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Fürst der Finsternis

Zweiter Platz Herbst-Winter-FF Wettbewerb 2003
von

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Lilie - 6: Familienbande

Kapitel 6: Familienbande
 

Kleine Buden säumten die Einkaufspassage, schienen mit ihren angebotenen Waren den Vorort von Tokio in eine andere Zeit zu versetzen. Alles wirkte nicht nur weihnachtlicher mit all den angepriesenen Süßigkeiten, von denen viele ihren Ursprung in Europa hatten, sondern im Schein der Fackeln, um deren Licht fröhlich Schneeflocken tanzten, schien alles mittelalterlicher auszusehen. Je nach Geschmack liefen einige Leute als Weihnachtsmänner verkleidet umher, um kleinen Kindern Schokolade zu schenken, andere trugen traditionelle Kimonos. Es war ein seltsamer Mischmasch, den Tao Ren so noch nie gesehen hatte, aber alle schienen ihren Spaß daran zu haben, und das war schließlich die Hauptsache.

Und selbst, wenn jemand, um den Mix der Kulturen vollkommen durcheinander zu bringen, auf der kleinen Bühne nahe Mantas Schule Samba getanzt hätte, so wäre das Ren auch recht gewesen. Immerhin war dies sein erster richtiger Ausflug als von Faust offiziell gesund erklärter Chinese. Letztes Wochenende hatte der Arzt die Nähte gezogen und obwohl er noch immer nichts Schweres heben durfte und erst nach Neujahr zur Schule gehen würde, so fühlte er sich wunderbar frei. Zwar schmerzte die recht rot aussehende Narbe noch immer, aber er musste nun nicht mehr ständig bei Faust oder Anna um Erlaubnis fragen, wenn er einfach mal ausgehen wollte - und wurde bei jedem Schritt, den er machte, nicht von wachsamen Augen überwacht.

"Die haben hier kandierte Äpfel!" Horo Horo quiekte vergnügt auf und verschwand sofort in der Menschenmenge. Ren kümmerte sich nicht weiter darum. Er wusste, dass der junge Ainu irgendwann wieder auftauchen würde, er könnte das gar nicht verhindern. Auch war sich Ren bewusst, dass Horo Horo nicht mit ihm auf den Weihnachtsmarkt gekommen war, um über ihn zu wachen, sondern einfach, weil er auch mal raus wollte aus dem Asakura Anwesen, außerdem brauchte er noch ein paar Weihnachtsgeschenke. Schließlich war Weihnachten in nicht einmal mehr einer Woche, in zwei Tagen wollten auch die anderen anreisen, Horo Horos kleine Schwester inbegriffen, und der junge Ainu hatte noch kein einziges Geschenk.

Er ist auch hier wegen dir.

Ren schlug den Kragen seines schwarzen Mantels hoch und stapfte unbeirrt durch den Schnee, ließ sich von der Menschentraube um sich herum führen. Fast drei Wochen waren seit Horo Horos Ankunft vergangen und irgendwie... ja, irgendwie waren sie so etwas wie beste Freunde geworden. Wo immer Ren auch hin ging, Horo Horo war nicht weit entfernt. Und sollte der junge Ainu mal nicht auftauchen, so sah der junge Chinese bald nach ihm. Aber nur aus Neugierde. Dass er sich womöglich Sorgen machte, das hätte er niemals zugegeben.

Wir haben uns verändert...

Vor ungefähr zwei Monaten noch hätten sie sich am liebsten gegenseitig aufgeschlitzt, gevierteilt und die Überreste am höchsten Baum aufgeknüpft, nun fühlte sich Ren seltsam leer, wenn der verrückte Ainu nicht in seiner Nähe war und ihn, wie er es nie zu betonen vergaß, unglaublich nervte. Ren wollte gar nicht daran denken, dass Horo Horo nach der Neujahrsfeier gemeinsam mit seiner Schwester in seine Heimat zurück kehren würde, zu sehr hatte er sich schon an den Jungen gewöhnt.

Genauso, wie er sich an diese Stadt, an ihre Einwohner gewöhnte. Alles war anders als in China, in dem Land, in dem er aufgewachsen war, aber das bedeutete nicht gleichzeitig, dass alles schlechter war. Mittlerweile hatte er sich so sehr an japanisches Essen gewöhnt, dass es ihm seltsam vor kam, chinesische Frühlingsrollen zu zu bereiten, als Anna ihn vor einigen Tagen darum gebeten hatte, natürlich nur, nachdem sie vorher Faust konsultiert und seine Erlaubnis eingeholt hatte. Dieses Mal hatte Horo Horo nicht über das fremdländische Essen gemeckert, sondern es ernsthaft probiert - und als köstlich empfunden. Von den 10 Frühlingsrollen, die Ren zubereitet hatte, aß er fünf, einschließlich Rens eigener. Dem jungen Chinesen war der Geschmack plötzlich so fremd vorgekommen, dass er statt dessen zu einem von Annas Reisbällchen griff und sich fragte, ob dies schweren Verrat an den Traditionen seiner Ahnen darstellte, oder ob das völlig normal war, er sich eben langsam einlebte in das Land, in dem er die nächsten Jahre, vielleicht sogar den Rest seines Lebens verbringen würde. Denn der Gedanke, allein in dem Palast seiner Vorväter zu sitzen, ohne seine geliebte Schwester an seiner Seite, bereitete ihm mehr als nur Unbehagen. Blanke Angst verspürte er bei der Vorstellung an einen leeren Ballsaal, an einsame Gängen, an dunkle Nächte inmitten einer Gebirgskette.

Ich hab unfassliches Glück gehabt...

Ja, das hatte er gehabt. Damals, als er Asakura Yoh kennen lernte, der gleich hinter die Fassade seines Erbes sah und instinktiv wusste, dass es sich für den chinesischen Jungen zu kämpfen lohnte. So wie jetzt auch, da Yoh und Anna ihn aufnahmen, als sei das die selbstverständlichste Sache auf der Welt. Wie sie das leere Zimmer im ersten Stock als Rens Zimmer deklarierten, würden sie ihn so schnell nicht wieder gehen lassen. Anna setzte sich mit dem Papierkram auseinander, wie sie all die Schriftstücke nannte, die Yohs Großeltern vom Direktor ihrer Schule erhielten, während Yoh einfach nur glücklich grinste bei der Vorstellung, Ren zur Unterstützung im Kampf gegen seine langweiligen Lehrer bei sich zu haben - und das wohl für den Rest seiner Schullaufbahn.

"Einfach nur lecker!" Horo Horo tauchte genauso plötzlich neben Ren auf, wie er verschwunden war. Der junge Ainu hielt einen rot leuchtenden Apfel in seinen Händen und biss herzhaft hinein. Er strahlte den jungen Chinesen an und hielt ihm seine Eroberung hin, den hölzernen Stiel fest mit seinen Handschuhen umklammernd.

"Willfde auch waff?" fragte er mit vollem Mund. Ren schaute einige Momente schweigend auf den Apfel, dann schüttelte er seinen Kopf und spürte, wie er gegen seinen Willen lächeln musste.

"Nein, danke. Ich hänge an meinen Zähnen."

"Ach waff..." Horo Horo schluckte, bevor er den Apfel wieder an seinen Mund zog. "Das passt schon." Dann biss er erneut hinein. Ren beobachtete ihn, bevor er seine Schultern zuckte und seine Hände tief in den Taschen seines Mantels vergrub. Nach dem Gespräch mit Anna hatte er sich deutlich besser gefühlt, obwohl die Trauer noch immer tief an seiner Seele nagte. Das Mädchen hatte Recht, so rasch würde er den Verlust nicht überwinden, seine Schwester wohl bis an das Ende seiner Tage schrecklich vermissen, aber Annas Reaktion - und die Reaktion der anderen auf seinen mehr hilflosen Gefühlsausbruch - gaben ihm den Mut, die Reisetasche aus dem Wandschrank zu zerren und auszupacken. Yohs Erkältung war fast abgeklungen und er durfte wieder zurück in sein Zimmer ziehen, während Horo Horo und Ren nun in das andere gingen, damit sie sich in Yohs Reich nicht zertraten. Natürlich nicht, ohne dass der junge Ainu mindestens zwanzig Mangas mit sich schleppte, die er wie eine Mauer an der Wand aufschichtete und las, so oft er die Gelegenheit dazu hatte. Sehr zu Rens Leidwesen las er diese natürlich laut, und nicht immer sehr schnell und nicht immer sehr flüssig.

Ren war sich sicher, dass Yoh seine Reisetasche zwar in aller Eile gepackt hatte, aber dennoch mit einem sehr scharfen Auge. Ren fand nicht nur seine alten Schulhefte und seine Lieblingskleidungsstücke darin, sondern auch seinen uralten Teddy. Der junge Chinese fragte nicht, woher der junge Japaner von dem Stofftier wusste. Dankbar schob er den Teddy unter sein Kopfkissen, neben ein paar Photographien, die er in einem alten Album fand. Yoh hatte vielleicht nicht viel Zeit gehabt, die Tasche zu packen, aber er hatte instinktiv all die Sachen genommen, die Ren wichtig gewesen waren.

Seit jenem Tag trug der junge Chinese auch wieder seine eigenen Kleidungsstücke, auch wenn Horo Horo ihm jeden Morgen aufs Neue androhte, ihm zu Weihnachten einen strahlend weißen Anzug zu schenken.

"Du könntest mich vergiften." Ren deutete auf den Apfel, der bereits zur Hälfte in Horo Horos hungrigem Mund verschwunden war. Sie hatten zwar ein ordentliches Frühstück zu sich genommen, das Anna ihnen zurecht stellte, bevor sie zur Schule ging, aber in dem Magen des jungen Ainu schien immer noch etwas Platz für Süßigkeiten zu sein. Yoh konnte genauso schlimm sein. Aber heute hatte der junge Japaner dankend abgelehnt, als sie ihn fragten, ob er mitkommen wollte. Yoh war ebenfalls noch krank geschrieben, bis er im Januar wieder in die Schule müsste, heute wollte er jedoch an einem supergeheimen Weihnachtsgeschenk für seine Anna basteln, da ließen sie ihn lieber in Ruhe arbeiten. Anna erwartete bestimmt etwas ganz Tolles - und Yoh wollte sicherlich nichts falsch machen.

"Na klar." Sprang Horo Horo sofort auf die Stichelei an, die bei ihnen an der Tagesordnung stand. Normal konnten sie sich eigentlich auch unterhalten, aber das machte doch wesentlich weniger Spaß als diese lustigen Streitereien. Das war auch eine weitere Sache, die sich verändert hatte zwischen ihnen. Vor nicht einmal zwei Monaten hätte Ren Horo Horo für den folgenden Satz umgebracht, vor einigen Wochen wäre er vielleicht beleidigt gewesen, heute musste er nur noch kichern.

"Wie ein Schneewittchen siehst du mir aber nicht aus, Ren-kun. Und ich bin mit Sicherheit keine böse Stiefmutter."

"Na, hab ich ein Glück."

"Außerdem wäre es doch eine Verschwendung, diesen leckeren Apfel zu vergiften." Horo Horo biss genüsslich hinein und warf die Überreste und den hölzernen Stiel mit leisem Bedauern in den nächsten Papierkorb.

"Du Vielfrass würdest den Apfel sogar noch essen, wenn du genau wüsstest, dass er vergiftet wäre, nicht wahr?"

"Du kennst mich einfach zu gut." Horo Horo grinste ihn leicht errötend an, bevor er das Snowboard auf seinem Rücken zurecht rückte. Auf dem Rückweg würde er sich wieder darauf stellen und Ren allerlei Tricks vorführen, nur, um am Ende mit Schneebällen bombardiert zu werden. Der junge Chinese hätte nie gedacht, dass so eine Schneeballschlacht so viel Spaß machen konnte, besonders, da sein Körper ihm endlich wieder gehorchte. Früher hätte er es als dummen Kinderquatsch abgetan, heute genoss er jeden Schneeball, der durch die Luft sauste, egal, ob dieser sein Ziel nun erreichte oder nicht.

"Hast du eigentlich schon ein Geschenk für Anna-san?" wechselte Horo Horo das Thema, nachdem sie für einige Zeit schweigend über den Markt geschlendert waren.

"Nein."

"Wir sollten bald eines finden."

"Ja."

"Ein richtig schönes."

"Ja."

"Sonst sind wir tote Männer."

"Ja."

"Und du bist doof."

"Ja... hey, was sollte das jetzt?" Ren fuhr herum, seine gelben Augen zu Schlitzen verzogen. Wütend funkelte er den jungen Ainu an, der sich früher vor dieser Gestalt einmal fast zu Tode gefürchtet hatte, nun aber nur lachend nach Luft schnappte.

"Du solltest mit deinen Gedanken bei der Unterhaltung bleiben, sonst kann man dich einfach zu perfekt reinlegen." Kicherte Horo Horo und wich einige Schritte zurück, als der junge Chinese nach ihm greifen und mit Sicherheit gleich hier und jetzt mit Schnee einseifen wollte. "Woran hast du gedacht?"

Rens zorniger Gesichtsausdruck war von einem Augenblick auf den nächsten wie weggeblasen, als er sich umdrehte und zu einem kleinen Stand zeigte, der zwischen zwei hohen, mit Schnee bedeckten Bäumen stand. Horo Horo verstand sofort, als er kunstvoll angefertigte Drachen von der Decke baumeln sehen konnte. Auf mehreren Anhängern standen fremde Schriftzeichen, chinesische.

"Es wird kein leichtes Weihnachten ohne sie werden." Stellte der junge Ainu sachlich fest, als sie näher an den Stand traten, dem kleinen Mann hinter der Theke freundlich zu nickten. Ren antwortete nichts, starrte mit leerem Blick auf einige Anhänger. Das brauchte er nicht, Horo Horo verstand ihn auch so.

"Sag uns einfach nur bescheid, wenn wir dich zu sehr nerven. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Chocolove einen Abend in einer Karaokebar plant - und du kennst doch seinen Musikgeschmack, das wird nervenzehrend." Horo Horos Lächeln wurde nicht erwidert. Rens Gesicht war blass und er wirkte wieder genauso traurig wie zu Nikolaus, wie an vielen Tagen, die folgten. Niemand von ihnen sagte etwas über seinen Gefühlsausbruch, da sie spürten, dass es ihm unangenehm gewesen wäre, mit ihnen darüber zu reden. Dafür sahen sie ihn schweigend an, als er etwa eine Stunde später mit Anna zu dem See kam, auf dem sie Schlittschuh liefen beziehungsweise um den sie herum bereits mehrere Schneemänner gebaut hatten. Schweigend und verständnisvoll. Jeder von ihnen hatte in seinem Leben schon einmal einen lieben Menschen verloren, sie wussten genau, was in dem jungen Chinesen vor ging. Helfen konnten sie ihm nicht wirklich, aber sie konnten da sein. Ganz einfach da und seine besten Freunde sein.

"Ich werd's überleben."

"Dessen bin ich mir bewusst, Ren-kun." Horo Horo runzelte seine Stirn. "Aber ich will, dass du zu Weihnachten Spaß hast und nicht einfach nur überlebst."

"Spaß hab ich schon genug, wenn du die alte Socke in den Händen hältst, die du dieses Jahr geschenkt bekommst."

"Jetzt hast du dich verraten."

"Oh nein, jetzt brauch ich doch etwas anderes Ekeliges!"

Horo Horo schüttelte lächelnd seinen Kopf, bevor er Ren zurück hielt, der sich umdrehen und von dem Stand weggehen, oder, wie es dem jungen Ainu vorkam, flüchten wollte.

"Ich kann kein Chinesisch, Ren-kun. Was bedeuten diese Anhänger?" fragte er und griff einfach einen aus dem Haufen heraus, um ihn dem jungen Chinesen unter die Nase zu halten. Dieser blinzelte, schien einige Augenblicke zu brauchen, um sich auf die so bekannte Schrift einzustellen, sie in seinen Gedanken zu übersetzen.

"Das ist kein bloßer Anhänger, Horo-kun, das ist ein Talisman. Und dieser..." Seine Handschuhe berührten das golden glänzende Metall einen Augenblick lang, bevor der junge Chinese zurück fuhr, als habe er sich daran verbrannt. "... dieser ist zum Schutz eines lieben Menschen." Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Du kannst so was ruhig deiner Schwester schenken, Horo-kun, aber glaube mir, so ein Talisman bringt überhaupt nichts!"

Jun hat einmal solch einen Anhänger von Li Pailong bekommen, aber er hat sie nicht beschützen können...

Entschieden drehte er sich um und stapfte zurück auf die Straße, wo er sich erneut von den Menschenmassen treiben ließ. Die Richtung war ihm egal, so lange er nur fort von diesen billigen chinesischen Souvenirs kam, die ihm Übelkeit bereiteten. Er sagte nichts, als Horo Horo nach einigen Minuten wieder neben ihm auftauchte, auch nicht, als er einen kleinen, roten Beutel aus der Tasche seiner weißen Jacke lugen sehen konnte.

Vielleicht beschützt der Mist ja wenigstens seine Schwester...

Ren ballte seine Fäuste in seinen Manteltaschen, ruderte aber im nächsten Augenblick mit beiden Armen in der Luft, als er auf einer gefrorenen Pfütze, auf der sich nur eine dünne Schneeschicht gelegt hatte, ausrutschte. Da die nächste Bude jedoch zu weit entfernt war, machte er sich bereits auf einen harten Aufprall gefasst - der nie eintrat. Statt dessen packten ihn zwei Hände und hielten ihn fest.

"Was..."

Ren drehte seinen Kopf und blickte in Horo Horos feixendes Gesicht.

"Wenn ich nicht ständig auf dich aufpassen würde..." kicherte dieser, bevor auch er auf besagter Pfütze sein Gleichgewicht verlor und beide zu Boden gingen. Der junge Ainu hatte nicht so viel Glück wie sein chinesischer Freund, der auf ihm landete. Dennoch ignorierte Horo Horo den Schmerz und die Gewissheit, dass sein Hintern heute Abend ein paar blaue Flecke mehr aufweisen würde, und erkundigte sich sofort bei Ren nach dessen Wohlbefinden.

"Wie geht's deinem Bauch?"

Die Nähte wurden erst letztes Wochenende gezogen!

"So, so, und du willst also auf mich aufpassen?" Ren lächelte zurück, erbleichte jedoch, als er den Schnee von seinem Mantel abklopfte. Suchend blickte er sich um, als er spürte, dass er bei dem Sturz Basons Totentafel verloren hatte. Der Geist hatte sich darin zurückgezogen, nachdem er all die Menschenmassen auf dem Markt gesehen hatte. Auf dem Rückweg würde er sich wieder materialisieren und über seinem Meister wachen.

"Ren-kun? Was ist los?" Horo Horo wusste mittlerweile genau, wann etwas mit dem Erben der mächtigen chinesischen Dynastie nicht in Ordnung war.

"Bason..." flüsterte dieser und blickte sich in dem Schnee um. Schließlich war die Totentafel pechschwarz, da sollte es nicht all zu schwer sein, diese zu finden, oder?

"Die Totentafel?" Horo Horo verstand sofort. Ebenso hektisch wie der junge Chinese blickten seine Augen suchend den Boden ab, und fanden die Totentafel in den Händen eines anderen Jungen. Eines Jungen, den er von Yohs Klassenphotos kannte. Von dem er wusste, dass er immer wieder Ärger baute.

Der junge Japaner grinste Ren herausfordernd an, während er auf diesen zu schritt, und Horo Horo wurde mit einem Mal ganz schlecht.

Ist der bescheuert?

Bitte nicht...

"Gehört das zufällig dir?" fragte der Junge, der sich ungemein stark vorzukommen schien, und der ungemein dumm war, ansonsten hätte er dem mächtigsten Schamanen Chinas nicht so eine offene Kriegserklärung an den Kopf geworfen. "Du kriegst es wieder, wenn du mir tausend Yen gibst."

Tao Ren straffte sich merklich, so dass seine Stiefel unter dem langen Mantel zu erkennen waren. Sein ganzer Körper war gespannt wie ein Flitzebogen und Horo Horo holte langsam Luft, als er sich zwischen den jungen Chinesen und den noch immer so dümmlich grinsenden Mitschüler von Yoh schob.

Mach dich nicht unglücklich!

"Weißt du, was du da hast? Das ist eine Totentafel." Sagte Horo Horo und blickte den jungen Japaner warnend an, in der Hoffnung, er würde sich vor dem schwarzen Stein in seinen Händen ekeln und ihn fallen lassen. Dann könnte der junge Ainu die Totentafel ihm weg schnappen und davon rennen. Dann würde Ren nicht mehr gefährlich drei schauen und nicht einen weiteren Fehler begehen.

Was mach ich, wenn er durch dreht?

Schließlich ist er jetzt wieder fast gesund, ich hätte keine Chance, wenn ich mich ihm in den Weg stellen würde...

Horo Horo schluckte hart und nahm dennoch sein Snowboard in seine zitternden Hände. Was immer auch geschah, er würde nicht zu lassen, dass Ren etwas tat, was er hinterher bereuen würde. Nicht noch einmal. Nicht noch mehr...

"Eine Totentafel? Ist ja geil! Wer ist denn da drin? Dein liebes Großväterchen?" Der junge Japaner lachte gehässig. "Und den schleppst du mit dir rum? Perversling!"

Vielleicht sollte ich Ren-kun helfen und ihn ebenfalls vermöbeln?

Horo Horo hielt nun das Snowboard wie ein Schild vor seinen Oberkörper, konnte sehen, wie es hinter Rens starrer Gesichtsmaske arbeitete.

"Na, wenn das Ding dir so viel bedeutete, dann kostet es jetzt zweitausend Yen, oder ich lass es fallen." Der Schüler hielt die Totentafel in die Höhe und nur sein Daumen- und Zeigefinger verhinderten einen Sturz auf den vereisten Boden.

"Lass den Mist und gibt's wieder her." Horo Horo trat auf den Schüler zu, streckte seine rechte Hand nach ihm aus. "Mit den Toten spielt man nicht."

"Halt du dich da raus!" Der Junge holte aus und Horo Horos Wange schmerzte, als er nach hinten in eine dichte Schneewehe fiel, die wie aus dem Nichts unter ihm auftauchte, seinen Fall abfederte. Normalerweise hätte der junge Ainu sich nicht so leicht überrumpeln lassen, aber er hatte es hier mit einem einfachen Menschen zu tun. Es wäre unfair gewesen, ihm gegenüber Schamanenkräfte einzusetzen.

"Baka!"

Obwohl Horo Horo allmählich die Geduld für irgendwelche Fairness ausging. Genauso wie Ren, der im nächsten Moment einen bläulich blitzenden Dolch in seinen Händen hielt, diesen mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit von einer Hand in die andere wechselte, die keinen Zweifel an seinen Kampfkünsten ließ. Er war nicht nur zum Schamanen, sondern auch zum Erbe seiner Dynastie erzogen worden, er konnte sich in jeder Situation verteidigen, egal, ob Bason ihm zur Hilfe eilen konnte oder nicht.

"Über die Toten scherzt man nicht." Sagte er in einem so monotonen Ton, der Horo Horo einen Schauer über den Rücken jagte.

Nein, bitte nicht...

Der junge Ainu kam auf seine Beine und rutschte hinüber zu dem jungen Chinesen, den er am freien Arm fasste und zurück halten wollte. Gleich würde wieder der Killerinstinkt in Tao Ren durchgehen, das konnte er nicht zu lassen. Immerhin war er doch ein guter Freund des jungen Chinesen geworden, nicht wahr? Da konnte er nicht zulassen, dass sich dieser unglücklich machte!

"Ren, lass es gut sein." Bettelte er leise, aber bestimmt. Noch vor zwei Monaten hätte er in solch einer Situation Reißaus genommen, um Yoh zu rufen, der Ren als einziger beherrschen konnte, da er stärker war als der mächtige Erbe. Jetzt aber stellte er sich ohne zu zögern einem sichtlich zornigen Tao Ren entgegen, der dazu noch ein extrem scharf aussehendes Messer in seinen geübten Händen hielt.

"Er ist's nicht wert."

Ren drehte leicht seinen Kopf und blickte in Horo Horos bleiches Gesicht. Er hatte Angst erwartet. Die normale Angst, die alle ihm gegenüber empfanden, die Horo Horo lediglich verdrängt hatte, während es dem jungen Chinesen nicht gut gegangen, er zu schwach zum Kämpfen gewesen war. Aber anstelle dieser unzähmbaren Angst, die er nun in den Augen des Schülers sehen konnte, der wie gelähmt da stand, einzig und allein auf den scharfen Dolch starrte, die Totentafel noch immer hoch über seinen Kopf haltend, fand Ren in Horo Horos Gesicht nur Sorge. Sorge um ihn.

Um mich?

Aber...

Tao Ren blinzelte verwundert. Wieso stellte sich Horo Horo ihm einfach so in den Weg? Hatte er in der Vergangenheit nicht schon oft erlebt, sogar am eigenem Leib, dass es denjenigen nicht gut erging, die ihn aufzuhalten versuchten? Immerhin war sein Körper fast vollständig genesen, der konnte einen Großteil seiner alten Stärke wieder einsetzen, den jungen Ainu mit Leichtigkeit töten.

Töten?

Nein, ich will ihn nicht töten.

Niemals!

Ren blinzelte erneut, dann schaute er auf den Dolch in seinen Händen, bevor er diesen vor den Schüler in den Boden schnellen ließ. Die Klinge durchstieß den Schnee und blieb in der hartgefrorenen Erde stecken.

"Das sollte zweitausend Yen wert sein." Ren beugte sich vor und schnappte sich die Totentafel aus den starren Fingern des Jungen. Der junge Chinese betrachtete Basons Ruhestätte eingehend von allen Seiten, bevor er die Totentafel vorsichtig unter seinem Mantel in die dafür vorgesehene Halterung steckte und dort mit einem Lederband extra gut sicherte. Noch einmal wollte er ihn nicht verlieren!

"Horo-kun? Lass uns gehen." Er drehte sich zu dem jungen Ainu um, der mit offenem Mund auf den noch immer leicht wippenden Dolch starrte. Doch Horo Horo schien sich rascher zu erholen als der Schüler. Entschlossen hob der junge Ainu sein Snowboard und im nächsten Moment wurde der Angreifer unter einer kleinen Lawine verschüttet.

"Er hat mich Baka genannt!" erklärte Horo Horo Ren, als sie die Richtung zurück schlenderten, aus der sie gekommen waren. Einige Geschenke würden sie heute bestimmt noch auftreiben können. Alles in allem also ein erfolgreicher Vormittag!

"Horo-kun?"

"Hai?"

"Bringst du mir deine Technik bei? Die erscheint mir irgendwie lustiger als meine."

"So lange du dann nicht versucht, solch schlechte Witze wie Chocolove zu reißen..."

"ARG! Du!"

Horo Horos Lachen war über dem halben Markt zu hören.
 

***
 

"...zweihundert Gramm Zucker und dann gut verrühren..."

Yoh saß im Schneidersitz auf dem Stuhl und blickte konzentriert in das dicke Kochbuch auf seinen Knien. Er wollte Anna eine Freude machen, was ihm aber nur gelingen würde, wenn sie auch die richtigen Zutaten in der richtigen Menge in den Teig rührten.

"... zweihundert..." Horo Horo biss sich auf die Spitze seiner Zunge, während er die kleinen Kristalle in eine Schale schüttete und dann auf die Wage stellte.

"So viel Zucker?" Ren verzog sein Gesicht, denn er mochte keine Süßigkeiten. Der junge Chinese hatte den Abwasch des Frühstückes übernommen, schaute aber ganz genau zu, während die zwei größten Kochtollpatsche streng nach Rezept vorgingen. Er hätte den Teig im Schlaf zaubern können, entschied sich dann aber dagegen, schließlich sollten Yoh und Horo Horo den Glücksmoment des Gelingens erleben, immerhin war es ja auch ihre Idee gewesen. Yoh hatte, als Ren und Horo Horo vom Markt zurück kamen, einfach keine Nerven mehr, um weiterhin an Annas Weihnachtsgeschenk zu arbeiten, und kramte statt dessen ein altes Kochbuch hervor. Der junge Ainu war sofort Feuer und Flamme und nun, nicht einmal eine halbe Stunde später, befanden sie sich alle in der Küche und backten Plätzchen.

"Du hast die Glasur vergessen, die dann noch drüber kommt." Grinste Horo Horo und griff nach dem Mixer. Er blinzelte nicht einmal, als einige Spritzer Eigelb durch die Luft flogen und in seinen Haaren hängen blieben.

"Süßigkeiten sind Satans Werk."

"Wenn du meinst." Horo Horo legte den Mixer beiseite und grinste den jungen Chinesen schelmisch an.

"Für eine Tafel Schokolade würdest du doch deine Seele verkaufen."

"Ist weitaus leckerer als die dämliche Weltherrschaft, die man sonst vom Teufel will."

"Na ja, aber die hat auch was."

"Ach, papperlapapp!" Horo Horo kippte die Schüssel um und blickte für einen Moment etwas verzweifelt auf den Teig. Yoh hielt sich an seinem Buch fest, denn auch er wusste nicht, was es jetzt zu tun galt.

"Als Herrscher der Welt könntest du so viel Schokolade essen, wie du willst." Ren legte das Handtuch beiseite und ergriff den kleinen Krug, in dem Anna immer das Mehl aufbewahrte. Damit ging er hinüber zum Tisch und schubste Horo Horo vorsichtig beiseite, der mit einem Mal einen ganz verträumten Ausdruck auf dem Gesicht hatte, vermutlich überlegte er wirklich, wie es wohl war, auf einem Berg von Schokolade zu sitzen.

"Ich glaube, wir brauchen jetzt das Nudelholz, oder?" Yoh las angestrengt den kleinen Absatz, in dem nur >Rollen Sie jetzt den Teig aus.< stand und hob das besagte Holz in die Höhe. Er hatte schon öfter Anna damit arbeiten gesehen, hatte aber selbst keine Ahnung, wie man es benutzte. Schließlich war die Küche das Gebiet seiner Verlobten, und manchmal von Manta, aber der kleine Japaner büffelte noch in der Schule, er würde die nächsten zwei Stunden auch nicht nach Hause kommen.

"Genau. Einfach alles ein wenig mit Mehl bestreuen und los geht's. Ist wirklich nicht schwer." Ren rollte zwei Mal über den Teigklops, bevor er einem erstaunten Horo Horo das Holz in die Hände drückte. "Immer wenn's schwer wird, einfach ein wenig Mehl drauf, damit kann man nix falsch machen."

Der junge Ainu probierte die ihm noch immer unbekannte Technik zwei Mal aus, bevor sich sein Gesicht aufhellte und er rasch den gesamten Teig auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

"Das läuft ja super!" grinste er siegessicher.

"Du bist als Koch engagiert, Ren." Lächelte auch Yoh und legte das Buch beiseite, um wie wild in den Schubladen zu kramen. Er wusste, dass hier irgendwo die Formen sein mussten, mit denen sie die Plätzchen ausstechen konnten. Die letzten Wochen war er oft genug über sie gestolpert auf der Suche nach dem Besteck, also mussten sie hier doch irgendwo sein...

"Du kannst Kaffee kochen, Frühlingsrollen zubereiten und Plätzchen backen. Wenn du jetzt auch noch Schokolade herstellen kannst, muss ich dich wohl in einer Nacht und Nebel Aktion entführen."

"Ich hab aber zuerst gefragt!"

Horo Horo und Yoh grinsten sich für einen Moment fröhlich an, bevor sich der junge Ainu wieder den Teigecken zuwandte und der junge Japaner weiter in dem Schubkasten umher wühlte. Ren errötete leicht und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper.

"Hey, ich dachte, ich wäre mehr als nur ein Sklave eurer Küche."

"Bei Schokolade werde ich zum Tier."

"Du kannst uns doch nicht einfach so verhungern lassen."

Horo Horo und Yohs große, bettelnde Augen ließen Ren schmunzeln und er ergab sich in sein Schicksal.

"Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier von Fresssäcken umgeben bin..."

"Hai?"

"Hai, was dann?"

"Dann hätte ich's wohl auch nicht ändern können, was?" Ren trat neben Yoh an die Schublade und fand in Sekundenschnelle, wonach der junge Japaner seit einigen Minuten suchte. Triumphierend hielt er die Formen in die Höhe, warf sie dann neben Horo Horo auf die Tischplatte.

"Ich hoffe, du kannst wenigstens mit dem Ofen umgehen, Yoh-kun."

"Anna hat's mir gezeigt." Der junge Japaner grinste und ergriff zwei Formen, ein Lämmchen und einen Kirschbaum, und stach die ersten Plätzchen aus, die er vorsichtig auf ein von Horo Horo bereits vorgefettetes Blech legte. Dort ging er dann zur Verzierung über. Beide hatten genügend Schokoladenstreusel und Nüsse in der Vorratskammer aufgetrieben, der Zuckerguss kam erst nach dem Backen und Abkühlen darüber. So hatte es Yoh zumindest im Kochbuch gelesen. Verzweifelte Köche wie sie hielten sich immer streng an das Rezept.

"Außerdem steht hier genau drin, auf wie viel Grad man den Ofen erwärmen muss und wie lange die Plätzchen backen müssen. Wird schon schief gehen." Der junge Japaner strich sich über die Stirn, hinterließ weiße Spuren dort, bemerkte es aber nicht einmal.

"Hauptsache, der Ofen knallt uns nicht um die Ohren." Horo Horo tastete nach weiteren Formen und erwischte einen Tempel und eine Kuh. Leise muhte er vor sich hin, bis sein ganzer Körper vor Kichern bebte, während er mehrere Plätzchen ausstach.

"Heute Abend gibt's für dich nur Gras." Stellte Ren sachlich fest und nahm sich ergeben selbst eine Form. "Kühe fressen nämlich keine Plätzchen."

"Echt?" Horo Horo wirkte besorgt, dann aber grinste er wieder selbstsicher. "Das mag vielleicht für Tokio Kühe zutreffen, aber ich komme aus dem Norden Japans, da werden Kühe nur mit Plätzchen gefüttert."

"Dummkopf."

"Gleichfalls."

Yoh lächelte und kümmerte sich um seine nächsten Bäume, die er vorsichtig auf dem Blech mit diversen Nusssorten verzierte. Ja, Anna würde sich sicherlich freuen, wenn sie nach Hause kam und mehrere Schüsseln voll leckeren Weihnachtsgebäcks vorfinden würde. Sie war die einzige, die neben Manta noch zur Schule gehen musste und sie tat Yoh ein wenig leid. Auch wollte er ihr den Stress abnehmen, selbst backen zu müssen, wo sie doch in nicht einmal mehr zwei Tagen noch mehr Besuch bekamen und Anna dann mit der Organisation des Abendbrotes und der Futonverteilung mehr als genug zu tun haben würde.

"Anna-san hat heute länger Unterricht, oder?" Horo Horo zog sein Stirnband zurecht, das ihm ins Gesicht zu rutschen drohte und verdrehte seine Augen, als Kororo im Nebenzimmer die Fernbedienung fand und den Fernseher sehr laut stellte. Mittlerweile kannten sie alle drei die Serie über die Geister im Tokyo Tower Hotel, die sich rasch von Basons auch zu Amidamarus und Kororos Lieblingssendung entwickelt hatte. Jeden Vormittag saßen die drei Geister nun vor dem Fernseher, und manchmal auch am Nachmittag, um sich die Wiederholung anzuschauen. Meistens ließen die Jungen die Geister ja auch in dem Fernsehzimmer in Ruhe, aber manchmal nervte sie die Titelmusik, die natürlich besonders laut gestellt wurde und die nun mittlerweile jeder von ihnen auswendig kannte.

"Dort, wo die Fontänen rauschen..." begann Horo Horo, den Text des düsteren Ansagers automatisch mitzusprechen.

"... und dem Gast, dem stockt der Schritt." Fiel ihm Yoh ins Wort, der von seinen Bäumchen und Schäfchen nicht aufzusehen brauchte. Er hatte den Vorspann schon mindestens fünfzig Mal gehört, er würde ihn wohl nie wieder vergessen. Aber er würde das jeden Tag gerne erdulden, wenn es die drei Geister glücklich machte.

"Wo des Nachts die Schatten hausen..."

"... und Naru-sama gleich mit."

Ren hörte den beiden nur halbherzig zu. Sein Blick war starr auf die Form in seiner zitternden Hand gerichtet, mit der er Plätzchen ausstechen sollte, es aber nicht konnte. Nicht, ohne die fröhliche Stimme in seinen Gedanken zu hören.

>Plätzchen backen macht einfach Spaß, Ren-chan.<

>Gar nicht wahr! Das ist langweilig!<

>Du hast es noch gar nicht versucht, woher willst du dann wissen, dass es langweilig ist?<

>Darum!<

>Ach, komm her. Hier, versuch's mal, das ist meine Lieblingsform.<

Juns Lieblingsform war die eines Drachen gewesen und obwohl er es nie laut zugegeben hatte, hatte er diese Nachmittage genossen, die sie in der Palastküche standen und Plätzchen backten. Ganz einfach so, als sei er kein mächtiger Erbe, sondern einfach nur ein kleiner Junge, der sich genauso wie alle anderen Kinder dieser Welt auf das kommende Weihnachtsfest freute. Jedes Jahr hatten sie zusammen gebacken und Ren wurde sich schmerzhaft bewusst, dass er dieses Jahr keine Plätzchen mit ihr backen würde, nie mehr die Gelegenheit hatte, irgendetwas mit ihr zu tun. Nie mehr...

Traurig starrte er auf die kleine Drachenform in seinen Händen und fühlte wieder den unangenehmen Kloß in seinem Hals.

Nein, er wollte jetzt nicht wieder trauern! Er war doch hier mit seinen besten Freunden, wollte mit ihnen Plätzchen backen und sehr viel Spaß haben, so, wie das seine Schwester sicherlich für ihn gewünscht hatte, und trotzdem... so einfach konnte er seine Gefühle nicht vor sich selbst verschließen. Nicht nach all dem, was in dem letzten Jahr passiert war...

Ich hab Jun nicht ein Mal gesagt, dass es mir Spaß gemacht hat.

Nicht ein Mal...

"Ren?" Yoh, der den Gemütswandel als erster in dem jungen Chinesen sah, brach den Vorspann ab und blickte den Jungen besorgt an. "Alles ok?"

"Ja..." Ren zwang sich zu einem Lächeln, von dem er wusste, dass es unecht, gequält wirkte. "Mich nervt nur diese Serie."

Es war eine Lüge, eine verdammt große, und Yoh wusste das auch, trotzdem ging er nicht darauf ein. Der junge Japaner ahnte, was in Ren vor sich ging, aber er wollte ihn zu nichts drängen. Aber er würde ihm zuhören, sollte der junge Chinese einmal jemanden zum Aussprechen brauchen.

"Schau mal, Ren-kun. Sieht die dir nicht ähnlich?" Im nächsten Moment wurde Ren ein Plätzchen in der Form einer Kuh unter die Nase gehalten. Die Nüsse waren ausgehöhlt und es wirkte, als würde die Kuh schielen. "Dein Ebenbild." Kicherte Horo Horo und ließ quietschend das Plätzchen zurück auf den Tisch fallen, als Ren in die Höhe schnellte und nach ihm packen wollte.

"Na warte, du Frechdachs!"

Seine gelben Augen glitzerten amüsiert, die Trauer war vergessen, im Moment zumindest. Yoh brachte das Blech in Sicherheit und lachte laut, als Horo Horo in seiner wilden Flucht nach dem Mehlkrug griff und das weiße Puder nach Tao Ren warf, der mit einem Mal eher wie ein Schneeball denn wie ein dunkler Schatten wirkte.
 

***
 

"Ein Glück, dass Anna erst in einer Stunde nach Hause kommt."

Yoh streifte sich sein Hemd vom Körper und steckte es zusammen mit den Kleidungsstücken der anderen zwei Jungen in die Waschmaschine. Dann suchte er angestrengt nach einem kleinen Zettel, der ihm verriet, wie viel und welches Waschmittel in die Maschine gehörte und welcher Waschgang und welche Temperatur die verräterischen Spuren von Mehl und Teig verschwinden lassen würden. Zufrieden seufzte er auf, als er ihn fand und stellte alles genauso ein, wie Anna es ihm gezeigt hatte. Glücklich strahlte er, als die Maschine auch wirklich zu rumpeln begann. Jetzt mussten sie sich nur noch selbst waschen und alle Folgen der Mehl- und Teigschlacht wären verwischt. Die Küche hatten sie bereits gesäubert und die Plätzchen backten im Ofen vor sich hin. In der Zwischenzeit hatte sich Yoh um das Badewasser gekümmert und glitt nun neben Ren und Horo Horo in das warme Wasser des Pools. Der Pool wurde von einer unterirdischen Quelle gespeist, die bereits ein wenig Wärme mit sich brachte. Genügend Wärme für den Sommer und im Winter brauchte man nicht all zu viel Heizung, um das Wasser auf eine angenehme Temperatur zu bringen. Yoh liebte es, hier einfach so zu liegen und zum Himmel hinauf zu schauen. Die Sonne ging gerade unter und die schneereichen Wolken glühten in ihrem rötlichen Licht. Wie friedlich es doch war, hier ein wenig außerhalb von Tokio.

Yoh seufzte glücklich und lehnte sich gegen den Rand des Pools. Dann schloss er seine Augen, ließ sich von dem Gespräch der anderen Jungen einlullen.

"Ich fass es noch immer nicht, dass du mit dem Mehl um dich geworfen hast. Mit dem Mehl!"

"Na und? Schließlich wolltest du mich auskrabbeln."

Yoh grinste müde. Er konnte Horo Horos Schmollen förmlich hören.

"Du hattest es verdient."

"Es wäre gegen meine Ehre als Weltmeister gewesen."

"Diesen Titel mach ich dir noch streitig."

"Wage es!"

"Und was?"

"Pah!"

"Dummkopf!"

"Baka!"

Sicherlich streckten sich beide gerade die Zunge heraus und zogen die kindlichsten Grimassen. Yohs Grinsen wurde breiter. Ja, so könnte es immer sein, mit diesen zwei Streithähnen um sich herum, im warmen Wasser sitzend und ihren Drohgebärden zuhörend, genau spürend, dass sie es nicht wirklich so meinten, damit lediglich unterschwellig ihre Freundschaft zum Ausdruck brachten.

"Hast du eigentlich deine Medizin schon genommen?" fragte Horo Horo nach einer Weile des Schweigens, in dem sich die beiden sicherlich bitterböse angefunkelt hatten, bis der junge Ainu wie immer grinsen musste. Nein, er konnte nicht zornig aussehen, wenn er in seinem Inneren lachte.

"Mach ich dann." Rens Stimme klang ein wenig verstimmt und Yoh spürte leichte Wellen um sich herum, vermutlich hatte der junge Chinese gerade seine Arme vor seinem Bauch verschränkt. Die Narbe sah noch immer sehr gerötet aus und Faust bestand darauf, dass er seine Medizin zu Ende nahm, was noch über zwanzig Pillen ausmachte, aber er brauchte sie nicht länger, um die Schmerzen zu unterdrücken. Deshalb vergaß er sie nun häufig und mehr als einmal musste der junge Ainu Ren daran erinnern.

"Nur weil deine Fäden gezogen wurde, solltest du nicht all zu übermütig werden." Horo Horos Stimme ließ auf einen strengen Gesichtsausdruck schließen. Ja, der junge Ainu war sich durchaus bewusst, dass der junge Chinese allmählich seine alte Stärke wieder erreichte und somit bald der mächtigere Schamane von ihnen sein würde, aber Rens Gesundheit ging vor, egal, wie toll der junge Chinese das nun fand - oder auch nicht.

Yoh lächelte in sich herein, als er Rens gemuffelte Antwort hörte.

"Schon gut, ich nehm's ja dann..."

Wieder herrschte Stille und Yoh spürte, wie die Geister sich zu ihnen gesellten. Vermutlich kam nichts Interessantes mehr im Fernsehen und sie wollten schuldbewusst nach ihren Herren sehen.

"Soll ich dir deine Haare waschen?" bot sich Horo Horo an und Yoh öffnete seine Augen gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Ren ein wenig errötete und abwehrend seinen Kopf schüttelte.

"Das kann ich auch allein." Meinte er wirsch und griff nach der Flasche am Poolrand. Er war sehr froh, dass er endlich wieder ein richtiges Bad nehmen durfte, nicht länger auf die anderen angewiesen war, wenn er sich dreckig oder einfach nur verschwitzt fühlte. Mit den Wochen wurde es besser und am Ende konnte er sich sogar selbst komplett waschen, bis auf die Nähte natürlich. Sogar das Haarewaschen ging viel einfacher und schmerzloser von statten.

Obwohl es ihm nicht wirklich etwas ausgemacht hatte, wenn ihm Horo Horo geholfen hatte, aber nun war er ja wieder gesund, es wäre ihm peinlich, seine Hilfe weiterhin in Anspruch zu nehmen.

"Soll ich ihn festhalten?" fragte Yoh und grinste über beide Ohren, als er sich langsam dem jungen Chinesen näherte, der die Flasche hoch über seinem Kopf hielt.

"Aber gerne doch." Auch Horo Horo schwamm nun auf Ren zu wie ein Hai, der sich seinem Opfer näherte.

"Wo bin ich denn hingeraten?" fragte der Chinese und seine rechte Augenbraue zuckte nervös. "Der eine will mich skalpieren und der andere ertränken."

"Ertränken! Pah! Ich bin nur ausgerutscht und habe mir weh getan!" empörte sich Horo Horo und sprang so plötzlich aus dem Wasser, dass Ren zu spät reagierte und der junge Ainu die Shampoo-Flasche aus seinen Händen reißen konnten.

"Du hast mir den ganzen Eimer auf einmal über den Kopf gegossen!"

"Ach was, du gibst sonst auch immer an, dass du so gut schwimmen kannst."

"Nicht bei fast vierzig Grad Wassertemperatur."

"Du bist soooo nachtragend."

"Und du tollpatschig."

Beide drehten sich um, als sie Yohs japsendes Lachen hörte. Der junge Japaner hielt sich den Bauch und deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf sie.

"Ihr hört euch an wie zwei alte Waschweiber." Kicherte er und schüttelte seinen Kopf, wobei die nassen Strähnen seines braunen Haares in sein Gesicht fielen.

"Wir?"

"Zwei alte Waschweiber?"

"Na warte!"

Ren und Horo Horo vergaßen ihren Streit und wateten langsam auf Yoh zu, der nun ihr gemeinsames Opfer war. Wie auf ein Kommando brachten sie ihre Hände in das Wasser und spritzten den jungen Japaner voll, der sich natürlich wehrte und eh sie sich versehen konnten, war die schönste Wasserschlacht im Gange. Yoh und Horo Horos Lachen füllte die frühabendliche Luft, während Ren nur stumm lächelte.

Ein fernes Klingeln ließ Yoh innehalten und nach Luft japsend hob er wehrend seine Hände, um der Fontäne vor sich Einhalt zu gebieten.

"Das ist die Eieruhr." Prustete er, als Horo Horo nicht sofort verstand und den jungen Japaner ein weiterer Wasserstrahl traf. "Ich seh mal lieber nach den Plätzchen."

Damit erhob er sich und griff nach seinem Bademantel, um ihn über seinen vor Nässe triefenden Körper zu werfen.

"Sollen wir mitkommen?" Ren beugte sich bereits über den Rand nach dem dunklen Stoff, als Yoh seinen Kopf schüttelte.

"Lieber nicht, sonst verursachen wir die zweite Sintflut in der Küche. Falls ich Hilfe brauche, schick ich Amidamaru zu euch." Yoh winkte zu den Geistern, die ihm sofort geschlossen folgten. Sie wollten doch auch wissen, ob die Plätzchen gelungen waren.

"Dann auf zum Haarewaschen." Kaum war Yoh im Hausinneren verschwunden, hatte Horo Horo Rens Schultern gepackt und ihm vom Rand fortgeschoben. Der junge Chinese, der den Angriff nicht erwartet hatte, verlor sein Gleichgewicht und fiel nach hinten über, direkt auf Horo Horo. Beide gingen unter und nach einigem Kampf kamen sie prustend wieder an die Wasseroberfläche zurück.

"Du gibst wohl nie auf, was?" Ren strampelte mit beiden Armen um sich und holte tief Luft, als Horo Horo ihn wieder unter Wasser drückte, ihn sofort aber wieder los ließ. Schließlich wollte er ihn nur ärgern, nicht wirklich ertränken.

"Nö. Ist dir das noch nie aufgefallen?" Horo Horo grinste den jungen Chinesen an, der vor ihm wie ein nasser Hund auftauchte.

"Na warte!" Ren stürzte sich auf den jungen Ainu und wieder waren sie in die schönste Wasserschlacht verwickelte. Der junge Chinese wusste, dass er kräftiger als Horo Horo war, auch wenn er die letzten Wochen krank im Bett beziehungsweise auf den Kissen im Fernsehzimmer gelegen hatte. Es wäre eine Leichtigkeit für ihn, den jungen Ainu zu bezwingen, aber irgendwie wollte das Ren nicht mehr. Es war viel lustiger, das triumphale Lächeln auf Horo Horos leicht gerötetem Gesicht zu sehen, wenn er scheinbar die Oberhand gewann und sich damit im kindlichen Stolz mit seinem Weltmeistertitel brüstete.

"Siehst du?" Horo Horo schnappte nach Luft, als er Ren vorsichtig gegen den Rand drückte. Auch er nutzte seine Kräfte nicht wirklich, für ihn war das alles auch nur ein Spiel, ein großer Spaß. "Du hast keine Chance gegen mich."

"Ich armes Würmchen."

"Genau."

Horo Horo grinste breit, bevor er sich auf Rens Knie setzte, damit dieser nicht entkommen konnte. Entschlossen ergriff er die Shampooflasche, die gemütlich über das Wasser trieb, und Ren schloss ergeben seine Augen, als er die kalte Flüssigkeit in seinen dunklen Haaren spürte.

"Sei sanft." Murmelte er und lächelte, als die Finger kurz in seinen Strähnen verharrten.

"Bin ich doch immer." Kam prompt die Antwort, leise gekichert.

"Das habe ich gerade gemerkt."

"Dann hast du keine Ahnung von meinem wahren Wesen, sonst würdest du dankbar sein für dieses Haarewaschen."

"Sicher?"

"Ganz sicher." Horo Horo gluckste und im nächsten Moment riss Ren seine Augen auf, als er die eisige Kälte in seinem Nacken spürte. Er brauchte nicht zu fragen, er wusste auch so, dass der Schneeball, der langsam seinen Rücken herab rutschte und im warmen Wasser schmolz, nur dem jungen Ainu gehören konnte.

"Du hinterhältiger Schneemann!" zischte er mit gespielt wütender Miene und zog blitzschnell seine Beine an, so dass Horo Horo auf seinen Schoss rutschte, von Rens Knien gefangen genommen wurde. "Das wirst du bereuen!" Rens Hände fanden Horo Horos Seiten und im nächsten Augenblick lachte der junge Ainu um Vergebung.

"Ren! Nicht! Das KRABBELT!" Horo Horo japste nach Luft und versuchte, sich gegen den jungen Chinesen zu wehren, obwohl er genau wusste, dass er keine Chance hatte, wenn er so herzhaft lachen musste. Wieso war er auch nur so kitzelige? Und wieso musste das Ren jedes Mal so schamlos ausnutzen? "Ich bin doch hier der Weltmeister."

"So?"

"WAHA! REN!" Horo Horo griff nach Rens Händen und zog sie fort von seinem kichernden Körper, wissend, dass ihm das nur gelang, weil der junge Chinese Gnade walten ließ. "Ich bin ja schon wieder artig."

"Sicher?" Ren hob seine rechte Augenbraue und blickte in blaue Augen, in denen Lachtränen glitzerten. "Kann mich an keine einzige Sekunde erinnern, in der du artig warst."

"Als ob du besser wärst."

"Das hab ich auch nie behauptet."

"Oh, du..."

"Willst du mich wirklich wieder angreifen?" Ren grinste hinterhältig und Horo Horo schüttelte rasch seinen Kopf, wobei die blauen Haare, die nun nicht mehr von seinem Stirnband zurück gehalten wurden, lose in seine Stirn hingen. Er packte Rens Hände stärker und zog diese bis zum Rand des Pooles, so dass sie direkt neben Rens Kopf links und rechts an der Mauer lehnten. Aber Horo Horo gab sich bei dieser scheinbar ergebenen Haltung nicht der Illusion hin, dass er der Sieger wäre. Eine falsche Bewegung und er würde wieder ausgekrabbelt werden, das war sicher.

Ausgekrabbelt.

Nicht getötet...

Horo Horo wurde sich erst jetzt bewusst, dass er auf Ren saß, den warmen Körper unter sich spüren konnte.

Er ist ganz weich...

Noch vor zwei Monaten hätte er sich in dieser Pose wie ein Gefangener gefühlt, der zum Schafott geführt wurde, denn damals hätte Ren ihn ohne zu zögern erwürgt und nicht einfach nur ein wenig gekitzelt und trockene Witze gerissen. Heute aber... ja, heute fühlte sich der junge Ainu sicher in dieser seltsamen Umklammerung. Sicher und geborgen...

Horo Horo spürte, wie sich seine Wangen röteten und wusste, dass dies nicht an der warmen Wassertemperatur lag.

"Hast du jetzt aufgegeben, Schneemann?" fragte Ren spöttisch und ließ seine Finger zwischen Horo Horos gleiten, um ihm zu zeigen, dass er nicht das Opfer war, auch wenn er im Moment zu unterliegen schien. "Gegen mich kommst du sowieso nicht an."

"Das will ich auch nicht..." Das Grinsen war von Horo Horos Gesicht verschwunden, hatte einem eigenartigen Ausdruck Platz gemacht, den Ren nicht so recht deuten konnte.

"Horo-kun?" fragte der junge Chinese und richtete sich ein wenig auf, um kein Wasser in den Mund zu bekommen. Horo Horo reagierte nicht, fragte nicht sofort nach seiner Narbe, die bei dieser Bewegung ein klein wenig schmerzte.

"Hey, Erde an Schneemann, alles klar? Oder schockt dich die Vorstellung so sehr, dass ich schneller bin als du?"

Wieder antwortete der junge Ainu nicht, sondern lehnte sich leicht vor, bis sich ihre Nasen beinahe berührten. Der Griff um Rens Finger verstärkte sich und für den Bruchteil einer Sekunde kam sich der junge Chinese doch wie der Verlierer des Kampfes vor, obwohl er schon lange nicht mehr wusste, worum sie tatsächlich gefochten hatten. Panik hätte in ihm emporsteigen sollen, tat es jedoch nicht. Er wusste, das Horo Horo ihm nicht weh tun würde. Wenn er wirklich noch sauer auf ihn gewesen wäre wegen dem Vorfall in den Herbstferien, so hätte er seine Rache an ihm verübt, während Ren noch krank und schwach auf seinem Futon gelegen hatte.

Nein, das hier war keine Revanche, aber genauso schien es kein Spiel mehr zu sein wie noch vor wenigen Minuten.

"Horo-kun?"

Was macht er da?

Der junge Ainu starrte ihn stumm an, bevor er seinen Kopf herab senkte und sein Gesicht an Rens Schulter vergrub. Seine Finger lösten sich von Rens und im nächsten Augenblick spürte der junge Chinese zwei ihm mittlerweile so vertraute Arme, die sich langsam um seinen Oberkörper schlangen, ihn fest hielten, als sei er die einzige Rettungsleine in Horo Horos stürmischem Leben. Bewegungslos verharrte der junge Ainu in dieser Pose und seufzte nur leise.

"Horo-kun?"

Erneut erhielt Ren keine Antwort, wusste selbst nicht, wie er nun reagieren sollte. Horo Horo wegzustoßen wäre kein Problem für ihn, aber er tat es nicht. Warum konnte er sich selbst nicht so recht erklären.

Weshalb umarmt er mich?

Es konnte nicht daran liegen, dass der junge Ainu glaubte, dass Ren frieren würde. Seit der Nacht vor Nikolaus hatte sich Horo Horo so manches Mal rotzfrech an den sich abweisend verhaltenen Chinesen angekuschelt, wenn er spürte, dass dieser fror. Aber das Wasser im Pool war warm.

Will er mich trösten, weil ich vorhin den Drachen so traurig angeschaut habe?

Dennoch erschien Ren die Zeitspanne ein wenig unlogisch, denn der Vorfall hatte sich vor über zwei Stunden ereignet.

"Sie sind gelungen!" Die Tür wurde aufgeschoben und Yoh kam über die glitschigen Steine gerannt. Er hielt einen Teller in seinen Händen und grinste genauso zufrieden wie die Geister, die ihm folgten. "Diese Plätzchen sind absolut perfekt!"

Horo Horo strampelte mit einem Mal und Ren ließ ihn frei, woraufhin der junge Ainu sich ungefähr einen Meter weit von ihm entfernte, mit hochrotem Gesicht zu Yoh hinauf blickte, der ihnen triumphierend den Teller entgegen hielt. Vermutlich war er so stolz auf sein Meisterwerk, dass er die seltsame Stille zwischen ihnen gar nicht bemerkte.

"Jetzt fehlt nur noch die Glasur obendrauf und alles ist fertig. Anna wird begeistert sein." Yoh führte einen seltsamen Freudentanz vor dem Pool auf, bevor er sich zu den beiden Jungen im Wasser herab beugte und jedem ein Plätzchen in den Mund schob.

"Die sind doch absolut köstlich, oder?"

"Ich denke schon, ich mag ja nichts Süßes." Meinte Ren, nachdem er auf einem Lammkopf herumgeknabbert hatte. "Aber sie riechen gut."

"Nicht wahr?" Yoh strahlte ihn an und stellte den Teller auf die Fließen, um nach einem Handtuch zu greifen und sich dieses um die noch immer nassen Haare zu schlingen.

"... ok..." murmelte Horo Horo, der sich für etwas zu schämen schien, von dem Yoh nichts wusste und das auch Ren nicht begriff.

"Dann beeilt euch, dann schaffen wir's noch, bis Anna zurück ist." Yoh trällerte die Melodie der Tokyo Tower Hotel Serie vor sich hin, als er zurück in das Haus tanzte, den Teller wie eine Trophäe vor sich haltend.

"Ja klar." Ein Außenstehender hätte vielleicht geglaubt, dass Yoh so viel Angst vor Anna hatte, dass er das manchmal sehr einsilbig und wütend wirkende Mädchen mit den Plätzchen besänftigen wollte. Ren kannte die beiden aber mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass Yoh seine Anna liebte und ihr damit einfach nur eine Freude machen wollte.

Der junge Chinese tastete in seine Haare, in denen auch nach der Wasserschlacht noch immer Shampoo klebte und blickte hinüber zu Horo Horo, der auf sein Plätzchen, einen kleinen Drachen, starrte, als wäre es das Interessanteste, was er jemals in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte.

Oder war er es, der Trost gesucht hat?

Nur, warum?

Ren zog fragend seine Augenbrauen in die Höhe, entschied sich dann aber dagegen. Er konnte Horo Horo auch später fragen, jetzt galt es erst einmal, Yoh beim Glasieren der Plätzchen zu helfen, alles andere hatte auch Zeit bis heute Abend.

"Horo-kun?"

Der junge Ainu zuckte sichtlich bei dem Klang seines Namen zusammen und blickte mit erstaunten Augen auf den kleinen Eimer, den ihm Ren entgegen hielt.

"Kannst du mir mit dem Shampoo helfen?"
 

***
 

Es war weit nach Mitternacht, als Horo Horo mit gemischten Gefühlen die Stufen empor stieg. Anna, die sich trotz ihrer sonst so kühlen Art sichtlich über die Plätzchen gefreut hatte, war zeitig auf ihrem Zimmer verschwunden, denn sie schrieben morgen, am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien, noch eine wichtige Mathearbeit, für die sie hatte noch lernen müssen. Manta, Yoh, Ren und er hatten darauf hin noch eine weitere Runde Monopoly gespielt, denn ohne Anna bestand die Möglichkeit, dass man auch einmal gewinnen konnte und nachdem Manta nach Hause gegangen und die anderen zwei zu Bett gegangen waren, hatte Horo Horo noch einen Krimi angeschaut, ohne den Inhalt überhaupt wahr zu nehmen. Obwohl er den Dialogen der Schauspieler ganz genau lauschte, konnte er während der Abspann lief nicht sagen, wer denn nun der Mörder gewesen war. Seine Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher und blieben immer an einer Person hängen: An Tao Ren. An dem Jungen, der einst, neben Hao natürlich, sein ärgster Feind gewesen war, der über die letzten Wochen sein bester Freund geworden war und den er...

Ich mag ihn!

Horo Horo spürte wieder diese unangenehme Wärme in seinen Wangen aufsteigen und seufzte tief. Es machte alles keinen Sinn, absolut keinen Sinn. Er verstand sich selbst nicht mehr, besonders nicht mehr nach diesem seltsamen Ausbruch im Pool. Hätte Ren ihn gefragt, nachdem Yoh wieder im Haus zu seinen Plätzchen verschwunden war, Horo Horo hätte ihm nicht recht erklären können, warum er sich so plötzlich an den jungen Chinesen geklammert hatte, der ihn vor nicht einmal zwei Monaten noch hatte erwürgen wollen.

Bin ich jetzt vollkommen bescheuert?

Der junge Ainu wusste es nicht, aber er ahnte, dass er sich mit Ren aussprechen musste, egal, wie verworren dieses Gespräch auch werden würde. Er hatte nur absolut keine Ahnung, wie man so ein Gespräch begann, noch wusste er, wo er den Mut hernehmen sollte. Natürlich, Ren zu sticheln, sich mit ihm im Scherz zu streiten, das war die eine Seite, aber ernsthaft mit ihm über so ein Thema zu reden... das war etwas völlig anderes!

Wie konnte es nur passieren, dass er mir so wichtig wurde?

Horo Horo schob leise die Tür auf und blieb für einige Momente regungslos im Rahmen hocken. Der junge Chinese lag wie erwartet auf seinem Futon und schlief. Er hatte die Decke von sich gestrampelt und hielt einen alten, abgenutzten Stoffteddy fest in seinen Armen. Sein Gesicht sah sehr friedlich aus, beinahe weich.

Bin ich jetzt total durchgedreht, wenn mir bei diesem Anblick nur das Wort >kawaii< einfällt?

Horo Horo seufzte unterdrückt, bevor er die Tür vorsichtig hinter sich schloss und hinüber zu seinem Futon kroch, der neben Rens lag. Er hatte ihn selbst dort hin geschoben, als sie einen Tag nach Nikolaus zurück in dieses Zimmer zogen, da Yoh gesund genug war, wieder sein eigenes Reich zu bevölkern. Ren hatte den jungen Ainu nur schweigend angesehen, sich aber nicht dagegen gewehrt. Horo Horo ahnte, dass sich der junge Chinese in seiner Gegenwart nicht mehr so allein fühlte. So allein, wie sich Horo Horo einst gefühlt hatte, als seine Eltern starben und er immer wieder in das Zimmer seiner kleinen Schwester huschte, um mit ihr in seinen Armen Trost und endlich ein wenig Schlaf zu finden.

Dass Ren ähnliche Alpträume wie ihn damals heimsuchten, ahnte der junge Ainu und war einfach da, wenn der junge Chinese Gesellschaft brauchte. Dabei versuchte Horo Horo immer eine Art großer Bruder für Ren zu sein, so wie er das immer für seine Pirika-chan gewesen war. Nur irgendwie gelang ihm das nicht. Nicht wirklich.

Bin ich bekloppt, wenn ich ihn mag? Ausgerechnet ihn?

Horo Horo zog seine Hausschuhe aus und schlüpfte gleich im Trainingsanzug unter seine Decke. Seine normale Kleidung, besonders sein weißer Pullover, befand sich noch immer in der Waschmaschine und Horo Horo hoffte, dass Anna das grausame Pink wieder heraus bekam, das sich in seinen Pullover gefärbt hatte, weil Yoh all ihre Kleidungsstücke zusammen in die Maschine stopfte, Rens schwarze Hose gleich mit dazu.

Der junge Ainu ergriff Rens Decke und zog sie dem jungen Chinesen bis zum Hals. Ren reagierte nicht, sondern hielt nur seinen Teddy stärker in seinen Armen. Dabei ahnte Horo Horo, dass der junge Chinese zu einem starken Kämpfer erzogen worden war, normalerweise bei der kleinsten Bewegung erwachte. Vermutlich wusste Ren jedoch, dass ihm in diesem Haus keine Gefahr drohte und schlief deshalb so tief und fest.

Vertraut er mir?

Horo Horo löschte das Licht und legte sich in der Dunkelheit auf seinen Futon, knetete das Kissen, bis sein Kopf bequem lag.

Vertraue ich mir denn selbst?

Er wusste selbst nicht so genau, was in dem Pool vorgefallen war, aber es hatte sich gut angefühlt, so verdammt gut, sich an den jungen Chinesen zu kuscheln, in dem warmen Wasser einfach nur in seiner Nähe zu sitzen. So, wie es sich jetzt gut anfühlte, wie sich Ren auf seinem Futon ein wenig drehte und seinen Kopf gegen Horo Horos linken Arm lehnte.

Ja, ich bin total verrückt.

Horo Horo schloss seine Augen, obwohl er ahnte, dass er diese Nacht nicht besonders viel Schlaf finden würde.

Ich mag diesen Idioten.

Sogar sehr...
 

***
 

"Jingle bells, jingle bells, jingle all the way."

Yoh hüpfte fröhlich durch das gesamte Haus und verteilte Weihnachtsschmuck auf jedem Fensterbrett, auf jeder Kommode und jedem Schrank. Der große Baum würde erst morgen ausgesucht, mit allen gemeinsam, denn Lyserg und Chocolove würden morgen Mittag auf dem Tokioer Flughafen ankommen, während Pirika in den Abendstunden mit dem Zug die Stadt erreichen würde. Zu derselben Zeit wollte auch Ryu eintreffen. Dann könnten sie sich zusammen aufmachen und eine Tanne finden, die ihnen allen zu sagte und die sie alle gemeinsam schmücken würden.

Yoh wusste, dass das Weihnachtsfest keine japanische Tradition war, sondern eine europäische, die sich jedoch langsam in Japan durchzusetzen drohte. Zumindest bei der jüngeren Generation, die zwar nicht christlich religiös war, jedoch nichts gegen ein weiteres Fest hatte, bei dem man Geschenke erhielt und, was Asakura Yoh am wichtigsten war, an dem man seine Familie und all seine Freunde um sich herum versammeln konnte.

Das Neujahrsfest war dann schon wieder traditionsreicher und für es hatten die Schüler eigentlich Ferien bekommen, obwohl es keinen Schüler wirklich kümmerte, wofür er frei hatte, Hauptsache, er musste in den nächsten Tagen nicht zur Schule.

"... oh what fun it is to ride in a one horse open sleigh..."

Yoh grinste breit, während er an dem Wohnzimmer vorbei tanzte, in dem sich Ren und Horo Horo zurück zogen, nachdem die Geister wieder die Fernbedienung belagert und sie bettelnd angeschaut hatten. Die beiden saßen am Tisch und bastelten konzentriert an einigen Kerzenständer, deren Hälse abgebrochen oder die anderweitig beschädigt waren. Nun, eigentlich bastelte nur Ren und Horo Horo sah ihm schweigend zu, reichte ihm ab und an den Leim, so wie eine Schwester dem Doktor die Pinzette gibt, der sich gerade in einer komplizierten Operation befindet.

"Kriegt ihr's hin? Ansonsten bringen wir einfach einen neuen mit, wenn wir morgen zum Flughafen fahren." Yoh schaute kurz ins Wohnzimmer und Horo Horo kicherte, als er das Lametta sah, das um dem Hals des jungen Japaners hing wie ein zweiter Kopfhörer.

"Es wird schon halten." Ren blickte nicht einmal auf. "Aber ich würde ihn nicht unbeobachtet lassen, nicht, dass uns die Bude abbrennt."

"Geht klar." Yoh verschwand für einige Augenblicke und sie beide hörten ihn auf dem Dachboden kramen. Die Asakuras waren nicht nur eine alte Schamanendynastie, die berühmt für ihre starken Nachkommen war, sondern sie schienen auch berüchtigt zu sein, dass sie selten etwas weg warfen und auf ihrem Dachboden ein kleines Universum aus alten, unbebrauchten Möbeln und dergleichen horteten.

"Jingle bells, jingle bells..." Keine zehn Sekunden später gesellten sich Yoh wieder zu ihnen. Zumindest schien er das Chaos auf seinem Dachboden zu kennen, denn was immer er suchte, er fand es innerhalb kürzester Zeit.

Nur das Genie beherrscht das Chaos.

Horo Horo wünschte, dass dies auch auf sein Zimmer in seiner Heimat zutreffen würde, denn wenn er einmal etwas suchte, dann suchte er richtig - manchmal mehrere Tage lang, meistens ohne Erfolg.

"Was machst du?" Der junge Ainu beobachtete Yoh, wie er sich einen Stuhl aus der Küche holte und darauf stieg, um auf dem Flur etwas an der Decke zu befestigen.

"Anna hat da so ein Buch über Weihnachtstraditionen." Grinste der junge Japaner und hantierte mit einer so großen Schere, dass es Horo Horo schlecht wurde. Wenn Yoh jetzt von dem kippeligen Stuhl fiel, würde er sich sicherlich ernsthaft verletzen - und Anna würde sie alle rösten. Also sprang er auf seine Beine und lief zu Yoh hinüber, um die Stuhllehne zu umgreifen und dem Jungen genügend Halt und Sicherheit zu geben.

"Arigatou." Yoh streckte sich noch ein wenig mehr, dann war seine Arbeit getan. Horo Horo legte seinen Kopf in den Nacken und betrachtete das Gestrüpp, das nun über ihnen unscheinbar an der Decke hing.

"Was ist das?" fragte er, denn er kannte kaum irgendwelche Weihnachtsbräuche. Sein Dorf im hohen Norden hatte so seine eigenen Traditionen, man brach nicht gern mit ihnen.

"Ein Mistelzweig." Yoh grinste noch breiter. "Wenn zwei Personen drunter stehen, müssen sie sich küssen. Ist Brauch."

Horo Horo hob zweifelnd beide Augenbrauen und wurde rot, als Ren kurz aufsah, sie beide für einen Moment betrachtete, dann aber den Leim in seine Hand nahm und sich wieder über den Kerzenständer beugte.

"Jeden, Yoh-kun? Ich glaub nicht, dass das allen Leuten hier gefallen dürfte." Murmelte er und wischte ein wenig Leim fort, der aus dem Holz floss.

"Keine Bange, da müssen sich nur Leute küssen, die sich mögen." Yoh zuckte seine Schultern und schleppte den Stuhl zurück in die Küche, während Horo Horo noch immer ungläubig zu dem Mistelzweig empor schaute.

Jemanden küssen, den man mag?

Den man mag...

"Kannst du da Anna nicht einfach um einen Kuss bitten? Schließlich seid ihr verlobt." Rens Stimme hörte sich hohl in Horo Horos Ohren an, während er den grünen Zweig noch immer hypnotisierte. Yohs Lachen klang noch ferner.

"Da hast du mich wohl ertappt, Ren." Kicherte Yoh und kratzte sich am Hinterkopf, eine Geste, die er immer tat, wenn er verlegen war. "Aber manche Sachen sind nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Außerdem ist es ihr Buch, warum soll ich mir da nicht ein paar Traditionen raussuchen?"

Ren hielt den Kerzenhalter gegen das Licht und war ganz zufrieden mit seinem Werk. Nun musste der Leim noch aushärten, dann könnten sie wieder eine Kerze anzünden.

"Mir soll's recht sein, Yoh-kun, mich betrifft das ja eh nicht." Meinte er leichthin und schaute sich in dem kleinen Berg neben seinem Kissen um, ob er noch etwas anderes fand, das Yoh kaputt auf dem Dachboden entdeckte und das er mit ein wenig Leim und Geschick wieder reparieren konnte. Nach einigem Suchen beförderte er einen Engel hervor, dessen Arme abgebrochen waren. Na, das würde Doktor Ren doch sofort heilen!

Mich betrifft das ja eh nicht.

Horo Horo stand noch immer wie gelähmt im Flur und fühlte, wie sein Nacken allmählich steif wurde vom langen Hinaufstarren. Aber er konnte von dem grünen Mistelzweig einfach nicht fort sehen, konnte sich einfach nicht mehr zurück in das Wohnzimmer setzen.

Den man mag...

Yoh lief zwei Mal mit weit ausgebreiteten Armen, zwischen denen eine silberne Girlante hing, an dem jungen Ainu vorbei und auch Ren schien seine Abwesenheit gar nicht zu bemerken, so konzentriert arbeitete er mit der kaputten Engelsfigur. Horo Horo war dies ganz recht so. Langsamen Schrittes, noch immer wie hypnotisiert, ging er zur Garderobe und tastete nach seinen Stiefeln.

"Gehst du Schnee schippen?" fragte Yoh von irgendwo im ersten Stock herunter und ein silberner Streifen segelte herab, als Horo Horo in seine Jacke schlüpfte.

"Hai..." murmelte er und zog die Tür hinter sich ins Schloss, als er Yohs Stimme erneut Weihnachtslieder singen hörte. Die fröhliche Stimmung mochte sich nicht auf ihn übertragen, zu sehr schwirrten seine Gedanken in seinem Kopf. Schneeschippen würde ihm da gerade recht sein, um ihn wieder ein wenig klarer zu bekommen.

Jemanden küssen, den man mag...

"Jingle bells, jingle bells, jingle all the way."
 

***
 

Ren hatte das Gefühl, nicht für das Weihnachtsfest geschaffen zu sein. Zumindest nicht für ein Weihnachtsfest bei den Asakuras. Wenn er geglaubt hatte, dass nur Yoh so verrückt war und den ganzen Tag laut singend durch das Haus streunte, um überall bunte Girlanten und Mistelzweige zu verteilen, so hatte er sich geirrt. Manta war beinahe noch schlimmer, besonders, da er keinen einzigen Ton halten konnte und nebenbei auch noch Weihnachtsmusik auf seinem Computer spielen ließ. Und Anna, nun, sie verkroch sich in der Küche und bereitete das Weihnachtsessen vor. Das Weihnachtsessen! Weihnachten würde erst in drei Tagen sein! Morgen kamen die anderen, übermorgen wollten sie zusammen Schlittschuhfahren gehen und dann würde erst groß gefeiert. Aber sie sagte etwas von einem Pudding, der so lange brauchte, also fragte er nicht weiter und ließ sie allein. Genauso, wie er sich vor Yoh und Manta zurück zog. Dieses Chaos wuchs ihm allmählich über den Kopf, besonders, da sich neben ihre Stimmen noch eine andere in seinen Gedanken hinzu gesellte. Eine helle Frauenstimme...

Jun hätte hier ihre wahre Freude gehabt. Sie war genauso verrückt auf Weihnachten wie Yoh-kun und die anderen.

Deswegen wusste Ren auch nicht, wie er mit diesem Fest umgehen sollte, da ihn fast jedes Lied, beinahe jede brennende Kerze an seine große Schwester erinnerte, die dieses Weihnachten nicht mehr miterleben durfte...

Ren schluckte hart und warf sich seinen Mantel über. Bason blickte er kurz streng an und der Geist verschwand zurück in das Wohnzimmer, in dem der Computer laut vor sich hindudelte, begleitet von Mantas schiefer Stimme. Ren brauchte jetzt seine Ruhe, sollte der Geist sich hier ein wenig amüsieren, wenn das sein Herr schon nicht konnte.

Die eisige Luft tat ihm gut und er atmete tief ein, um seinen dröhnenden Kopf von den traurigen Erinnerungen zu befreien. Ren bückte sich und ließ den frisch gefallenen Schnee durch seine Finger rieseln. Es begann kurz nach dem Mittag wieder zu schneien und schien gar nicht mehr aufzuhören.

Es ist so wunderbar still...

Ren trat fort von dem Haus, blieb auf dem verschneiten Hof stehen und schloss seine Augen. In der Nacht fürchtete er sich genau vor dieser Stille, in der er sich immer so einsam fühlte. Aber gerade jetzt war sie ein Segen, hüllte ihn ein, bis nichts mehr von ihm übrig blieb. Der Schnee fiel auf sein Gesicht, in seine Haare, auf seinen Mantel, schien ihn unter sich zu begraben, schien die Trauer und die Verzweiflung zu bedecken, die er manchmal nicht mehr unterdrücken konnte.

Nein, er wollte den anderen ihre fröhliche Weihnachtsstimmung nicht verderben, aber er konnte sie nicht teilen, dafür war es noch zu früh. Dafür würde vielleicht nie die Zeit reif sein. Es war einfach zu viel von ihm verlangt, mit ihnen zu singen und zu lachen, wenn ihm in seinem Herzen nach Weinen zumute war.

Leichter Wind fuhr durch seine schwarzen Haare und er hob seine rechte Hand zu seinem Nacken. Sie waren länger geworden, er sollte im neuen Jahr wieder den Friseur aufsuchen. So, wie er versuchen würde, in ein ganz normales Leben zurück zu kehren, von dem er nicht wusste, ob er stark genug war, es zu führen. Sicherlich, er war der stärkste Schamane ganz Chinas, stand wohl auf Platz zwei des Shaman Fights gleich hinter Asakura Yoh, aber das Kämpfen mit Messern, mit einer Sense, mit Bason als Unterstützung, das war etwas ganz anderes, als in einer Schulklasse zu stehen und sich dreißig neugierigen Mitschülern zu stellen. Er hatte noch nie eine öffentliche Schule besucht, wusste gar nicht, wie man sich dort zu benehmen hatte. Was war, wenn er sich bis auf die Knochen blamierte? Oder, was ihm tausend Mal schlimmer erschien, wenn ihn jemand ärgerte und sein Killerinstinkt durch ging? Yoh hatte zwar versprochen, immer auf ihn aufzupassen, aber auch er konnte nicht jede Sekunde bei ihm sein!

Horo Horo wird dann auch in seine Heimat zurück kehren.

Ren tat dieser Gedanke sogar am meisten weh. Denn egal, wie sehr seine neuen Mitschüler ihn missverstanden, sie waren nicht seine Freunde. Der junge Ainu dagegen schon. Er war sein bester Freund geworden. Was war, wenn die Freundschaft der Trennung nicht stand hielt? Wenn Horo Horo vergaß, dass sie sich hier so gut verstanden hatten? Würde ein Telefonat ausreichen, um das, was zwischen ihnen entstanden war, aufrecht zu erhalten? Konnte er überhaupt von Freundschaft reden, wenn es das nicht tat?

Wieso mach ich mich wegen so was fertig?

Yoh-kun und Anna-san sind hier für mich. Sie wollen meine Familie sein.

Was ist, wenn ich nicht würdig bin, ihr Bruder oder ihr Schwiegerbruder zu sein? Was mach ich, wenn ich mich nicht ins normale Leben fügen kann, sie mich nicht mehr hier haben wollen? Was...

"Ren-kun?"

Der junge Chinese zuckte heftig zusammen, als er plötzlich die Gestalt vor sich sah, die aus dem Schneetreiben auf ihn zu stapfte. Horo Horo trug die große Schaufel auf seiner Schulter und seine Jacke war über und über mit Schnee bedeckt. Er schien hart gegen die stetig fallenden Flocken zu kämpfen, jedoch ohne großen Erfolg. Keine halbe Stunde, nachdem er einen Weg freigeschaufelt hatte, war er bereits wieder zugeschneit. Es war eine Sissifußarbeit, aber er hatte sie die letzten Stunden über gern getan, schließlich konnte er dabei nicht nur in aller Ruhe nachdenken, sondern durfte sogar in seinem Lieblingselement umher wühlen.

"Was machst du hier draußen? Du verwandelst dich ja langsam in einen Schneemann." Horo Horo stellte die Schaufel mit einer entschlossenen Bewegung in den weißen Berg neben sich und klopfte den Schnee von Rens Mantel, der sich bereits sehr feucht anfühlte.

"Wohl dasselbe wie du." Ren lächelte schwach und deutete zurück zu dem Haus, das im Dämmerlicht des dahinweichenden Tages hell leuchtete. "Manta-kun singt jetzt, das halt ich einfach nicht mehr aus."

"Aber er singt doch mit so viel Begeisterung."

"Deswegen schippst du wohl auch lieber Schnee."

"Na ja, sie haben ihn nicht ohne Grund beim Schulchor abgelehnt, aber weder Yoh-kun noch Anna-san bringen es übers Herz, ihm das Singen zu verbieten, wo es ihm doch so viel Freude bereitet." Horo Horo zuckte seine Schultern und betrachtete Ren für einen Augenblick schweigend. "Aber keine Bange..." fuhr er schließlich fort und bückte sich, um einen Schneeball zu formen. Bei den weißen Massen um sich herum musste er wirklich kein neues Eis erschaffen. "... bald wird er es müde sein und nur noch der Musik lauschen. Bis dahin..:" Er zielte und schoss, woraufhin der Schneeball direkt auf Rens dunklem Mantel landete.

"... können wir die Zeit ja mit Sinnvolleren Dingen verbringen."

"Ah, du meinst, mit einem kleinen Wettkampf?" Rens gelbe Augen glitzerten amüsiert, als er sich ebenfalls bückte, aber er kam nicht weit, denn Horo Horo hatte sich bereits auf ihn gestürzt und weichte ihn ein, wohl wissend, dass er dieses Mal keine Schmerzen verursachen würde, Ren war fast wieder kerngesund. Der junge Chinese lachte, als er das kalte Element in seinem Kragen spürte und sprang auf, um vor einem laut kichernden Horo Horo quer über den Hof und in den Garten zu laufen. Hier war der Schnee tiefer, denn der junge Ainu hatte hier nicht seine Schippkünste angewandt, aber das störte sie beide nicht. Abwechselnd bewarfen sie sich mit Schneebällen und liefen um mehrere verschneite Kirchbäume herum, deren Äste gefährlich schwankten, wenn ein Ball mal daneben ging und gegen den dunklen Stamm prallte.

"Du kriegst mich nicht." Rief Ren und sprang über einen kleinen Teich, der nun unter einer dicken Eisschicht begraben lag.

"Wetten?" Horo Horo streckte ihm seine Zunge heraus, bevor ein wahrer Hagel aus Schneebällen auf den jungen Chinesen herab rieselte. "Dies ist noch immer mein Element, Tao-san, in ihm wirst selbst du mich nicht besiegen."

"Warten wir's ab."

"Genau!"

Horo Horo duckte sich und prustete, als ihn ein zweiter Ball mitten ins Gesicht traf.

"Das schreit nach Rache." Grinste er und packte seine Arme voll Pulverschnee. Der Wind half ihm und im nächsten Augenblick stand der junge Chinese in einer weißen Wolkenwand aus kalten Flocken. Er blinzelte und konnte nichts mehr sehen. Dafür konnte er spüren, wie zwei weitere Bälle auf ihn herab sausten und während er noch nach einem Ausweg strauchelte, hatten ihn zwei Arme gepackt und er wurde gegen eine kalte Wand gepresst, vermutlich die Mauer, die das gesamte Asakura Grundstück umgab. Der Nebel lichtete sich und Ren blickte in Horo Horos überlegen grinsendes Gesicht. Seine blauen Augen funkelten und der junge Chinese musste sich wohl oder übel geschlagen geben.

"Na, bin ich jetzt der Weltmeister oder was?"

"Pah, reines Anfängerglück."

"Na warte!" Horo Horo ließ Ren los, um weitere Schneebälle zu kneten und seinen Sieg zu sichern, als sich der junge Chinese plötzlich an den Bauch fasste und leise stöhnend auf die Knie sank. Horo Horo vergaß sofort alle Schneebälle dieser Welt und eilte dem Freund zur Hilfe.

"Hab ich dich irgendwo getroffen? Wo genau tut's weh? Soll ich Faust rufen?" fragte er und umfasste Rens Schultern, um ihn zu halten, sollte er sein Bewusstsein verlieren. Verdammt! Er war eben doch noch nicht völlig gesund, hatte der Doktor ihm doch erst letztes Wochenende die Fäden gezogen. Was war, wenn die Narbe wieder aufgeplatzt war? Konnte Faust so rasch kommen, wenn Ren wieder zu bluten begann? Musste er jetzt noch einmal genäht werden? Ging das überhaupt?

Verdammt...

Warum ließ er, Horo Horo, sich auch immer so leicht provozieren und musste gleich eine Schneeballschlacht starten? Wieso konnte er sich nicht einmal zusammen reißen und es auf sich beruhen lassen? Ren hatte schließlich erschöpft ausgesehen, wie er da im Flockenregen gestanden und hinauf zum Himmel geschaut hatte! Wieso hatte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen können?

Das geht aber nicht.

Ich kann ihn nicht in Ruhe lassen, wenn er so traurig ausschaut.

"Ren? So sag doch was!"

Er macht sich wirkliche Sorgen um mich.

Um jemanden wie mich.

Der junge Chinese hob seinen Kopf und schluckte. Und schluckte noch einmal. Dann setzte er das schönste Grinsen auf, das er in seiner Seele finden konnte.

"Hab ich dich reingelegt oder was?" murmelte er und riss seine Augen auf, als er im nächsten Moment in den Schnee geworfen wurde und Horo Horo über ihm thronte, mit einem besonders großen Schneeball in seiner rechten Hand. Die linke stützte sich auf Rens Schulter, hielt ihn in einem eisernen Griff gefangen.

Der hat das nur gespielt?

"Darüber macht man keine Witze, Ren!" schrie der junge Ainu und plötzlich glitzerten Tränen in seinen Augen. "Du wärst damals im November fast drauf gegangen, Ren! Was glaubst du, was passiert wäre, wenn deine Narbe jetzt aufgerissen wäre, nur, weil ich beweisen wollte, dass ich im Schnee auch mal stärker sein kann als du!"

Der junge Ainu schluckte hart und Ren starrte ihn für einen Moment sprachlos an, völlig unfähig, sich zu bewegen. Schließlich blinzelte er und hob zögernd seine linke Hand und wischte vorsichtig die Träne weg, die über Horo Horos nun so bleiches Gesicht lief.

Er weint?

Um mich?

"Es tut mir leid..." murmelte der Chinese, war sich nicht bewusst, dass er die Entschuldigung wirklich laut ausgesprochen hatte. Früher hätte er sich nie so einfach bei jemandem entschuldigt. Aber Horo Horo war auch nicht mehr irgend jemand.

"Mach das nie wieder. Nicht im Scherz, Ren. Nie wieder!"

"Ja."

"Versprochen?"

"Versprochen."

"Ok." Horo Horos Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Er ließ den Schneeball ungeachtet fallen und stützte sich nun mit beiden Händen auf Rens Schultern ab, schien ihn nicht mehr loslassen zu wollen. Der junge Chinese beschwerte sich jedoch nicht, dass er in der einbrechenden Dunkelheit inmitten einer eisigen Schneedecke lag, er bemerkte die Kälte nicht einmal. Alles, was er sah, war Horo Horos trauriges Gesicht über ihm, er konnte die Frage nicht mehr zurück halten, die ihm auf der Seele brannte, seit Yoh ihm vor einigen Wochen das Telefon reichte und meinte, dass der junge Ainu ihn zu sprechen wünschte.

"Warum machst du dir so große Sorgen um mich, Horo-kun? Ich war doch einst dein größter Feind und hab mehr als nur ein Mal versucht, dich umzubringen."

Horo Horo blinzelte und eine weitere Träne rann über seine Wange und über Rens Hand, die sich so angenehm kühl an seiner heißen Haut anfühlte.

"Das kann ich dir auch nicht erklären, aber es ist einfach so. Du bist ein guter Freund geworden, Ren, vielleicht sogar der beste, den ich jemals hatte." Horo Horo errötete ein wenig und zuckte hilflos seine Schultern. "Ich hab dich immer für eine Killermaschine gehalten..." Ren zuckte bei dem Wort >Killermaschine< heftig zusammen und spürte, wie sich der Griff um seine Schultern verstärkte, so als habe der junge Ainu Angst, er könnte plötzlich aufstehen und weglaufen.

"... aber ich hab mich geirrt. Du bist anders, Yoh hatte Recht, sonst hättest du mich in dem Verließ verrotten lassen. Außerdem hattest du in den letzten Wochen mehr als einmal die Gelegenheit, mich zu töten, und du hast es nicht getan."

"Ich war krank."

"Selbst krank bist du stärker als ich, wenn ich nicht gerade von Schneewehen umgeben bin."

Ren blinzelte und schaute hinauf zu dem jungen Ainu, der leicht zitterte. So recht wusste der junge Chinese nicht, wohin sie dieses Gespräch führen würde, aber es schien Horo Horo sehr wichtig zu sein - und ihm auch, wie er zugeben musste. Sie sprachen hier das erste Mal offen über ihre Freundschaft, die er eine Zeitlang nur für die Sorge um einen Kranken gehalten hatte und in der unbewussten Angst lebte, dass sich Horo Horo vor ihm zurück ziehen könnte, sobald er wieder zu Kräften kam. Seltsamerweise hatte das der junge Ainu jedoch nicht getan, entgegen Rens Erwartungen.

"Was macht dich dann jetzt so sicher, dass ich dir nichts mehr antun werde?" fragte Ren und bereute seine Worte sofort, denn sie hatten bedrohlicher geklungen, als er beabsichtigt hatte. Horo Horo schreckte jedoch nicht entsetzt zurück, sondern lächelte das seltsamste Lächeln, das Ren je in seinem Leben gesehen hatte.

"Weil ich dir vertraue. Frag mich nicht nach dem Grund, es ist einfach so, Ren." Der junge Ainu zuckte erneut seine Schultern und leichter Wind fuhr durch seine blauen Haare, die unter dem verrutschten Stirnband hervor lugten.

Er vertraut mir?

Mir?

Der Killermaschine?

Ren wusste nicht, was er erwidern sollte. Natürlich hatte er geahnt, dass Horo Horo wieder Vertrauen zu ihm gefasst hatte, trotz des Vorfalles während der Herbstferien, aber es war doch etwas ganz anderes, es laut zu hören.

Horo Horo holte tief Luft, spürte noch immer die kalten Finger an seiner heißen Wange, blickte in gelbe Augen, die ihn verwirrt ansahen.

Er scheint nicht oft zu hören, dass ihm andere vertrauen.

Dann wird er den nächsten Satz noch seltsamer finden.

Der junge Ainu holte erneut tief Luft, aber er wusste, dass er diese Erkenntnis loswerden musste, die sich langsam in seiner Seele breit gemacht hatte. Entweder das oder er würde über die Weihnachtsfeiertage vollkommen verrückt werden. Wenn er das nicht schon längst war.

"Weil ich dich mag, Ren."

Was?

Ren wusste nicht, wie er reagieren sollte, als sich Horo Horo plötzlich zu ihm herab beugte und er die Lippen des Freundes auf den seinen spürte. So warme Lippen... Dann hatte sich Horo Horo schon wieder aufgerichtet. Der Kuss hatte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde gedauert, aber es war nichtsdestotrotz ein Kuss gewesen, wenn auch ein sehr, sehr schüchterner. Der junge Ainu dagegen wirkte absolut nicht schüchtern, sondern furchtbar erschrocken, vermutlich über sich selbst und über die Reaktion, die er von Tao Ren erwartete, die jedoch ausblieb.

Der junge Chinese lag vor ihm im Schnee und starrte ihn unverwandt an. Starrte ihn stumm, ohne jegliche Gefühlsregung an.

Was zur Hölle hab ich gerade getan?

Aprubt ließ Horo Horo Ren los und sprang auf seine zitternden Beine. Sein ganzer Körper bebte und mit einem Mal fror er in dem Schneesturm so erbärmlich wie schon lange nicht mehr. Noch immer blickten ihn gelbe Augen so seltsam an und Horo Horo wäre es lieber gewesen, wenn Ren ihn angeschrieen oder in seiner monotonen Stimme eine peinliche Frage gestellt hätte, aber diese Stille, diese absolute Stille, die vertrug er nicht.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, er hätte sowieso nicht gewusst, was man in solch einer Situation schon zu sagen hatte, drehte sich Horo Horo um und stapfte auf wackeligen Beinen zum Haus zurück, wo er sich in sein Zimmer zurück ziehen und für den Rest des Abends Mangas lesen würde, von denen er mit Sicherheit kein einziges auch nur annähernd verstehen würde.

Jetzt hält er mich bestimmt für total durchgeknallt!

Dabei hatten wir uns in den vergangen Wochen eine so schöne Freundschaft erkämpft.

Horo Horo schluckte hart, aber so richtig konnte er die aufsteigenden Tränen nicht zurück drängen. Tief seufzend nahm er die Schneeschippe wieder auf und zog sie hinter sich her in den Schuppen, wo er eine ganze Weile auf dem Holzklotz saß und traurig vor sich hin starrte.

Jetzt hab ich das alles kaputt gemacht!

Ren blieb noch einige Minuten im Schnee liegen und schaute hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Nein, er war sich sicher, dass er das alles nicht geträumt hatte. Genauso, wie er wusste, dass sich über ihm nur Luft befand und kein Mistelzweig, also dass das alles ganz und gar kein Scherz von Horo Horo gewesen war.

Er hat es ernst gemeint.

Langsam löste sich die Erstarrung in Rens Körper und er tastete mit seinen kalten Fingern zu seinen Lippen.

Jun, er hat gesagt, dass er mich mag.
 

***
 

Ren saß auf dem Dach des Hauses und schaute hinauf zum sternenklaren Himmel. Kurz nach dem Abendbrot, bei dem Horo Horo das erste Mal seit Wochen neben Manta und nicht neben ihm gesessen hatte, hörte der Schneesturm auf und die Wolken rissen große, pechschwarze Löcher in den Himmel.

Kurz darauf hatte sich Ren auf das Dach verzogen und wartete geduldig darauf, dass Horo Horo über dem Manga einschlief, dessen fünfte Seite er schon seit drei Stunden eingehend studierte. Ren wusste, dass er eigentlich zu dem jungen Ainu gehen und ihn zur Rede stellen sollte, aber er entschied sich dagegen, denn was brachte es ihnen, wenn sie sich nur dumm anstarrten, da sie beide mit dem Chaos in ihrem Kopf nicht zurecht kamen? Nein, Ren brauchte erst einmal eine Auszeit, musste über seine eigenen Gefühle nachdenken, bevor er wieder mit Horo Horo sprechen konnte.

Weil ich dich mag, Ren.

Der junge Chinese schlug den Kragen seines Mantels hoch und zuckte leicht fröstelnd zusammen, als Wind über das Dach fegte, ein wenig Schnee um ihn herum aufwirbelte.

Er hat Ren gesagt, nicht Ren-kun.

Er hat es ernst gemeint.

Ren schüttelte seinen Kopf und vergrub sein Gesicht in seinen eiskalten Händen. Er wusste absolut nicht, wie er damit umgehen sollte. Wie er mit einem solchen Geständnis umgehen sollte, von dem er erwartet hatte, dass es andere Menschen betraf, aber nicht ihn. Niemals ihn, den grausamen Erben einer solch brutalen Dynastie, der schon in seinen Kindertagen ohne zu zögern andere Menschen getötet hatte, mit Geistern spielte wie andere Jungen mit Murmeln oder Schaufel und Eimerchen. Seine Eltern erzogen ihn zu einem Leben in herrschender Kälte und er fand sich damit ab, dass es sein Schicksal war, in Einsamkeit zu hausen. Niemals hätte er damit gerechnet, dass jemals jemand den Satz >Weil ich dich mag.< zu ihm sagen würde, besonders nicht Horo Horo, um dessen Hals er noch vor wenigen Wochen seine Hände gelegt und zugedrückt hatte.

Das macht doch alles keinen Sinn!

Warum sollte er mich mögen?

Ausgerechnet mich?

Ren kannte seine Fehler, wusste genau, was er alles in seinem jungen Leben schon falsch gemacht hatte und ahnte, dass ihn der Teufel mit offenen Armen in der Hölle empfangen würde, wenn er einmal sterben müsste, daher war es ihm so unbegreiflich, dass ihn irgend jemand mögen könnte.

Es war ihm ja schon unglaublich erschienen, dass Anna und Yoh ihn so einfach in ihre Familie aufnahmen, aber dass Horo Horo ihn gleich so sehr in sein Herz schloss, damit hatte er nicht gerechnet.

Vielleicht hat er es ja anders...

Nein, der Kuss war eindeutig gewesen, ließ keinen Zweifel an Horo Horos Absichten, obwohl der junge Ainu so ausgesehen hatte, als hätte er seine eigenen Gefühle auch erst vor kurzem erkannt.

Ren seufzte tief.

Ich bin der Fürst der Finsternis.

Ich hab mehrmals versucht, Horo Horo hinterrücks umzubringen.

Ich bin seiner Liebe nicht würdig...

Der junge Chinese hörte Schuhe neben sich, unter denen der Schnee leise knisterte. Erschrocken hob er seinen Kopf, aber zu seiner großen Erleichterung war es Yoh, der vorsichtig neben ihm Platz nahm, ihn fröhlich, wenn auch ein wenig erschöpft anlächelte.

"Es war dir wohl zu chaotisch da drin?" Es war keine wirkliche Frage, denn der junge Japaner wusste selbst, wie verrückt seine Familie sein konnte, wenn Weihnachten immer näher rückte und der Wahnsinn eines halben Schuljahres auf Anna herab schlug wie ein Blitz in eine alte Weide. Man brauchte ihr nur ein Rezept, ein schönes Buch über Traditionen zu zeigen und schon fing das Mädchen Feuer.

"Ein wenig." Ren richtete seinen Blick wieder hinauf zum Himmel und betrachtete die Sterne, die wie Diamanten über ihnen leuchteten. "Aber das ist schon ok."

"Sag uns einfach, wenn's dir zu viel wird. Wenn erst einmal der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer steht, ist meistens alles zu spät." Yoh grinste nun, schien an viele Feste zurück zu denken. Genauso wie Ren, dem es wieder eng in der Brust wurde bei dem Gedanken an seine Schwester.

"Ich weiß nicht... ob ich das hier lächelnd durchstehe, Yoh-kun." Gab der junge Chinese schließlich leise zu. Bei jedem anderen hätte er dieses Thema absichtlich ignoriert, aber er wusste, dass der junge Japaner ihn verstand, besser, als er sich wohl selbst je verstehen würde.

"Weihnachten spielte bei uns zu Hause nie wirklich eine Rolle, aber Jun..." Seine Stimme versagte und er holte tief Luft. Yoh unterbrach ihn nicht, wartete schweigend ab. "... aber Jun hat es trotzdem immer gefeiert und hat uns allen immer etwas geschenkt."

>Was soll denn der Scheiß?<

>Das ist dein Weihnachtsgeschenk, Ren-chan.<

>Eine Lokomotive aus Holz? So was Langweiliges!<

>Fröhliche Weihnachten, Ren-chan.<

>Ach, lass mich doch in Ruhe!<

>Ich hab dich auch lieb, Ren-chan.<

Erneut hörte er ihr zärtliches Lachen in seinen Ohren und schloss seine Augen, um seine Tränen zurück zu halten.

"Ich hab ihr nie was geschenkt, Yoh-kun, ich war ein fürchterlicher Bruder." Ren schluckte hart, konnte aber nicht verhindern, dass einige Tränen doch über seine Wangen rannen. Früher hätte er sich ihrer geschämt, heute besaß er einfach nicht mehr die Kraft dazu. "Deswegen... deswegen weiß ich nicht, inwieweit ich das Fest mit euch allen feiern kann..."

"Wenn's dir zu viel wird, kannst du in dein Zimmer gehen und wir belästigen dich auch nicht weiter, wenn du das nicht willst, ok? Ich rede auch mit Chocolove und leg ein gutes Wort für dich ein, dass du nicht mit in die Karaokebar musst oder zumindest nicht zu singen brauchst, wenn dir nicht danach ist." Yohs Grinsen wandelte sich in ein trauriges Lächeln, als er Rens Kampf gegen die Tränen sah. Er rückte näher an ihn heran und umarmte ihn einfach. "Komm her, Kleiner." Murmelte er und hielt ihn ganz einfach fest, während Ren leise weinte und zwischen seinen Tränen lachen musste.

"Ich bin nur einen Monat jünger als du, vergiss das nicht."

"Glaube mir, dieser Monat macht es aus. Ich kann das Alter schon in meinen Knochen spüren."

"Das ist der Wind."

"Ach so?" Yoh wuselte durch Rens dunkle Haare, bevor er ihn los ließ und ihm ein Taschentuch reichte, das der junge Chinese dankbar entgegen nahm.

"Yoh-kun?" Ren knetete das Taschentuch in seinen Händen und seine Stimme klang verschnupft. Er sah nicht auf, aber sein Gesicht war ernst, sehr ernst.

"Hai?"

"Warum habt ihr mich hier aufgenommen? Ich mein..." Er seufzte leise und wusste selbst nicht einmal, wie er seine verworrenen Gedanken in Sätze formulieren sollte. Also wählte er die erste Variante, die sich in seinem Kopf formte. "... warum mögt ihr mich?"

Er drehte leicht seinen Kopf, als Yoh nicht antwortete, und sah nun wieder das typische >Yoh-Grinsen< vor sich.

"Manchmal stellst du schon komische Fragen, Ren." Antwortete Asakura Yoh wahrheitsgemäß und wuselte erneut freundschaftlich durch rabenschwarze Haare. "Du hast wohl wieder über den ganzen Fürstenquatsch nachgedacht, oder?"

"Na ja..."

"Du solltest diesen Mist vergessen, Ren. Dein Vater hatte Unrecht, als er dir diesen Titel auferlegte. Und was Anna und mich anbetrifft, für uns bist du einfach nur Tao Ren, kein Fürst der Dunkelheit und kein Erbe der Tao Dynastie. Wir mögen dich für das, was du bist, und nicht für das, was du vielleicht einmal erben könntest oder was dein Vater einst in dir gesehen hat."

"Aber..."

"Willst du etwa an meiner Urteilskraft zweifeln?"

"Nein, aber ich zweifle an meiner..."

"Ach, das wird schon wieder." Yoh klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und sah ihn ebenfalls so ernst an. "Wir mögen dich und damit basta. Für so etwas braucht es keinen bestimmten Grund, Ren. Es ist eben einfach so und damit ist gut."

Es klang absolut nicht logisch und Yoh schien das auch zu bemerken.

"Das war jetzt nicht sehr einleuchtend, oder?" fragte er und war froh, als er ein schwaches Lächeln auf Rens Lippen sah.

"Nicht unbedingt, aber das sind Gefühle wohl nie, oder?"

"Jetzt, wo du's erwähnst..."

Beide lehnten sich wieder zurück und betrachteten erneut die Sterne. Ein angenehmes Schweigen entstand zwischen ihnen und sie fühlten sich seltsam wohl in der Nähe des anderen.

"Dennoch begreif ich nicht, wie mich jemand mögen kann, den ich noch vor kurzer Zeit versucht habe zu töten." Murmelte Ren schließlich, da ihn dieser Gedanke einfach nicht loslassen wollte.

"So sind Menschen eben." Antwortete Yoh, ohne seinen Blick von dem Sternenhimmel über ihnen abzuwenden. "Das nennt man Vergebung, Ren."

"Aber ich versteh's nicht."

"Menschen sind schwer zu verstehen, Ren, aber du kannst denjenigen vertrauen, die dich lieben."

"So etwas in der Art hat Jun damals auch gesagt." Der junge Chinese seufzte leise und griff neben sich in den Schnee, um schweigend einen Ball zu formen, denn er dann in die Luft warf und der nur wenige Zentimeter neben seinem Kopf wieder auf das Dach prallte.

"Deine Schwester war eine sehr schlaue Frau."

"Ich weiß." In Rens Trauer mischte sich Stolz und eine Bruderliebe, die er ihr nie so offen zeigte, wie sie das verdient hatte.

Das Licht unter ihnen erlosch und Ren richtete sich auf, putzte sich den Schnee von seinem dunklen Mantel. Horo Horo hatte sich also dazu entschlossen, ein wenig zu schlafen. Noch zehn weitere Minuten, die Ren im Waschraum verbringen würde, um seine feuchte Kleidung aufzuhängen, und der junge Ainu würde tief und fest schlafen. Ren fühlte sich einfach zu müde, um jetzt mit ihm zu reden. Das konnte er auch später tun, schließlich hatten sie noch zwei volle Wochen, bis Horo Horo mit seiner Schwester in sein Heimatdorf zurück kehrte. Genügend Zeit also, um all das Chaos zu sortieren, das wohl in ihren beiden Köpfen vorherrschte.

Langsam erhob er sich und fuhr sich ein letztes Mal mit dem Taschentuch über die brennenden Augen, bevor er es in seine Hosentasche steckte.

"Ren?"

"Ja?"

Er drehte sich zu Yoh um, der ihn wieder mit seinem typischen Grinsen anlächelte. Leise Musik dröhnte aus dem Kopfhörer, der lose um den Hals des jungen Japaners hing.

"Darf ich dich nii-chan nennen?"

Ren nickte lächelnd, froh, dass seine Schwester diesen Spitznamen nie für ihn gebraucht hatte, so dass er ihn gerne an Yoh geben konnte.

"Ich würde mich geehrt fühlen."

"Mach's nicht so förmlich." Der junge Japaner kicherte glücklich, bevor er sich ebenfalls erhob, sich den Schnee aus den Haaren schüttelte. Dann griff er unter seine Jacke und holte ein kleines Gerät hervor, das Ren wohl bekannt war, nicht nur von den Schamanenkämpfen in Amerika. "Kannst du mir einen Gefallen tun, Ren-nii-chan?"

"Ja." Ren nickte, obwohl er schon ahnte, um was ihn der junge Japaner, sein Bruder, bitten würde.

"Wirf es weg, Ren-nii-chan, denn ich kann's nicht." Yohs Hand zitterte leicht, als er Ren das kleine Gerät entgegen hielt. Dabei sah er zu Boden, seine Ponyfransen legten sein Gesicht in tiefe Schatten, ließen keinen Blick in seine Augen zu. "Bitte."

"Wenn du es so willst." Ren nahm den kleinen Apparat in die eine Hand und drückte mit der anderen Yohs eisige Finger schweigend.

Sie verstanden auch ohne Worte, waren sie beide Brüder, die ihre Geschwister verloren und ineinander eine neue Familie gefunden hatten.

"Hai, ich will es so. Arigatou."

Ren nickte und steckte den Kommunikator in seine Jackentasche, um ihn später zu zertreten und dann dem Müll zu überantworten. Er ahnte, wie schwer es Yoh fiel, sich von diesem Gerät zu trennen, aber er wusste selbst, dass man nicht ewig in der Vergangenheit leben durfte, wollte man nicht mit der Zeit verrückt werden.

Ren-nii-chan.

Brüderchen.

Ich...

"Hat eigentlich der Mistelzweig gewirkt?" fragte Ren, als er sich zum Gehen umwandte.

Er würde wohl noch eine Weile brauchen, bis er Yoh ebenfalls als Yoh-nii-chan bezeichnen konnte, aber er wusste, dass ihn der junge Japaner nicht drängen, geduldig warten würde. Wie immer.

Yoh hob seinen Kopf und grinste wie eine Katze, die in den Sahnetopf gefallen war.
 

***
 

Horo Horo stand am Bahnsteig und blickte hinaus in das Schneetreiben, durch das der Zug einfahren würde, gemeinsam mit seiner kleinen Schwester. Sie hatten sich nun seit über drei Wochen nicht mehr gesehen und er hatte sie auch sehr vermisst, dennoch wollte die Wiedersehensfreude einfach nicht aufkommen. Selbst der Anblick von Lyserg, der einen viel zu großen Koffer hinter sich her schleppte und Chocolove, der sofort einen schlechten Witz reißen musste, als sie aus der Abfertigungshalle am Flughafen trafen, zauberte nur ein müdes Lächeln auf das Gesicht des jungen Ainu.

Eigentlich begannen jetzt die schönsten Tage des Jahres, die er mit all seinen Freunden verbringen durfte, und dennoch fühlte er sich niedergeschlagen, würde sich am liebsten unter eine Decke verkriechen und nie wieder heraus kommen.

Wie erwartet mied ihn Ren auch weiterhin, hatte keine fünf Worte mit ihm gewechselt, während sie erst Anna von der Schule abholten und dann zum Flughafen und später mit englischsprachiger Verstärkung zum Bahnhof fuhren. Einige Weihnachtsgeschenke hatten sie auf dem Weihnachtsmarkt noch entdecken können und Horo Horo hatte überhaupt keinen Appetit auf einen kandierten Apfel verspürt.

Hätte ich doch nur meine Klappe gehalten!

Horo Horo bereute seinen Gefühlsausbruch bitterlich, denn es war ja offensichtlich, dass sein überstürztes Geständnis Ren vertrieben, ihre Freundschaft zerstört hatte.

Wie konnte ich nur so doof sein!

Horo Horo wollte ja mit Ren sprechen, das alles als Missverständnis abtun, auch wenn es keines gewesen war, solange er wenigstens noch etwas retten konnte, aber er fand keine Gelegenheit. Letzte Nacht hatte er bis weit nach Mitternacht auf den jungen Chinesen gewartet, bis ihn dann doch der Schlaf übermannte. Heute waren ständig Yoh und Anna sie herum und heute Abend würden sie das Zimmer mit Ryu und Chocolove teilen, während Lyserg und Manta in Mantas Reich übernachten und Pirika bei Anna Einzug halten würden. In dieser verrückten Weihnachtsatmosphäre würde es dann keine einzige private Sekunde mehr geben, in der er vernünftig mit Ren reden könnte.

Vernünftig?

Ich soll vernünftig sein?

Wann war ich das schon mal...

Horo Horo schob sich den Schal über die Nase und die Handschuhe tief in die Taschen seiner Jacke. Chocolove hatte im Hintergrund wieder einen absolut schlechten Witz gerissen, wofür er nun von Yoh und Lyserg gleichermaßen über den Bahnsteig gejagt wurde. Anna kicherte nur, während Ren abwesend auf die große Uhr über ihnen starrte. Das tat er schon eine ganze Weile, obwohl davon die Zeit auch nicht schneller verging.

"Ryu-kun und Manta-kun treffen erst heute Abend ein, oder?" fragte der junge Chinese das Mädchen, ohne seine Augen von der Uhr zu wenden.

"Hai. Ryu-kun wollte noch einem Freund helfen und Manta-kun hat ein wenig länger Schule als ich." Antwortete sie und korrigierte ihr Kopftuch.

"Wie war denn die Mathearbeit."

"Frag nicht." Sie zuckte ihre Schultern und beobachtete Chocolove, der soeben von einem grünen Schatten und ihrem Verlobten überfallen und zu Boden geworfen wurde, wo er lauthals zu lachen begann. Wenn schon seine Witze eher zum Heulen waren, eine Kitzelattacke brachte so ziemlich jeden zum Lachen.

"Bei all den Verrückten, soll ich dir heute Abend beim Abendbrot helfen?"

"Hai. Du verwechselst wenigstens kein Salz mit Zucker."

"Es war nicht Yohs Schuld gewesen."

"Er ist fast vierzehn, er sollte lesen können."

"Auf deinen Krügen?"

"Aber man sieht doch, ob das Salz oder Zucker ist."

"Nicht unbedingt."

"ARG! Jetzt nimmst du ihn auch noch in Schutz!"

Horo Horo drehte sich bei Annas Ausbruch um und sah, wie das Mädchen ihre Arme vor ihrer Brust verschränkte und sich bewusst von einem lächelnden Ren fort drehte.

Vielleicht sollte ich ihn jetzt fragen, ob er nachher mal ein paar Minuten Zeit hat.

Rens gelbe Augen blickten Horo Horo kurz schweigend an, bevor der junge Chinese die Uhr wieder eingehend studierte. Dem jungen Ainu fuhr ein eisiger Schauer über den Rücken und er fühlte sich noch elender. Noch vor wenigen Stunden hätte Ren sicherlich einen seiner trockenen Witze gerissen, worauf hin sie sich die nächsten Minuten die gemeinsten Worte an den Kopf geworfen und sich dabei königlich amüsiert hätten.

Ich hab alles kaputt gemacht!

Horo Horo ballte seine Fäuste und senkte ein wenig seinen Kopf, schloss seine Augen. Aus weiter Ferne konnte er Chocoloves flehendes Lachen und Lyserg und Yohs überlegenes Kichern hören. Die Geister diskutierten über diverse Lokomotiven und Anna murmelte etwas Unverständliches. Rens Schweigen erschien Horo Horo am lautesten.

In all das Stimmgewirr um den jungen Ainu mischte sich das Geräusch des einfahrenden Zuges, in dem auch seine kleine Schwester sitzen würde.

Das erste Mal in seinem Leben wäre Horo Horo lieber davongelaufen, als sie zu begrüßen und damit das gewiss härteste Weihnachtsfest seit fünf Jahren zu beginnen.
 

***
 

Morgen werde ich mit ihm reden.

Ren balancierte die Teller in das Wohnzimmer, das noch winziger wirkte, da nun so viele Personen darin saßen und ihn mit hungrigen Augen anschauten. Manta und er durften noch in die Küche, alle anderen hatte Anna entschieden herausgeworfen. Aber das störte keinen von ihnen, im Gegenteil, schließlich gab es viel zu erzählen, was in den letzten Monaten seit dem Ende des Shaman Fights vorgefallen war. Der Tisch war übersät mit vielen Photos, die Lyserg und Chocolove rasch einsammelten, als Ren den Stapel abstellte und jedem einen Teller vor die Nase schob.

"... und seit kurzem hat London eine neue Attraktion..."

"... ich darf jetzt sogar in einem kleinen Club auftreten und dort Witze reißen..."

"... hattest du's gut, dass du keine Schule mehr besuchen musstest, Brüderchen, denn..."

"... hai, Anna hat auch gesagt, dass..."

"... und der Motor war tatsächlich kaputt..."

Ren nahm nur Gesprächsfetzen auf und wusste, dass er in diesem Chaos niemals auch nur eine ruhige Minute finden würde, in der er in Ruhe und vor allen Dingen privat mit Horo Horo sprechen konnte. Der junge Ainu saß neben seiner kleinen Schwester, die ihm von ihren letzten Schulwochen erzählte, aber Ren sah, dass er ihr nicht wirklich zu hörte. Kurz hob Horo Horo seinen Kopf, um sofort wieder fort zu schauen, als sich ihre Augen für einen Moment trafen.

So kann das wirklich nicht weiter gehen!

Ren ärgerte sich selbst darüber, denn er sah, dass sich der junge Ainu unwohl fühlte, vielleicht glaubte er sogar, einen Fehler gemacht zu haben. Aber Ren konnte ja schließlich kaum so ein ernstes Gespräch anfangen, während all die anderen am Tisch saßen und ihnen zu hören konnten.

Na, Schneemann, du hast gesagt, dass du mich magst?

Pirika-kun würde in Ohnmacht fallen und der Rest dämlich grinsen.

Ren bedeckte kurz seine Augen mit seinen Händen und seufzte tief. Auf dem Gang war es angenehm dunkel und auch ein wenig kühler als im Wohnzimmer, aber selbst hier würde er kaum die Gelegenheit finden, mit Horo Horo zu sprechen.

Wenn ich ihn einfach in ein anderes Zimmer zerre, dann denkt Manta-kun bestimmt, dass ich ihn doch noch erwürgen will.

Der junge Chinese brachte noch die Stäbchen und die Schalen in das Wohnzimmer, danach nahm er sich seinen Mantel und schlich sich hinaus auf den Hof. Er wusste, dass Annas Reis noch fünf Minuten brauchte, diese Zeit würde er nutzen, um einfach ruhig da zu stehen und die angenehme Stille zu genießen. Er hoffte, dass er morgen die richtigen Worte finden würde, die weder Horo Horo noch ihn verletzen würden, die ihre Freundschaft nicht vollkommen zerstörten.

Weil ich dich mag, Ren.

Der Satz war allgegenwärtig in seinen Gedanken, egal, was er auch tat. Ja, morgen musste er eine Gelegenheit finden, um mit Horo Horo zu sprechen, sonst würde sein Kopf explodieren.

Morgen gehen wir Schlittschuhfahren an den See. Da können wir doch bestimmt mal für ein paar Minuten verschwinden.

Ren seufzte tief und hob seinen Kopf zum Himmel empor. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der Wetterbericht kündigte bereits für morgen den nächsten Schneesturm an, aber erst abends, wenn sie längst wieder zurück waren von ihrem Ausflug, wenn sie sich alle auf Weihnachten vorbereiteten und die letzten Geschenke einwickelten.

Jun wird nie wieder mit mir feiern können und Horo Horo mag mich...

Ren hatte keine Ahnung, wie er dieses Fest überstehen sollte, aber irgendwie würde er das schon schaffen. Irgendwie.

"Die Geister RAUS HIER! Wer nichts isst, der geht ins Fernsehzimmer, bevor wir uns noch gegenseitig erlatschen!"

Annas Stimme grollte unheilverkündend durch das ganze Haus und Ren entschied, dass es klüger war, zum Abendbrot zurück zu kehren.
 

***
 

Es war zu einer Angewohnheit geworden, dass Anna jede Nacht noch einmal durch das ganze Haus ging, bevor sie sich endgültig auf ihren Futon legte und einschlief. Besonders jetzt zur Weihnachtszeit erschienen ihr solche Kontrollgänge als besonders wichtig, da doch noch im Wohnzimmer oder in der Küche eine Kerze brennen konnte, die ihnen in wenigen Stunden ein heißes Erwachen bescheren würde.

Anstelle eines offenen Feuers entdeckte sie nur einen schwachen Lichtschein, der durch die geschlossene Badezimmertür drang. Ohne zu klopfen trat sie ein, schließlich war das ihr Haus, sie würde sich vor niemandem zieren.

"Hallo, Anna." Lächelte sie ihr Verlobter an, der bis zum Hals im warmen Wasser saß. Er hatte den Pool nicht extra angeheizt, sondern sich für die große Badewanne entschieden, die nahe dem Fenster in der Ecke stand. Also brauchte sie nicht mit ihm zu schimpfen, dass er zu viel Energie verschwendet hatte. Schade eigentlich.

"Konntest du nicht schlafen?"

"Eigentlich schon, aber mir war so kalt. Auf dem Bahnhof hat es so fürchterlich gezogen."

"Kann ich mir vorstellen, wenn man auch seine Freunde zu Boden zerrt und auskrabbelt."

"Chocoloves Witz verdiente diese Rache."

"Sicher." Anna sah sich kurz um, bevor sie ihren Schlafanzug auf den warmen Ofen legte und sich einen Eimer mit heißem Wasser füllte. Dann setzte sie sich neben die Wanne auf einen Schemel und begann, ihre Haare zu waschen. "Friert da Lyserg nicht auch?"

"Nein, in London ist das Wetter wohl generell schlechter als bei uns."

"Wenn er meint. Ich will nur niemanden, der mir auf den Festtagsbraten niest."

"Wir doch nicht."

Yoh grinste von einem Ohr zum anderen, als Anna kurz aufsah und dann ihre Augen zusammen kniff, als das Shampoo zu sehr brannte.

"Weißt du, ob sich Horo-kun und Ren gestritten haben?" fragte sie leise, während sie nach dem Eimer tastete und das Wasser über ihren Kopf kippte, um die Seife auszuspülen. Bei der Länge ihrer Haare benötigte sie drei Eimer und war dankbar, als Yoh sich ein wenig erhob und ihr dabei half.

"Ich glaube nicht, dass sie sich wirklich gestritten haben." Yoh tastete nach seinem eigenen Handtuch und hielt es Anna entgegen, die es sich um ihren nassen Kopf wickelte.

"Was dann? Horo-kun wirkt genauso wie kurz nach der Würgeattacke." Anna fragte nicht nach, ob ihr Verlobter sein Bad mit ihr teilen wollte, sie stieg einfach in die Wanne und machte es sich neben Yoh in dem wunderbar warmen Wasser gemütlich.

"Es liegt wohl einfach daran, dass Horo-kun erkennt, dass sein einst ärgster Feind sein bester Freund geworden ist." Erklärte der junge Japaner und schloss genüsslich seine Augen. Nichts war schöner, als hier im warmen Wasser vor sich hin zu dösen. Nun ja, fast nichts.

"Können die solche Erkenntnisse nicht nach Weihnachten bekommen?" Das Wasser schaukelte ein wenig, als Anna das Handtuch korrigierte und sich erneut zu der Entscheidung gratulierte, dass sie damals, als sie in das Haus einzogen, die größere Badewanne von den vorherigen Eigentümern übernommen hatte. Der Pool mochte auch ganz schön sein, aber im Winter zog sie die Badewanne der eisigen Winterluft vor.

"Ach, das kriegen die schon hin."

"Dein Wort in Gottes Ohr."

"Mach ich."

"Baka."

Yoh kicherte vergnügt und legte seinen Kopf auf den Wannenrand, ohne dabei seine Augen zu öffnen.

"Wie weit bist du mit dem Papierkram?" fragte er nach einer langen Weile des Schweigens und fragte sich bereits, ob Anna eingeschlafen wäre, da sie ihm nicht sofort antwortete.

"Auf die Schule kann er im Januar, das konnte ich gemeinsam mit deinem Großvater klären." Das Mädchen seufzte leise. "Alles andere wird etwas schwieriger werden. Die Behörden stellen sich schief, weil er doch die chinesische Staatsbürgerschaft hat."

"Aber er kann doch hier wohnen, oder? Wir haben es ihm schließlich angeboten! Was ist mit dem japanischen Gastrecht?"

"Für die nächsten fünf Jahre? Das wird nicht so einfach werden, wie wir uns das vorgestellt haben, Yoh."

"Ist mir egal, ich schick ihn nicht in diesen Palast zurück! Das können die vergessen!"

"Yoh..."

"Ansonsten geh ich mit. Ren verkraftet es nicht. Das wäre genauso, als würde man dich allein nach Osaka zurück schicken." Yoh öffnete seine Augen und sah für einen Moment in blaue, die ihn traurig ansahen.

"Ich weiß..." murmelte Anna, dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf. "Dein Großvater kennt einen Schamanen, der in der Einwanderungsbehörde sitzt, der kann uns bestimmt weiter helfen." Sie schien mit sich zu ringen. "Dann müsste dein Vater die Vormundschaft für ihn beantragen, ich weiß nicht, ob das Ren gefallen wird."

"Er wird es verstehen." Yoh war sich dessen ganz sicher. So recht begriff er all die Formalitäten nicht, aber er wusste, dass sie alle erst dreizehn, vierzehn Jahre alt waren, sie konnten nicht so ohne Weiteres allein leben. Nicht einmal Horo Horo lebte völlig allein mit seiner Schwester, da ein ganzes Dorf sich um die Waisen kümmerte. Genauso wenig wie Chocolove, nach dem Silver ab und an sah. Auch Lyserg hatte in Marco und Jeanne-sama so etwas wie eine Ersatzfamilie gefunden.

Tao Ren würde verstehen, dass es nicht völlig ohne Formalitäten ging, aber so lange Yohs Vater nicht auftauchte und ihm sagte, was er zu tun hätte, würde er das schon akzeptieren. Schließlich schrieb Asakura-san seinem eigenem Sohn nichts vor - zumindest nicht, solange Yohs Zensuren halbwegs in Ordnung waren und er keinen all zu großen Unsinn anstellte.

"Ich hab heute die Überreste des Kommunikators im Müll gefunden, Yoh. Arigatou."

"Dank nicht mir, sondern Ren. Ich hab ihn darum gebeten."

"Trotzdem danke, Yoh, ich konnte das Ding nicht mehr ersehen."

"Ich eigentlich auch nicht..." Yoh seufzte leise und legte seinen Kopf wieder auf den Wannenrand, schaute hinauf zur Decke. Fragend hob er seine Augenbrauen und musste trotz des Kloßes, der sich eiskalt in seinem Magen gebildet hatte bei der Erinnerung an den Satz, der noch bis heute früh ungelöscht auf dem kleinen Display geprangert hatte, schelmisch grinsen.

"Anna?"

"Hai?"

"Ich hab das ganze Haus mit Weihnachtsdekoration vollgestopft."

"Hai, hab ich bemerkt." Anna rutschte ein wenig näher an ihren Verlobten heran.

"Dabei hab ich ungefähr fünf Mistelzweige im ganzen Haus vereilt."

"Stimmt, ich hab sie gesehen."

"Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich im Bad keinen aufgehangen habe, erst recht nicht über der Badewanne."

Annas Lächeln war zuckersüß.

"Für den hier bin ich wohl verantwortlich."
 

***
 

"Ich... ich kann nicht Schlittschuhfahren..."

Lyserg stand am Rande des eingefrorenen Sees und blickte verzweifelt zu den anderen, die bereits am Ufer saßen oder knieten und sich ihre Schlittschuhe anzogen. Es war ein wunderschöner Samstag Mittag. Der Schneesturm hatte sich in den frühen Morgenstunden gelegt und die Sonne war durch die dichte Wolkendecke gebrochen. Der Schnee glitzerte um sie herum wie die schönsten Diamanten, worüber Chocolove natürlich einen sehr dämlichen Witz reißen musste und demzufolge von Yoh und Lyserg durch die halbe S-Bahn gejagt wurde. Lauthals lachend, natürlich.

"Das ist ganz leicht." Beruhigte Faust den jungen Engländer. Sie hatten den Arzt vor nicht einmal zehn Minuten getroffen. Obwohl er erst morgen Abend bei den Asakuras zum Essen eingeladen war, hatten Eliza und er einfach das schöne Wetter genutzt, um ebenfalls die freien Tage zu genießen. Genauso wie noch viele andere Einwohner von Tokio, die sich bereits auf der dicken Eisfläche tummelten. Es hatten die letzten Wochen stetige Minusgrade vorgeherrscht, das Eis würde sie alle tragen.

"Ich weiß nicht, ich kann da so furchtbar ungeschickt sein." Wind fuhr durch Lysergs Mantel, in dem er wie der berühmte Londoner Detektiv aussah, Sherlock Holmes. Ren, der auf Yohs Schlitten saß, auf dem sie all ihre Rucksäcke und die Bentos durch den frischgefallenen Schnee transportiert hatten, sah kurz auf und wunderte sich, ob alle Engländer so seltsam gekleidet waren. Er lief ja schließlich auch nicht in einer traditionellen chinesischen Robe umher.

Nicht mehr...

"Wir bringen dir das bei!" Yoh und Chocolove waren sofort Feuer und Flamme. Kaum, dass der junge Engländer seine Schlittschuhe an den Füßen trug, hatten sie auch schon seine Arme ergriffen und führten ihn über den gefrorenen See. Lyserg fühlte sich sichtlich nicht wohl, machte aber gute Miene zu bösem Spiel, als Yoh ihn freundschaftlich angrinste.

"Tao-san?" Ren brauchte nicht in Fausts besorgtes Gesicht zu sehen, um zu wissen, worum ihn der Arzt bitten würde. Tief seufzte der junge Chinese und legte schließlich seine eigenen Schlittschuhe mit leisem Bedauern in den Schnee. So sehr er sich auf dieses Ereignis auch gefreut hatte, er wusste, dass Faust Recht hatte. Auch wenn seine Nähte gezogen waren und seine Narbe gut verheilte, so musste er dennoch vorsichtig sein und plötzliche Bewegungen und vor allen Dingen Stürze vermeiden. Zwei Dinge, die ihn auf dem Eis mit Sicherheit begegnen würden.

"Ich wollte sowieso einen Schneemann bauen." Ren nickte nur, als ihn Faust freudig anlächelte. Dann drehte sich der Arzt zu seiner Eliza um und gemeinsam schwebten sie über das Eis davon. Sie konnten sogar noch besser Eislaufen als Manta, der einige Tricks auf Lager hatte. Niemand hatte ihm bis jetzt im Schnelllaufen oder im Rückwärtsfahren das Wasser reichen können. Nicht einmal Pirika, die gerade Anna ein paar Tipps gab. Beide Mädchen schienen ihren Spaß zu haben, besonders über Lysergs Anblick. Der junge Engländer sollte nach einigen Runden über den See allein laufen, klammerte sich aber sofort so fest an seine Retter, dass Yoh und Chocolove das Gewicht verloren und hin fielen. Wie ein großes Knäuel aus Jacken, Schals und Mützen lagen sie für einen Moment auf dem kalten Fußboden, bevor Manta ihnen zur Hilfe kam und sie alle zu lachen begannen.

Schön, dass sie ihren Spaß haben.

Ren bückte sich und formte nachdenklich einen Schneeball in seinen Händen. Dabei versuchte er, nicht an seine Schwester zu denken, die ihm das Schlittschuhlaufen beibrachte, als er noch ein ganz kleiner Junge gewesen war. Anders als beim Plätzchenbacken und dem Drachensteigen hatte er sein Gefallen damals offen gezeigt, weil er das Gefühl hatte, dass das Schlittschuhfahren wichtig war. Nur ein Herrscher, der seinen Körper auch in so schlittrigen Situationen beherrschte, konnte seine Untertanen kontrollieren.

>Fühle die Bewegung, Ren-chan, und sei nicht so steif.<

>Pah! Ich kann das schon... ARG!<

>Siehst du? Du darfst dich nicht ablenken lassen. Bist du ok, Ren-chan?<

>Ich werde das schon bald perfekt können, du wirst schon sehen!<

>Natürlich.<

Erneut glaubte er, die warmen Arme um seine Schultern zu spüren, die ihn sanft drückten und dann wieder aufrichteten, damit er es erneut versuchen konnte. Ren wusste bis heute nicht, ob Jun bemerkte, wie er sich zu Beginn noch heimlich an ihrem langen Kleid fest hielt, während er hinter ihr her lief, aber er konnte sich noch gut an jeden einzelnen Sturz erinnern, bei dem sie ihn auffing oder ihn verarztete, wenn sie nicht rechtzeitig hatte nach ihm greifen können.

Sie war immer da gewesen.

Immer.

Ren schluckte hart und warf den Schneeball auf seine Stiefel, auf die er ausdruckslos starrte.

Nun ist sie aber nicht da.

Nicht mehr...

"Ren-kun?"

Der junge Chinese brauchte einige Augenblicke, bevor er die leise Stimme neben sich hörte. Er blickte auf und blinzelte in die hellen Strahlen der Wintersonne. Horo Horo stand über ihm und knetete nervös seine Handschuhe.

"Hat Faust dir das Schlittschuhlaufen verboten?"

"Ja. Ist eben so, wenn man Invalide ist." Ren ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, immerhin hatte Horo Horo nicht nur das erste Mal seit fast zwei Tagen mit ihm geredet, sondern hatte ihn auch noch freiwillig angesprochen.

Er will die Sache genauso geklärt haben wie ich.

"Willst du da jetzt einen Schneemann bauen?"

"Eigentlich schon." Ren zuckte mit seinen Schultern und stellte erfreut fest, dass sich die anderen sehr weit auf dem See befanden, sie vielleicht sehen, aber ihre Unterhaltung unmöglich mit anhören oder, was ihm noch peinlicher gewesen wäre, unbrauchbare Ratschläge geben konnten. "Aber ich darf auch nichts Schweres heben, also hätte ich wohl eine Kugel und damit war's das dann."

"Einen Arsch mit Ohren könntest du draus machen." Horo Horo kicherte und ließ die Schlittschuhe, die noch immer über seinen Schultern baumelten, zu Boden gleiten. Dann bückte er sich und formte einen Schneeball, den er dann quer über den Schnee um den Schlitten rollte, bis er eine ansehnliche Kugel vor sich her schob.

"Würdest du da Porträt stehen?" Ren holte tief Luft, verdrängte die Erinnerung an eine lachende junge Frau, die immer über das Eis getanzt war, als wäre es ihr Element. Die ihn angelacht, ihre weichen Arme vor ihm ausgebreitet hatte, um ihn aufzufangen und entgegen seiner lauten Proteste umher zu wirbeln. Wie sehr hatte er diese Momente doch genossen. Und wie sehr vermisste er sie jetzt...

"Wieso? Ist dein Spiegel kaputt?" Horo Horo grinste, als er Ren die zweite Kugel abnahm und auf den Rumpf hievte. Den Kopf konnte Ren dann allein heben. Für eine Weile arbeiteten sie schweigend, klopften hier und da Schnee fest, formten zwei Arme und zwei kleine Kugeln, die laut Horo Horo Schuhe darstellen sollten. Ren hatte noch nie einen Schneemann mit solch seltsamen Pantoffeln gesehen, aber ihm sollte es recht sein.

"Horo-kun?" Ren wusste, dass ihm nur dieser Mittag blieb, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten. Chocolove hatte so etwas wie eine Karaokebar angedroht und dort wäre es unmöglich, ein privates Gespräch zu führen. Vermutlich würde es sogar sehr schwer sein, überhaupt ein Gespräch zu führen, während Chocolove laut und schief und Lyserg leise und schüchtern sangen und die anderen in helles Gelächter ausbrachen, wohl wissend, dass sie keinen Deut besser sangen.

"Hai?" Der junge Ainu wühlte im Schnee nach einigen Steinen, die er dem Schneemann als Augen einsetzen wollte. Leider war in den letzten Wochen zu viel Schnee gefallen, was in Tokio nur aller Jubeljahre einmal vorkam, sein Vorhaben war wohl zum Scheitern verurteilt.

"Hast du deine Worte vorgestern ernst gemeint?" Ren hatte noch nie gut mit Worten umgehen können, also sagte er einfach gerade heraus, was ihn am meisten beschäftigte. Horo Horo vergaß die Steine augenblicklich, sah jedoch nicht auf. Er verharrte auf allen Vieren im Schnee und seufzte leise.

"Hai." Ren sah mehr, dass sich Horo Horos Mund bewegte, als dass er die Antwort wirklich hörte. Die anderen lachten erneut weit draußen auf dem See, aber ihre Stimmen kamen den beiden unwirklich vor, so weit weg.

Siehst du? Er hat es ernst gemeint!

"Warum?" Ren wusste, dass es eine selten dämliche Frage war, aber ihm fiel einfach nichts Besseres ein.

"Woher soll ich das wissen? Glaubst du, mir fällt es leicht zu akzeptieren, dass ich für meinen einst ärgsten Feind auf einmal so etwas wie Freundschaft empfinde... und sogar etwas mehr?" Nun blickte Horo Horo auf und sein Gesicht war käsebleich. Unbewusst hatte er in seinen Händen einen Schneeball geformt, aber sicherlich nicht, um sich zu verteidigen, sondern vielmehr, um seinen ruhelosen Händen etwas zu tun zu geben.

"Vor zwei Monaten hätte ich dich am liebsten unter einem Eisberg begraben und erfrieren lassen, Ren. Ich wollte, dass du für immer verschwindest und nie wieder auftauchst und war richtig auf Yoh-kun sauer, dass er dich zurück holte und dich bei sich bleiben ließ. Im Kino hab ich dich absichtlich ausgeschlossen und wollte, dass du aufgibst und doch noch selbst abziehst, wenn dich alle wie einen Aussätzigen behandeln!" Horo Horo zuckte hilflos mit seinen Schultern und lächelte unsicher. "Aber das hat sich verändert, wie und wann, das kann ich dir auch nicht sagen. Du bist mir wichtig geworden, Ren. Als dein Fieber immer weiter stieg und es so aussah, dass Faust dich vielleicht doch nicht retten konnte, bin ich fast ausgeflippt vor Sorge. Vielleicht haben Yoh-kun, Anna-san und ich uns gegenseitig halb in den Wahnsinn getrieben, aber ich hab nicht nur wegen ihnen angerufen. Ich hab mich riesig gefreut, als mein Lehrer krank wurde und ich schon eher herkommen durfte. Es waren großartige Wochen, Ren, in denen ich mir bewusst wurde, dass ich gern in deiner Nähe bin. Ich... ich fühl mich seltsam leer, wenn du nicht um mich bist. Ich..." Horo Horos Ohren leuchteten rot unter seinem Stirnband und er suchte nach den passenden Worten. Er wollte sich bei Ren entschuldigen für seinen Gefühlsausbruch, wollte ihn darum bitten, ihre Freundschaft nicht einfach so aufzugeben, wenn sie ihm auch etwas bedeutete. Er wollte so vieles auf einmal sagen, aber jetzt fehlten ihm plötzlich nach dem Schwall aus Geständnissen die Worte.

"Ich..."

Ren, der ihn die ganze Zeit über schweigend beobachtete hatte, unterbrach ihn wirsch. Ein ungläubiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht, während er nach etwas Schnee griff und damit den rechten Arm des Schneemannes abstützte, der abzubrechen drohte.

"Warum ich, Horo-kun? Warum ausgerechnet ich? Ich hab zwar aufgehört zu zählen, aber ich hab oft genug versucht, dich umzubringen, ich bin der Erbe der Tao Dynastie, ich bin der Fürst der Finsternis, ich bin das personifizierte Böse! Du kannst dir nie sicher sein, ob ich nicht im nächsten Moment über dich herfalle und dich mit irgendeinem Messer in Stücke reiße. Vielleicht spiele ich das hier alles nur, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin? Vielleicht ist nur der Krankenschwesterinstinkt mit dir durchgegangen?" Rens Augen verzogen sich zu Schlitzen und ihm war mit einem Mal unsagbar übel. "Ich hab aus meiner Schwester einen Kyonshi gemacht, Horo-kun, wer gibt dir die Sicherheit, dass ich nicht dasselbe auch meinem Liebhaber antun werde!"

Horo Horo blinzelte, und blinzelte noch einmal.

Liebhaber...

Es klang merkwürdig, wie Ren das Wort so aussprach. Merkwürdig, aber gleichzeitig so hoffnungsvoll, so verlockend in Horo Horos Ohren.

"Weil ich ein Masochist bin?" fragte er leise und ein scheues Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Immerhin hatte der junge Chinese ihn noch nicht angebrüllt und zum Teufel geschickt, ja, er schien sich nicht einmal vor ihm zu ekeln, obwohl er jetzt wusste, dass er anders war. Nun ja, anders als normale Schamanen. Anders als normale Menschen war er ja schon seit seiner Geburt gewesen.

"Mach bitte keine Scherze darüber, Horo-kun, dafür ist es mir zu ernst." Ren bearbeitete kurz den Arm des Schneemannes, der sich unter dem Gewicht von noch mehr Schnee zu biegen begann.

"Mir auch!" Der Schneeball hatte sich mittlerweile in Horo Horos blauen Fingern in Eis verwandelt. Die Handschuhe baumelten aus seinen Jackentaschen, aber er dachte nicht einmal daran, dass sie ihn wärmen könnten. "Und mir ist es egal, zu was dich dein Vater einst bestimmt hatte. Ich mag die Person, die gerade vor mir steht. Die Vergangenheit ist vorbei!"

"Bist du dir da ganz sicher? So lange ist es gar nicht her, dass du noch blaue Flecken von meinen Händen an deinem Hals hattest. Ich hab versucht, dich zu töten, vergiss das nicht! Ich kann dir keine Garantie geben, ob ich das nicht noch einmal versuchen werde, da ich keinerlei Kontrolle über meine Kampfinstinkte habe."

"Das Risiko bin ich bereit einzugehen."

Der weiße Arm brach und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Ren drehte sich um und blickte Horo Horo mit geweiteten Augen an.

Wie bitte?

Meint er das ernst?

"Ich bin eine Killermaschine, das hast du selbst gesagt!" platzte es aus ihm heraus und er verschränkte seine Arme in einer schutzsuchenden Geste vor seinem Oberkörper. "So jemanden wie mich kann man doch gar nicht mögen..."

Horo Horo zog seine Stirn in Falten, denn ihm fiel auf, dass dieses Gespräch gar nicht den Verlauf nahm, den er erwartet hatte. Irgendwie hatte er sich vorgestellt, dass Tao Ren ihn anschreien oder zumindest ihn für verrückt erklären würde, dass er sich doch tatsächlich in seinen einst ärgsten Feind verliebt hatte. Statt dessen aber führte der junge Chinese all seine Nachteile auf, so, als würde er ihm die Möglichkeit madig machen, dass sich aus seinen Gefühlen mehr entwickeln könnte. So als würde er versuchen, Horo Horo eine Freundschaft auszureden, und etwas, das noch tiefer ging. Horo Horo und sich selbst.

"Ren! Darum geht es doch gar nicht." Unterbrach er die dunkle Gestalt und kam schwerfällig auf seine Beine, worauf sich der junge Chinese umdrehte und scheinbar eifrig an dem Schneemann weiter arbeitete.

"So? Worum denn dann?" knurrte er, aber Horo Horo ließ sich nicht von der plötzlichen Feindseligkeit abschrecken. Es würde Tao Ren nie wieder gelingen, ihn einzuschüchtern. Nicht nach den letzten Wochen, in denen Horo Horo den jungen Chinesen von einer ganz anderen Seite, von einer menschlichen Seite kennen gelernt hatte.

Er hat seine Schwester geliebt.

Er sorgt sich um Yoh-kun und Anna-san.

Er kümmert sich um seine Freunde.

Er ist mein bester Freund geworden, egal, was er auch behauptet...

"Es geht darum, dass du aus China kommst und ich hier in Japan lebe, dass wir beide noch nicht einmal vierzehn Jahre alt und außerdem noch beides Jungs sind!" Horo Horo zählte die Gründe auf, die ihn die letzten Tage beschäftigt hatten. "Und dass du mir deswegen jetzt die Freundschaft kündigst!"

Er erntete von Ren einen derartig verständnislosen Blick, das er seine Finger noch fester um den Eisklumpen presste. Der zweite Arm des Schneemannes fiel ebenfalls zu Boden, achtlos. Der junge Chinese schien offensichtlich vergessen zu haben, woran er gearbeitet hatte, als er sich wieder zu dem jungen Ainu um drehte und ihn für einige Augenblicke mit überraschtem Schweigen anstarrte.

Ihm die Freundschaft kündigen?

Ich? Ihm?

"Warum sollte ich etwas so Dummes tun?" Er musterte den jungen Ainu, dann seufzte er tief. "Ich bin eine Killermaschine, der Rest spielt doch überhaupt keine Rolle."

"Häh?" Horo Horo hatte nun völlig das Gefühl, dass sie ganze Zeit aneinander vorbeigeredet hatten. "Aber..."

"Jun hat immer gesagt, dass man einen Menschen für seine Seele, nicht nur für seinen Körper lieben soll." Flüsterte Ren leise und fuhr zitternd zusammen, als Wind durch seine rabenschwarzen Haare fuhr. Oh, wie gern hätte er seine Schwester jetzt an seiner Seite! Sie wäre gewiss in der Lage, diese verworrene Situation zu klären und seine Zweifel zu beseitigen. Aber sie war nicht da. Sie würde nie wieder da sein.

"Deine Schwester war sehr schlau. Ich wünschte, dass so manche Menschen in diesem Land genauso denken würden wie sie." Murmelte Horo Horo und beobachtete, wie Ren zurück zu dem Schlitten ging und sich förmlich darauf fallen ließ. Dann stützte er seine Ellenbogen auf seinen Knien und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

Jun...

Ren ahnte, dass seine Schwester mit dem Satz an ihren Li Pailong gedacht hatte, aber es war eine Auffassung gewesen, die er übernahm, trotz der strengen Erziehung seines Vaters, die Liebe überhaupt nicht vorsah.

Wie könnte jemand meine schwarze Seele lieben? Das ist doch unmöglich.

"Ren?" Er sah nicht auf, als er die Schritte neben sich im tiefen Schnee knistern hörte. "Ren?"

Der junge Chinese wollte, dass Horo Horo einfach verschwand, ihn in Ruhe ließ, aber im gleichen Moment wollte er, dass der junge Ainu bei ihm blieb. Es war so widersprüchlich, er würde es wohl nie verstehen!

"Ren?"

"Mir ist es gleich, ob du ein Junge bist, auch spielt für mich das Alter keine Rolle. Anna und Yoh sind seit vielen Jahre schon verlobt und das bestimmt nicht nur, weil ihre Großeltern die Idee so toll fanden." Ren holte tief Luft und presste seine Augen fest aufeinander. "Ich fühl mich auch wohl in deiner Nähe, Horo-kun, aber ich bin der Tao Erbe. Ich wurde dazu erzogen, die Menschen zu hassen und ein Leben in völliger Einsamkeit zu führen. Wenn Jun..." Er schluckte heftig und der Schmerz brannte heiß in seiner Seele. "... wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich wohl nie gewusst, was eine Familie bedeutet. Bei uns waren es immer nur Zweckgemeinschaften, die Kinder wurden von Dienern oder fernen Verwandten erzogen, der Herrscher und seine Gattin sahen sich so wenig wie möglich. In meinem Leben herrschte nur eisige Dunkelheit, bis ich Yoh über den Weg lief, Horo-kun. Ich hab keine Ahnung von menschlichen Gefühlen, geschweigedenn von der Liebe. Selbst... selbst wenn ich deine Worte annehme, Horo-kun, so wird es nicht klappen."

Wenn er meine Worte annimmt.

Horo Horos Herz machte einen Freudensprung und der junge Ainu warf den mittlerweile klein geschmolzenen Eisklumpen achtlos in den Schnee.

Es war nur eine kleine Chance, vielleicht missverstand er den jungen Chinesen ja, wäre nicht das erste Mal in seinem Leben, aber er würde sie sich nicht entgehen lassen.

Ich bin wirklich vollkommen durchgeknallt.

Er zuckte mental seine Schultern.

Ja. Und?

Ren fuhr heftig zusammen, als er spürte, wie sich der junge Ainu neben ihn auf den Schlitten setzte, zögernd einen Arm um seine Schultern schlang. Es erstaunte Horo Horo zu hören, dass es Ren nur um seine Vergangenheit ging, nicht etwa darum, was seine Freunde oder die Gesellschaft zu ihnen sagen könnten. Für ihn existierte nur der Tao Kodex, alles andere schien Nebensache zu sein. Obwohl Rens Vater seit einem Jahr verschwunden war, schien der junge Chinese noch immer Angst vor ihm zu haben, oder zumindest einen so tiefen Respekt, der ihn anders denken ließ als die Menschen um ihn herum.

Hai, er hat mehrfach versucht, mich zu töten.

Aber trotzdem mag ich ihn.

Horo Horo lehnte seinen Kopf gegen Rens und schloss für einen Augenblick seine Augen, konnte die entfernten Stimmen seiner Freunde auf dem Eis hören und den Wind spüren, der durch seine Jacke fuhr.

Es ist verrückt, aber ist das nicht das ganze Leben?

Eine Schleife von verrückten Zufällen und Begebenheiten?

"Magst du mich?" flüsterte er leise und spürte, wie sich Ren neben ihm versteifte. Horo Horo musste Gewissheit haben, wollte es von dem jungen Chinesen selbst hören, dann könnte er mit so ziemlicher jeder Konsequenz umgehen.

"Dummkopf!"

"Magst du mich?"

"Es würde nicht funktionieren."

"Magst du mich?"

"Ich würde dir nur weh tun."

"Magst du mich?"

Stille entstand zwischen ihnen und erneut hörte Horo Horo das ferne Lachen seiner Freunde. Vermutlich war Lyserg ein weiteres Mal hingefallen und hatte Chocolove oder gar Ryu mit sich gerissen. Sie alle schienen eine Menge Spaß zu haben, schließlich waren ja auch Weihnachtsferien.

Ich will Ren auch wieder so fröhlich sehen. Er soll wieder so lachen wie damals in dem Restaurant, als ich ihn mit Ketchup vollgespritzt hatte.

"Ja." Die Stimme war so leise, dass Horo Horo sie neben dem lauten Kreischen von Pirika beinahe nicht gehört hätte. Aber nur beinahe. Erleichtert lächelte der junge Ainu und drückte Ren einen Kuss auf die rechte Schläfe.

Der junge Chinese hob endlich seinen Kopf und seine gelben Augen starrten Horo Horo lange schweigend an.

"Was ist, wenn es schief geht?" fragte er schließlich. Sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung, aber Horo Horo ahnte, dass es in dem Jungen mit Sicherheit ganz anders aussah.

"Was ist, wenn es funktioniert?" Plötzlich musste der junge Ainu befreit grinsen und griff langsam hinter sich. "Darf ich dich da Ren-channi nennen?"

"Na, übertreib's mal nicht!"

Beide warfen ihre heimlich geformten Schneebälle wie aufs Stichwort und wälzten sich kichernd auf dem Boden neben einem ziemlich lädiert ausschauenden Schneemann. Ren gewann natürlich die Oberhand, nicht, ohne dass ihm Horo Horo sofort einen frisch erschaffenen Schneeball in den Nacken schob.

Ich könnte ihn ganz einfach das Genick brechen, im Bruchteil einer Sekunde, er würde es nicht einmal bemerken.

Der Gedanke zuckte durch Rens Kopf, während er Horo Horos Schultern fest hielt und in ein gerötetes Gesicht blickte. Der junge Ainu feixte ihn an und seine blauen Augen leuchteten glücklich.

Nein, das werde ich nie tun!

Tao Ren war zu einem Killer, zu einem mächtigen Erben erzogen worden, hatte nicht immer die volle Kontrolle über seine Taten, wenn sie zu sehr von seiner strengen Erziehung gesteuert wurden, die er nicht so rasch abstreifen konnte wie andere Gewohnheiten. Aber er wusste plötzlich dass, egal, was auch passieren würde, er nie mehr Hand an Horo Horo legen würde. Nie wieder.

Außer natürlich, um ihn auszukrabbeln...

Ren lachte, als der junge Ainu ihm zu vor kam und seine kitzeligen Seiten fand.
 

***
 

"Ich fasse es nicht, dass du einfach meine Mütze gestohlen hast und drei Meter später hingefallen bist." Pirika schaute Ryu noch immer giftig an, während sie das besagte Objekt fest in ihren Händen hielt. Es war ein wunderschöner Nachmittag gewesen, an dem sie viel gelacht und nach ausgiebigem Schlittschuhfahren Horo Horo und Ren beim Schneemannbauen geholfen hatten, die selbst schon wie zwei Schneemänner aussahen. Ihre Kleidung war über und über mit Schnee bedeckt gewesen und Ren sah richtig seltsam in der weißen Tracht aus. Beide hatten sie gegrinst und sich von Anna und Pirika ausschimpfen lassen, dass ihre Jacken und Hosen ganz feucht geworden waren. Beide Mädchen sagten entschieden, dass sie sie nicht pflegen würden, sollten sie sich erkälteten. Nur, um ihnen im gleichen Atemzug einen heißen Tee aus der Thermoskanne in die Hand zu drücken.

"Der Sturz war nicht vorgesehen gewesen." Verteidigte sich Ryu. Sie saßen nun wieder in der S-Bahn und fuhren zurück in den kleinen Vorort von Tokio, wo sie ein leckeres Abendbrot erwartete. Sie alle hatten Hunger und freuten sich schon riesig auf Annas berühmte Reisbällchen.

"Tja, die Strafe folgt eben auf den Fuß." Pirika funkelte den jungen Mann wütend an. "Hey, Horo-chan, verteidige mich doch endlich!" meinte sie und verdrehte ihre Augen, als ihr Bruder neben ihr zu kichern begann.

"Du kannst dich sehr gut selbst verteidigen." feixte Horo Horo und streckte seine Beine aus. Er musste erneut kichern, als Chocolove bereits das dritte Mal durch das Abteil rannte, dicht gefolgt von Lyserg und Yoh. Der junge Amerikaner würde es wohl nie lernen, dass nicht jeder seine Witze als komisch erachtete beziehungsweise die zwei Freunde einfach auf jede sich bietende Gelegenheit warteten, um ihn quer durch Japan zu jagen. Oder machte Chocolove all das aus purer Absicht, weil er diese Spiele mochte?

"Ich hab jetzt ein Loch in meiner Mütze, weil der Idiot drübergefahren ist!" Pirika fand all das überhaupt nicht lustig, auch wenn alle sich köstlich darüber zu amüsieren schienen. Selbst die Geister hatten über Ryus Sturz gelacht.

"Ich helfe dir, sie zu flicken." Erbot sich Anna, die mit Manta ihnen gegenüber saß und mit ihm in den kleinen Computer schaute, den der Japaner immer mit sich herum trug. Das Gerät piepte leise und Horo Horo brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass die beiden gerade ein Computerspiel spielten. Mantas Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass das Mädchen am Gewinnen war.

"Arigatou." Pirika schmollte Ryu an. "Aber das ist nicht dein Verdienst!"

Horo Horo sah sich kurz um und bemerkte, dass zwei Personen fehlten.

"Wo sind eigentlich Faust und Eliza?"

"Sie wollten noch in ein Restaurant. Faust sagte etwas von einem Essen im Kerzenschein." Anna zuckte mit ihren Schultern, sie war nicht gerade eine romantische Ader, obwohl sie vor einigen Wochen auch nichts gegen Yohs Blumenstrauß gehabt hatte.

Ein Essen im Kerzenschein.

Der junge Ainu drehte leicht seinen Kopf und betrachtete Ren, der neben ihm am Fenster saß und sich nicht an der Unterhaltung beteiligte. Der junge Chinese hatte seinen Kopf gegen das kalte Glas gelehnt, seine Augen waren geschlossen, er schlief tief und fest. Der Ausflug war wohl doch anstrengender für ihn gewesen, als er das zugeben wollte. Schließlich war er noch nicht völlig gesund, was die Tabletten verrieten, die er zum Mittagessen nach dem Schneemannbau und kurz bevor sie in die S-Bahn einstiegen zu sich nahm. Oder hatte er die letzten Nächte einfach nur schlecht geschlafen?

Horo Horo grinste bei der Vorstellung von einem angeblich romantischen Essen beim Kerzenschein mit Tao Ren, denn er wusste, dass dies nur in einer Essensschlacht enden würde.

"Morgen kommen sie dann aber pünktlich zum Abendbrot." Anna lächelte triumphierend, während Mantas Schultern nach unten sackten. Offensichtlich hatte der kleine Japaner gerade verloren.

"Morgen ist ja Weihnachten. Ich hab ein ganz tolles Geschenk für dich." Pirika lächelte ihren Bruder liebevoll an und verdrehte ihre Augen, als Ryu sich zu ihr hinüber beugte.

"Wirklich?"

"Nicht für dich, Baka! Das hab ich für meinen Nii-chan!"

"Ach so..."

"Gierhals!" Pirika stand ihrem Bruder im Streiten in Nichts nach, was sie nicht unbedingt bei all ihren Lehrern beliebt machte. Aber Horo Horo mochte seine Schwester genauso wie sie war. Er hoffte, dass sie sich über sein Geschenk freuen würde.

"Kommt ein Gerippe zum Arzt..." japste Chocolove, als er erneut an ihnen vorbei hetzte, dicht gefolgt von Lyserg und Yoh, die beide mehrfach stolperten und leise kicherten. Zum Glück war die S-Bahn nicht all zu dicht besetzt. Es begann am frühen Nachmittag bereits wieder zu schneien und viele Leute zog es da bereits zurück in ihre Häuser, während sie im immer dichter werdendem Schneefall munter ihre Schneemänner zu Ende bauten. Erst, als man die Hand kaum mehr vor Augen sah, waren sie aufgebrochen.

"... da kommen Sie aber zu spät..." Chocolove lachte laut auf, als ihn seine zwei Verfolger erreichten und zu Boden zwangen. Im nächsten Moment erstarb sein Lachen, als der Waggon einen seltsamen Schlenker machte und sie zur Seite gestoßen wurden. Der Computer fiel aus Mantas Händen, doch bevor er danach greifen konnte, wurde er von seinem Sitz geschleudert, als der Zug mit einem Mal umkippte. Er streckte seine Hand nach Anna aus, die aber schon gar nicht mehr auf ihrem Platz saß.

"Hilfe!" schrie Pirika und spürte, wie ihr Bruder ihren Arm packte und sie ganz fest an sich zog. Eisige Kälte umgab sie und sie kreischte laut auf, als sich die Welt wie verrückt um sie drehte. Ihr wurde schlecht und sie hielt sich verzweifelt an dem warmen Körper neben ihr fest. Ängstlich wimmerte sie, auch, als die Bewegung endlich verebbte, eine undurchdringbare Dunkelheit sie umgab.
 

***
 

Ren wurde unsanft aus seinem Schlaf gerissen. Gerade hatte er sich noch in seiner Heimat auf einem hohen Berg befunden und Horo Horo beim Snowboardfahren zugesehen, nun aber befand er sich in einer eisigen Dunkelheit, die ihm das Atmen schwer machte. Sein Bauch schmerzte und seine Beine waren eingeklemmt.

Wo bin ich?

Er wollte nach seiner Totentafel tasten, um Bason zu rufen, damit er ihm wenigstens ein wenig Licht spendete, konnte sie aber nicht erreichen. Jemand lag über ihm. Jemand, der leise weinte.

"Wer ist da?" fragte er und die Luft, die in seine Lungen eindrang, stach wie tausend Nadelstiche.

"Nii-chan?" schluchzte eine hohe Mädchenstimme und Ren wusste, dass es Pirika war, die mit ihm diese grausame Dunkelheit teilte. Sein Atem ging immer schwerer und er fragte sich, wo sie sich genau befanden. Er streckte seine rechte Hand aus und biss sich auf die Unterlippe, als der Schmerz in seinem Bauch bei dieser Bewegung zu nahm. Keine zehn Zentimeter über seinem Gesicht traf er auf eine Barriere. Auf eine harte Barriere, die sich unter seinen Fingern eisig anfühlte.

Ein Eispanzer?

Ist das Horo Horos Werk?

Aber warum? Und wieso ist seine Schwester hier mit eingeschlossen?

"Nii-chan!" Pirikas Stimme überschlug sich vor Panik und Ren wünschte sich nichts sehnlicher, als wenigstens ein bisschen Licht erschaffen zu können, um sie zu sehen, um sie zu beruhigen.

"Pirika-chan?" Da ertönte endlich Horo Horos Stimme in der Finsternis, beruhigte das Mädchen ein bisschen. Der junge Ainu klang erschöpft, sehr erschöpft, als habe er gerade all seine Kräfte auf einmal aufgebraucht.

"Ich bin hier." Antwortete das Mädchen und bekam sogleich einen Schluckauf. Sie bewegte sich und Ren erkannte, dass sie beide, sie und ihr Bruder, quer auf ihm lagen in einer sicherlich nicht besonders bequemen Position.

"Ren?"

"Alles ok." Sagte er schnell und holte tief Luft, als Pirika ihre rechte Hand auf seinem Bauch abstützte. "Was ist hier los?"

"Der Zug ist entgleist und ich hab uns zur Sicherheit in einem Eispanzer eingeschlossen." Ren konnte trotz der Dunkelheit Horo Horos schwaches Grinsen förmlich sehen. "Jetzt hab ich leider keine Kraft mehr, die Schale zu zerbrechen."

"Du bist eine selten dämliche Nuss."

"Ich weiß."

Ren überlegte fieberhaft, seine Hand fuhr über die massive Mauer über sich. Nein, er besaß keine Waffe mehr. Seine Sense lag noch immer in dem Ballsaal in seiner Heimat, er wollte sie auch nie wieder benutzen, und den Dolch hatte er erst vor kurzem diesem frechen Schüler vor die Füße geworfen.

"Krieg ich deine Schlittschuhe?" fragte er und tastete nun in die Richtung, wo er Horo Horo vermutete.

"Was immer du willst, nur beeil dich." Für einen Augenblick trafen sich ihre Hände und Ren drückte eiskalte Finger sanft, bevor er die scharfe Klinge umfasste. "Die Luft wird langsam knapp."

Pirika wimmerte erneut und Ren schloss beide Augen, als er die Klinge auf das Eis herabsausen ließ. Es brachte dem Geräusch zufolge kaum mehr als einen winzigen Riss.

"Ich schaff das nicht allein, Horo-kun." Stöhnte Ren, als der Schmerz in seinem Bauch wieder stärker wurde. "Ich brauche Basons Hilfe, aber ich komm nicht an seine Totentafel ran, weil ihr auf mir liegt."

"Oh..." Pirika weinte noch immer, aber wenigstens nahm sie ihren Ellenbogen aus seinem Magen. Auch Horo Horo bewegte sich, wenn auch wesentlich langsamer als seine Schwester. Er hatte all seine Kräfte aufgebraucht, stand gewiss nur kurz vor einem kompletten Zusammenbruch. Kalte Hände fuhren unter Rens Mantel und fanden sicher die Totentafel, schließlich hatte Horo Horo oft genug gesehen, wie Ren sie dort verstaute. Der junge Chinese spürte, wie sie aus der Verhalterung gelöst wurde und griff mit seiner anderen Hand nach ihr, wobei er Horo Horos Finger berührte. Sie zitterten.

Im nächsten Moment erhellte ein grünes Leuchten den Eispanzer, der in allen Farben des Regenbogens zu leuchten begann. Pirika hatte sich an ihren Bruder geklammert und weinte, während sich Horo Horo und Ren kurz in die Augen sahen.

>Master!<

Bason brauchte keine Extraeinladung. Er fuhr in die Klinge des Schlittschuhes und mit seiner Hilfe konnte Ren das Eis zerbrechen. Die Splitter flogen von ihnen fort und sie landeten sanft im Schnee.

Was?

Ren versuchte aufzustehen, aber unsagbare Pein durchfuhr seinen Körper, also blieb er auf allen Vieren hocken und blickte hinüber zu dem Wrack des Zuges. Der Waggon lag nur wenige Meter neben ihnen und überall waren Lichter und Sirenen, die den Schneesturm durchbrachen, der heftig an ihnen zerrte.

"Der Zug ist entgleist..." flüsterte Pirika fassungslos und hustete. Sie saß im Schnee und schien sich nicht bewegen zu können. Aber ihr war offensichtlich nichts geschehen. Nicht einmal eine Schnittwunde oder ähnliches war in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie hatte Glück gehabt und war weich gelandet, als ihr Bruder sie in den Eisblock einfror, um sie vor dem Aufprall zu bewahren.

Sie und Tao Ren...

"Was für ein Chaos." Murmelte der junge Ainu und kam schleppend auf seine Füße. Erst untersuchte er seine Schwester auf gebrochene Knochen, reichte ihr abwesend ein Taschentuch und ging dann hinüber zu Ren, dessen schmerzverzerrtes Gesicht bereits alles aussagte.

"Deine Wunde, stimmt's? Blutest du?" Horo Horo half Ren auf die Knie und öffnete seine Jacke. Der Schmerz lähmte den jungen Chinese, so dass er sich nicht großartig wehren konnte, egal, wie seltsam ihn die kleine Schwester seines Freundes auch anschaute. Kälte ließ ihn fröstelnd zusammen fahren und er brauchte gar nicht an sich herab zu sehen, Horo Horos Gesicht sprach Bände. Dennoch tat er es und konnte das Blut sehen, das über seinen Bauch lief. Ein Teil der Wunde war wieder aufgegangen. Der Teil, der schon immer schlechter heilen wollte.

"Scheiße!" fluchte der junge Ainu so laut, dass er sogar das Rattern des Rettungshubschraubers übertönte, der auf der anderen Seite des Zuges in einem komplizierten Manöver landete. Der Schneesturm wurde immer heftiger, aber vermutlich ging man dieses risikovolle Unterfangen nur ein, weil einige Fahrgäste so schwer verletzt waren.

Andere Fahrgäste...

Ren durchfuhr es siedensheiß, als Horo Horo seinen Schal kräftig um seinen Bauch wickelte, um die Blutung zu stoppen.

"Wo sind die anderen?" fragte er und blickte sich mit weit aufgerissenen Augen um. "Wo sind Yoh und die anderen?"

Er konnte in Horo Horo und Pirikas Gesicht die Angst sehen, die er selbst empfand.
 

***
 

Ren hatte keine Ahnung, woher Faust wusste, dass seine Hilfe benötigt wurde. Vielleicht kam es ja in den Nachrichten oder der Arzt spürte einfach, dass er gebraucht wurde. Wie auch immer, als mehrere Sanitäter durch den wirbelnden Schnee auf sie zu liefen, war der junge Mann plötzlich da gewesen und hatte laute Anordnungen gegeben, die auch sofort befolgt wurden. In dem Chaos, das rund um den entgleisten Zug herrschte, nahmen die Rettungskräfte gerne Befehle entgegen, besonders von einem ausgebildeten Facharzt, der ohne zu fragen mit anpackte und Verletzte versorgte. So auch Ren, der seine unerträglichen Schmerzen kaum mehr ertrug. Er wurde auf eine Bahre gelegt und in den nächsten Krankenwagen geschoben, immer mit Horo Horo und Pirika an seiner Seite. Ein Sanitäter fragte, ob die beiden mit zu ihm gehörten, ließ es dann aber gut sein, als er nicht antwortete und Faust die anderen einfach auf zwei Sitzgelegenheiten im Krankenwagen drückte. Zuerst wandte er sich Rens Wunde zu, die er notdürftig verband. Dann gab er ihm eine Spritze gegen die Schmerzen, die Rens Gedanken ein wenig vernebelten, aber nicht genug, denn er fragte Faust sofort, wo Yoh und die anderen wären. Darauf konnte ihm der Arzt aber leider keine Auskunft geben.

"Horo-chan..."

Ren drehte seinen Kopf und blickte hinüber zu Pirika, die am Krankenbett ihres Bruders saß und unsicher ihr Taschentuch in ihren zitternden Händen knetete. Kurz nachdem sie in die Notaufnahme des nächstgelegeneren Krankenhauses eingeliefert worden waren, war der junge Ainu zusammen gebrochen. Faust hatte ihn sich kurz angeschaut und sie beruhigt, dass er einfach nur erschöpft gewesen war. Eine Weile Ruhe und er würde wieder auf die Beine kommen. Natürlich beruhigte das Pirika nicht besonders und so wich sie nicht von Horo Horos Seite. Es war aber auch niemand da, der sie hätte zum Gehen auffordern können. Faust hatte den offenen Teil der Wunde fachmännisch genäht, hatte sich darum gekümmert, dass Rens Liege neben die von Horo Horo geschoben wurde und war bereits wieder verschwunden. Zum Glück war die S-Bahn in den Abendstunden nicht mehr so voll besetzt gewesen, dennoch hatte es genügend Opfer gegeben, seine Hilfe wurde überall dringend benötigt. Eliza folgte ihm, versprach aber Ren, dass sie nach Yoh und den anderen Ausschau halten und ihm sofort bescheid geben würde, sollte sie sie finden.

Das kann doch alles nicht wahr sein!

Ren biss seine Zähne aufeinander, während er sich langsam aufrichtete. Eine Nadel steckte in seinem linken Arm, die Medizin verlangsamte seine Bewegungen enorm. Aber er musste diesen Schmerz überwinden, er musste einfach wissen, wo Yoh und die anderen waren und ob es ihnen gut ging.

Ihnen darf nichts passiert sein!

Ich verkrafte es nicht, wenn ich sie auch noch verliere!

Er schloss für einen Moment seine Augen, dann holte er tief Luft und schwang seine Beine von der Liege. Um sie herum konnte er aufgeregte Stimmen hören. Sie befanden sich noch nicht in einem richtigen Zimmer, sondern inmitten der Notaufnahme. Lediglich einige Vorhänge trennten sie vom Rest der Verletzten. Sirenen dröhnten unaufhörlich in der Nacht, wurden lauter, wenn die Türen aufgeschoben wurden.

Bitte, lass sie gesund sein.

Bitte!

Ren schämte sich nicht einmal des seltsamen Nachthemdes, das Eliza ihm übergestreift hatte. Der junge Chinese ergriff den Ständer, an dessen Ende ein Tropf mit durchsichtiger Flüssigkeit hing, und stützte sich auf diesem ab, als er zu Pirika hinüber ging. Die Welt wankte ein wenig, aber er ignorierte es. Egal, wie müde oder wie benebelt er sich fühlte, er wusste, dass er erst wieder Ruhe finden würde, wenn Yoh und die anderen gesund vor ihm standen. Nicht eher.

Zwei blaue Augen, die Horo Horos sehr glichen, blickten ihn skeptisch an und auch Kororo, die nun auf Pirikas rechter Schulter saß, schien dem jungen Chinesen nicht sonderlich zu vertrauen, was nicht nur an Bason lag, der hinter seinem Herrn schwebte und dessen wackelige Schritte mit gemischten Gefühlen beobachtete.

"Horo-chan konnte nur zwei Menschen mit sich nehmen." Stellte das Mädchen monoton fest. "Warum hat er sich ausgerechnet für dich entschieden?"

Darauf bekommst du eine Antwort, wenn ich sie selbst weiß.

Ren schaute kurz von Pirika zu Horo Horo und konnte nur schwer dem Drang widerstehen, durch blaue Haare zu streicheln. Der junge Ainu sah so schwach, so bleich in den weißen Lacken aus. Ren wollte ihn einfach nur nehmen und in das Asakura Anwesen zurück kehren, um dort mit allen ein schönes Weihnachten zu feiern.

Wenn es den anderen auch gut geht...

"Pass auf ihn auf, Pirika-kun." Sagte er und stützte sich härter auf den Tropf, als der Schmerz in seinem Bauch wieder zu nahm.

Verdammt!

"Man sollte wohl eher auf dich aufpassen." Pirika setzte Kororo auf das Bett ihres Bruders ab und folgte Ren in sicherem Abstand, der die Vorhänge zur Seite schob und hinaus in das Chaos trat. Die Tränen in ihren Augen verrieten, dass sie lieber bei ihrem Horo-chan geblieben wäre, aber sie ahnte, dass Horo Horo gar nicht glücklich gewesen wäre, wäre er aufgewacht und hätte zu hören bekommen, dass sich Tao Ren in Gefahr begeben hatte. Der Tao Ren, den er ohne zu zögern gerettet hatte.

Eigentlich sollte er im Bett bleiben, er kann ja kaum stehen!

Pirika seufzte leise und bereitete sich schon innerlich darauf vor, Ren abzustützen, sollte er fallen. Und lauthals nach einem Arzt zu rufen.

Er ist genauso dickköpfig, wie Horo-chan es am Telefon immer beschrieben hat.

"Es geht ihnen sicherlich gut. Sie sind doch alle Schamanen." Sagte sie bestimmt und wich einer Schwester aus, die hektisch an ihnen vorbei lief, den kreischenden Sirenen entgegen.

"Ich will aber Gewissheit..." Rens Stimme versagte ihm, als ein Arzt einen anderen Vorhang zur Seite schob und aus diesem hervor trat. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber Ren erkannte sofort, wer hinter dem Vorhang auf einer viel zu großen Liege lag, mit einem dicken Verband am Kopf und geschlossenen Augen.

NEIN!

Eisige Kälte füllte Rens Magen und er strauchelte, als er zu dem Vorhang eilte. Seine Beine gehorchten ihm kaum noch, sein ganzer Körper sträubte sich gegen die anstrengenden, die schmerzenden Bewegungen, aber das war ihm egal. Er musste wissen, wie schwer Anna verletzt war, die sich hinter dem Vorhang befand. So leblos. Und warum Yoh nicht in ihrer Nähe war. Warum niemand anderes in ihrer Nähe war.

"Sollten wir nicht besser in unserem Bett liegen?"

Das erste Mal an diesem chaotischen Abend stellte sich ihnen jemand in den Weg. Es war eine Krankenschwester, die nicht nur einen Kopf größer war als Ren, sondern auch sehr kompakt wirkte. Mit Sicherheit war sie wesentlich stärker als der junge Chinese. Zumindest im Moment.

"Wir suchen nach ein paar Freunden." Erbot sich Pirika, die die blanke Angst auf Rens Gesicht sehen konnte. Auf dem Gesicht eines jungen Chinesen, den sie so sehr verabscheute, weil er ihren Bruder mehr als einmal bedroht hatte. Eines Jungen, den Horo Horo ohne zu zögern gerettet hatte.

Pirika ahnte, dass sich eine ganze Menge in den letzten Wochen verändert hatte, wusste aber auch, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um darüber nach zu grübeln. Jetzt galt es, an dieser Krankenschwester vorbei zu kommen, und zwar ohne, dass Tao Ren diese mit seinem giftigen Blick röstete.

"Dort drin liegt Kyoyama Anna! Ich muss sofort zu ihr!" Ren wollte die Krankenschwester einfach zur Seite schieben, war dann aber derjenige, der von ihr zurück gehalten wurde.

"Immer langsam mit den jungen Pferden. Du gehörst ins Bett. Wer seid ihr beiden überhaupt?"

Warum kann Faust nicht hier sein?

Wo ist meine Sense?

Wie geht es Anna? Wie geht es den anderen?

Bitte, lass sie gesund sein.

Lass sie am Leben sein.

"Wir sind sehr gute Freunde." wiederholte Pirika, als Ren seinen Tropf stärker umklammerte, sich aber unter aller Kraftanstrengung nicht aus dem Schraubstock der Krankenschwester befreien konnte.

"Freunde? Dann kann ich euch nicht vorlassen. Zutritt ist nur Familienangehörigen erlaubt." Sie hatte das Gefühl, dass gelbe Augen sie zu durchbohren schienen. "Sorry, aber das ist Vorschrift, besonders an einem so chaotischen Abend, da kann ich keine Ausnahme machen."

Keine Familienangehören?

"Was soll der Scheiß?!" schrie Ren sie plötzlich an und trat ihr auf den Fuß, woraufhin sie ihn los ließ und er einige Schritte nach hinten taumelte, bis er die Wand im Rücken spürte. Seine Wunde brannte höllisch und mit der freien Hand bedeckte er seinen schmerzenden Bauch. "Ich will sofort zu Anna und Sie werden mich nicht daran hindern."

"Du freches Bürschchen!" Die Krankenschwester war wütend, aber ihr Zorn konnte sich mit dem des jungen Chinesen nicht messen. "Zutritt nur für Familienangehörige, so sind die Vorschriften. Also geh zurück in dein Bett, hier ist schon genug los, ich hab keine Zeit, mich um dich zu kümmern."

"Dann verschwinden Sie!"

Ich muss wissen, ob sie am Leben sind.

Ich kann hier nicht einfach wieder weggehen.

Ich... ich will nicht schon wieder alles verloren haben... bitte...

Ren rollte den Tropf schützend vor sich und Pirika wusste auf einmal, dass er die Stange im Notfall auch als Waffe einsetzen würde, egal, wie schmerzhaft diese Bewegungen auch für ihn werden würden. Und das Mädchen wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Das konnte vermutlich niemand...

"Das muss ich mir nicht bieten lassen!"

Ren spannte seinen schmerzenden Körper an und war bereit, gegen sie zu kämpfen, als er plötzlich eine warme Hand auf seinem Arm spürte, die ihn sanft zurück hielt. Er wandte seinen Kopf und blickte in Yohs müde grinsendes Gesicht.

"Er gehört zur Familie, Schwester. Er ist mein Bruder." Yoh drückte seinen Arm und sein Blick ruhte besorgt auf dem Tropf und dem Nachthemd, das Ren trug. Er selbst hatte noch seine Kleidung an, nur sein linker Arm war bis zur Schulter einbandagiert. "Und Pirika ist eine sehr gute Freundin der Familie, das geht schon in Ordnung."

"Na, warum kann der das nicht gleich sagen? So einen Aufstand zu machen!" Die Krankenschwester verdrehte ihre Augen, stürmte dann aber ohne ein weiteres Wort davon, als sich erneut die großen Türen öffneten und eine weitere Trage hereingeschoben wurde.

"Faust hat mir schon gesagt, dass es dich übel erwischt hat. Aber du warst nicht da, als ich mit dir sprechen wollte." Yoh stützte Ren und führte ihn hinter den Vorhang, wo er ihn sanft auf einen freien Stuhl drückte. Pirika blieb mit gebührendem Abstand stehen. Ihr Gesicht verriet, dass sie die Ereignisse der letzten Minuten nicht ganz verstanden hatte, aber erst später nachfragen würde.

"Wie geht es den anderen?" Ren holte tief Luft und fühlte, wie Erleichterung ihn durchströmte, als Anna ihre Augen öffnete und ihn erschöpft anlächelte.

"Nur ein paar Kratzer." Nun grinste Yoh wieder.

"Ja, klar." Murmelte Anna. "Nur dieser Idiot musste sich den halben Arm aufschneiden, weil er meinte, mich retten zu müssen."

"Ich spiel nur mal gern den Helden."

"Hab ich gemerkt."

Yoh überging ihre genervten Worte und setzte sich neben sie auf das Bett, um ihre Hand zu ergreifen.

"Können wir so Weihnachten feiern?" fragte er und nun musste auch Ren lächeln, glücklich, dass nichts Ernstes geschehen war. Dass er nicht noch einmal seine Familie verloren hatte.

Danke.

"Natürlich, wenn du kochst."

Yohs Gesicht sprach Bände, so dass Ren und Pirika zur gleichen Zeit kichern mussten.

Danke.

Wem auch immer.
 

***
 

"I am dreaming of a white Christmas..."

Weder Manta noch Chocolove besaßen beim Singen sehr viel Talent, dafür aber sehr viel Begeisterung. Yoh war wieder tief in sein Notenblatt versunken, weil er nicht gerne in einem Chor mitwirkte, auch wenn dieser nur aus seinen Freunden bestand, während Pirika und Anna in den höchsten Tönen zwitscherten. Ryu und Lyserg klangen ganz gut, dafür verstanden die Geister den Text offensichtlich nicht und sangen die seltsamsten Variationen, dafür aber mit der richtigen Melodie. Faust und Eliza waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich verliebt in die Augen zu schauen, sie bemerkten nicht einmal, dass die anderen ein stimmungsvolles Weihnachtslied angestimmt hatten.

Horo Horo betrachtete die Szene lächelnd, die sich ihm im Wohnzimmer neben einem silbern geschmückten Tannenbaum bot, den sie heute früh gekauft und dekoriert hatten. Ren, Anna und er hatten zwar bis zu den Mittagsstunden noch im Krankenhaus ausharren müssen, aber auf Annas unwiderstehliches Drängen hin hatte der Arzt sie dann doch entlassen, vermutlich mit dem Hintergedanken, dass Faust da sein würde, sollte doch noch ein Notfall eintreten. Erst hatten sie bei Anna und Horo Horo Gehirnerschütterung vermutet, was sich dann jedoch nicht bestätigte. Das Mädchen hatte einfach nur eine große Beule am Kopf, während sich der junge Ainu nur einmal richtig ausschlafen musste. Noch immer fühlte er sich ein wenig matt, aber ansonsten gesund. Was auf Ren nur bedingt zutraf, der sich bei jeder unbedachten Bewegung möglichst unbemerkt an seinen Bauch fasste und kurz vor dem Abendbrot eine weitere Spritze von Faust über sich ergehen ließ. Das Festmahl, bei dem alle mithalfen, so gut sie konnten, und wenn es nur daraus bestand, das Geschirr zu tragen wie in Yohs Fall, war köstlich und sie hatten viel Spaß bei den Spielen, die sie anschließend veranstalteten. Als Anna vorschlug, dass sie vor der Bescherung ein paar Lieder singen könnten, hatten alle mehr oder weniger begeistert zugestimmt - und Ren war schweigend aufgestanden und gegangen. Keiner hielt ihn auf, keiner sah ihn seltsam an. Sie alle wussten, dass er noch immer mit dem Verlust seiner Schwester zu kämpfen hatte, ihm dieses Fest vermutlich sehr schwer fiel.

Ich kann ihn nicht allein dort oben sitzen lassen.

Horo Horo hatte Ren eigentlich in Ruhe lassen wollen, aber nun war bereits eine halbe Stunde und fast zehn Weihnachtslieder, wenn auch nicht zehn unterschiedliche, vergangen, er machte sich einfach Sorgen.

Was ist, wenn er sich einsam fühlt?

"Just like the ones I used to know..."

Horo Horo hörte dem Chor noch einen Moment länger zu, bevor er die Treppe empor schlich. Er blieb vor der Tür zu Rens Zimmer stehen, gab sich dann aber einen innerlichen Ruck und schob diese leise auf.

Mehr als rauswerfen kann er mich auch nicht.

Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die in dem Raum herrschte. Besonders nachdem er den halben Abend in die Kerze gestarrt hatte, die in der Mitte des Tisches brannte.

Hier ist es aber kalt!

Horo Horo zog die Tür hinter sich zu und setzte sich auf seine Fersen. Er brauchte nicht lange zu suchen, er fand die dunkle Gestalt am offenen Fenster sitzend. Der Schneesturm legte sich in der vergangenen Nacht, nun segelten nur vereinzelte Flocken in den Raum. Ren hatte seinen Kopf gehoben, schien die Sterne zu beobachten. Beide Arme waren um seinen Oberkörper geschlungen und Horo Horo setzte sich alarmiert in Bewegung.

Hat er große Schmerzen?

Soll ich nach Faust rufen?

Blutet seine Wunde wieder?

Bevor er jedoch auch nur eine dieser Fragen hatte stellen können, hörte er das leise Schluchzen, wurde sich mit einem Mal bewusst, dass der junge Chinese vor ihm weinte. Und das gewiss nicht wegen seiner Schmerzen.

Es ist wegen Jun.

Wegen seiner Schwester.

Weil heute Weihnachten ist und sie nicht hier sein kann...

Horo Horo fragte nicht, ob es Ren denn recht wäre, er ging neben dem jungen Chinesen auf seine Knie und zog die zitternde Gestalt seines Freundes einfach in seine Arme, hielt ihn sanft fest.

Aus dem ersten Impuls heraus wollte Ren Horo Horo von sich stoßen und ihn mit einem entsprechenden Kommentar aus dem Zimmer und damit aus seiner Trauer werfen, für die ihn sein Vater und wohl auch jeder andere Ahne der ehrwürdigen Tao-Dynastie verachtet hätte. Dann aber fühlte er die Wärme, fühlte den Trost, den der junge Ainu ihm vermittelte und seine Abwehr schmolz dahin, bevor er seine Muskeln überhaupt hatte anspannen können.

Was mach ich hier wem vor?

Ich bin nicht so stark. Nicht ohne Jun.

Jun...

Auch wusste er, dass er Horo Horo vertrauen konnte, so wie dieser ihm blindlings folgte, wenn manchmal auch nur, um ihn heimlich mit einem Schneeball zu bewerfen.

"Ich hab gedacht, dass ich's schaffen würde." Flüsterte Ren und wischte sich beschämt über die Wangen, ergriff Horo Horos warme Hände, hielt diese bebend fest. "Aber die Weihnachtslieder..." Ihm versagte die Stimme und er rang mit sich selbst um Fassung. "Jun hat diese Lieder immer so gern gesungen... da ging's nicht mehr..."

Jun...

"Das soll's ja auch nicht." Horo Horo drückte kurz kalte Finger, bevor er nach einem Taschentuch suchte. Er fand sogar noch ein sauberes, das er Ren reichte. "Yoh-kun und die anderen verstehen es, du brauchst hier nicht auf Krampf fröhlich sein."

"Ich weiß... trotzdem..." Ren sah kurz in blaue Augen, bevor er seinen Blick wieder zu den Sternen über ihnen richtete. "Jun hat mich hier her geschickt, weil sie wusste, dass ich hier glücklich sein würde." Er kuschelte sich tiefer in die sanften Arme, schloss seine brennenden Augen. "Ich will ja auch glücklich sein. Aber es tut weh."

"Das braucht Zeit, Ren, sei geduldig."

"Hm..."

".. to hear the sleigh bells in the snow..."

Eine lange Zeit saßen sie schweigend vor dem offenen Fenster, lauschten den fröhlichen Stimmen, die wohl ihr Lieblingslied gefunden hatten, bei dem sie hängen blieben. Nun sangen sie >White Christmas< schon zum fünften Mal, aber sie schienen ihren Spaß daran zu haben. Vielleicht würden die Geister ja dieses Mal den Text begreifen.

>Du kannst Asakura Yoh und seinen Freunden vertrauen, Ren-chan, sie lieben dich, Ren-chan.<

Dem jungen Chinesen kamen die Worte seiner Schwester wieder in den Sinn, ihre letzten Worte, die sie ihm an ihrem Sterbebett gesagt hatte. So wahre Worte. Ja, sie hatte genau gewusst, dass er hier eine neue Familie finden würde. Ein Wissen, das er sich über die letzten Wochen erst hatte erarbeiten müssen.

Er war sich nicht sicher, ob er ohne ihre letzte Bitte mit Yoh zurück nach Japan gegangen wäre, ob er überhaupt den Mut aufgebracht hätte, hier um Asyl und noch um so viel mehr zu bitten. Sie aber hatte gewusst, dass er hier her gehörte. Ja, seine Schwester war schon immer sehr schlau gewesen und hatte immer alles getan, um ihn zu beschützen, um ihn in Sicherheit, in der Geborgenheit einer Familie zu wissen.

Danke, Jun.

Danke für alles.

Er lächelte traurig. Egal, was auch geschah, er würde seine Schwester nie vergessen, der er zu verdanken hatte, dass er kein Fürst der Finsternis, kein brutaler Tao Erbe wurde.

"Ren?"

"Ja?"

"Fröhliche Weihnachten." Horo Horo drückte ein kleines Päckchen in Rens kalte Hände und lächelte ein wenig unsicher. "Ich weiß ja, dass du davon nichts hältst, aber ich bin eben ein wenig abergläubig." Murmelte er, als der junge Chinese das Papier entfernte und einen kleinen Talisman in seinen Händen hielt.

Gelbe Augen musterten den jungen Ainu, bevor Ren mental mit seinen Schultern zuckte und sich vorbeugte, um Horo Horos Gesicht in seine Hände zu nehmen.

Vielleicht würde ihn dieser Talisman nicht vor weiteren Katastrophen in seinem Leben schützen, aber er war ein Geschenk eines Jungen, der ihn mochte. Ihn, die Killermaschine. Ganz einfach so.

Eines Jungen, den Ren ebenfalls mochte, auch wenn er dieses Wissen erst langsam aus den Tiefen seines Herzens bergen musste.

Der junge Chinese würde dieses Geschenk immer in Ehren halten.

"Danke, kleiner Schneemann."

Ren wusste nicht, ob ihre Beziehung wirklich eine Zukunft hatte. Aber das konnte er ja nie wissen, nicht wahr? Vor einem Jahr noch hatte er geglaubt, seinem Vater auf den grausamen Pfad der Urahnen folgen zu müssen und nun war er hier in Japan bei vielen Menschen, die ihn als Tao Ren akzeptierten, ihn in ihre Familie aufnahmen. Auch einfach so.

Bei einem Jungen, der ihn mochte... liebte...

Jun hat auch immer alles riskiert für die Menschen, die ihr etwas bedeuteten.

"Danke." Wiederholte er und sah, dass Horo Horo verstand, dass er mehr als nur den kleinen Talisman meinte. Der junge Ainu lächelte ihn schelmisch an.

"Gern geschehen. Und jetzt küss mich endlich, Baka."

"Selber." Aber Ren tat dennoch wie ihm geheißen. Er spürte, wie sich Horo Horos Arme noch fester um ihn schlossen und fühlte sich sicher, geborgen. Geliebt.

In weiter Ferne erklangen kichernde Stimmen, die ein wunderschönes Lied hinaus in die sternenklare Weihnachtsnacht trugen. Wenn auch bereits zum zehnten Male.

"May your days be merry and bright, and all of your Christmases be white."
 

***



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Schneizel
2007-07-16T15:46:36+00:00 16.07.2007 17:46
Wääääääääääääh...
Ich und Evanescence, das wird nie was, fürchte ich.
Is ja auch egal, inzwischen kann ich mich beherrschen^^
Sogar "My immortal" klappt wieder, auch, wenn Ren mich immer noch furchtbar rührt, wenn er an seine Schwester denkt. Liegt vllt daran, dass ich nen kleinen Bro hab, ohne den wüsste ich auch nicht, was ich machen soll. Und ich bin und bleibe nunmal Jun-Fan^^
Naja, ich les mal eben weiter, damit ich endlich Evanescence wieder los werde >___<"
Von:  Minerva
2006-11-03T16:36:14+00:00 03.11.2006 17:36
Waw wirklich gelungen und damit meine ich ALLES.
Alles ist gelungen ...ich liebe diese ff
Von:  Sammelbegriff
2006-01-21T11:47:48+00:00 21.01.2006 12:47
Sag mal, warum hat deinen Ff soooooo wenig Kommis??? ich versteh das gar nicht. dabei muss doch wirklich jder bei diesem Kap doch unbedingt ein "sooooooo süüüüüüüß" loswerden! Ich jedenfalls.
Von:  Violetta
2006-01-04T09:04:07+00:00 04.01.2006 10:04
wieso ist bei diesem kapitel noch überhaupt kein kommentar?! sowas treibt mich total auf die palme!! *das überhaupt nicht verstehen kann*
ich habs schonmal gesagt: ich liebe diese Fanfic und ich kann -selbst wenn ichs wollte- meine meinung nicht ändern! ein perfektes drama! wär es nicht von Shamanking sondern mit deinen eigenen Figuren, dann könntest du es bei nem verlag einschicken und damit ne menge geld machen!
...jedenfalls glaub ich das...also wenn ich da bei dem verlag für sowas zuständig wär, ich würd das auf jeden fall drucken lassen! die story is schön lang und auch nie langweilig!

...ach... ^^ ich red wieder dasselbe zeug wie beim anderen kommi ^^''' sry... *seufz*

Vio-chan


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