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IX


 

IX

Und dann erzählte Atem Seto die Begebenheit von damals, als Bakura in seinem Palast auftauchte und ihm den Handel anbot. Es fiel ihm alles andere als leicht, darüber zu sprechen. Doch sein Verdacht erhärtete sich allmählich, dass es eine Verbindung zwischen den Ereignissen von damals und den jüngsten Geschehnissen gab. Als er an dem Punkt angelangt war, an dem er sich zurückgezogen hatte, um über Bakuras Angebot nachzudenken, blickte er auf und sah Seto direkt in die Augen.
 

Der Firmenchef hatte sich mittlerweile auf der Sessellehne niedergelassen und hörte aufmerksam zu. „So langsam geht mir ein Licht auf“, sagte er, als er sich Atems Geschichte durch den Kopf gehen ließ, „kann es vielleicht sein, dass diese ominöse Schrift dieselbe ist, die Bakura aus dem Grab stehlen wollte?“ Atem nickte bedeutungsschwanger. „Nachdem ich vorhin dort oben einen Blick darauf geworfen habe, bin ich mir ziemlich sicher. Ich habe sie zwar damals nur sehr kurz zu Gesicht bekommen …“ „Also hast du Bakuras Handel damals zugestimmt?“, wollte Seto wissen. Innerlich musste er ein wenig grinsen. Alles andere hätte ihn auch sehr gewundert, denn Atem schien, soweit er ihn kannte, nie den gradlinigen Weg zu wählen.
 

Auch Atem lächelte jetzt verlegen. „Ich verfluche diese Entscheidung seitdem jeden verdammten Tag. Trotzdem … ich glaube, wenn ich nochmal in dieser Situation wäre, ich würde wieder so handeln“, gestand er leise, „aber … ich wollte derzeit so gerne mehr über die Milleniumsgegenstände erfahren. Ich wollte diese Informationen und ich wollte aktiv etwas dafür tun, um sie zu erhalten, und nicht immer nur Boten und Schergen ausschicken und Däumchen drehen.“ Er blickte traurig auf das Papyrus in seiner Hand und überflog erneut die Zeilen, „nur …“, begann er verlegen. Doch Seto unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte.
 

„Warum bist du so streng mit dir? Gut, du hast dich nicht gerade mit Ruhm bekleckert und dich nicht an deinen lächerlichen Pharaonen-Kodex gehalten, auf den du so große Stücke hältst. Aber es gibt bei Weitem schlimmere Delikte. Dein Volk hat deswegen nicht gleich eine Revolte gestartet, nehme ich mal an. Du wolltest diese Schrift – du hast sie aus einem Grab geholt, in dem sie sonst nur verrottet wäre.“
 

Atem sah Seto lange eindringlich mit seinen großen Augen an. Der Chef der Kaiba Corp dachte ganz genauso, wie er selbst damals darüber gedacht hatte – und so ganz anders als Seth. Wie es schien, waren die beiden sich doch viel unähnlicher, als er geglaubt hatte, und Atem fühlte sich zum ersten Mal in seinem Impuls bestätigt. Er fühlte sich verstanden. Vielleicht war es ein gefährliches Denken, aber diese Unkonventionalität hatte er wohl damals mit Bakura gemein gehabt.
 

„Leider ist es nicht ganz so einfach. Denn die Aktion ging damals ziemlich nach hinten los“, sagte Atem etwas kleinlaut. Er seufzte. „Ich erzähle dir wohl besser, was passiert ist. Dann verstehst du, was ich meine.“
 

***

Atem konnte Seths Anspannung förmlich aus der Luft greifen, auch wenn er ihn nicht sehen konnte, da er wenige Meter hinter ihm herritt. Er spürte, wie der Hohepriester mit sich rang und den Drang niederkämpfte, erneut eine Diskussion anzuzetteln.
 

Sie legten den Weg schweigend zurück, Bakura vorne, dicht gefolgt von Atem und Seth. Auch Bakura hatte kein Interesse an einer höflichen Konversation und schwieg sich aus, bis sie schließlich tief in der Wüste Halt machten. Die Umrisse einer riesigen Pyramide, die sie schon seit geraumer Zeit aus der Ferne gesehen hatten, stimmten alle drei ehrfürchtig. Es dämmerte bereits und die drückende Schwüle wich einem angenehmen Abendwind. Atem schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und genoss die Erfrischung.
 

„So, da wären wir also. Jetzt schick deinen Aufpasser weg, andernfalls platzt unser Handel“, verkündete der König der Diebe, während er von seinem Wallach abstieg. Atem ließ sich ebenfalls vom Pferd gleiten und wandte sich zu Seth um. „Seth, Ihr wisst, wie die Abmachung lautet. Reitet jetzt umgehend zurück. Sollte ich bis morgen früh nicht wieder im Palast sein, könnt Ihr nach mir suchen. Vorher ist es Euch untersagt, irgendwelche Schritte zu unternehmen.“ Seth biss die Zähne zusammen und ballte die Hand zur Faust. „Pharao, ich appelliere an Euch! Überlegt Euch diesen Wahnsinn noch einmal. Ihr müsst das nicht tun. Mit schmutzigen Verbrechern habt Ihr nichts zu tun. Ihr könnt Bakura nicht trauen und ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, Euch mit ihm alleinzulassen! Das – ist einfach nicht richtig!“ »Nicht richtig«, dachte Atem wehmütig. Für Seth gab es nur richtig oder falsch, schwarz oder weiß. Ein Gefühl der Resignation überkam ihn. Es war müßig, noch weiter mit dem Priester zu streiten.
 

In den letzten Tagen hatten ihm die ständigen Debatten mit seinen Leibwächtern, die ihn nach seiner Entscheidung verfolgt hatten, einem Großteil seiner Energie geraubt. Energie, die er doch am heutigen Tag so dringend benötigte. „Ich verstehe einfach nicht, wieso es Euch plötzlich so wichtig ist!“, hatte Seth beharrlich geäußert, „bevor Bakura hier reinspaziert ist, war es Euch auch kein Anliegen, mehr über die Milleniumsgegenstände zu erfahren.“ Atem hatte irgendwann nur mehr müde den Kopf geschüttelt. „Ihr müsst es nicht verstehen“, hatte er ruhig gesagt, „ich verlange nur von Euch, dass Ihr es akzeptiert und schweigt – und das ist keine Bitte.“ Seth hatte sich genug Unverfrorenheit herausgenommen und Atem hatte sich irgendwann gegen weitere Diskussionen gesperrt. Dass es hier womöglich um mehr ging als darum, Informationen über die mystischen Gegenstände zu bekommen, konnte er Seth ohnehin nicht begreiflich machen. Er verstand es ja noch nicht einmal selbst richtig. Es war nicht mehr als ein vager Verdacht, der in den letzten Tagen in ihm aufgekeimt war.
 

„Ich habe Euch um Euren Rat gefragt und Ihr habt ihn mir erteilt. Dafür bin ich Euch dankbar. Aber nun ist es an mir, zu entscheiden", hatte Atem letztlich die endlosen Diskussionen schroff beendet, „und solltet Ihr meine Anweisungen nicht respektieren, muss ich in Betracht ziehen, dass Ihr nicht der Richtige für Euren Posten seid.“ Er hatte es nur so dahergesagt, aber Seth hatte verletzt dreingeblickt und Atems Gesichtsausdruck war hart und unnachgiebig geblieben. Er musste seine zweifelhafte Entscheidung jetzt durchsetzen, durfte nicht ins Wanken kommen. Andernfalls brachte er sich selbst um das letzte Bisschen Autorität, das er noch besaß. Seths Gegenwart konnte er ohnehin nur noch schwerlich ertragen, nachdem dieser ihn an jenem Tag zurückgewiesen hatte, und diese Wortgefechte machten es ihm nicht gerade leichter, mit der Situation umzugehen.
 

„Pharao?“, fragte der Hohepriester jetzt vorsichtig nach, als Atem, offenbar in Gedanken versunken, nicht reagierte. „Tut, was ich von Euch verlange“, sagte er matt, „wir sehen uns morgen.“ Obwohl er den gekränkten Ausdruck in Seths Gesicht wahrnahm, wandte er sich ohne ein weiteres Wort zu Bakura um und nickte ihm zu, zum Zeichen, dass er soweit war. „Ich hoffe, Euer kleiner Schatten hier macht uns keinen Ärger“, sagte der Dieb warnend. Atem hoffte dies auch inständig, sagte aber so überzeugt wie möglich: „Keine Sorge, er wird meine Anweisungen befolgen.“
 

Nun war es an Bakura, zu nicken. „Habt Ihr die Pläne?“, fragte er dann und Atem beförderte einige Rolle Papyrus unter seinem Gewand hervor. Nach vielem Hin und Her hatten Sie sich auf einige klare Spielregeln geeinigt: Atem würde mit Bakura zusammen das Grab betreten. Doch er durfte keinen seiner Leibwächter mit dorthin nehmen. Er musste diesen Weg allein antreten. Erst nachdem sie ihre Mission erfolgreich abgeschlossen hatten und nachdem Bakura den Inhalt der Schrift studiert und sich anschließend davongemacht hatte, durfte Atem zum Palast zurückkehren oder sich von einem seiner Bediensteten dorthin eskortieren lassen.
 

Im Gegenzug hatte Atem darauf bestanden, dass die Schriftrolle sofort nach Verlassen der Pyramide und nachdem Bakura ihr ihre Geheimnisse entnommen hatte, in seinen eigenen Besitz überging. So würde er wenigstens keine Beihilfe zu einem von Bakuras Diebstählen leisten, wobei nun er es strenggenommen ja nun selbst war, der etwas aus dem Grab stahl. Etwas, das seinem Ahnen gehört hatte und auf das er deshalb ein gewisses Anrecht hatte zwar, aber dennoch handelte er nicht rechtmäßig. Diesen Gedanken versuchte er geflissentlich zu verdrängen, als er entschlossen hinter Bakura herstapfte. Er wollte Seth und all die Gefühle, die er mit ihm verband, hinter sich lassen. Vielleicht wollte er auch einfach ein einziges Mal in seinem Leben etwas tun, das ihm nicht vorherbestimmt war. Das er selbst entscheiden und lenken konnte. Er als Individuum, nicht als Kronprinz oder Herrscher.
 

„Nach Euch, Euer Waghalsigkeit“, grinste Bakura und bedeutete Atem nun den Weg durch die hohe Steinpforte hinein in die Pyramide, „es sei denn, Ihr habt auf den Bauplänen bereits eine Falle entdeckt. In diesem Fall solltet Ihr Euch diesen Schritt natürlich nochmal überlegen.“ Atem hatte die Dokumente seines Vorfahren bereits eingehend studiert, unter keinen Umständen wollte er diesen Weg unvorbereitet antreten. Deshalb wusste er ganz genau, an welchen Stellen sie sich vorsehen mussten. Diese Informationen hatte er Bakura voraus und genau das war es, das ihn vor dieser Mission nicht zurückschrecken ließ. Dies war die zweite Forderung gewesen, die er an den Dieb gestellt hatte: Die Baupläne für die Pyramide sollten über den ganzen Weg bis zum Grab in seinem Gewahrsam bleiben. So hatte er das Leben des Diebes selbst in der Hand und damit die volle Kontrolle über die Situation. „Nein“, sagte er jetzt, „der Eingang ist sicher.“ Bakura nickte lediglich. „Dann lasst uns keine Zeit mehr vertrödeln.“
 

Dunkelheit schluckte die beiden wie ein beängstigender schwarzer Schlund und Atem fröstelte. Obwohl er im Besitz der Pläne war, spürte er deutlich, dass Bakura sich nun in seinem Element, in seinem Revier befand und er selbst das Nachsehen hatte. Sie waren jetzt von der Außenwelt abgeschnitten und niemand konnte ihm mehr beistehen. „Na, besorgt?“, fragte der Grabräuber neckend. Atem zuckte regelrecht zusammen, als die raue Stimme die Stille brach. Er hoffte, dass Bakura es nicht bemerkt hatte. „Nicht mehr als du es auch sein solltest“, antwortete er und versuchte dabei, seiner eigenen Stimme eine gewisse Gelassenheit zu verleihen. Er wollte seine Füße dazu bringen, ihm zu gehorchen, aber für einen Moment war er wie paralysiert. Doch es half alles nichts. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Also schob er seine Ängste beiseite und tat den ersten Schritt in die Dunkelheit.
 

***

Es dauerte die ganze Nacht, bis Atem und Bakura endlich die Grabkammer erreichten. Draußen graute bereits der neue Tag, doch davon ahnten die beiden nichts. Sie hatten jegliches Gefühl für Zeit verloren. Atems Schulter schmerzte unter Bakuras Gewicht. Die letzten beiden Wegstunden bis zum Grab hatte er ihn stützen müssen. Sein Bein, das er sich auf dem Weg verletzt hatte, schleifte der Grabräuber schlaff hinter sich her.
 

Keuchend und schweißgebadet drückten sie nun gemeinsam die Steintür zur Kammer auf. Als dies vollbracht war, lehnte sich Bakura stöhnend gegen die Wand. „Warum habt Ihr das getan?“, fragte er schwer atmend, „warum habt Ihr mich nicht einfach zurückgelassen und seid allein zum Grab vorgedrungen, um Euch die Schrift zu holen?“ Atem schnaubte. „Wir hatten eine Abmachung. Einen Vertrag. Und zumindest mir ist das etwas wert. Ich hoffe, du hättest ebenso gehandelt. Denn wer ein bisschen Ehre im Leib hat, bricht ein solches Abkommen nicht.“ „Immer so rechtschaffen und regeltreu“, spie Bakura spottend aus. Atem hatte genug von diesen Spielchen. Die Dunkelheit machte ihm zunehmend zu schaffen und lag bereits schwer auf seinem Gemüt. Er wollte nur noch tun, was getan werden musste, und dann den Weg nach draußen antreten. „Genug geredet“, sagte er, „lass uns reingehen.“
 

Eine Gänsehaut zog sich über seinen ganzen Körper, als er das kühle Grab betrat. Jetzt erst wurde ihm wieder bewusst, wie frevelhaft es war, was sie hier taten. Dass sie hier die Ruhe eines Verstorbenen störten, in das Reich seiner stillen Ruhe eindrangen. Und auch, wie nah sie hier dem Totenreich waren, in das er selbst früher oder später würde eintreten müssen. Ehrfürchtig ließ er die Szenerie auf sich wirken, bevor Bakura schließlich an ihn herantrat. „Ey, Pharao, wir haben ein klitzekleines Problem!“, knurrte er trocken. Atem schreckte auf. „Äh … was?“ „Der Sarkophag – er ist nicht hier. Und die Schriftrolle auch nicht!“ Ein metallisches Klimpern war zu vernehmen, als Bakura sich bewegte, und Zorn flammte in Atem auf, als er feststellte, dass der Grabräuber bereits einige Kostbarkeiten aus dem Grab in seinen Stoffbeutel gepackt hatte. Doch er rief sich zur Raison. Es gab jetzt Wichtigeres und es war ihm mittlerweile alles egal, solange sie nur bald wieder unter freiem Himmel waren.
 

„Nicht da?“, fragte er heiser. „Was soll das bedeuten? Und nun?“ „Steht denn nicht irgendwas in den Bauplänen dazu?“, wollte Bakura ungeduldig wissen, „gibt es vielleicht einen Mechanismus, um einen weiteren Teil der Kammer zu öffnen?“ Atem holte das Papyrus hervor und Bakura leuchtete ihm mit der vorletzten Kerze, die ihnen geblieben war. Mit zusammengezogenen Brauen schüttelte Atem den Kopf. „Nichts. Die Pläne hören vor dem Tor zur Grabkammer auf. Für sie gab es offenbar keine Aufzeichnungen.“ „Clever, dein Urgroßvater“, gab Bakura neidlos zu, „dieses letzte Geheimnis hat er wohl mit in den Sarkophag genommen.“
 

Erschöpft ließ Atem sich auf den Boden sinken und vergrab sein Gesicht in seinen Händen. „Aber … es muss doch irgendeine Möglichkeit geben. Gibt es denn niemandem, dem Aksethem zutritt zu diesem letzten Teil des Grabs gewährt hätte? Dem er seine sterblichen Überreste offenbart hätte?“ Bakuras Gesicht wurde nachdenklich. „Vielleicht doch …“, sagte er dann langsam, „Pharao, Ihr seid nicht so dumm, wie ich geglaubt habe. Es gibt jemanden, dem er genügend vertraut hätte.“
 

Erkenntnis traf sie beide im gleichen Moment und sie suchten den Blick des jeweils anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihr ganzes Denken eins zu sein, funktionierten sie als eine Einheit. „Mir!“, sagte Atem erleuchtet, „Richtig. Ihr als sein Nachfahre seid der einzige, dem der Zutritt gestattet sein dürfte!“, bestätigte Bakura. Der Pharao ließ seinen Blick durch die Kammer schweifen, bis sein Blick an einem kleinen steinernen Tisch hängen blieb, auf dem sich eine schlichte, leere Tonschale befand. Daneben lag ein kleines, kostbar verziertes Messer. Atem trat langsam an die Utensilien heran. „Damit muss es eine Bewandtnis haben“, murmelte er, „bisher gab es für alles in dieser Pyramide einen Mechanismus. Vielleicht, wenn ich …“ Er nahm das Messer auf und drückte die Klinge gegen seine Fingerkuppe. Sofort quoll ein schmales Rinnsal Blut hervor. Er hielt seinen Finger über die Schale und ein, zwei, drei Tropfen fielen lautlos hinein.
 

Augenblicklich ging ein Ruck durch die Kammer und sie vernahmen ein lautes Reiben von Stein an Stein. Der Boden in der Mitte der Kammer tat sich auf und die Umrisse eines großen Gegenstands schoben sich nach oben, bis schließlich ein gewaltiger Sarkophag vor ihnen emporragte. „Nicht übel. Eine uralte Magie des Blutes“, Bakura stieß einen Pfiff aus, „dieser Grabraub geht dann wohl komplett auf Eure Kosten, kleiner Pharao“. Atems Augen strahlten. So mitgerissen war er von dem Erfolg, den sie zu verzeichnen hatten, dass er die Bissigkeit in Bakuras Worten ignorierte. Euphorie und neue Energie fluteten seinen Körper.
 

Doch nach wie vor waren sie einen Schritt vom Ziel entfernt. „Aber – wo ist die Schrift?“, fragte er etwas enttäuscht. Bakura trat nun langsam auf den Sarkophag zu. Atem wollte zornig protestieren, als Bakura auch bereits den Deckel nach oben geklappt hatte und einen kritischen Blick hineinwarf. „Bakura, lass …“, weiter kam der Pharao nicht, denn der Dieb griff beherzt ins Innere und Millisekunden später beförderte er zwei Blätter zusammengerollten Papyrus hervor. „Mission abgeschlossen“, sagte er nüchtern. Atem atmete erleichtert aus. „Jetzt schließ den Deckel und lass die Toten ruhen!“, befahl er grimmig. Bakura tat überraschenderweise wie ihm geheißen und humpelte zu Atem zurück. Atem hielt Bakura seine offene Hand hin und dieser begriff sofort. Zähneknirschend legte der die beiden Schriftrollen hinein. Atem entrollte sie kurz und überflog den Text. Erst auf dem einen, dann dem anderen Blatt. Doch das Licht war nur schwach und seine Nerven strapaziert, sodass er sich nicht auf den Inhalt fokussieren konnte.
 

„Lass uns verschwinden“, sagte der Pharao, während er die Blätter wieder zusammenrollte. „glücklicherweise müssen wir nicht wieder den ganzen Weg zurückgehen. Es gibt einen zweiten Ausgang, der nicht weit von hier ist.“ Er sah Bakura die Dankbarkeit für diese erfreuliche Wendung förmlich an. „Pharao“, sagte der Dieb und wandte sich noch einmal zu Atem um, „war wirklich nett mit Euch Geschäfte zu machen.“ Er grinste breit. „Jederzeit wieder“, grinste auch Atem und hätte sich im nächsten Moment für diesen unbedachten Kommentar gerne auf die Zunge gebissen. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihm aus und er schämte sich dafür. Aber er konnte nicht leugnen, dass er dieses Abenteuer genossen hatte, dass er sich nie so lebendig gefühlt hatte.
 

Noch etwa eine Stunde mussten sie laufen, bis sie schließlich, Bakura nach wie vor auf Atem gestützt, die Pforte erreichten, die sie vom Tageslicht trennte. Atem streifte Bakuras Arm ab und wandte sich erwartungsvoll zu ihm um. „Was? Was ist?“, wollte der Grabräuber wissen. „Die Schriftrollen“, sagte Atem geschäftlich, „jetzt ist deine Chance, dir ihren Inhalt zu Gemüt zu führen. Sobald diese Tür sich öffnet, ist dein Anspruch darauf verwirkt.“ Bakuras Augen blitzten auf. „Ihr lasst mich das also tatsächlich tun“, stellte er ungläubig fest und ließ ein heiseres Lachen vernehmen, „entweder Ihr seid unfassbar einfältig oder einfach nur zwanghaft loyal.“ Dennoch nahm er das Papyrus an sich, als Atem es ihm entgegenhielt.
 

Mit feurigem Blick überflog er die Zeilen, doch lediglich kurz. Zu kurz, um sie sich einzuprägen, wie Atem fand. Schließlich blickte er auf. Mit einem „In Ordnung. Ich weiß alles, was ich wissen muss“ rollte er die Schrift wieder zusammen und hielt sie Atem hin. Dieser streckte die Hand danach aus. In dem Moment spürte er einen heftigen Tritt in seine Mitte, der ihn kurz in sich zusammensinken ließ, und gleich darauf einen festen Stoß gegen seine Brust. Er stolperte rückwärts und prallte mit dem Hinterkopf gegen die raue Steinwand. Einen Moment lang überkam ihn Schwindel und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Nur vage nahm er wahr, wie Bakura die schwere Tür aufhievte und die Schriftrolle in seinem Gewandt verschwinden ließ. „Was Ihr gesagt habt über Ehre im Leib, Pharao“, zischte er, als er mitleidig auf den orientierungslosen Atem herabblickte, „tja, Ihr hättet es besser wissen müssen. Ihr hättet ahnen müssen, dass ich keine besitze. Also, man sieht sich!“ Damit verschwand er in den ersten, blendend hellen Sonnenstrahlen des neuen Tages.
 

Atem hatte das Bewusstsein verloren. Es war fast Mittag, als er die Augen wieder aufschlug und entsetzlich laute Stimmen vernahm. Als er am Morgen nicht zurückgekehrt war, waren seine Leibwächter besorgt aufgebrochen, um nach ihm zu suchen, und hatten ihn schließlich hinter der offenen Pforte liegend gefunden. Übelkeit stieg in Atem auf und schüttelte seinen ganzen Körper. Er fühlte sich schwach, hilflos und klein. Er wollte Seth nicht in die Augen sehen müssen, wollte nicht den vorwurfsvollen, belehrenden und noch schlimmer – mitleidigen – Blicken ausgesetzt sein, die ihm stumm zu verstehen gaben, dass er dumm und naiv gewesen war. Er wollte sich nicht mit seinem Fehler auseinandersetzen, mit Seths unerschütterlichen Glauben an Ehre und Struktur. Er wollte nur hier liegen und sich elend fühlen. All das kam ihm vor wie ein Albtraum.


 


 

***

Als Atem diesmal mit seiner Erzählung geendet hatte, nahm Seto eine Veränderung in seinem Verhalten wahr. Er wirkte jetzt gedrungen und unsicher. Als er vorsichtig seinen Blick wieder zu ihm hob, lag darin Scham, Reue und Angst.
 

Seto verursachte es fast körperliche Schmerzen, ihn so zu sehen. „Tja, und das war die ganze Geschichte“, schloss der Pharao bedrückt, „Bakura hat mich reingelegt. Ich hatte das Nachsehen und musste damit leben. Und noch dazu habe ich bei diesem kleinen Ausflug nicht das Geringste gewonnen. Die Schriftrolle war weg und ihren Inhalt habe ich nie erfahren.“
 

„Und wenn schon!“, platzte es aufgebracht aus Seto heraus. Atem sah überrascht auf. „Was meinst du damit?“, fragte der Pharao. „Okay, es ist passiert. Du hast einen Fehler gemacht, hast falsch geurteilt. Und wenn schon! Jeder macht Fehler. Und dieser hier hat niemandem ernsthaft geschadet. Also was soll’s? Denkst du etwa, ich hätte mir am Anfang meiner Karriere als Geschäftsmann keine Fehltritte geleistet? Ich habe mich ständig grün und blau geärgert, habe gepatzt und daraus gelernt. So ist nun mal das Leben! Okay, ich gebe zu: Ich lasse bei anderen selbst ungern Fehler durchgehen, weil ich es bei mir selbst ebenfalls nicht tue. Aber Fakt ist doch, wir sind alle nur Menschen. Und so etwas gehört nun mal dazu. Kein Grund, sich deshalb zu quälen.“
 

Atem seufzte resigniert. „Das sagt sich so einfach. Von mir wurde aber niemals erwartet, dass ich ‚nur ein Mensch‘ bin. An mich als Sohn Ras wurde immer der Anspruch gestellt, dass ich diese perfekte, unfehlbare Kreatur bin, die dem Land Stärke gibt und Mut macht.“ Seto schnaubte verächtlich. „Siehst du! Und genau deshalb finde ich eure Kultur mit ihrem Gefasel von Schicksal und Bestimmung einfach nur ätzend! Ich kann es echt nicht mehr hören. Du wolltest mal raus, wolltest mal was anderes sehen, ein Abenteuer erleben. Und du hast die Gelegenheit beim Schopf gepackt und dir diesen Wunsch erfüllt! Also hattest du am Ende ja doch etwas davon, auch wenn Bakura dich übers Ohr gehauen hat. Du hast dieses Gefühl gehabt, das dir keiner mehr nehmen kann! Du hast dich selbst verwirklicht, so wie das hier und heute alle tun. Wenn du mich fragst, du kannst nur froh sein, dass du jetzt hier bist und nicht mehr dort!“
 

Atem sah ihn verblüfft und wortlos an. Er hatte erwartet, dass Seto ihn auslachte oder ihn für seine unbedachte Entscheidung tadelte, dass er sich über ihn erhob und ihm sagte, das alles geschehe ihm nur recht. Mit allem hatte er gerechnet, doch nicht mit dem, was der Firmenchef ihm da jetzt gerade an den Kopf warf. Nicht mit Ermutigung oder Zuspruch. Noch nie hatte er eine so große Erleichterung verspürt wie in diesem Moment, wo ihn zum ersten Mal jemand in seinen persönlichen Wünschen bekräftigte, sie nicht als sinnlose Spinnereien abtat. So lange hatte er sich wegen seines Handelns gedanklich gestraft. Aber nun war da ein kleiner Teil in ihm, der es wagen konnte zu glauben, dass er das vielleicht gar nicht musste. Erneut kämpfte er mit den Tränen, so viel stießen Setos Worte in ihm drin an. Seine Überraschung und Rührung musste ihm offen ins Gesicht geschrieben stehen.
 

Es gab so vieles, das er hätte sagen können, aber in seinem Kopf herrschte nur Leere und er fand keine passenden Worte. Schließlich stellte er lediglich noch einmal leise die Frage, die ihn am meisten umtrieb. Und an Setos Blick konnte er sehen, dass er bereits wusste, was kommen würde: „Warum wolltest du mein späteres Ich aus dem Totenreich zurückholen?“
 

Obwohl Atem erneut Unbehagen und Zweifel in den eisblauen Augen las, senkte Seto den Blick nicht und er stand auch nicht auf, um Abstand zu gewinnen, wie er es beim letzten Mal getan hatte. Doch eine Antwort blieb er Atem auch dieses Mal schuldig. Stattdessen näherten sich ihre Gesichter einander langsam, bis Atems Wimpern fast gegen Setos schlugen. Atem spürte Setos Wärme und roch seinen Duft, der so anders war als der von Seth. Es roch aufregend und nach Freiheit. Und ein bisschen nach Geborgenheit. Vorsichtig legte der Besitzer der Kaiba Corporation eine Hand an Atems Wange. Dann berührten ihre Lippen sich federleicht.
 

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und Atem und Seto fuhren auseinander. „Entschuldigen Sie“, sagte der junge Sanitäter von vorhin und blinzelte in den Raum, „Mr. Pegasus ist nun versorgt und stabil und wir würden Sie nun gerne ebenfalls kurz durchchecken.“


 


 


 


 


 


 



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