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Atlas Dawn

von

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Die Schattenwelt

Egal wohin seine Augen wanderten, fand er nur eine verlassene und unwirkliche Landschaft vor und hörte nichts außer dem leisen Rauschen des Windes in seinen Ohren. Der Himmel war düster und von einer ungesunden grünbläulichen Farbe, dunkle Wolken sperrten das Sonnenlicht aus. Allein dieser Anblick hatte etwas Unheimliches und Widernatürliches an sich und raubte dieser ohnehin schon trostlosen Einöde den letzten Funken Lebenskraft. Selbst die wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolkenbarrieren durchkämpfen konnten, waren blass und farblos und der Himmel schien wie von einer unbestimmten Krankheit befallen zu sein. In der Ferne zählte er ein paar Windhosen, die versuchten, sich ihren Weg zum Erdboden durchzukämpfen. Doch sie wurden wie von einer unsichtbaren Kraft davon abgehalten und tasteten stattdessen blind umher wie lange Krallen, die vergebens ein Insektennest zu erreichen versuchten um an Nahrung zu gelangen. Die Landschaft um ihn herum war kahl und eben, mit Ausnahme von ein paar dunklen Felsen, die wie schiefe Zähne aus dem Erdboden ragten. Tiere hatte er bisher keine gesehen und die ganze Umgebung wirkte völlig verlassen. Selbst Vögel schien es hier nicht zu geben.

Wie lange der verlorene Wanderer, der den Namen Arad-Enki trug, schon durch diese so lebensferne Ebene umherirrte, konnte er nur schwer sagen. Denn so unwirklich wie die Landschaft auch war, so seltsam fremd und unbestimmt schien auch der Wechsel von Tag und Nacht zu sein. Manchmal blieb es unerträglich lange hell, sodass er sich seinen Kapuzenmantel über das Gesicht ziehen musste um schlafen zu können. Dann wiederum konnte es auch passieren, dass die Sonne nur für kurze Zeit am Himmel blieb und es von einer Sekunde zur anderen finstere Nacht wurde, ohne dass es je zu einer Abenddämmerung kam. Dass diese Schattenwelt, die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten lag, nicht viel mit seiner Heimat gemeinsam haben würde, das war ihm schon vor Beginn seiner Reise klar gewesen. Aber nie hätte er gedacht, dass dieser Ort hier so fernab der natürlichen Gesetze existierte und keinen menschlich nachvollziehbaren Regeln folgte.

Anfangs hatte es ihn nicht sonderlich gestört, ganz im Gegenteil sogar! Diese absolute Stille und vollkommene Abgeschiedenheit erschien ihm wie ein wunderbarer Segen und eine willkommene Abwechslung zu seiner dicht besiedelten und regen Heimatstadt. Zuerst hatte er seinen Augen und Ohren nicht wirklich trauen können und war wachsam geblieben in der Erwartung, jederzeit aus dem Hinterhalt überfallen zu werden. Doch je länger er unterwegs war, desto mehr kam er zu der Erkenntnis, dass dieser Ort tatsächlich verlassen war. Für seinen ständig gestressten und überreizten Verstand war es eine unbeschreibliche Wohltat. Ihm war, als hätte er zum allerersten Mal in seinem Leben die wirkliche Bedeutung von Freiheit erfahren. Freiheit von den Menschen, deren Gesellschaft ihm so viel Pein verursacht hatte. Wie oft hatten ihm die Ohren vom Lärm in den Straßen geschmerzt und wie viele Gerüche hatten ihm beinahe den Atem geraubt? Wie oft war er in Panik geraten, wenn ihn versehentlich ein vorbeigehender Händler angerempelt hatte oder weil ihm der Lärm, das grelle Sonnenlicht und das Gedränge in den Straßen bei den zeremoniellen Paraden zu viel wurden?

Diese vollkommene Einsamkeit erschien seinem gequälten Verstand wie ein Gottesgeschenk. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er wirklich durchatmen, ohne ständig von seelischen und körperlichen Schmerzen geplagt zu werden, die ihn an den Rand der Verzweiflung trieben und in einem Zustand von Angst und Hilflosigkeit gefangen hielten.

Allein das Gefühl, dass ihm eine solch quälende Last von den Schultern genommen worden war, hatte ihn so sehr überwältigt, dass er vor lauter Glück geweint hatte.
 

Die anfängliche Euphorie hielt jedoch nicht ewig an, denn nun, da sein Gehirn von allen schädlichen Reizen befreit war, konnte er sich auf die wichtigen Sachen konzentrieren. Er wusste, dass seine Vorräte nicht ewig hielten und er irgendwann eine Wasserquelle oder ein paar Obstbäume finden musste, damit seine Versorgung gesichert war. Besser wäre noch, wenn er ein paar Tiere fand, die er jagen und essen konnte. Je weiter er wanderte und je mehr seine Vorräte zur Neige gingen, desto mehr wich seine Hoffnung, irgendwo eine Oase, einen Garten oder vielleicht eine Zivilisation zu finden. Stattdessen schien es nun so, als würde er bereits an der ersten Hürde scheitern weil dieser Ort sich jeglicher Logik entzog und er keinerlei Muster erkennen konnte. Es war das pure Chaos und das war doch eigentlich der Grund, was ihn erst dazu bewegt hatte, sein Leben mit den Menschen hinter sich zu lassen. Hatte er wirklich seine Familie und seine Heimat zurückgelassen, um in dieser Einöde festzusitzen? War das hier nicht die Geburtsstätte aller Geister, Monster und Götter, die von den Menschen gleichermaßen gefürchtet und verehrt wurden? Er hatte schon darüber nachgedacht, ob dies vielleicht bloß eine verlassene Stätte war und irgendein unbeschreibliches Unheil alles verwüstet hatte. Aber es gab hier keinerlei Anzeichen dafür, dass es hier mal eine Zivilisation gab. Entweder war er an einem völlig falschen Ort gelandet oder etwas hatte sämtliche Spuren von Leben vernichtet und nur karges Brachland und ein paar Felsen zurückgelassen.
 

Da es aufgrund der unregelmäßigen Tageszeiten schwer festzustellen war, wie lange er eigentlich schon unterwegs war, konnte er sich nur auf sein vages persönliches Zeitgefühl verlassen. Und es machte die Situation auch nicht besser, dass es hier außer ein paar kahlen Felsen nichts gab. Das erschwerte ihm die Orientierung noch zusätzlich. Nach seinem eigenen Gefühl war er zwar immerzu in eine Richtung gegangen, aber es war auch nicht völlig auszuschließen, dass er vielleicht unbewusst im Kreis gelaufen war weil er kaum Punkte hatte, auf die er sich fokussieren konnte. Also hatte er bis zur Nacht abgewartet, um sich anhand der Sterne zu orientieren. Und wie sollte es sich anders verhalten: selbst am Firmament schienen die Gesetze der menschlichen Welt nicht zu greifen. Zugegeben, er war noch nie sonderlich gut darin gewesen, komplexe Sternbilder zu erkennen und zu deuten. Aber es reichte zumindest aus, die einfachsten von ihnen zu erkennen und ungefähr seinen Weg zu finden. Doch in dieser Welt des Chaos schienen die Sterne in alle möglichen Richtungen zu wandern, was es ihm somit vollkommen unmöglich machte, auch nur irgendeine Konstante zu erkennen. Es war wirklich zum Verzweifeln und frustrierend obendrein. Und inzwischen begann er sich auch die berechtigte Frage zu stellen, ob der Ort hier vielleicht irgendeine Form von Eigenleben besaß. Vielleicht versuchte eine höhere Macht ihn am Weiterkommen zu hindern, indem es ihn immerzu in die Irre führte, ohne dass es ihm wirklich bewusst auffiel. Wenn dem wirklich so war, wäre es vielleicht irgendwann mal sinnvoll, sich zu überlegen, was nun zu tun war. Weiterzugehen bis die Vorräte aufgebraucht waren und dann verhungern oder verdursten? Oder nach Eridu zurückkehren und all seine Pläne aufgeben? Beides klang gleichermaßen schrecklich für ihn, vor allem weil er all seine Hoffnung in diese Reise gesetzt hatte.

Arad-Enki hatte sich schon vor seinem Aufbruch in die Schattenwelt darauf eingestellt, vielen Hindernissen zu begegnen. Wie jede Legende, in der ein Held loszog um seine Bestimmung zu finden oder einen Schatz zu erbeuten, beinhaltete diese scheinbar unüberwindbare Probleme, die der Held mit Tatkraft und Cleverness lösen musste. Meist passierte dies durch einen göttlichen Beistand, weil er es aus eigener Kraft nicht schaffen konnte. So war er selbst ja auch in diese Welt eingetreten. Aber welchen Sinn hatte es denn genau, ihn in diese verlassene Einöde zu schicken? Gab es hier ein Rätsel, das er bislang übersehen hatte? All das waren Fragen, die ihm ununterbrochen durch den Kopf schwirrten und ihn langsam aber sicher unruhig werden ließen. Natürlich war es auch nicht ausgeschlossen, dass er zu naiv gewesen und durch irgendeine finstere Macht in die Irre geführt worden war. So oder so waren die Aussichten nicht die besten und eine Lösung schien nicht in Sichtweite zu sein.
 

Plötzlich nahm der Wind zu und es wurde mit einem Mal bitterkalt. Die Böe traf ihn mit einem Mal so hart, dass er beinahe von den Füßen gerissen wurde und kurz nach hinten stolperte, um sein Gleichgewicht zu wahren. Ein lautes Heulen in der Ferne war zu hören und ließ ihn einen Schauer über den Rücken laufen. Es hörte sich an wie das schaurige Wehklagen rastloser Geister und ihn überkamen Furcht und Paranoia. Sein Verstand, der sich jeglicher Stimmen und Bewegungen bereits völlig entwöhnt hatte, wurde mit einem Mal überflutet und er glaubte, es würde wirklich jemand heulen und schreien. War er etwa doch nicht alleine? Hastig sah er sich um, doch der schneidende Wind schmerzte in seinem Gesicht so sehr, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, hüllte er sich fester in seinen Mantel und zog die Kapuze über den Kopf, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Ein heftiges Zittern durchfuhr seinen Körper und seine Zähne klapperten so sehr, dass er sie krampfhaft zusammenbeißen musste. Der Himmel war nun stockfinster und es donnerte laut. Die Zeichen sahen nicht gut aus und er musste sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen, bevor der Sturm schlimmer wurde oder die kalten Temperaturen ihm noch weiter zusetzten.

Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass das Wetter derart heftig umschlug. Eigentlich hatte er den Himmel und die Umgebung in all der Zeit aufmerksam beobachtet und keinerlei Hinweise auf einen bevorstehenden Temperaturabfall oder aufkommenden Sturm bemerkt. Aber anscheinend schien das Wetter hier genauso verrückt zu spielen wie die Sterne und die Tageszeichen und er hatte bisher pures Glück gehabt, von jeglichen Katastrophen verschont geblieben zu sein. Und nun brach es aus heiterem Himmel herein, bevor er irgendeine Chance bekommen hatte, sich entsprechend darauf vorzubereiten.
 

Aufmerksam schaute er sich nach allen Seiten um in der Hoffnung, irgendwo ein sicheres Versteck ausfindig machen zu können. Und tatsächlich schien nun endlich das Glück auf seiner Seite zu sein. Nicht weit entfernt entdeckte er eine Reihe von Felsen und es sah sogar danach aus, als gäbe es dort eine Höhle. Mühsam kämpfte er gegen den eisigen Sturm an, der ihn immer weiter seitlich von seinem Weg abzudrängen und ihn an seinem Ziel hindern wollte. Das schaurige Heulen klang nun wie ein wütendes Brüllen, wie eine zornige Drohung um ihn vor Angst zu lähmen und von seinem Ziel fernzuhalten. Ein lautes Donnern ließ die Erde erzittern und ein heftiger Schmerz ging durch seine sensiblen Gehörgänge. Für einen Moment hielt er inne, kniff die Augen zusammen und presste sich die Hände gegen die Ohren um sich Linderung zu verschaffen, doch das dumpfe Pochen jagte direkt in seinen Kopf und überflutete seinen Verstand. Es war, als würde ein Stromstoß durch sein Gehirn jagen, der ihn gleichermaßen überreizte und betäubte. Ein ersticktes „ah“ entwich ihm und für einen Moment stand er wie gelähmt da, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Verstand war durch diesen Lärm völlig überladen und schaffte es nicht, den roten Faden wiederzufinden, den er bis gerade eben noch hatte. Orientierungslos stand er da und schaute sich verzweifelt um, während seine Gliedmaßen allmählich taub wurden. Seine Atmung wurde flacher und schneller, während sich Panik in ihm immer weiter ausbreitete.

Mit einem Male kam er sich rettungslos verloren vor, gestrandet in einer feindseligen und leeren Umgebung und nicht wissend, was geschah und was er tun sollte.

Hastig versuchte er das durch den Lärm verursachte Durcheinander in seinem Kopf wieder zu ordnen, doch da drin tobte nun ein genauso gewaltiger Sturm. Ihm war, als sprängen tausende von Gedankenfragmenten durch seine Schädeldecke und prallten mit noch größerer Intensität und Schnelligkeit wieder zurück um dann gegen die andere Seite zu schlagen. Es brachte nichts, sein Kopf hatte sich seiner Kontrolle nun völlig entzogen. Aus reiner Verzweiflung begann er sich mit den Händen gegen die Schläfen zu schlagen in der Hoffnung, dass ihm das etwas Linderung verschaffe und sich diese entsetzliche Anspannung etwas legte. Der dritte Schlag, kräftiger als die beiden davor, war schmerzhaft genug, um den ganzen Radau in seinem Verstand zumindest so lange zu beruhigen, bis seine Augen den Blick zur Höhle wiederfanden. Ohne zu versuchen, einen ganzen Gedanken auszuformulieren, sprintete Arad-Enki wieder los. Wieder donnerte es, dieses Mal aber zum Glück in etwas weiterer Ferne.

Als wäre dies ein Signal des Himmels gewesen, setzte nun ein verheerender Platzregen ein. Nach nur wenigen Sekunden klebte seine Kleidung wie eine zweite Haut an ihm und das Wasser tropfte von seinen dunkelbraunen Locken. Ein gleißendes Licht erhellte für den Bruchteil einer Sekunde den pechschwarzen Himmel als ein Blitz nicht weit von ihm entfernt in den Erdboden einschlug. Er erhöhte sein Tempo und hörte ein bedrohliches Knacken von seiner Prothese, die sein linkes Bein ersetzte. Nun überkam ihn die nackte Angst und er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er es noch rechtzeitig schaffte.

Kaum, dass er sein flehendes Gebet beendet hatte, verlor sein Schuhwerk endgültig den Halt auf den inzwischen nassen und schlammigen Boden. Mit Müh und Not versuchte er sich zu fangen und den Sturz zu verhindern, doch da gab seine Bronzeprothese endgültig nach und brach mit einem unheilvolmen Knirschen und Knacken auseinander. Unfähig, noch rechtzeitig seinen Fall abzufedern, stürzte er das restliche Stück bis er den kalten und harten Steinboden der Höhle unter sich spürte. Das war das Letzte, was er wahrnahm, bevor er mit dem Kopf gegen einen Stein knallte und das Bewusstsein verlor.



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