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See you at the bitter end

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Sicherheitshalber eine Triggerwarnung. Im folgenden Kapitel werden Suizidversuche, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten und Kindesmisshandlung erwähnt. Dies geschieht nur andeutungsweise. Ich wollte nicht für die gesamte FF die Triggerwarnungen einschalten, weil die ganzen angegebenen Sachen nur in diesem Kapitel erwähnt werden. Komplett anzeigen

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I'm forever black-eyed - A product of a broken home

I'm forever black-eyed

A product of a broken home“

 

Placebo, „Black-eyed“

 

 

Eine der frühsten Kindheitserinnerungen, an die Dazai sich zurückerinnern konnte, war die, wie seine Mutter ihn aus dem Gartenteich gefischt hatte. Er wusste nicht mehr, ob er sich damals tatsächlich bereits hatte umbringen wollen, aber er konnte sich ganz deutlich an das starke, überwältigende Bedürfnis erinnern, in das Wasser zu gehen und darin zu versinken. Seine Mutter hatte ihn furchtbar ausgeschimpft und ihn dann, bittere Tränen weinend, im Arm gehalten und ihn angefleht, so etwas nie wieder zu tun.

An die Tränen seiner Mutter konnte er sich genauso glasklar erinnern, wie an das Wasser im Teich, das ihn hatte zu sich rufen wollen. Ihr Kummer zu machen, war das Letzte, das er tun wollte und doch schien er exakt dies zu tun. Immer und immer wieder. Es war ein nagendes Gefühl, das sich unablässig in seinem Körper ausbreitete und keine Ruhe gab.

Er konnte sie nicht glücklich machen.

Manchmal lächelte sie, doch es schien stets eine Traurigkeit in ihrem Lächeln mitzuschwingen, für die Dazai so gerne eine Erklärung finden wollte. Wenn er den Grund für ihre Niedergeschlagenheit finden könnte, so war er der festen Überzeugung, dann könnte er etwas dagegen tun. Und dann würde auch das nagende Gefühl in seinem Innern verschwinden.

Gleichzeitig fürchtete er jedoch auch, dass das nagende Gefühl in seinem Inneren und die Traurigkeit seiner Mutter in einem unheilvollen Zusammenhang standen. Niemand traute einem so kleinen Kind vermutlich ein solches Denken zu, aber den so jungen Dazai beschäftigte diese Frage tagein, tagaus.

War er der Grund für das Unglück seiner Mutter?

Aber wenn dem so wäre, wunderte er sich, warum wäre sie dann traurig, wenn er aus dieser Welt verschwände? Menschen vergossen Tränen, wenn sie traurig waren, nicht wahr? Allerdings ergaben Menschen mitunter auch schrecklich wenig Sinn.

Einige Zeit nach dem Gartenteich-Zwischenfall fand Dazai es angemessen, seine Mutter direkt zu fragen.

„Willst du nicht, dass ich gehe?“

Sie erschrak bei seinen Worten. „Natürlich nicht … du bist das Wichtigste, was ich habe.“ Sie umarmte ihn erneut und dieses Mal noch stärker als all die Male zuvor. Es war wie ein verzweifeltes Festhalten an etwas, das ihr sonst zu entgleiten drohte.

„Woher weißt du, dass ich das Wichtigste sein soll, das du hast? Vielleicht findest du irgendwo etwas Besseres.“

Ihre Tränen, die gerade erst versiegt waren, flossen von neuem. „Nein, nirgends in der ganzen Welt werde ich etwas Besseres als dich finden.“

„Du kannst unmöglich schon in der ganzen Welt gesucht haben. Die Welt ist sehr groß.“

Andere Leute, so war es Dazai bewusst, fanden seine stets ruhige Art zu sprechen unheimlich. Beinahe als fürchteten sie sich vor ihm. Nur seiner Mutter machte dies nichts aus.

„Die Welt ist nicht so groß wie meine Liebe für dich.“ Er verstand nicht wirklich, was sie damit meinte, aber mitten durch ihre Tränen legte sich bei diesen Worten ein Lächeln auf ihr Gesicht, das Dazai sehen konnte, als sie ihre Umarmung etwas löste, um ihn anzublicken. Er mochte es sehr, wenn sie so lächelte, dass dadurch ihren Tränen Einhalt geboten wurde. Es beruhigte das nagende Gefühl in seinem Innern.

 

Sie hatte selbst dann noch versucht, ihm dieses Lächeln zu schenken, als sie starb. Sie hatte mit ihm fliehen wollen. Weg von diesem Ort, an dem es kein Glück für sie gab, für keinen von ihnen. Seine Mutter hatte es geschafft, heimlich ihre auf dem Land lebende Schwester zu kontaktieren und zu überreden, ihnen zu helfen, doch sie waren zu schnell aufgeflogen. Und wie seine Mutter von den Kugeln der Pistolen getroffen worden war, hatte er nur daran denken können, wie er sie davor gewarnt hatte.

„Es wird nicht funktionieren“, hatte er ihr gesagt. „Es gibt kein Entkommen.“ Sie hatte nicht auf ihn hören wollen, aber vermutlich war ihre Starrköpfigkeit genau das, was sie all die Jahre hatte durchhalten lassen, was sie alles hatte ertragen lassen, das der, der für ihn kein Vater und für sie kein Ehemann war, ihnen angetan hatte. Doch wofür hatte sie all die Jahre durchgehalten? Um jetzt in einer dunklen Gasse auf der Flucht vor finsteren Gestalten zu verbluten? Dazai konnte keinen Sinn dahinter erkennen.

„Du bist … ein so kluges Kind“, brachte sie mit letzter Kraft hervor und strich ihm ein letztes Mal mit ihren Händen durch seine Haare, vermutlich nicht einmal bemerkend, dass sie so ihr Blut in seinen dunklen Locken verteilte. „Geh allein ... weiter. Du kannst … ihnen … entkommen. Sie werden nicht … auf dich schießen.“ Sie weinte. Sie weinte schon wieder. „Es tut mir … so leid, dass ich … nicht … mehr für … dich tun ko-...“

Als der Junge auf die am Boden liegende, leblose Gestalt seiner Mutter blickte, wiederholte sein Kopf immer und immer wieder nur den gleichen Satz.

Er hatte sie nicht glücklich machen können.

 

Er war den Schergen seines Vaters entkommen.

Seine Mutter hatte in einer Sache Recht: Er war klug. Unheimlich klug. Viel klüger als andere und dies war ein weiterer Grund, warum sich andere vor ihm fürchteten.

Andere – so wie seine Tante und deren Mann, zu denen er geflohen war und bei denen es mehr als offensichtlich war, dass sie sich vor ihm ängstigten. Auf dem halben Weg zum damals zwischen seiner Mutter und deren Schwester ausgemachten Treffpunkt war ihm bereits der Gedanke gekommen, ob es nicht besser wäre, an irgendeinen anderen Ort zu gehen. Irgendwohin, wo es mehr gab, als diese vielen Fragen, die ihm pausenlos durch den Kopf schossen und das immer penetrantere Nagen in seinem Innern. Doch, gab es so einen Ort überhaupt? Außerdem – so hatte er geschlussfolgert - schien es angemessen, seiner Tante Bescheid zu sagen, was mit ihrer Schwester geschehen war. In dem Augenblick jedoch, in dem er ihr dies mitteilte, wusste Dazai, dass er sich falsch entschieden hatte. Er hätte weggehen sollen.

Seine Tante war vollkommen fassungslos darüber, wie sachlich er ihr vom Tod ihrer Schwester erzählt hatte. Trotzdem hatte sie ihn mit zu sich nach Hause genommen, dahin, wo der Schatten seines Vaters nicht hinreichte, ihn nicht finden konnte. Dazai hasste es, wenn er seine Tante zu ihrem Mann sagen hörte, dass etwas mit dem Jungen „nicht stimmte“ und dass nicht einmal der Tod seiner eigenen Mutter ihn zu berühren schien.

Dazai hasste besonders den letzten Punkt, weil er tatsächlich nicht stimmte. Er dachte viel über ihren Tod nach, vor allem darüber, ob dieser nicht sinnlos gewesen war. Aber: Gab es überhaupt so etwas wie einen sinnvollen Tod? Bisher hatte er ja nicht einmal eine Antwort darauf finden können, ob es so etwas wie ein sinnvolles Leben gab. Seine Tante und sein Onkel waren bei der Beantwortung dieser Fragen definitiv keine Hilfe. Sie verboten ihm, über so etwas zu sprechen; sie hatten ihm sogar verbieten wollen, darüber auch nur nachzudenken, aber darauf hatte Dazai nur mit den Augen rollen können … wie wollten sie ihm denn seine Gedanken verbieten? Er hatte so viele Fragen. Warum war er auf der Welt? Warum war überhaupt irgendjemand auf der Welt und warum störte sich kaum jemand daran, die Antwort auf eine so essentielle Frage nicht zu kennen? Warum war seine Mutter für ihn gestorben? War der Tod etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Was war das für ein Gefühl in seinem Inneren, das ihn aufzufressen drohte?

Er konnte nicht aufhören zu fragen und er hatte niemanden außer diesen beiden, die er fragen konnte. Und egal, wie oft sie ihn für seinen „Ungehorsam“ schlugen, doch diese Fragen zu stellen, seine Gedanken hörten nicht auf, sich immer und immer um diese Probleme zu drehen. Und egal, wie oft sie ihn anschrien, warum er denn nicht in der Lage wäre, einfachste menschliche Empfindungen zu verstehen, es änderte nichts. Nichts an dem nagenden Gefühl, nichts an seinen Gedanken, nichts an der Leere, die nicht nur in ihm, sondern in der ganzen Welt herrschte und welche die Menschen in ihrer Dummheit nicht zu bemerken schienen, und nichts an dem flüchtigen, tröstlichen Gefühl, das er spürte, wenn er sich eine Klinge ins eigene Fleisch stieß und das Blut betrachtete, das aus den Wunden floss.

Wenn es jemanden, irgendjemanden geben würde, der ihn auch nur ansatzweise verstehen würde, der ihm urteilsfrei zuhören würde, so war sich Dazai sicher, dann könnte er die Antworten finden und das nagende Gefühl besänftigen, vielleicht sogar loswerden. Aber hier gab es so jemanden nicht. Alles, was es hier gab, war der Hass, der ihm entgegen schlug, weil seine Tante ihm die Schuld am Tod ihrer Schwester gab. Die Schuld an ihrem Tod und an ihrem unglücklichen Leben. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war er der Grund für das alles gewesen. Aber es war nie seine Absicht gewesen. Hatte er sie ohne Absicht unglücklich gemacht und getötet? Machte es überhaupt noch einen Unterschied, ob es eine Absicht gegeben hatte? Brauchte es eine Absicht? Fühlte es sich anders an, wenn man jemanden absichtlich tötete?

All die Jahre des Grübelns brachten ihn nicht weiter. Im Gegenteil. Je öfter er in den nahe gelegenen Fluss „gefallen“ war oder einen Dachbalken zu Bruch gebracht hatte, und je mehr seine Tante und sein Onkel der festen Überzeugung waren, dass er von der Außenwelt isoliert gehörte, desto deutlicher wurde es, dass er hier weg musste. Besonders nachdem diverse herbeigerufene Priester von umliegenden Tempeln und Schreinen damit beauftragt worden waren, zu prüfen, ob er denn von einem bösen Geist oder Dämon besessen war – Dazai hatte dies recht belustigt für einen wirklich interessanten Ansatz erachtet, allerdings auch gefürchtet, was passieren würde, falls sie zu dem Schluss kamen, etwas gefunden zu haben.

Den genauen Zeitpunkt seiner Abreise hatte das entsetzte und zu Tode verängstigte Gesicht seines Onkels bestimmt, als die Polizei ihm erklärte, dass seine Frau so unglücklich die Treppe hinabgestürzt war, dass sie leider sofort ihren Verletzungen erlegen war.

„Der Junge hat es wohl mitangesehen“, erinnerte sich Dazai an die Worte des Polizisten. „Jedes Mal, wenn wir ihn befragt haben, hat er nur stoisch geantwortet: 'Sie ist die Treppe hinunter gefallen.' Vielleicht ist er traumatisiert.“

Oh ja. Dazai konnte sich an den Blick seines Onkels entsinnen, wie seine entgeisterten Augen langsam die Treppe empor wanderten, bis zur obersten Stufe, auf welcher der Junge saß – und lächelte.

Sein Onkel, so hatte er es später vom Boss gehört, hatte sich kurz nach diesem Ereignis wohl das Leben genommen. Dazai hasste ihn dafür noch mehr als vorher.

 

Dazai selbst hatte das Weite gesucht, bevor sein Onkel ihn auch nur auf die Todesumstände seiner Tante hatte ansprechen können. Wie einen Magneten hatte die Stadt ihn in ihr Innerstes zurückgezogen. Vielleicht hatte er in Yokohama endlich mehr Glück mit seinem Vorhaben. Ironischerweise fiel ihm das Überleben und Durchschlagen erstaunlich leicht.

Dieser Gedanke ließ den Jungen unzufrieden stöhnen, ehe er von der meterhohen Mauer, auf die er gerade mühevoll hinaufgekraxelt war, auf den harten Steinboden in der Tiefe blickte.

„Also dann“, sagte er, atmete noch einmal tief durch und schloss die Augen, bevor er sich nach vorne fallen ließ. Nur um wenige Sekunden später hart und äußerst unangenehm auf jemanden drauf zu krachen.

„Au. Au. Au. Mein Rücken, mein armer Rücken.“

Mit einem tiefen Seufzer öffnete Dazai die Augen und sah auf den unter ihm liegenden Mann, der entsetzlich jammerte. Der Junge stieg von ihm herab.

„Entschuldigung. Ich hatte Sie nicht gesehen.“

Der Mann rieb sich mit einer Hand seinen Rücken, ehe er sich langsam aufrichtete und zu Dazai drehte.

„Bist du etwa von da oben heruntergefallen?“ Er strich sich mit seiner anderen Hand seine langen schwarzen Haare aus dem Gesicht.

„Das geht Sie nichts an.“ Dazai zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er sich sein linkes Handgelenk wohl gebrochen hatte. „Mist. So kann ich nicht noch einmal da hochklettern“, murmelte er enttäuscht.

„Du bist gesprungen, ja?“, fragte der Mann mit einer Ruhe, die für eine solche Frage unnatürlich erschien.

„Das geht Sie immer noch nichts an.“

„Oh ho“, machte der Mann amüsiert, als der Junge ihm einen bösen Blick zuwarf. „Ich bin Arzt. Ich kann mir dein Handgelenk mal ansehen.“

„Nein, danke.“ Dazai war bereits im Begriff zu gehen. Erwachsene, die Fragen stellten, konnten schnell zum Problem werden. Und darauf hatte er gerade so gar keine Lust.

„Na schön. Ich formuliere es anders“, sagte der Mann und irgendetwas an der Art, wie er es sagte - als hätte sich ein düsterer Schatten über ihn gelegt, der erkenntlich machte, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen dahergelaufenen Arzt handelte – ließ Dazai sich noch einmal zu ihm herum drehen. „Ich kann mir dein Handgelenk ansehen, ohne weitere Fragen dazu zu stellen, wieso du von da oben heruntergesprungen bist oder wieso eine Verletzung, die jedem Erwachsenen die Tränen in die Augen treiben würde, dich nicht einmal mit der Wimper zucken lässt.“

Vorsichtig und doch neugierig machte Dazai wieder einen Schritt auf ihn zu. Diese Begegnung schien interessant zu werden. Und schon sehr lange war ihm nichts Interessantes mehr begegnet. „Wer sind Sie?“

Der Arzt lächelte. Es war ein Lächeln, das jedem anderen vermutlich einen Schauer über den Rücken gejagt hätte und Dazai war sich bewusst, dass es dem Mann sofort aufgefallen war, dass dies bei ihm nicht der Fall war.

„Ah, verzeih bitte, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ogai Mori.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wollte Dazai etwas mehr Hintergrundgeschichte geben, ohne zu definitiv zu werden oder gar zu versuchen, ihn voll und ganz zu erklären. Könnte ich auch ganz ehrlich nicht, denn noch finde ich vieles an Dazai sehr verworren. Da ich aber die Ideen mochte, die mir gekommen waren und sie unbedingt schreiben wollte, hielt ich alles ein wenig vage. Ich hoffe, ihr konntet dem Kapitel trotzdem gut folgen?
Das nächste Mal geht es wieder weiter mit der fortlaufenden Handlung. Komplett anzeigen

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