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Safe Zone

von

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Zone 6 - Gewissenskonflikte

Niran
 

Seit Zetas Festnahme war es deutlich ruhiger geworden im Bezirk. Viele Delikte traten seltener auf, vermutlich arbeiteten seine Leute nur, wenn er es befahl. Immer wieder ging mir diese Wette durch den Kopf. Die Zeit war um, der Bezirk war standhaft geblieben. Es machte mich stolz, aber Thawats Pläne würde es mit Sicherheit nicht ändern.

»Nii, du denkst nur wieder an die Arbeit, oder?«, hörte ich meine Schwester von der Seite sagen. Wir waren gerade auf dem Weg in eine Bar. An meinem einzigen, freien Tag nahm ich mir Zeit für sie. Natürlich hatte sie Recht, ich war mit meinen Gedanken mal wieder auf der Station.

»Tut mir leid, Sari«, gab ich es kleinlaut zu.

»Ach was, ich kenne doch meinen Workaholic-Bruder«, sie stellte sich vor mich und breitete die Arme aus. »Komm schon.«

Lächelnd fiel ich ihr in die Arme, die sich sofort um mich schlossen. Sari war etwas größer als ich, ihre Nähe beruhigte mich sofort. Alle negativen Gedanken fielen von mir ab und ich genoss dieses Gefühl der Geborgenheit. Ich löste mich von ihr, um sie zu betrachten. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt gebunden, sie trug noch die Bürokleidung aus der Kanzlei. Wir gingen weiter, sahen uns immer wieder gegenseitig an. Meistens konnten wir uns nur abends treffen, weil ich durch den Nachtschichtrhythmus tagsüber einschlafen würde und sie auch alleinerziehend war.

»Wie geht’s Junior?«, fragte ich, um das Thema von meiner Arbeitsbesessenheit abzulenken. Früher oder später würden wir ohnehin wieder darüber sprechen. Junior war mein Neffe, er war vor ein paar Wochen eingeschult worden. Das musste eine aufregende Zeit für ihn sein.

»Junior geht es gut«, sie lachte leise. »Er fragt ständig nach dir, Nii. In der Schule erzählt er allen davon, dass sein Onkel Polizist ist. Als ob mein Job weniger wichtig wäre«, gespielt empört verschränkte sie die Arme vor der Brust. Genau in diesem Moment betraten wir die Bar, in der das Licht gedämmt war. Aus einer Ecke spielte leise Jazz-Musik, die sich mit den Stimmen der Gäste vermischte. Wir setzten uns direkt an die Bar, viel mehr Optionen blieben uns nicht. Während sie einen Cocktail bestellte, begnügte ich mich mit etwas Alkoholfreiem.

»Ich bin mir sicher, dass er auch stolz auf seine Mutter ist«, ergänzte ich. Als wir die Getränke bekamen, nippten wir kurz daran.

»Wie dem auch sei, ich bin auf jeden Fall stolz auf ihn. Ich glaube, er hat sich gut in der Schule eingelebt.«

Ich erhob mein Glas: »Dann sollten wir darauf anstoßen!« Unsere Gläser klirrten aneinander, wir grinsten uns an. Neben meinen Eltern waren Sari und Junior die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wenn es ihnen gut ging, dann auch mir. Wie ich es mir dachte, konnte sie das Thema meiner Arbeit noch nicht hinter sich lassen. Andererseits gab es aktuell auch nicht viel anderes, über das ich reden könnte. Sie sah mich vorsichtig an:

»Ich habe mir richtig Sorgen gemacht, als ich von deiner Versetzung gehört habe. Ich war mir nicht sicher, ob du diesen Problembezirk überstehen könntest. Und dann war auch das mit dem Feuer in den Nachrichten…«

»Sari«, begann ich. »Es ist ja nichts passiert. Wir haben jetzt auch die Unterstützung der anderen Bezirke und ich habe das Gefühl, wir gewinnen langsam wieder die Überhand«, versuchte ich sie etwas zu beruhigen und legte ihr eine Hand auf den Arm.

»Okay, aber was ist mit Thawat?«

Da sie Anwältin war, ließ ich das mit der Wette lieber weg und blieb bei der Kurzfassung: »Den kriegen wir schon in den Griff.«

Wirklich helfen schienen meine Worte nicht, der besorgte Ausdruck wollte einfach nicht aus ihrem Gesicht verschwinden.

»Na gut, du hast bisher durchgehalten, daher will ich dir das mal glauben. Bist du dir sicher, dass du dich in der ganzen Zeit auch nicht überarbeitet hast?«

Ich zuckte zusammen, fühlte mich ertappt. Sari kannte mich einfach viel zu gut. Ich legte die Arme auf den Tresen, versuchte mich auf den Inhalt des Glases zu konzentrieren.

»Ich habe das Recht zu Schweigen«, gab ich leise zurück.

»So funktioniert das nicht, Nii. Ich würde gerne mehr für dich da sein, aber es geht leider nicht. Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst«, ich hörte die Schuld aus ihrer Stimme. Sari fühlte sich nicht nur als große Schwester verantwortlich, sondern auch weil ich sonst kaum Kontakte hatte und allein lebte. Ich wollte aber nicht, dass sie sich schuldig fühlte. Sari war mit Junior und ihrem Job schon genug beschäftigt, da brauchte sie sich um mich nicht auch noch kümmern.

»Das weiß ich, Sari. Und das musst du auch nicht«, sprach ich meine Gedanken aus. Ich nahm mir noch einen Augenblick Zeit, dann sprang ich über mein Schatten und erzählte ihr von meinem Zusammenbruch und der Begegnung mit Thawat. Sari stellte ihr Glas so laut ab, dass nicht nur ich zusammenfuhr. Es war ein Wunder, dass nichts überschwappte.

»Und genau das meine ich, Nii!«, sie wandte sich mir zu. »Du sagst nichts, lässt dir nicht helfen und gehst danach einfach wieder zur Arbeit?«, Sari ließ mich ihre Empörung darüber deutlich spüren. Ich hatte mit dieser Reaktion gerechnet, doch es wäre auch falsch, es zu verschweigen. Ein Teufelskreis.

»Ja.«

Seufzend legte sie mir die Hände auf die Schultern, sodass ich sie ansah: »Nii, das geht nicht. Du kannst so einen Zusammenbruch doch nicht einfach wegschlafen und dann tun, als wäre nichts gewesen. Du solltest mit dem Bezirksleiter sprechen und mindestens zwei Wochen Urlaub beantragen.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort wieder sanfter. Ich war mir bewusst, dass es kein besonders gesunder Lebensstil war. Doch gerade jetzt konnte ich meine Leute nicht im Stich lassen. Vorsichtig nahm ich ihre Hände von meinen Schultern.

»Sari, es geht mir gut, das kannst du mir glauben. Sobald das mit Thawat abgeschlossen ist, denke ich darüber nach, okay?«

Schmollend wandte sie sich wieder ihrem Glas zu: »Bis dahin hast du es doch schon wieder vergessen. Nii, ich habe einfach Angst, irgendwann deine Leiche vor deiner Haustür auflesen zu müssen.«

Die Traurigkeit in ihrer Stimme ging mir direkt ins Herz. Ich mochte es nicht, sie so zu sehen, daher sagte ich: »Was kann ich tun, damit es dir besser geht, Sari?«

»Du solltest dich in erster Linie fragen, was du tun kannst, damit es dir besser geht«, sie betonte das »Dir« besonders. Es nützte nichts. Sari kannte mich, egal was ich sagen würde, sie wusste, dass ich es ohnehin nicht umsetzen würde. Deswegen wollte ich mich nicht weiter dazu äußern. Ich lehnte mich zurück, sah, dass ihr Blick weicher wurde. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, führten wir diese Diskussion und jedes Mal wusste sie, dass es ohnehin nichts brachte. Nach ein paar Minuten der Stille schlich sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.

»Aber Nii, du bist nicht ernsthaft Thawat in die Arme gefallen, oder?«, sie sah mich von der Seite an. Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Wo kam das denn auf einmal her?

»I-in die Arme gefallen? Wie kommst du drauf?«, mir war der Gedanke noch nie gekommen. Doch es wäre mir lieber gewesen, es wäre dabei geblieben. Ich sah auf den Tresen, betrachtete die feine Holzmaserung, als gäbe es nichts Interessanteres.

»Logisch betrachtet macht es einfach am meisten Sinn. Sonst wärst du einfach auf den Boden gefallen und hättest dich verletzt. Meinst du nicht?«

»Kann sein«, antwortete ich leise. Was auch immer passiert ist, es war gut, dass ich nicht bei Bewusstsein war. Sari lachte laut: »Das hätte ich echt gerne gesehen, Nii. Wie eine Szene aus den Serien, die du immer guckst. Das schaffst auch nur du.«

Schmunzelnd trank sie ihren Cocktail. Für mich war es okay, dass sie Spaß auf meine Kosten hatte, solange wir nicht wieder in diese bedrückende Stimmung verfielen. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger am Rand ihres Glases entlang.

»Mal abgesehen davon, dass er dich stalkt, was für sich genommen schon krank ist. Für mich klingt das nicht nach jemandem, der ein berüchtigter Verbrecher sein will«, sinnierte sie.

»Nachdem ich die Familie kennengelernt habe, bin ich der festen Überzeugung, dass er nur aus Rache versucht ein Verbrecher zu sein.« Es machte die Sache nicht besser, aber hatte meine Sichtweise auf ihn verändert. Und vor allem war es ein Punkt, an dem man ansetzen konnte.

»Sieht aus, als wärst du an einer spannenden Sache dran, Nii. Aber pass‘ bitte auf dich auf. Falls die Familie irgendetwas gegen dich machen will, du weißt, wo du mich findest«, sie zwinkerte mir zu. Ich lachte: »Es wird mir hoffentlich erspart bleiben, dein Mandant zu werden.«

Gespielt beleidigt stemmte sie die Hände in die Hüften: »Willst du etwa damit sagen, dass ich keine gute Anwältin bin, oder was?«

»Du bist die Beste, die ich kenne.«

»Und auch die Einzige, oder?«

»Ja«, sagte ich und wir lachten beide.
 

Als es später wurde, verließen wir die Bar. Sari kam noch mit zu mir, das war schon ein Ritual von uns. Auch wenn wir gefühlt nur einmal in einer Ewigkeit Zeit dafür hatten. Auf dem Heimweg erzählte sie mir Geschichten ihrer Mandanten, wovon sicherlich einiges der Geheimhaltung unterlag. Ich schloss die Tür auf, schaltete das Licht ein und sie sah sich um.

»Sag‘ es nicht«, bat ich sie grinsend.

Kopfschüttelnd ließ sie sich auf die Matratze fallen: »Mach‘ ich nicht. Du weißt ohnehin, was ich denke. Such‘ uns lieber eine deiner berühmten Schnulzen raus.«

Während Sari es sich gemütlich machte, ging ich zum Schrank mit den Filmen. Ich musste zugeben, gute Liebesfilme und Serien waren ein kleines Laster von mir. Sie durften auch gerne kitschig sein. Vermutlich lag es daran, dass ich wegen meiner Arbeit einfach keine Zeit für sowas hatte. Bisher hatte sich, bis auf ein, zwei kurze Sachen in der Highschool, auch nichts ergeben. Obwohl ich mir immer wünschte, es würde mir genauso wie in den Serien passieren.

»Nehmen wir den, den wir schon dreißigmal gesehen haben, oder den bei dem du am Ende immer heulen musst?«

»Nichts Trauriges. Nehmen wir was, was wir schon kennen«, schlug sie vor. Ich griff nach dem Film, den wir schon so oft gesehen hatten, dass wir die Dialoge mitsprechen konnten.

»Was Neues wäre auch langweilig, oder?«, fragte ich, als ich die DVD in den Player legte.

»Absolut.«

Ich setzte mich neben Sari, die ihren Kopf auf meine Schulter legte. Als der Vorspann lief, sagte sie: »Wir sollten unsere Eltern mal wieder besuchen.«

Es stimmte mich nachdenklich, denn auch dafür hatte ich zu wenig Zeit.

»Sollten wir. Ich werde es mir auf die To-Do-Liste schreiben«, erwiderte ich.

»Häng‘ sie dir an den Kühlschrank, okay?«

»Mach‘ ich.«

Als der Film anfing, waren wir viel zu sehr damit beschäftigt, unsere Lieblingsszenen mitzusprechen, als dass wir über irgendetwas anderes nachdenken konnten.
 

Ich schlug die Augen auf, Saris Kopf lag immer noch auf meiner Schulter. Sie musste heute nicht arbeiten, daher nahm ich sie vorsichtig an den Schultern und legte sie ins Bett. Ich griff nach meinem Handy, um Junior anzurufen.

»Onkel Nii! Hallo!«

Bei dieser Begrüßung ging mir direkt das Herz auf. Mein kleiner Junior. Es war noch Recht früh, daher kam mir eine Idee.

»Hallo, Junior. Ich wollte dir sagen, dass Mama bei mir ist.«

»Ja, das weiß ich. Ich vermisse dich, Onkel Nii. Meine Freunde in der Schule sind alle neidisch, wenn ich erzähle, wie du gegen das Böse kämpfst!«

Diese kindliche Begeisterung war wirklich nicht zu übertreffen. Zum Glück sah er nicht, wie viel Papierkram dahintersteckte.

»Das freut mich, Junior. Aber übertreib es nicht, okay? Ich bin ja kein Superheld.«

»Für mich schon. Ich habe dich auch gemalt und das Bild hängt in unserer Klasse.«

Mittlerweile hatte ich auch im Büro schon einige Bilder aufgehängt, die Junior gemalt hatte.

»Super. Weißt du was? Ich vermisse dich auch. Was hältst du davon, wenn ich Mama nach Hause bringe und dann noch ein bisschen bleibe?«

Bis zu meiner Schicht war ohnehin noch Zeit und mir würde die Abwechslung auch guttun.

»Ja!«

Ich konnte sein Strahlen fast durch das Handy hören. Ich versprach ihm vorbeizukommen und legte auf. Vorsichtig stieß ich Sari an, um sie zu wecken.

»Mhm?«, brummte sie und rieb sich die Augen.

»Ich bring‘ dich nach Hause, Sari. Ich habe mit Junior gesprochen und beschlossen, ihm noch einen Besuch abzustatten.«

Allein dieser Satz ließ sie hellwach werden.

»Echt?«

»Ja.«
 

Wir machten uns schnell frisch, dann stiegen wir ein. Mein Auto hatte ich nur für solche Zwecke, es war alt und ich kümmerte mich nicht viel darum. Langsam war ich mir nicht sicher, ob es nicht doch zwischendurch auseinanderfallen könnte. Durch unsere Dienstwagen war ich einen deutlich höheren Standard gewohnt. Meine Schwester wohnte etwas abgelegen, die Fahrt würde in etwa zwanzig Minuten dauern. Es war noch nicht einmal mittags und trotzdem schon ziemlich heiß. Sari fächelte sich Luft zu.

»Am besten ich schenke dir ein neues Auto zum Geburtstag«, sagte sie.

»Auf gar keinen Fall. Tut mir leid, dass die Klimaanlage nicht funktioniert«, entschuldigte ich mich. In Thailand nicht unbedingt die beste Voraussetzung.

»Schon okay. Solange es noch fährt.«

Ich wusste in diesem Moment schon, dass ich auf der Schicht müde sein würde, wenn ich jetzt nicht schlief. Doch es war mir egal. Alles andere konnte auf der Strecke bleiben, meine Familie nicht. Für sie hatte ich ohnehin schon viel zu wenig Zeit. Irgendwie hielt das Auto es noch durch und wir erreichten das Haus meiner Schwester. Sie hatte sich ihren Traum wahrgemacht, ein eigenes Haus zu besitzen. Als wir vor dem Tor warteten, kam Junior raus, um es uns zu öffnen. Sari lebte allein mit Junior in diesem Haus, sein Vater war vor ein paar Jahren verschwunden. Kaum ausgestiegen, stürmte er auf mich zu. Ich hob ihn hoch: »Na, Junior?«

»Onkel Nii!«, seine kleinen Arme legten sich um mich und erdrückten mich fast. Ich hielt ihn fest, trug ihn ins Haus.

»Onkel? Können wir Verbrecher und Polizist spielen? Und du bist der Verbrecher, okay?«

Polizist war ich schließlich auch schon genug. Sari ging in die Küche, holte uns etwas zu trinken.

»Erst trinkst du was, Junior. Deine Mutter könntest du auch noch begrüßen«, erklärte sie leicht genervt. Ich setzte ihn ab.

»Hallo Mama«, sagte er und nahm ihr die Flasche Wasser ab. Ich sah mich in der Wohnküche um. Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas geändert hatte.

»Hast du renoviert, Sari?«, fragte ich, denn weder die Couch noch die Böden kamen mir bekannt vor.

»Ach das?«, sie drückte auch mir eine Flasche Wasser in die Hand. »Ja, schon länger. Ich brauchte einfach mal was Neues.«

»Sieht gut aus«, ich nickte anerkennend. Anders als ich, hatte meine Schwester Geschmack, was Inneneinrichtung anging und sie legte auch Wert darauf, dass Junior ein schönes Zuhause hatte. Darauf war ich schon immer neidisch gewesen.

»Nii, du hast ja kein Problem damit, wenn ich mich noch ein bisschen hinlege, oder? Ich meine jetzt wo ich einen Babysitter habe«, sagte sie und war schon halb auf der Treppe verschwunden.

»Ja klar, mach‘ das ruhig.«

Junior, der zwischendurch verschwunden war, kam aus seinem Zimmer zurück. Mit Plastikwaffe und Polizeiuniform.

»Also, wir spielen so: Du überfällst eine Bank und ich muss dich einfangen, okay?«

Da konnte ich mich natürlich nicht widersetzen. Wir gingen in den Garten, weil es dort mehr Platz gab und ich auch Saris Inneneinrichtung verschonen wollte. Das alte Gartenhaus musste als Bank herhalten. Ich tat, als würde ich mich an der Tür zu schaffen machen: »Ha, jetzt werde ich das ganze Geld nehmen und niemand wird mich aufhalten!«

»Halt! Polizei! Sie sind umstellt!«, rief Junior. Als ich mich umdrehte, stand er mit gezückter Waffe vor mir. »Ich habe keine Angst vor der Polizei!«, dann lief ich los.

»Stehenbleiben!«

Ich lief betont langsam, damit Junior eine Chance hatte, mich einzuholen. »Peng! Ich habe geschossen!«

Dramatisch hielt ich mir das Bein und sank zu Boden: »Argh, das können Sie doch nicht machen!« Ich versuchte das Gesicht zu verziehen, meine Schauspielkünste würden dafür noch gerade so ausreichen.

Junior stand vor mir, einen entschlossenen Ausdruck aufgesetzt: »Und ob ich das kann. Bei mir hat das Böse keine Chance!«

Ich robbte noch ein wenig vor, um eine Flucht vorzutäuschen. Die Nachbarin, die skeptisch über den Zaun sah, versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.

»Ich..gebe…nicht…einfach auf!«, ich verstellte meine Stimme, sodass es sich anhörte, als müsste ich mich anstrengen. Junior nahm sein Plastikfunkgerät zur Hand: »Krch, Krch. Captain Junior fordert Verstärkung an. Der Bankräuber ist verletzt, aber er will fliehen!«

Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, wie es aussah. Und auch über meine Kleidung nicht. Solange Junior Spaß hatte, war es mir das wert.

»Captain Junior, da hinten! Da ist noch ein Verbrecher!«, begann ich mein Ablenkungsmanöver. Junior warf sich auf mich, ich spürte wie die Luft aus meinen Lungen entwich: »Ich..ergebe mich!«

Er legte mir Plastikhandschellen an und ich stand auf, um mich ins Gefängnis führen zu lassen. Natürlich immer noch mit dem verletzten Bein. Wenn das mit den bösen Jungs immer so einfach wäre.

»Wer böse ist, muss eingesperrt werden!«

»Aber Captain, wie lange muss ich denn im Gefängnis bleiben?«, erkundigte ich mich, als Junior mich in Richtung Gartenlaube schob.

»Tausend Jahre mindestens!«

Das war eine ordentliche Haftstrafe für einen Banküberfall. Bevor ich die Strafe jedoch antreten konnte, ließ Junior die Waffe sinken.

»Kann ich dir jetzt zeigen, was ich gemalt habe, Onkel Nii?«

»Klar.«

Während wir ins Haus gingen, klopfte ich mir die Klamotten ab. Wir gingen die Treppe rauf zu Juniors Zimmer, auch hier hing alles voll mit Polizeikram. Ein bisschen Bedenken hatte ich schon, ob das nicht zu viel war. Er legte die Waffe in eine Schublade, gab mir mehrere lose Zettel in die Hand.

»Das habe ich gemalt«, verkündete er stolz. Ich setzte mich auf sein Bett und sah mir die Bilder an. Ich. Ich. Ich. Seine Mutter. Ich. Ich. Also gut, da konnte man als Mutter schon mal neidisch werden. Wenn er mich malte, grundsätzlich in Uniform, so viel konnte ich von den Farben her erkennen. Ungelenke Buchstaben zierten die Bilder, er hatte meinen und seinen Namen dazu geschrieben.

»Das kannst du schon schreiben?«, fragte ich erstaunt.

»Ja. Wir haben die Buchstaben noch nicht gemacht, aber ich habe meine Lehrerin gefragt«, er stand vor mir und strahlte mich an.

»Super!«

Er fiel mir in die Arme und ich legte die Zettel beiseite. »Irgendwann werde ich Polizist, so wie du. Und dann werde ich die Welt retten!«

Ich klopfte ihm auf den Rücken: »Du wirst bestimmt ein ganz toller Polizist.«

Junior löste sich und setzte sich neben mich. Sein Ausdruck wurde nachdenklich. So sah er immer aus, wenn er etwas sagen wollte.

»Junior?«

Er sah auf den Boden: »Hast du schon mal einen neuen Papa bekommen?«

Es ließ mich sofort aufhorchen. Vor allem, wenn er sich Sorgen darüber machte. Wir hatten kaum über Sari gesprochen, aber normalerweise würde sie mir sowas erzählen.

»Nein, Junior. Wieso? Machst du dir Sorgen?«, ich legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ein bisschen. Ich mag ihn, aber was ist, wenn er wieder geht?«

Ich zog Junior an mich: »Das wird deine Mama entscheiden. Aber du brauchst keine Angst haben, okay?«

»Ja, okay.«

Ich holte mir einen Stuhl und wir setzten uns zusammen an seinen Schreibtisch, um zu malen. Das würde ihn ein bisschen ablenken. Meine künstlerischen Fähigkeiten konnten ungefähr mit meinem Schauspieltalent mithalten. Ich stufte sie in Richtung nichtexistent ein. Ich half ihm lieber mit den Buchstaben. Der Gedanke an den neuen Mann von Sari ließ mich nicht los. Wieso hatte sie nichts gesagt? Mir fielen genügend Gründe ein. Einer davon war ihre selbstlose Art und ihre Angewohnheit, sich mehr Sorgen um mich, als um sich selbst zu machen.

»Onkel! Den Buchstaben schreibt man nicht so!«, beschwerte sich Junior und holte mich aus meinen Gedanken. Ich sah auf das Blatt, hatte tatsächlich einen Fehler gemacht. Ich bat Junior es zu korrigieren, was er auch sofort machte. Ich sah immer wieder auf die Uhr, wollte ihn nicht enttäuschen, aber langsam musste ich mich verabschieden.

»Komm‘ wir gehen Mama wecken«, ich wuschelte ihm durch die Haare.
 

An Saris Schlafzimmer angekommen, sah ich, dass sie scheinbar tief und fest schlief.

»Soll ich dir zeigen, wie ich Mama immer wecke?«, fragte er. Ohne meine Antwort abzuwarten, begann er, auf dem Bett herumzuspringen. Sari erhob sich langsam, sah mich an: »Musst du schon gehen?«

Gekonnt ignorierte sie Junior, der neben ihr wie ein Flummi auf und ab hüpfte.

»Ja, ich muss leider. Ich will auf der Schicht nicht einschlafen.« Mein Blick fiel auf Junior:

»Kann ich dich gleich kurz noch sprechen, Sari?«

Sie zog die Augenbrauen hoch, schien aber nichts dagegen zu haben. Sari stand auf, streckte sich. Für sie musste es gut gewesen sein, sich den Vormittag über nicht um Junior kümmern zu müssen. Auch sie brauchte ab und zu eine Pause.

»Junior, hörst du bitte auf, auf dem Bett herumzuspringen? Ich rede noch kurz mit Onkel, dann kannst du dich verabschieden, okay?«

Er hörte auf. »Ja, Mama.«

Auf dem Balkon sah sie mich fragend an: »Also, was hat Junior dir erzählt? Obwohl, ich kann es mir schon denken.«

»Er hat mir etwas von einem neuen Papa erzählt.«

Seufzend lehnte sie sich auf das Geländer und sah in die Ferne: »Du weißt doch, wie er ist. Sobald sich irgendetwas anbahnt, spricht er sofort davon. Falls du dich fragst, warum ich das gestern nicht erzählt habe, Nii, es ist noch alles ziemlich frisch. Ich will mir da erst sicher sein.«

Ich legte ihr einen Arm um die Schulter: »Ist doch okay. Ich dachte mir nur, dass es doch schön wäre, wenn sich auch mal jemand um dich Sorgen macht.«

»Danke.«

Ich wurde von Junior noch verabschiedet und durfte eins seiner Bilder mitnehmen. Ich verließ das Haus meiner Schwester mit einem Lächeln. Das hatte mir richtig gutgetan.
 

Bevor ich auf mein eigenes Revier zurückkehrte, statte ich dem 53. Bezirk einen Besuch ab. Ihr Büro sah nicht viel anders aus als unseres, aber es war um einiges ordentlicher. Ich wurde freundlich begrüßt und sofort zu Captain Kasem durchgewunken. Ich setzte mich zu ihm an den Schreibtisch, auch hier war es ordentlich. Ich wünschte, ich hätte Zeit dafür.

»Oh, da bist du ja. Was bist du denn so erstaunt, Niran?«, fragte er amüsiert. Ich stockte. Wieso ließ er denn plötzlich die Anrede weg? Ich brauchte kurz, um zu antworten.

»Dass es hier so ordentlich ist, da hätte ich nie im Leben Zeit für. Und wieso du mich nicht mit Titel ansprichst«, murmelte ich vor mich hin. Er legte mir einen Arm um die Schulter:

»Tut mir Leid, ich wollte dich damit nicht überfallen. Aber ich finde es albern, wenn sich Captains untereinander mit Titel anreden. Meinst du nicht?«

Langsam entzog ich mich seinem Arm, das war mir nicht geheuer.

»Ja, klar. Müssen wir nicht«, gab ich unsicher zurück. Captain Kasem zwinkerte mir zu und trank aus seiner Tasse. Einfach nicht drüber nachdenken. Ich war schließlich nicht ohne Grund hier.

»Also, Kasem, ich habe dir grob geschildert, worum es geht. Und vor allem, warum ich das mit dir und nicht mit dem Bezirksleiter besprechen wollte«, begann ich.

Er seufzte: »Sie haben diesmal wirklich nichts unversucht gelassen, oder?«

»Nein, absolut nicht. Er weiß nur noch nicht, dass ich seine Spielchen längst durchschaut habe.«

Anstatt darauf einzugehen, kramte er eine Akte aus der Schublade hervor und gab sie mir in die Hand.

»Also aktentechnisch ist ihm nichts Verdächtiges nachzuweisen. Wie sieht es bei dir aus?«

Abwesend blätterte ich in der Akte. »Thawats Bruder hat mir bestätigt, dass er ihn kennt. Zeta hat mir bestätigt, dass er für Thawat arbeitet. Anderweitig gab es von meiner Seite aus genug Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Als das Feuer war, hat er in meinen Akten gelesen, er schleicht sich des Öfteren zum Telefonieren raus«, zählte ich die Verdachtsmomente gegen Jira auf. Captain Kasem sah nachdenklich auf seinen Bildschirm: »Dann weiß er höchstwahrscheinlich auch von der Sonderkommission.«

Genau das war der Punkt. Wir konnten noch so ausgeklügelte Strategien entwerfen, solange Jira da war, würde es alles nach außen dringen.

»Leider, ja. Ich wusste aber nicht, was ich machen soll. Nur weil er ein paar Leute kennt, heißt es nicht, dass ich eine Handhabe gegen ihn habe«, versuchte ich mich zu rechtfertigen. Diese Sache schlug mir schon die ganze Zeit auf den Magen, daher musste das endlich ein Ende nehmen. Versöhnlich schüttelte er den Kopf: »Ich gebe dir nicht die Schuld, Niran. Du hast bisher sehr gute Arbeit geleistet. Das wird unsere Mission nicht gefährden.«

»Dass du dir da so sicher bist«, als er seine Hände auf meine Schultern legte, zuckte ich zusammen und sah ihn automatisch an.

»Warum bist du denn so unsicher?«

»Es ist einfach, alle erwarten von mir, dass ich jederzeit alles im Griff habe. Alle denken, ach, Captain Niran wird es schon richten«, sprudelte es aus mir heraus. Ich biss mir auf die Lippe. Warum konnte ich mich nicht einfach zurückhalten? Er verstärkte seinen Griff: »Warum wohl? Weil sich niemand bisher getraut hat, Thawat in diesem Ausmaß entgegenzutreten! Außerdem bist du doch nicht alleine. Du hast uns und auch dein Team.«

Seine Worte halfen tatsächlich, dass ich mich ein bisschen besser fühlte. Der Druck des Bezirks würde jedoch nicht aufhören, solange die Sache nicht endgültig geklärt war.

»Das stimmt. Danke. Aber wie gehe ich das mit Jira jetzt an?«, schlug ich den Bogen wieder zu unserem eigentlichen Thema.

»Versuch‘ dir noch einmal die Zeit zu nehmen, alles Relevante zusammenzufassen. Dann konfrontierst du ihn direkt. Je nachdem, wie er reagiert, hast du zwei Möglichkeiten«, er ließ von mir ab und lehnte sich zurück. »Gibt er es zu, bittest du ihn, sich freiwillig versetzen zu lassen. Er kann ruhig einen fadenscheinigen Grund angeben, schließlich sollte das mit dem Personal kein Problem mehr sein. Wenn er es abstreitet, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als den offiziellen Weg über den Bezirksleiter zu gehen. Jira sollte sich das gut überlegen, ansonsten ist seine Karriere ganz schnell vorbei.«

Nachdenklich nickte ich, hoffte darauf, dass er uns den offiziellen Weg ersparen würde. Egal was für eine Intuition schlussendlich dahinter stand, auch Jira zählte ich zu Thawats Schachfiguren. Ich wollte ihn davor bewahren, dass seine Zukunft Thawats verdrehten Plänen zum Opfer fiel. Falls wir jemals komplett dahinter steigen würden, wollte ich gar nicht wissen, wie weit das Ganze am Ende reichte.

»Alles klar. Genauso werde ich es machen. Danke für den Rat, das hilft mir sehr, Kasem.«

Er lächelte mich an und ich konnte den Blickkontakt nicht lange aufrechthalten, da ich ansonsten das Gefühl hatte, es könnte eine komische Stimmung entstehen. Eine, die ich noch nicht so recht deuten konnte. Notiz an mich selbst: Nicht zu nett zu Kasem sein.

»Sehr gerne, Niran. Ich hoffe, dass du es schnell klären kannst.«

»Das hoffe ich auch.«
 

Die Begegnung mit Captain Kasem hatte mir Hoffnung gegeben, dahingehend weiterzukommen, die Station wieder in einen guten Zustand zu versetzen. Ein bisschen verwirrt hatte sie mich jedoch auch, wegen seiner Gesten und der plötzlichen Anrede ohne Titel. Er wollte doch nicht etwa? Ich schlug mir diesen Gedanken aus dem Kopf. Als ich plötzlich jemanden vor meinem Auto sah, machte ich eine Vollbremsung. Sofort waren alle meine Gedanken wie gelöscht. Ich schaltete in den Alarmmodus, mein Puls erhöhte sich. Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, sprang ich heraus. Ich beruhigte mich etwas, als ich sah, dass nichts passiert war. Den, den ich fast überfahren hatte, kannte ich nur zu gut. War Thawat jetzt schon lebensmüde?

»Thawat, was soll das? Zwei Zentimeter mehr und ich hätte dich überfahren!«, rief ich. Er zuckte nur mit den Schultern: »Hast du ja nicht.«

Es machte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, also versuchte ich es zu lassen. Dieser Mann gab mir Rätsel auf. Daran, dass er verrückt war, war jedenfalls nicht zu rütteln. Ich atmete tief aus.

»Also, was ist so wichtig, dass du mir dafür vors Auto springen musst?«

Wollte er etwa doch mit mir reden? Stattdessen zog er einen Umschlag aus seiner Jackentasche.

»Was ist das?«

Thawat kam auf mich zu, hielt mir den Umschlag hin: »Meine Wettschulden. Du hast gewonnen, Cap.«

Aktuell scheine ich absurde Situationen anzuziehen, sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Vorsichtig drückte ich seine Hand mit dem Umschlag von mir.

»Deine Absichten in allen Ehren. Aber ich kann und werde das nicht annehmen«, sagte ich und hoffte auch diesmal, dass wir nicht von irgendjemandem gesehen wurden. Es war zwar spät, aber man wusste nie, wer noch unterwegs war.

»Warum nicht?«

»Weil das unter Korruption fallen würde«, gab ich kurzangebunden zurück. Ich hätte niemals gedacht, dass er die Wette so ernstnehmen, geschweige denn, seine Niederlage eingestehen würde. Schulterzuckend steckte er den Umschlag wieder ein.

»Warum hast du dann überhaupt mit mir gewettet? Soweit ich weiß, sollten Cops das auch nicht«, fragte er mit einem Schmunzeln. Damit erwischte er mich eiskalt, denn es stimmte. Doch es gab einen guten Grund: »Sollten wir nicht. Ich habe es gemacht, damit ihr seht, dass wir keine spießigen Typen sind, die nicht mit sich reden lassen.«

Thawat lachte: »Schon verstanden, Cap. Aber das spießig würde ich bei dir nicht weglassen.«

Sollte er doch denken, was er wollte. Doch es behagte mir nicht. Dafür, dass er die Wette verloren hatte und Zeta festgenommen wurde, war er viel zu glücklich.

»Was planst du?«, wagte ich den direkten Versuch.

»Glaubst du echt, dass ich dir das jetzt erzähle, oder was?«, er zündete sich eine Zigarette an.

»Nein, so naiv bin ich nicht. Aber ein Versuch war es wert«, auch wenn man Direktheit bei ihm nicht weiterkam, mit Indirektheit würde man erst recht nichts erreichen. Ich war schon im Begriff, wieder ins Auto einzusteigen, da sagte er:

»Aber mach‘ dir keine Sorgen. Du wirst mich noch oft genug sehen.«

Als ob das so eine schöne Aussicht wäre. Ich musste mich dringend dahinterklemmen, was er noch planen könnte. Aber egal was mir in den Sinn kam, es ließ mich alles mit einem mulmigen Gefühl zurück.
 

Jira reagierte erstaunlich gelassen auf die Vorwürfe. Ich hatte alles aufgezählt und ihm unter anderem Zetas Statement vorgespielt.

»Ja, das kann ich schlecht noch abstreiten, oder? Ich spreche freiwillig mit dem Bezirksleiter.«

Ich war fast geschockt, wie reflektiert er plötzlich war. Ich konnte es mir nur damit erklären, dass es ein Abkommen gab. Es würde Sinn machen, denn sobald es offiziell würde, würde Thawats Name auch fallen. War es etwa ein Fehler, ihm diese Option zu geben? Egal, wir mussten ihn erst einmal aus der Station rauskriegen.

»Gut, dann bin ich froh, dass wir das ohne großes Aufheben klären können. Darf ich fragen, warum du deine Karriere dafür aufs Spiel setzt?«

»Darfst du nicht«, schmetterte er mich ab und verließ den Raum. Es war das letzte Mal, dass man ihn in unserer Nachtschicht sah. Dieses Rätsel würde ich wohl nur mit Thawats Hilfe lösen können. Wieder ein Erfolg. Ein weiteres Mal konnte die Station aufatmen. Ich hatte das Gefühl, dass wir immer mehr Kontrolle gewannen.
 

Thawat
 

Ich war wütend, dass ich nicht wütend sein konnte. Cap hatte innerhalb eines Monats alle meine Pläne ruiniert, Jira rausgeschmissen und Zeta festgenommen. Aktuell hatte er den Bezirk komplett im Griff. Trotzdem störte es mich nicht so sehr, wie es sollte. Ich trank von meinem Bier, Alpha stieß seins dagegen.

»Auf alles, was uns misslungen ist.«

»Ja, auf uns.«

»Tii, was machen wir jetzt?«

»Keine Ahnung. Aber es muss irgendwie gehen, den Bezirk wieder unter Kontrolle zu bekommen«, sagte ich in die Nacht hinein. Wie üblich hingen wir nachts in unserer Seitenstraße rum.

»Bist du gar nicht sauer?«, fragte Alpha. Er sah mich an, als er von seinem Bier trank.

»Ich wäre es gerne, aber irgendwie kann ich es nicht«, gab ich nachdenklich zurück.

»Ich weiß aber, was dich sauer machen könnte«, hörte ich Rhos Stimme plötzlich aus der Dunkelheit. Wo kam der denn her? Noch bevor ich auf irgendetwas reagieren konnte, fühlte ich einen Schlag in meinem Gesicht. Der Schmerz fuhr mir bis in den Kopf, ich taumelte zurück und das Bier fiel mir aus der Hand. Stimmt. Jetzt war ich sauer.

»Was soll der Scheiß?«, fragte ich und rieb mir die Wange.

»Wie war das? Du kümmerst dich? Warum haben sie Zeta dann festgenommen?«, rief er mir entgegen.

»Ja, das habe ich gesagt, aber was sollte ich denn bitte so schnell machen?«

Kurz nachdem die Info reinkam, dass Zeta zu Cap gebracht wurde, hatte Jira mich angerufen. Zeta wurde direkt nach dem Gespräch dort festgehalten.

»Weiß‘ ich nicht. Aber hast du dich seitdem bisher auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken beschäftigt, was du tun könntest, um ihn wieder rauszuholen?«, wetterte er weiter. Rho atmete schwer, hatte einen mörderischen Blick in den Augen. Ich hasste es, dass er Recht hatte. Zeta war nicht mehr als ein weiterer Grund auf meiner Liste gewesen, warum ich genervt sein sollte. Als ich nicht antwortete, holte Rho erneut aus, wurde diesmal jedoch von Alpha gestoppt.

»Lass den Scheiß, Rho. Tii kann nichts dafür, dass der Idiot sich hat schnappen lassen!«, ob gewollt oder nicht, damit hatte er Rhos volle Aufmerksamkeit.

»Zeta ist kein Idiot! Außerdem kann Tii wohl was dafür, denn er hätte den dämlichen Captain schon längst loswerden müssen!«

Bevor ich protestieren konnte, begann Rho auf Alpha einzuschlagen. Was war hier eigentlich los? Alpha wehrte sich und schon noch ein paar Minuten trug Rho sichtliche Verletzungen im Gesicht davon. Rho schaffte es kaum, sich gegen Alpha durchzusetzen. Der hatte deutlich mehr Erfahrung und war auch um einiges stärker. Verdammt. Ich konnte doch nicht einfach nur zusehen. Daher packte ich Rho an der Schulter, um ihn von Alpha fernzuhalten. Sofort entzog er sich meinem Griff, hielt jedoch inne. Beide Hände waren zu Fäusten geballt, ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Doch mir kam die Szene in den Sinn, die ich letztens beobachtet hatte und dann machte es Sinn.

»Komm‘ runter, Rho. Gegen Alpha hast du keine Chance«, versuchte ich zu vermitteln, stattdessen handelte ich mir direkt den nächsten Schlag ein. Ich landete auf dem Boden, mein Gesicht schmerzte. Rho stand mit erhobener Faust vor mir: »Du kannst ab jetzt deine dämlichen Spielchen alleine machen! Weder ich noch meine Leute noch Zetas Leute werden für dich arbeiten!«

Rho verschwand in der Dunkelheit und ich konnte nichts tun, als dazusitzen und versuchen zu verarbeiten, was gerade passiert war. Ich nahm die Bierdose und zerquetschte sie in meiner Hand. Sah zu, wie das Bier an meiner Hand herunterlief. Er meinte echt, er könnte so mit mir umspringen und es würde keine Konsequenzen haben? Alpha kam auf mich zu, reichte mir eine Hand und zog mich auf die Beine. Wie vermutet hatte er erstaunlich wenig von Rho abbekommen.

»Was geht mit dem?«, Alpha schlug seine Faust gegen die flache Hand. Ich konnte nicht zulassen, dass Rho meinte, mich einfach schlagen zu können. Mir kam eine Idee. Dann würde man mich nicht mehr für den Idioten halten, der es nicht schaffte, seinen Bezirk unter Kontrolle zu halten. Meine Pläne waren ohnehin ruiniert, also würde ein Idiot mehr oder weniger auch keinen Unterschied mehr machen.

»Ist doch scheißegal, Alpha. Wenn er doch so gerne bei Zeta ist, lass uns zusehen, dass er ebenfalls eingebuchtet wird. Auf seine mickrigen Leute kann ich gerne verzichten.«

»Wir werden ihn auflaufen lassen?«, Alpha setzte ein Grinsen auf und wir schlugen ein.

»Worauf du dich verlassen kannst.«

Ich konnte nicht noch mehr Ansehen als Boss verlieren. Irgendwann würde mich niemand mehr ernst nehmen. Wenn ich schon den Bezirk nicht haben konnte, dann wenigstens das. Dann würde ich Cap eben mit meinen eigenen Leuten beschäftigen. Sobald ich mit diesem Idioten fertig war, würde ich mich um meine Familie kümmern. Feststand, wenn wir fertig waren, würden weder Rho noch Thana was zu lachen haben.
 

Ich wartete vor dem Geschäft, rauchte und es fühlte sich gut an, diese Wut wieder zu spüren. Das war eben Thawat, der sich nicht unterkriegen ließ. Genauso musste es sein. Ich durfte nicht länger zulassen, vor Cap wie ein Weichei dazustehen. Betont gelangweilt sah ich zu, wie Alpha Rho anschleppte. Der wehrte sich, hatte in Alphas Griff aber keine Chance. Die roten Haare schwangen wild mit, als er sich erfolglos versuchte zu befreien.

»Lasst mich einfach in Ruhe!«

Als Alpha ihm eine Waffe an den Rücken hielt wurde er plötzlich still und wehrte sich auch nicht mehr. Ich verschränkte die Arme: »Naja, vielleicht sollte man seinen Boss nicht für verweichlicht halten, Rho. Du kannst Zeta dann gerne von der Zelle aus retten.«

Ich schnipste die brennende Zigarette vor seine Füße.

»Das machst du nicht!«, rief er und die Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. Ich empfand Genugtuung ihn so zu sehen, konnte es aber nicht komplett auskosten. Weil dieses dämliche Gewissen immer an mir nagte. Zieh‘ es durch, Thawat.

»Alpha«, sagte ich nur und deutete mit dem Kopf auf den Laden.

»Du tust besser, was wir sagen, sonst wirst du nicht nur eine Zelle von innen sehen«, drohte Alpha ihm und ich konnte sehen, dass es ihm Spaß machte. Ich schüttelte die letzten Zweifel ab. Rho würde schließlich nicht sterben und er war kriminell, also was machte es da schon, wenn er in der Zelle landen würde? Alpha gab den Befehl, dass er in den Laden einbrechen sollte. Wir blieben in der Nähe, um sicher zu gehen, dass er nicht flüchten würde. Rho fügte sich, doch ich sah selbst aus der Ferne die Tränen in seinen Augen glitzern. War ich zu weit gegangen? Noch könnte ich ihn aufhalten. Doch ich stand einfach nur da und sah zu, wie er sich selbst ins Unglück stürzte. Durch die Diebstahlsicherung dauerte es nicht lange, bis der Alarm anging, als Rho sich an der Tür zu schaffen machte. Nicht lange und die Cops würden hier sein. Rho kannte Alpha wohl auch gut genug, um zu wissen, dass dieser von der Waffe Gebrauch machen würde. Keine fünf Minuten später kam die Polizei mit zwei Streifenwagen. Cap war nicht dabei, obwohl wir uns mitten im 54. Bezirk befanden. Ich stupste Alpha an der Schulter an: »Lass‘ uns gehen.«

Nachdem Alpha und ich uns entfernt hatten, gab es noch eine letzte Amtshandlung für mich. Bevor ich mich neu aufstellen würde, musste ich diese Sache noch erledigen.

»Du kannst deine Mission antreten, Alpha. Ich will, dass du Thana eine Lektion erteilst.«

Ohne Weiteres rauschte er davon. Doch ich empfand nichts als Leere.
 

Ich war einfach nur noch verwirrt. Auch wenn ich die Sache mit Rho am Anfang als Genugtuung empfunden hatte, fühlte sich auf einmal alles so sinnlos an. Cap war noch da, meiner Familie hatte es nur minimalen Schaden zugefügt. Ich befand mich vor einem kleinen Laden, schüttete den gekauften Alkohol in mich rein. Ich trank alles durcheinander, irgendwie musste ich diese Gefühle loswerden. Warum tat ich das alles? Waren mir die Anderen wirklich egal? Würde es irgendetwas ändern? Je mehr Alkohol ich trank, desto besser konnte ich diese Fragen betäuben. Cap hatte mich komplett vom Weg abgebracht, er hatte alles vereitelt. Wäre er einfach gegangen, hätte ich weitermachen können wie bisher. Aber gerade wirkte es nur so, als würde ich mich selbst ins Unglück stürzen. Er schaffte es nicht nur souverän den Bezirk zu beschützen, sondern auch mich aus dem Konzept zu bringen. Ich starrte die leere Flasche an, wusste nicht mal, was ich trank. Achtlos warf ich sie zu Boden und sah zu, wie sie zerbrach. Genauso wie das alles hier. Nur noch Trümmer und Scherben. Nichts machte Sinn. Die Umgebung vor mir verschwamm durch die Tränen. Ich wandte mich dem Laden zu, nahm eine der Flaschen und warf sie gegen die Scheibe. Die Nächste trank ich auf Ex. Der Verkäufer hatte noch zu tun, also nichts von meiner Randale mitbekommen. Der Alkohol brannte in meiner Kehle, fing langsam an, mir die Sinne zu benebeln. Meine Sicht verschwamm, wenn ich versuchte zu laufen, schwankte ich. Doch es reichte mir nicht. Heute würde ich mich komplett abschießen, wenn ich dabei draufgehen würde, dann war es eben so. Ich schaffte es noch in den Laden zu taumeln, weil mein Vorrat aufgebraucht war. Vor dem Regal versuchte ich nach einer der Flaschen zu greifen, doch meine Bewegungen waren ungenau und ein paar Flaschen fielen auf den Boden. Ich ignorierte es einfach und wollte mich mit der Flasche davonmachen, da stand der Verkäufer vor mir. Er hielt mir das Handy auf Augenhöhe vor die Nase, aber ich konnte darauf nichts erkennen.

»Wenn du versuchst, hier zu randalieren, rufe ich die Polizei!«, drohte er mir. Ich nickte und lachte ihn an: »Ja, bitte. Und sag ihnen, dass sie Cap schicken sollen.«

Ich ließ mich vor ihm auf den Boden sinken, trank einfach aus der neuen Flasche.

»Sowas habe ich auch noch nicht gehört. Übrigens ist das Ladendiebstahl«, beschwerte er sich, aber es war mir egal. Unter dieses betäubende Gefühl mischte sich Panik. Ich dachte an Alpha. Was würde er machen? War das zu gefährlich? In dem plötzlichen Anfall von Unsicherheit griff ich nach dem Bein des Verkäufers, der mich jedoch sofort abschüttelte.

»Lass‘ das. Da du es unbedingt willst, rufe ich jetzt an.«

Der Gedanke, dass Cap hier auftauchen könnte, beruhigte mich etwas. Ich musste mit ihm reden. Ich hatte das Gefühl, nur er konnte mir jetzt noch helfen.
 

Niran
 

Als wenn der Tag nicht schon komisch genug war, hatte ich noch diesen ominösen Anruf aus dem Geschäft bekommen. Ein Besoffener mit roten Strähnen wollte mich unbedingt sprechen? Naja, ich fühlte mich verantwortlich für ihn, dazu gehörte es wohl auch, ihn betrunken irgendwo aufzulesen. Ich verstand seine Strategie einfach überhaupt nicht mehr. Jetzt begann er schon, die eigenen Leute auszuliefern. Mich beschlich wieder diese Vorahnung, dass bald irgendetwas explodieren würde. Also entweder war Thawat jetzt völlig bescheuert oder er hatte die Kontrolle verloren. Ich befürchtete Letzteres. Als ich den Laden betrat, bot sich mir ein bizarres Bild. Der Verkäufer hielt Thawat an der Wand fest, der dort aber mehr hing als stand. Durch die Klingel, wenn man den Laden betrat, bemerkte er mich schnell.

»Gut, dass sie da sind. Übernehmen Sie den bitte, der nervt mich schon die ganze Zeit. Sie sind doch der Captain, oder?«

»Ja, der bin ich.«

Ich näherte mich der Szene, als Thawat mir in die Augen sah, musste ich schlucken. Sein ganzer Ausdruck schrie förmlich nach Hilfe. Thawat befreite sich vom Verkäufer, taumelte auf mich zu und fiel mir in die Arme. Doch es war nicht, weil er sich nicht mehr halten konnte, er umarmte mich richtig. Für mich fror alles ein. Ich wusste nicht wohin mit mir oder meinen Händen. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich seinen Atem an meinem Ohr spürte. Das war definitiv zu nah. Ich konnte jedoch überhaupt nicht reagieren, ließ es einfach zu.

»Cap, ich bin so froh, dass du da bist. Ich brauche deine Hilfe. Ich glaube ich habe einen schlimmen Fehler gemacht«, flüsterte er und es war das erste Mal, dass ich ihm glaubte.



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