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Letzte Wiederkehr

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XXIII


 

XXIII

„Uyeda“, stellte Atem sachlich fest, als der Sanitäter förmlich vor seinen Füßen landete. „Ist das nicht ironisch?“, bemerkte Bakura kühl, „erst ein Wärter, jetzt selbst ein Gefangener.“ „Ja, ich weiß selbst nur zu gut, dass ich nicht richtig gehandelt hab! Du kannst also ruhig aufhören, darauf rumzureiten!“, schnappte Uyeda etwas gekränkt. Atem blickte ihn nachdenklich an. „Du hattest keine Wahl, hab ich Recht?“ „Woher weißt du das?“, verblüfft hob der Angestellte den Kopf. „Naja, sagen wir einfach: Ich kenne das Gefühl sehr gut.“
 

„Ja, so war es. Pegasus hat mich zu diesen Sachen gezwungen und mich erpresst. Ich wollte mich aber jetzt endlich gegen ihn durchsetzen und euch befreien – tja, das ging scheinbar nach hinten los. Tut mir echt leid. Ich wünschte, ich hätte früher mehr Durchblick und vor allem mehr Mut gehabt. Ich versteh, wenn ihr mir das nicht so einfach verzeiht.“ „Spielt jetzt auch keine Rolle mehr“, bemerkte Bakura, „hilf uns lieber künftig bei dem, was wir tun müssen.“ „Und was ist das?“, wollte Uyeda wissen. „Tja, so genau wissen wir das selbst noch nicht. In erster Linie müssen wir aber hier aus. Hast du zufällig so ein Tele-dingsda dabei?“ „Das hat Pegasus mit natürlich abgenommen“, entgegnete Uyeda geknickt. „So ein Mist, sieht so aus, als könnten wir nur noch auf Seto hoffen“, seufzte Atem resigniert.
 

***

Dieser befand sich zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zur Burg. Immer wieder hatte er während des Flugs versucht, Atems Smartphone anzurufen, doch es blieb tot. Dieser Umstand beunruhigte ihn mehr, als er zugeben wollte.
 

Mit großem Gepolter und Getöse hämmerte die Gruppe schließlich an das Tor. „Pegasus, mach auf, du Halunke!“, brüllte Joey theatralisch. Um die Gruppe herum tobte der Wind so laut, dass sie kaum ihr eigenes Wort verstanden. „Zigfried scheint schon hier zu sein“, bemerkte Ryou und zeigte auf ein Flugzeug der Schroeder-Corporation, das ebenfalls bereits vor der Burg stand. Noch während Joey auf das Tor einschlug, als ginge es um sein Leben, öffnete sich dieses ganz plötzlich. Dahinter stand Croquet und bat sie mit einer dezenten Geste herein. Alle warfen sich argwöhnische Blicke zu. Doch sie hatten keine andere Wahl, als ihm zu folgen, wenn sie Atem und Bakura finden wollten. Wortlos führte der Angestellte sie in den großen Salon, wo sie noch vorgestern ihre erste Krisensitzung abgehalten hatten.
 

„Hallo, meine Freunde!“, begrüßte sie nun auch Pegasus mit einer wesentlich ausladenderen Geste, während er hinter der großen Tafel hervortrat „ihr seid ja schnell wieder zurückgekehrt. Hat es euch bei mir so gut gefallen oder was verschafft mir diese Ehre?“ „Tu nicht so scheinheilig!“, zischte Seto ihm zu, „Spar die ein einziges Mal deine schwülstigen Reden und lass uns zur Sache kommen! Wir wissen, dass du Zigfried gelinkt hast. Du hattest die Schriftrolle die ganze Zeit über bei dir, sie war nie verschwunden! Also, warum wolltest du verhindern, dass wir sie bekommen und das Ergebnis des Rituals rückgängig machen?“ Pegasus schloss die Augen und lachte leise und erhaben. „Nun gut, jedes Katz- und Mausspiel hat ein Ende. Ich habe euch ziemlich an der Nase herumgeführt und wie meine geliebten Toons habe ich euch eine spaßige Jagd beschert, das müsst ihr schon zugeben. Aber nun ist wohl der Moment der Wahrheit gekommen. Du hast Recht mit dem, was du sagst, Kaiba-Boy. Und wie ich feststellen musste, hat sich nun sogar der sonst so handzahme von Schroeder gegen mich verschworen. Das hat mir so gar nicht gefallen.“ Bei diesen Worten brachte Croquet Zigfried und Leon herbei, die beide an den Armen gefesselt waren. „Passt bloß auf, Pegasus schreckt vor nichts zurück!“, rief Leon ihnen zu, während er sich in seiner Schlinge wand.
 

„Sag uns jetzt sofort, wo Atem ist!“, verlangte Seto von Pegasus zu wissen. „Oh, wo der kleine Pharao sich aufhält, weiß ich leider nicht. Ich dachte, er wäre längst wieder bei euch“, Pegasus zuckte ahnungslos mit den Schultern, „er ist bereits vor Stunden fluchtartig abgereist.“ „Du miese Schlange lügst doch schon wieder!“, blaffte Joey ihn an, „das kann unmöglich sein!“ „Denkt, was ihr wollt“, sagte Pegasus leichthin, „wenn ihr so sehr davon überzeugt seid, dass ich etwas mit eurem antiken Freund angestellt habe, dann sagt mir ruhig, wo ich ihn versteckt halte. Nur zu!“
 

Yugi wandte sich Kaiba zu. „Es nützt nichts, sich weiter mit ihm herumzuärgern. Lass uns ihn einfach suchen!“ „Nicht nötig“, entgegnete Seto kühl und holte seinen Laptop hervor, „Pegasus, du magst zwar ein genialer Kopf sein, aber technisch warst du noch nie besonders versiert. Ich kann Atems Smartphone auch orten, wenn es nicht eingeschaltet ist. Natürlich habe ich mich abgesichert, bevor ich hier abgereist bin, und die entsprechende Software darauf installiert. So konnte ich bereits auf dem Flug hierher sehen, dass sich das Gerät noch immer hier in der Burg befindet. Nun wollen wir doch mal rausfinden, wo genau es uns hinführt.“ Pegasus seufzte. „Richtig. Uyeda, dieser Amateur hat natürlich vergessen, ihm das Ding wegzunehmen, als er sich um die beiden gekümmert hat. Was erwartet man auch von solch unfähigem Personal, das einem in den Rücken fällt? Aber sei’s drum! Das ist nun ohnehin alles bedeutungslos!“ „Was meint er damit?“, fragte Tristan an die Gruppe gewandt.
 

Von einem auf den anderen Moment brach Pegasus in schallendes Gelächter aus. Er warf den Kopf in den Nacken und schien in einen Zustand der boshaften Ekstase zu versinken. Dann sah er die Gruppe wieder an und in seinen sonst so warmen, rotbraunen Augen leuchtete nun etwas äußerst Bedrohliches. Etwas Fremdes, das nicht zu ihm zu gehören schien. „Ich meine damit, dass es bereits zu spät ist. Der große Schatten ist längst eingetroffen und hat genug Kraft aus den düsteren Gedanken der Menschen gezogen, um sich zu manifestieren. Denkt ihr allen Ernstes, eure erbärmlichen, niedlichen Bemühungen, ihn aufzuhalten, könnten irgendwas bewirken?“ „Sie haben etwas bewirkt, ob du es glaubst oder nicht!“, spie nun Yugi mit bebender Stimme aus. „Vielleicht temporär. Aber was denkt ihr passiert, wenn es keine Plattform mehr für euren kleinen cleveren Hypnose-Hokuspokus gibt?“, sagte Pegasus nun vollkommen ruhig. „Er spricht in Rätseln“, Joey kratzte sich verwirrt am Kopf.
 

„Die Gegenwart, die Vergangenheit, die Zukunft – all das ist bedeutungslos in der alles verschlingenden Dunkelheit! Wo nur noch Schatten ist, ist kein Platz mehr für etwas anderes!“ Seto starrte fassungslos auf seinen Laptop, auf dem er gerade das Programm geöffnet hatte, um den Standort von Atems Smartphone einzusehen. Mit einem Mal flackerte das Bild auf dem Monitor und wurde blasser und blasser. Und nicht nur das. Auch die Tastatur des Computers fühlte sich … brüchig an, porös, die Buchstaben darauf tanzten unstet vor Setos Augen. Er biss die Zähne zusammen. „Verdammt!“, fluchte er und rüttelte ungeduldig an dem Gerät, doch der Bildschirm war bereits pechschwarz und leblos.
 

„Ich schätze, ich weiß, was er meint!“, knurrte er, „Alles scheint zu verschwinden! Alle technischen Errungenschaften dieser Zeit! Vielleicht alles, was unsere Gegenwart ausmacht!“ Auch Tristan und Téa zogen ihre Handys aus den Taschen. Auch sie flackerten eine Zeit lang, bis sie sich schließlich einfach aufzulösen schienen. „Das ist ja total abgefahren!“, rief Mokuba schockiert, „das bedeutet ja, unsere schöne Hypnose kann jetzt nicht mehr gesendet werden. Die Menschen sind wieder vollkommen der Dunkelheit ausgeliefert! Und … wie soll überhaupt unsere Firma weiterlaufen, wenn wir keine Technik mehr haben, Seto?“ Wieder lachte Pegasus auf. „Ihr werdet größere Probleme haben als eure niedliche Firma. Seht nur dort, dieses wunderschöne, faszinierende Schauspiel!“ Er deutete überschwänglich in Richtung Fenster. Alle wandten den Blick zu der großen Glasfront –
 

Und allen stockte der Atem. Der Anblick, der sich ihnen draußen bot, jagte ihnen eine Gänsehaut über den Rücken. Von allen Seiten kroch eine dunkle Masse, ein wabernder Schatten, näher und näher auf die Burg zu. Die hohe Treppe, die zum Eingang hinaufführte, war bereits fast gänzlich in Finsternis gehüllt. Pegasus Domizil war einer Insel gleich, die von einer düsteren Flut überschwemmt wurde. Das Schwarz des Himmels war nicht mehr von dem auf der Erde zu unterscheiden. Schlichtweg alles versank in Dunkelheit.
 

Téa ließ ein ersticktes Geräusch vernehmen. Sonst getraute sich niemand etwas zu sagen. Es gab keine Worte für die Ausweglosigkeit, die sich ihnen plötzlich bot. Dabei hatten sie doch nur den Pharao einsammeln und wieder verschwinden wollen. Und nun – sollten sie hier ihr einsames Ende finden? In der Gewalt eines Irren und in einem alles verschlingenden Schatten?
 

***

„Was ist denn nun los?“, sagte Atem und starrte alarmiert auf das kleine Gerät, das ihm Seto zum gegeben hatte, um Kontakt mit ihm zu halten. Es schien sich in seiner Hand aufzulösen, all seine Partikel schienen instabil und zuckten in unregelmäßigen Abständen. „Ich habe den Eindruck, hier geht etwas ganz Mieses vor“, entgegnete Bakura ernst, „ich glaube, Zorc ist bereits übermächtig. Hach, bei der Schnauze von Anubis, wenn wir doch nur wüssten, wie wir hier rauskommen?!“
 

***

„Wie bereits gesagt: Es ist nun endlich soweit“, fuhr Pegasus fort, während er nun begann, im Raum auf und abzuschreiten, „nun, da alles so glatt gelaufen ist, da ein Zahnrad ins andere gegriffen hat, steht der endlosen Dunkelheit nichts mehr im Wege. Ich bin vor 3000 Jahren entstanden, doch das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn jetzt bin ich ewig. Kausalität, Chronologie, das alles gibt es nun nicht mehr.“ „Moment mal“, sagte Yugi, „was meinst du denn mit ‚ich‘? Was hast du mit der ganzen Sache zu tun, Pegasus?“
 

„Hast du es denn noch nicht bemerkt?“, fragte der Burgherr völlig gelassen, „Pegasus war nur mein Lakai, in dessen Händen es lag, dass mein Aufstieg reibungslos funktioniert, und der euch daran gehindert hat, das Ritual wieder rückgängig zu machen, bevor ich meine volle Kraft erlangt habe. Er hatte die nötige List dazu und hat alles darangesetzt, meinem Befehl Folge zu leisten. Er war ‚derjenige, der dem Tod ins Auge geblickt hat und dann erblindet ist‘. Aber sein Part in diesem Stück ist nun vorbei. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Nachdem das letzte Wort verklungen war, begann Pegasus augenblicklich auf seinen Füßen zu schwanken und seine Augenlider flatterten. Er taumelte nach vorn und fiel schließlich einfach vornüber auf den Boden. „Mr. Pegasus!“, rief Croquet schockiert und kniete neben seinem Arbeitgeber. „Er hat Puls, das ist gut“, murmelte er, mehr zu sich selbst.
 

Im nächsten Augenblick begann sich ihr Gastgeber auch bereits zu regen. Erschöpft hob er den Kopf und blinzelte orientierungslos in den Raum. „Was … was war denn? Was ist los? Was … macht ihr alle hier? Gibt es denn etwas zu feiern?“ Die Gruppe warf sich untereinander ratlose Blicke zu. „Pegasus, was ist das nun wieder für ein neuer Trick! Hör endlich auf mit deinen Spielchen, wir sind es alle überdrüssig!“, knurrte Zigfried. Pegasus Blick schweifte zu ihm und Leon hinüber. „Wer … hat dich denn gefesselt, kleiner Schroeder?“, wollte er erschrocken wissen. „Begreift ihr das?“, fragte Ryou an die anderen gewandt. Es war Yugi, der ihm zuerst antwortete. „Ich glaube fast … Pegasus wurde einer Gehirnwäsche unterzogen. Das, was er getan hat, das war nicht wirklich er. Er stand unter dem Einfluss von jemand anderem.“
 

„Genau richtig“, ertönte nun eine dunkle, zischende Stimme. Sie schien überall und nirgendwo herzukommen und alle sahen sich suchend im Raum um, „er stand unter meinem Einfluss, war meine Marionette.“ Yugi nickte. „Ich wusste doch, dass Pegasus nicht derart widerlich und skrupellos ist. Und wer? Wer bist du? Los, sag schon!“ Nun lachte die Stimme ein kehliges, kaltes Lachen. „Weißt du es denn nicht längst?“ Yugis Miene verfinsterte sich und er nickte kaum merklich. „Du bist Zorc.“ Wieder ein Lachen. „Korrekt.“
 

Der Rest der Gruppe blickte die kleinere Version des Pharaos schockiert an. „Zorc? Aber … wie kann das sein. Wir haben ihn doch in den Erinnerungen des Pharaos endgültig geschlagen!“ „Ich weiß es nicht“, gab Yugi zu, „aber diese starke dunkle Energie habe ich damals auch gespürt. Es gibt keinen Zweifel.“ „Ist … das der Grund, weshalb der Pharao wieder hergebracht worden ist?“, wollte nun Téa wissen. „Vielleicht, unter anderem“, Yugi zuckte mit den Schultern.
 

„Heißt das“, kam es nun verunsichert aus Pegasus Richtung. Der Burgherr saß noch immer auf den Knien auf dem Fußboden. „Heißt das denn, dass ich für all das hier verantwortlich bin? Dafür, dass Zorc wieder erwacht ist?“ Er war sehr blass und besah sich seine zitternden Hände. Die anderen blickten betroffen zu ihm herab. „Mach dir keine Vorwürfe“, sagte Yugi, „Ryou und ich wissen am besten, wie es ist, von einer dunklen Macht kontrolliert zu werden und die eigenen Handlungen nicht steuern zu können.“ Ryou nickte. „An was erinnerst du dich denn?“, wollte Joey neugierig wissen. „Naja …“, Pegasus zog die Brauen zusammen und schien zu überlegen, „ich weiß noch, dass ich nach altägyptischen Mythen und Legenden recherchiert habe, um neue Karten zu entwerfen. Dabei bin ich schließlich auf das Ritual der Schatten gestoßen. Oder nein … ich bin eigentlich nicht direkt darauf gestoßen. Es hat sich mir mehr … förmlich aufgedrängt.“
 

***Pegasus' Geschichte***

Für Maximilian Pegasus war Ägypten mittlerweile eine Art Rückzugsort geworden. Seit er seinerzeit dorthin gefahren war, um seine Trauer über den Tod seiner Frau zu bewältigen, zog es ihn wieder und wieder hierher. Das Geheimnis der Götterkarten hatte es ihm nicht ohne Grund angetan. Es waren alle die vergessenen Zauber und Legenden der antiken Hochkultur, die ihn in ihren Bann zogen. Noch heute erinnerte er sich an den kühlen Luftzug, den er verspürt hatte, als ihn Shadi gewährt hatte, zum Geheimnis der drei mächtigsten Kreaturen, der drei ägyptischen Gottwesen, vorzudringen. Ein Luftzug, der ein Echo vergangener Zeiten und zugleich ein Wink aus der Zukunft war.
 

Nachdem er die Wandzeichnungen der drei Götter fotografiert hatte, wollte er sich bereits abwenden, als ein anderes Bildnis seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Fasziniert trat er näher heran, wurde wie an Fäden dorthin gezogen. Das Wandbild zeigte eine Kreatur, die von vollkommenem Schwarz war. Mit ihren langen, gefährlich wirkenden Armen umfing sie ein winziges Abbild von Ras Sonnenbarke, die die strahlende Sonne aufgeladen hatte – ein Sinnbild für alles Licht. „Und … was genau ist das?“, fragte Pegasus und seine brüchige Stimme hallte in dem unterirdischen Raum. „Das“, sagte Shadi, „ist nichts, über das du dir den Kopf zerbrechen solltest. Es ist eine uralte Geschichte, die es immer gab und die sich immer auf die ein oder andere Weise wiederholt.“
 

Pegasus konnte sich keinen Reim auf die Worte des Ägypters machen, deshalb vergaß er sie rasch wieder. Ohnehin waren all seine Gedanken und sein Streben auf die drei Götterwesen gerichtet. Und eine innere Unruhe hatte ihn befallen, die ihn erst verließ, als er diese drei Kreaturen auf Leinwand und schließlich in Karten gebannt hatte. Danach hatte das das Gefühl, ein unbeständiger Geist, eine Art Dämon habe ihn verlassen. Aber diese tiefe innere Erschöpfung und Ruhe währte nicht ewig.
 

Eines Nachts erwachte er, weil er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Benommen setzte er sich im Bett auf. „Du bist derjenige, der dem Tod ins Auge geblickt hat und erblindet ist“, sagte eine unmenschliche Stimme, die mehr in seinem Kopf war als dass er sie im Raum lokalisieren konnte, „du hast gesehen, was war und was sein wird. Und nun wirst du mir helfen, dass es wieder geschieht.“ Die Worte erfüllten Pegasus mit Schrecken und er konnte sich nicht erinnern, wann er sich in seinem Leben zum letzten Mal so sehr gefürchtet hatte. Nie hatte etwas in ihm eine solche Angst ausgelöst wie diese so kryptische Aussage.
 

Erst jetzt, nachdem alles vorüber war, begriff er, was die Stimme damals gemeint hatte. Dass ihr Urheber von einem immerwährenden Streben ergriffen war, dass sich die Ereignisse zu Pharao Atems Regentschaft wieder und wieder abspielten, egal auf welche Art und Weise und in welcher Zeit. Und schon vor 3000 Jahren war er, Pegasus, dazu bestimmt, dies zu gewährleisten.
 

Als er am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich nicht an die Ereignisse dieser Nacht. Seine Angst war einem unbändigen Tatendrang gewichen. Scheinbar zufällig, so schien es ihm, erinnerte er sich just an diesem Tag an das Wandbild mit der Schattenkreatur. Und ebenso zufällig hatte er gerade keine anderen Inspirationen für neue Karten. Und so begann er, darüber zu recherchieren und erfuhr vom Ritual der Schatten. Er reiste abermals nach Ägypten und ließ sich nur zu gerne entführen in diese neue, faszinierende Legende.
 

Natürlich hatte er Atem und Seto bei ihrem ersten Besuch in der Burg nicht die Wahrheit gesagt. Natürlich war die Schrift nicht von ungefähr aus dem Museum gestohlen worden. Nachdem Pegasus erfahren hatte, dass sie sich dort befand, überkam ihn eine abgrundtiefe Gier. Er musste wissen, was in der Schrift geschrieben stand, musste sie einfach besitzen! Deshalb aktivierte er all seine Kontakte zum Untergrund und ließ die Rolle aus dem Museum stehlen. Uyeda engagierte er als Mittelsmann. Er sollte ihm auch später noch von Nutzen sein, damit er sich selbst die Finger nicht schmutzig machen musste. Um die Spur dieser brisanten Artefakte zu seiner eigenen Person zu verwischen, sollte Zigfried von Schroeder sie für ihn auf dem Schwarzmarkt beschaffen, ahnungslos darüber, dass die Händler, die ihm einen fairen Preis dafür machten, diejenigen waren, die Pegasus selbst mit dem Diebstahl beauftragt hatte. Schließlich kaufte Pegasus die Schrift von Zigfried. Nachdem er nun das ganze Geheimnis kannte, erging es ihm wie zuvor mit den Götterkarten. Ein Wahn befiel ihn, der erst endete, als die beiden Karten erschaffen und auf Leinwand gebannt waren.
 

Doch tief in seinem Inneren war ihm bereits bewusst, dass er etwas kreiert hatte, das er nicht kontrollieren konnte. Deshalb stoppte er auch hier wieder die Produktion nach den Prototypen. Es war die letzte Entscheidung, die er traf, bevor sein eigenes Bewusstsein vollends der Dunkelheit erlag. Was danach kam, war für ihn wie ein tiefer, finsterer Schlummer.
 

Von diesem Moment an war jede Faser seines Körpers auf das Glücken des Rituals ausgerichtet, wartete er Tag ein, Tag aus auf den richtigen Augenblick, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen. Doch wann dieser langersehnte Moment kommen sollte, das war ihm selbst schleierhaft.
 

Ins Wanken kam er lediglich, als er eines Morgens feststellen musste, dass die beiden Karten, die für die Vollendung des Rituals nötig waren, spurlos verschwunden waren. Er empfand eine tiefgreifende Unruhe, da er nicht wusste, ob und wann sie zu ihm zurückkehren würden. Doch als Atem und Seto schließlich in der Burg auftauchten, mit den beiden Karten im Gepäck, da spürte er mehr als dass er wusste, dass nun endlich das Warten nun ein Ende hatte.
 

Ein höherer Wille hatte die Karten dem Pharao in die Hände gespielt, hatte dafür gesorgt, dass er sie vollkommen unwissend in dem Kartenstapel aufgefunden hatte, den Seto ihm gegeben hatte. Dass sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn gezogen hatten. Und dass Seto Pegasus als erste Anlaufstelle in den Sinn gekommen war. Dass sie letztlich zusammen mit den Karten genau zu dem Ort gereist waren, an dem ein höheres Prinzip sie haben wollte. Dieses mächtige Prinzip schien zu wollen, dass Atem erneut Zeuge von Zorcs Geburt wurde. Ihrer beider Schicksale waren so stark miteinander verwoben, dass es sie stets zum selben Punkt in Zeit und Raum zog. Die Fäden, die zwischen ihren Leben gespannt waren, wurden straffgezogen und trafen sich an einem Schnittpunkt. In dem Augenblick, als Pegasus das Ritual ausführte. Die enorme Energie, die freigesetzt wurde, als Atem losgestürmt war, um dies zu verhindern, und auf Zorcs Präsenz prallte, traf ihn als heftiger Stoß.
 

Und nun, da Pegasus Aufgabe erfüllt war, da Zorcs Aufstieg vollbracht war und es für ihn nichts mehr zu tun gab, verließ ihn dieser dunkle Wille. Nun war er wieder Herr seiner eigenen Gedanken. Alleine in der Stille seiner Gedanken. Und das Gewesene verblasste und war nichts weiter als ein auf die Leinwand seiner Erinnerung gebannte Bilder.
 

***

„Hach, verdammt!“, machte nun auch Seto seinem Frust Luft, „aber wo zur Hölle ist denn Atem nun?“ Mit dem Fuß trat er seinen Laptop quer durch den Raum. Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich ironischerweise an den Vormittag, als der Pharao ihn danach gefragt hatte, wie ein Monitor funktionierte. Als er ihm erklärt hatte, dass das Bild darauf durch Licht erzeugt werde. Nun war das alles hinfällig. Der Bildschirm war schwarz, ihre Worte verklungen. Die wenigen Worte, die sie miteinander hatten wechseln dürfen. War das alles überhaupt jemals passiert? Er starrte auf den toten Computer, der nun vor seinen Augen blasser wurde und schließlich nicht mehr war als ein grauer Schleier auf dem Fußboden, der ebenfalls zu Nichts wurde. Die von ihm sonst so hochgeschätzte Technik war für ihn nutzlos geworden. Er fühlte sich ohne sie blind, ohne Orientierung in der Dunkelheit, und er wusste nicht, wie er hier weiterkommen sollte. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er überhaupt in diese Situation gekommen war.
 

Alles, was er gewollt hatte – seit sehr, sehr langer Zeit – war, den Pharao zurückzuholen. Auch wenn er nie wirklich gewusst hatte, warum. Auch wenn er es vielleicht noch immer nicht wusste. Und trotzdem hatte er ihn kennenlernen dürfen. Und etwas in seinem Inneren war geschmolzen. Oder in Bewegung gesetzt worden. Doch nun war es wieder stillgelegt und erkaltet. Nun war seine gesamte Welt aus den Angeln gehoben. Vielleicht würden sie das Ganze hier auch nicht überleben und all seine Bedenken bezüglich Atems Rückkehr waren bedeutungslos geworden. Im Grunde war ihm alles gleich. Alles, was er jetzt noch wollte, war Atem zu finden. Ihn noch einmal zu sehen, ihn zu berühren.
 

„Es wird jetzt Zeit“, sagte die bedrohliche Stimme, „auch ihr sollt nun in dem Schatten versinken, der ich bin. Das, was mir zur vollkommenen Macht verhilft, befindet sich hier im Raum.“ „Was heißt das nun wi …“ In diesem Augenblick stieß Ryou einen markerschütternden Schrei aus. Er warf den Kopf in den Nacken und ballte die Hände zu Fäusten. Auf seiner Brust leuchtete der Milleniumsring auf und dessen Kegel schlugen wild aus. „Was macht der Ring denn hier?“, fragte Tristan bang, der seit seiner Begegnung mit dem Gegenstand im Königreich der Duellanten höllischen Respekt davor hatte.
 

„Der Ring gehört zu mir, deshalb ist er zu mir zurückgekommen“, zischte Zorc. Ryou sank auf die Knie und hielt sich seinen dröhnenden Kopf. Schließlich erlosch das Leuchten und der Milleniumsgegenstand schien wieder so leblos wie zuvor. Vorsichtig nahm Ryou die Hände von den Ohren. „Was passiert jetzt?“, fragte er mit bebender Stimme. Er wünschte sich insgeheim, der Ring wäre nicht zu ihm, sondern zu Bakura gekommen. Er begriff nicht, was er noch damit zu schaffen hatte. Er hatte das Ding nie gewollt. Er hatte sich nie stark genug gefühlt, um ihm standzuhalten. Wenn er doch nur wüsste, wo sich Bakura befand …
 

„Hey!“, plötzlich jedoch durchzuckte ihn ein Geistesblitz, „Leute, nun, da der Ring schon einmal hier ist: Warum verwenden wir ihn nicht, um Bakura und den Pharao zu finden!“ Noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, hielt er das Artefakt vor seine Brust und schloss konzentriert die Augen. Sofort leuchtete einer der Kegel auf und pendelte sich auf eine Richtung ein. Ryou stürmte los und die anderen, nach einem perplexen Moment des Erstaunens, setzten ihm nach. Unter der großen Treppe zum Obergeschoß blieb Ryou stehen. „Hier schlägt der Kegel aus wie verrückt“, informierte er die anderen.
 

Mit einem Mal war das Inneres des Kellers in helles Licht getaucht. Das Milleniumspuzzle um Atems Hals erstrahlte und blendete ihre Augen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten. „Was geht denn nun ab?“, fragte Uyeda ängstlich, „ich versteh gar nichts mehr. Was … in was seid ihr da nur verwickelt? Wer seid ihr bloß?“
 

„Da sind Rillen in der Wand“, stellte Seto fest, „ich schätze, wir haben es hier mit der Tür zu tun, von der Atem mir erzählt hat. Bakura hat Pegasus dabei beobachtet, wie er nachts in einen geheimen Kellerraum gegangen ist.“ „Also hat Pegasus, dieser Fiesling, die beiden da eingesperrt? … Äh, nichts für ungut“, wiegelte Joey ab, als der Burgherr, von Croquet gestützt, ebenfalls die Gruppe erreichte. „Gibt es dafür einen Schlüssel?“, fragte Seto ihn ungeduldig in rauem Ton. „Natürlich“, entgegnete Pegasus überfordert, „dieser Raum ist überhaupt nicht geheim. Ich nutze ihn, um meine Bilder zu lagern. Hier ist der Schlüssel, ich habe ihn immer bei mir.“ Grob entriss Seto den Schlüssel aus Pegasus Hand und steckte ihn in das Schlüsselloch.
 

„Die Tür“, horchte Uyeda auf, „da ist jemand an der Tür!“ Alle drei stürmten sie die Treppe hinauf. Atems Blick wurde warm und weich, als die Tür sich öffnete und er an ihrem Ende Seto erblickte. Erschöpft und erleichtert stürzte er auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Setos Muskeln entspannten sich etwas und er legte seine Arme fest um den Pharao. Endlich zu wissen, wo er sich befand und dass er wohlauf war, machte ihn viel ruhiger, auch wenn ihre Lage noch immer aussichtslos schien. Plötzlich wurde ihm klar, dass er außer um seinen kleinen Bruder schon lange nicht mehr solche Angst um einen anderen Menschen verspürt hatte. Das alles war so neu für ihn und dennoch war er froh, dass es passierte, bevor jetzt alles endete. „Ra sei Dank!“, flüsterte Atem „Ich hatte ehrlichgesagt Angst, dass ich dich nicht mehr zu Gesicht bekomme“, gestand Seto, „Noch beschissener, als dass du wieder zurückmusst, wäre es gewesen, wenn ich mich nicht einmal von dir hätte verabschieden können.“ Atem zog ihn wortlos zu sich herab und küsste ihn. Dann legte er beide Hände an seine Wangen und lächelte ihn glücklich an. Beide versanken im Blick des anderen und für einen Moment schien die Bedrohung um sie herum vergessen.


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 



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