverständnis gewesen.

Er wollte nach Hause. Oder auch zur Arbeit, wenn es sein musste, Hauptsache, er kam hier weg...

"Das wird noch einige Zeit dauern", schaltete sich die Irre in diesem Moment wieder ein.

Terenz Hände wurden kälter. Konnte die Gedanken lesen?

"Sie sollten lieber froh darüber sein, dass Sie hier im Krankenhaus sind - hier bei mir."

Jetzt spielte die sich auch noch als der hilfsbereite Samariter auf! Wirre Mordphantasien nahmen in Terenz' Gedanken Gestalt an. Und wohl nicht nur in seinem Denken. Seine angestrengte Mimik sprach Bände.

Ein überhebliches Lächeln von Claire folgte. "Draußen vor der Tür sind zwei Beamte, die ich zur Not herein rufen kann. Legen Sie es nicht drauf an."

Die konnte wohl tatsächlich Gedanken lesen...

"Sie hatten wirklich Glück, dass ich bei Ihrer Verhaftung dabei gewesen bin. Das hätte böse enden können."

'Ja, ich Glückspilz aber auch...' Terenz stiegen die Tränen in die Augen. Wenigstens merkte Claire nichts davon. Von ihr getröstet zu werden, fehlte jetzt gerade noch. Doch Claire plapperte einfach munter weiter.

"Mal schauen, wenn Sie etwas kooperativer sind und mir nicht mehr so unhöflich gegenübertreten-"

'Unhöflich?!' Wie war noch einmal die genaue Definition von Unhöflich?

"Dann könnte ich eventuell ein gutes Wort für Sie bei der Polizei einlegen", laberte die Wahnsinnige unbeirrbar weiter.

'Als ob sie jemand davon abhalten könnte...' Terenz verdrehte die Augen. 'Mal abwarten, was sie sich noch alles einfallen lässt... Was immer es auch ist, hoffentlich ist es schnell vorüber...'

"Man könnte es ja als falsch verstandenen Unfall, statt als Überfall hinstellen", warf Claire nachdenklich ein.

Aber es war doch ein Überfall! Ein Überfall auf ihn - nicht auf sie! Das wusste Terenz, das wusste die Verrückte, nur die Polizei wusste es nicht...
 

Claire kramte nun auf ihrem silbernen Krankentablett herum und nahm schließlich ein kleines Schraubglas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit und eine steril abgepackte Spritze hervor. "Vorerst denken wir nicht mehr über unser unglückseliges Kennenlernen nach, in Ordnung? Sonst verderben wir uns nur die Zeit, die wir miteinander verbringen können."

Terenz' Pulsschlag erhöhte sich gefährlich, als er sah, was die Krankenschwester da tat.

Sie wollte ihn doch nicht - umbringen? Oder schlimmer, noch ruhiger stellen, als er ohnehin schon war?!

"So langsam scheint wieder Leben in Sie einzukehren", kommentierte Claire die immer heftiger blinkende und piepende Anzeige des Monitors, der Terenz' Herzfrequenz überwachte.

'Dann pack die Spritze weg! Mir geht's wieder gut!', brüllte es in Terenz' Kopf und er rüttelte an den Handfesseln, die ihn ans Bett ketteten.
 

Sie kann wohl doch keine Gedanken lesen, dachte Terenz resigniert, als Claire damit fortfuhr, die Spritze mit einer Nadel zu versehen und sie dann in den gummiartigen Verschlussdeckel des Glasfläschchens zu stecken, um die leere Spritze mit der Flüssigkeit daraus zu füllen.

"Jedenfalls haben wir jetzt ja erst einmal genug Zeit, uns besser kennen zu lernen, Terenz", fügte Claire in einem süßen liebevollen Tonfall hinzu und lächelte dabei mild. Und ebenso mild lächelnd stieß sie Terenz die spitze Nadel in den Arm. "Wissen Sie eigentlich was Ihr Name bedeutet? Ich weiß es, weil ich es mir nicht verkneifen konnte, sofort nachzusehen, als ich ihn erfuhr."

Terenz schloss die Augen und wartete auf die einsetzende Wirkung der Spritze, die ihn von Claires Gespräch erlösen würde.

Das nahm einfach kein Ende. Nicht in den nächsten Wochen...
 

~ Ende ~



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Kommentare zu diesem Kapitel (15)
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Von:  Poolee
2008-09-26T11:43:47+00:00 26.09.2008 13:43
Auch, wenn sie nicht mehr aktuell ist - ich habe sie gerade auf der Arbeit gelesen und finde die Kurzgeschichte genial! Gut, ich kenne dich lang genug und auch deinen Schreibstil - es überrascht mich also nicht, dass ich hier einen OneShot mit überaus guter Qualität lese ;)

Die Ungerechtigkeit, die Terenz erfährt, lässt einen als Leser fast genauso verrückt werden. Aber auch erst in der zweiten Hälfte.
Anfangs ist man am Hadern, ob man mit ihm sympathisieren soll oder ihn misstrauen - du schaffst hier also einen perfekten Zwiespalt im Leser, der in gleichzeitig aber auch an die Geschichte fesselt.

Das Ende ist der Hammer! Und man verzweifelt mit!

Wieder einmal eine grandiose Leistung, cat!
*knuffz*
Von: abgemeldet
2006-06-28T11:34:45+00:00 28.06.2006 13:34
omg O.O
also, ich hab schon lange keine zwei so guten kurzstorys gelesen *baff ist*
die story mit fiona war ja schon der hammer. irgendwie hab ich geahnt, dass sie in eine ubahn läuft...aber das ende war einfach nur geil.
und diese claire *grrrr*
stalker bis zum geht nicht mehr *aufreg* solche frauen regen mich echt auf...dass die polizei da so blöd ist und ihr glaubt, dass *arrrrrgh*
nein, der arme terenz....*mit ihm leidet*
ich fand die enden der storys total geil und das soll was heißen, weil ich bin da voll kritisch was enden angeht xD und dass da die fiona stirbt passt genau so gut, wie der terenz in den fängen von claire *hehe*
echt geil...
*story in favoliste pack*
mach weiter so ^-^
Von:  Spiegelfee
2006-06-18T17:22:40+00:00 18.06.2006 19:22
Wie auch das erste Kapitel deiner Kurzgeschichtensammlung ist auch dieses sehr gut gelungen; wie schon erwähnt finde ich sowhol deinen Stil zu schreiben, als auch die Stories der Geschichten wirklich gut.
Ich warte bereits auf weitere Werke *g*
Von: abgemeldet
2006-03-31T20:44:03+00:00 31.03.2006 22:44
hilfe?hilfe!!!!!!
hallo das ist ja voll brutal....grausam!!!
meine fresse du schreibst echt mal gute(angsteinflößende) stories.....argh ich werd nich einschlafen könn ich sags dia...verdammt noch mal hättest du kein happy end schreiben können? wenigstens dass er stirbt oder so-
naja es is ja deine story und wahrscheinlich is des das allerbeste ende dafür!!!
Von: abgemeldet
2006-03-08T18:12:05+00:00 08.03.2006 19:12
Uhuhu.....es ist so spannend, dass man am liebsten immmer weiter lesen würde!

Deine Metaphern sind einfach genial.

EIne kranke Krankenschwester!*lol*
ICh leide so mit Terenz...!
Diese innere Pein....*heul*
Ich glaube ich kollabiere gleich...diese Clair!*hrrrr*

Wann machst du weiter! ICh kann nicht genug bekommen!
Von: abgemeldet
2006-03-08T18:11:41+00:00 08.03.2006 19:11
Uhuhu.....es ist so spannend, dass man am liebsten immmer weiter lesen würde!

Deine Metaphern sind einfach genial.

EIne kranke Krankenschwester!*lol*
ICh leide so mit Terenz...!
Diese innere Pein....*heul*
Ich glaube ich kollabiere gleich...diese Clair!*hrrrr*

Wann machst du weiter! ICh kann nicht genug bekommen!
Von:  Inuyasha22
2006-03-02T19:39:02+00:00 02.03.2006 20:39
super o.o wirklich, einsame spitze... hab schon lange nicht mehr so aufgeregt eine FF verfolgt. Und so ein Talent wird nicht Buchschreibend?
Von: abgemeldet
2005-09-17T17:50:03+00:00 17.09.2005 19:50
Ich habe mir jetzt beide der Kurzgeschichten durchgelesen und beide sind voll fein! Du kannst linguistisch echt gut mit Wörtern umgehen und so bestimmte Reaktionen -wie Angst, oder aber auch Spannung- hervorrufen! Großes Lob
LG Final-chan
Von:  FakeofHypocrisy
2005-08-23T13:19:53+00:00 23.08.2005 15:19
supa dupa gut mach schnell weiter!^^ Taiky die echte*-*
Von: abgemeldet
2005-05-29T17:18:46+00:00 29.05.2005 19:18
schon wieder so ne geniale Geschichte von dir. Ich kann nur sagen: WOW
Weiter so!


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