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50 Jahre später

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben, ich komme mit der Nachbearbeitung gut voran. Hier gibt es schon mal das nächste Kapitel für euch, damit die Wartezeit nicht zu lang wird. ^^
@ irish_shamrock: ich habe rausgefunden, warum dir Jeans Szene wie eine Ich-Perspektive vorkam. Mir waren da tatsächlich zwei Ich´s reingerutscht. Hab ich korrigiert. O_~ Komplett anzeigen

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50 Jahre später
 

Hochmotiviert griff Kenneth nach der Klinke und warf sich schwungvoll gegen die Tür. Aber entgegen aller Gewohnheit hielt das verdammte Ding ihm diesmal Stand. Heute war sie abgeschlossen. Der Mann mit der wilden, blonden Lockenmähne klinkte noch ein paar Mal vergeblich am Türgriff, dann bequemte er sich doch endlich, das Schild an der Tür eines näheren Augenscheines zu würdigen. ‚Diese Woche wegen Krankheit geschlossen.‘, stand da. Fluchend trat Kenneth gegen die Tür, wohl wissend, dass sie nichts dafürkonnte, und zog eine Flunsch. „So´n Shit …“, maulte er in sich hinein und ließ den Blick die Straße hinauf und hinunter schweifen. Seine Stammkneipe hatte ernsthaft dichtgemacht, wenn auch nur für eine Woche. Wo gab es denn sowas? Wo sollte er jetzt seinen Alkohol herkriegen?

Eine nasskalte Windböe veranlasste Kenneth dazu, seine rockige Lederjacke fester um sich zu schlingen und sich mit dem Gedankenmachen etwas zu beeilen. Na schön, dann musste eben eine andere Kneipe her. Er wusste zwar auf die Schnelle nicht, wo die nächstgelegene zu finden war, aber das hier würde ja wohl nicht das einzige Lokal in der ganzen Stadt sein. Und immerhin war es erst mittags. Genug Zeit, eine Alternative zu suchen. Entschlossen marschierte er los, einfach auf gut Glück.
 

Zwanzig frustrierende Minuten später stolzierte er immer noch durch die Straßen, wie ein streunender Hund, und fror sich den Hintern ab. Die Geschäftsstraße hatte er längst hinter sich gelassen und verirrte sich langsam in einen Stadtteil hinein, in dem er noch nie gewesen war. Die Häuser wirkten alt, heruntergekommen und seltsam lethargisch. Sie vermittelten schon einen bewohnten Eindruck, aber auf andere Art als man es von Häusern sonst kannte. Die Gemäuer waren nicht voller Leben, sondern eher resigniert und eingeschläfert. Offensichtlich hatte auch Las Vegas seine tristen Ecken. Nicht alles bestand aus bunten Leuchtreklamen und Casinos wie der Las Vegas Strip oder die Fremont Street. Und weit und breit war keine Menschenseele auf den Straßen zu sehen.

Eine verwitterte Werbetafel über einer Tür auf der anderen Straßenseite erweckte Kenneths Aufmerksamkeit. Geruhsam schlenderte er näher und blieb dann davor stehen, um das Holzbrett zu betrachten. Das ‚Madame Fey‘ konnte man trotz der abgeblätterten Farbe noch entziffern. Sicher hatte mal mehr auf der Tafel gestanden, zum Beispiel welchem Gewerbe diese Madame Fey denn nachzugehen pflegte. Aber das wusste inzwischen nur noch die Zeit. Dennoch, hinter dem kleinen Glasfensterchen in der Tür schien schwaches Licht zu brennen. Hier war jemand zu Hause.
 

Kenneth war neugierig … oder, naja, ehrlicherweise war ihm nur kalt, und Kneipen gab es auch hier weit und breit keine … also drückte er die Türklinke und trat ein. Drinnen schlugen ihm Weihrauch und die Wärme von mehreren Dutzend Kerzenflammen entgegen. Das Kerzenlicht sorgte für eine gedämpfte Beleuchtung und warf unzählige, lange, lebendig anmutende Schatten kreuz und quer durch das Zimmer. Als sich seine Augen an das gespenstige Flackern gewöhnt hatten, schaute sich Kenneth um. Er befand sich in einem Raum, nicht größer als ein Wohnzimmer, der von einem massiven, runden Holztisch dominiert wurde. Die Wände und eventuelle Fenster waren mit schweren Stoffbahnen abgehangen. Weitere Türen gab es nicht, oder sie waren ebenfalls verhangen. Ansonsten war das Zimmer angefüllt mit Bündeln getrockneter Kräuter, mit Edelsteinen, Abbildungen übersinnlicher Wesen, Runen, astrologischen Zeichen und anderen, sonderbaren Symbolen. Und hinter dem Tisch saß das formvollendete Klischee einer Wahrsagerin: eine dicke, in die Jahre gekommene Frau mit Doppelkinn, Zigeuner-Kopftuch, einer ‚Glaskugel‘ vor sich auf dem Tisch und einem Stapel Tarot-Karten in den Händen, den sie geruhsam durchmischte. Es war alles dermaßen filmreif, dass es unmöglich seriös sein konnte. Kenneth kam sich vor wie auf einem Jahrmarkt, wo solche Hochstapler gern in ihren verzierten Mittelalter-Zelten das zahlungsfreudige Publikum unterhielten.

Sie deutete mit einem mütterlich-warmen Lächeln auf den freien Stuhl am Tisch, gegenüber von ihrem eigenen. „Ich habe dich schon erwartet“, war ihre schnörkellose Begrüßung. Ganz ohne ‚Guten Tag‘ oder ‚Herzlich willkommen‘ oder ‚Ich bin die Frau XY‘. Ihre Stimme klang dunkel und angenehm kratzig, wie bei einem starken Raucher.

Kenneth nahm also mit einem amüsierten Schmunzeln Platz. „Sie haben mich erwartet? Das sollte mich bei einer Wahrsagerin vermutlich nicht überraschen. Sie sind dann wohl die besagte Madame Fey, die draußen auf der Werbetafel angekündigt wird?“

„Ich habe viele Namen“, erwiderte sie ernst und mischte in aller Gelassenheit ihre Tarot-Karten weiter.

„Ah ja. … Geld hab ich aber keins dabei, nur dass wir uns da gleich einig sind.“

„Ich habe ja auch keins verlangt.“

„NOCH nicht!“, konterte er schlagfertig. Dann wurde er stutzig. „Aber … ich meine … was wollen Sie denn sonst, wenn kein Geld?“

„Niemand kommt ohne Grund hier her. Diesen Grund offenzulegen, ist meine Aufgabe.“ Die Alte begann ein paar der Karten verdeckt auf den Tisch zu legen. Sie ließ diese Aussage so im Raum stehen. Man konnte das als Antwort auf seine Frage werten, oder eben nicht. Wovon sie die Miete für ihr kleines Domizil bezahlte, war daraus jedenfalls nicht abzuleiten. Sie legte den restlichen Stapel Karten beiseite und lächelte Kenneth wieder an. „Also. Wonach suchst du?“

„Eigentlich nach der nächsten Kneipe und einem schönen Bier“, gab er zu.

Madame Fey seufzte unmerklich. „Du machst es mir nicht leicht.“

„Naja, welche Antwortmöglichkeiten hätte ich denn zur Auswahl?“, hakte Kenneth nach. Er beschloss, das Spielchen mitzuspielen. Dass er sie nicht bezahlen würde, hatte er ja deutlich kundgetan. Wenn sie ihre Show trotzdem weiter aufziehen wollte, bitte, dann würde er kein Spielverderber sein.

„Suchst du Macht? Weisheit? Leidenschaft? Instinkt? Was ist es?“

Kenneth zog den Reißverschluss seiner schweren, schwarzen Lederjacke auf, weil ihm in dem kleinen, von Kerzenfeuer erhitzten Raum langsam warm wurde. Darunter kam ein Nickelback-T-Shirt zum Vorschein. „Hm~, Erfolg wäre mal ganz cool. Beruflich, meine ich.“

„Jede dieser Karten kann dir dabei helfen. Triff deine Wahl“, trug die Wahrsagerin ihm auf und machte eine einladende Geste über den verdeckten Tarot-Karten auf dem Tisch. Er sollte eine davon ziehen.

„Aha? Jede davon? Für so eine Behauptung müssten Sie ja schon wissen, welche vier Karten aus ihrem riesigen Stapel da liegen. Warum glaube ich Ihnen das nicht? Und überhaupt, das ist ja wie Lotterie. Wie soll ich mir eine aussuchen, wenn ich die Karten noch nicht mal gesehen habe!?“

Madame Frey schmunzelte belustigt in sich hinein. „Du hast ein Ziel vor Augen, wie ich sehe, und willst den Weg dorthin nicht dem Zufall überlassen. Nun, das ist keine schlechte Eigenart. Dann sieh also her!“ Sie deckte die vier Karten der Reihe nach auf, warf selbst einen neugierigen Blick darauf, und ihr schlief übergangslos das Gesicht ein.

Auch Kenneth bekam bei dem Anblick leichte Magenschmerzen. Er hatte zwar keine Ahnung von Tarot-Karten, aber das fiel sogar ihm auf: Wenn man sich Tarot wie ein Skat-Kartenspiel vorstellte, dann waren diese vier Karten hier eindeutig die vier Asse, eins für jede Farbe. Der Art und Aufmachung zufolge waren diese vier Karten hier unübersehbar die ranghöchsten im ganzen Deck, selbst wenn man den Rest des Decks nie gesehen hatte. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass man einen ganzen Stapel Karten gründlich durchmischte, willkürlich vier davon verdeckt auf den Tisch pappte und dabei ausgerechnet alle vier Asse auslegte? Das hatte etwas zu bedeuten. Ob gut oder schlecht, wusste Kenneth allerdings nicht.

Die Wahrsagerin atmete schwer durch, wie um ihre Fassung wiederzugewinnen. „Nun gut, wähle eine“, bat sie dann, spürbar beunruhigt. Sie bedeckte ihren Mund mit einer Hand, um ihre Mimik im Zaum zu halten, während sie weiter auf die Karten starrte.

Kenneth verengte argwöhnisch die Augen. „Wollen Sie mich veralbern? Was ist das hier!?“

„Ein schlechtes Omen“, meinte Madame Fey bedrückt. „Sehr schlecht.“ Ausführlicher wurde sie nicht. Schweigen setzte ein.

Nach ein paar Sekunden rückte Kenneth mit seinem Stuhl nach hinten und stand auf. Es gab nur eine Erklärung für diesen skurrilen ‚Zufall‘. Das Kartendeck dieser Hochstaplerin bestand NUR aus ‚Assen‘. Offensichtlicher ging es ja wohl gar nicht. Sie war eine Betrügerin. „Ich hab keine Lust mehr. Ich gehe“, tat Kenneth kund und wandte sich der Tür zu.

„Diese Option hast du nicht! Du musst eine wählen!“

„Ich muss gar nichts, Lady. Ich verschwinde! War nett mit Ihnen.“

Als er die Tür aufzog, wehte ein Windstoß herein und fegte eine der Karten vom Tisch. Dann war Kenneth weg.
 

Als Kenneth vor die Tür trat, wurde ihm schwindelig und für einen Moment auch speiübel. Sicher von dem penetranten Weihrauch da drin. Er musste sich kurz mit einer Hand an der Hauswand abstützen und sich sammeln. Musste tief durchatmen. Dann ging es wieder. Aber irgendwas war anders. Er sah sich verwundert um. Der Himmel war rabenschwarz und mit Sternen übersät. Es war stockfinstere Nacht. Aus einer Seitengasse schaute ihn ein Paar leuchtender Katzenaugen an, bevor es verschwand. Perplex hob sich Kenneth die Armbanduhr vor die Nase. Es war weit nach Mitternacht. „Was zur Hölle …!?“, fluchte er aufgebracht. Es war doch eben erst mittags gewesen. Er hatte doch keine 5 Minuten bei dieser schrulligen Dame gesessen!? Wo waren die vielen Stunden hin, die ihm fehlten? Er drehte sich um, rüttelte panisch an der Tür, aber die war nun abgeschlossen und drinnen brannte auch kein Licht mehr. Madame Fey war nicht mehr da. Kenneth ließ noch einige weitere, erstaunlich kreative Flüche verlauten, dann eilte er davon.
 

Jean saß im Wohnwagen und drehte nervös Däumchen. Es war jetzt nach 1 Uhr in der Nacht und Kenneth war immer noch nicht zurück. Bei einem wie ihm musste das natürlich nichts zu bedeuten haben. Aber dennoch machte sie sich Sorgen, wenn sie nicht wusste, wo er steckte und was er gerade tat. Das Leben mit ihrem Bruder war schon lange ziemlich kompliziert. Er war zwei Jahre älter als sie und Rockmusiker. Nun, er war als Frontmann einer Hardrock-Band eigentlich recht erfolgreich. Er war ein Bild von einem Mann. Ein hübsches Kerlchen, groß, schlank, sportlich. Er wirkte auf der Bühne mit seinem Schnauzbart und dem netten Lächeln sehr sympathisch. Er hatte eine Körpermotorik, die Mädchenherzen höherschlagen ließ. Seine Stimme war markant und unglaublich volltönend. Und wenn er mit seiner Gitarre, der passförmigen, schwarzen Jeanshose und der fliegenden, blonde Mähne über die Bühne schwebte, konnte man ihm wirklich hoffnungslos verfallen. Er hatte Fans. Seine Band füllte problemlos Hallen, die so groß waren, dass immerhin eine 4-köpfinge Band hauptberuflich davon überleben konnte. Aber das war eben nur die Fassade auf der Bühne.

Hinter den Kulissen hatte er einen Haufen privater Probleme. Er hatte Schulden, Alkoholprobleme, Streit mit seinen Bandkollegen, Ärger mit seiner Ex-Frau, etliche Anzeigen wegen Fahrens unter Alkohol und ohne Führerschein, er hatte keine Wohnung mehr ... und er hatte Jean. Letzteres war wahrscheinlich das Schlimmste für ihn. Das sie ihm ständig im Nacken saß und auf ihn aufpasste, empfand er als die pure Hölle. Er verstand es nicht, wenn sie ihm den Alkohol wegnahm. Er verstand es nicht, wenn sie sein Geld verwaltete, damit er nicht alles sofort rauswarf und seine Schulden nicht noch weiter anwuchsen. Er verstand es nicht, wenn sie ihm in den Hintern trat, damit er seine Termine bei den Bandproben, den Plattenstudios und den Konzerten einhielt. Er empfand es als Schikane, nein, als rechtswidrige Bevormundung. Als Verbrechen. Er war ja immerhin über 30 und mündig. Sie hatte ihm überhaupt nichts zu sagen oder vorzuschreiben. Sie war nur seine kleine Schwester und lebte auf seine Kosten. - Zugegeben, das tat Jean wirklich. Sie lebte auf seine Kosten. Weil der Versuch, auf ihn aufzupassen und seine ganze Grütze, die er verzapfte, wieder zu regeln, für sich genommen schon ein 24-Stunden-Job war. Sie hätte gar keine Zeit gehabt, nebenbei auch noch arbeiten zu gehen. Also war auch sie notgedrungen mit ihm gemeinsam ohne festen Wohnsitz. Sie beide lebten in einem Wohnmobil. In den USA ging das Gott sei Dank. Die Mieten hier in Las Vegas konnte sich ja auch kein normaler Mensch leisten.

Jean hatte sich in der Vergangenheit schon oft und ausführlich seine Beschimpfungen und Verwünschungen anhören müssen. Er war mitunter auch schon grob geworden, um seinen Willen durchzusetzen. Nicht selten kam Kenneth total aufgeputscht und alkoholisiert von einem Konzert zurück. Wenn Konzerte gut gelaufen waren, ging er danach mit seinem Schlagzeuger gern noch trinken. Der Abend endete in der Regel damit, dass sein Schlagzeuger ein Mädchen abschleppte und mit ihr verschwand. Und Kenneth machte seiner Schwester dann stets gewaltige Vorwürfe, dass er selber nie ‚Weiber‘ mitbringen könne, weil sie ja immer anwesend sei. Wieder stand Jean seinem Traum von einem tollen Leben im Weg. Wegen ihr konnte er keine Mädels abschleppen. Jean war daran schuld, dass sein Liebesleben brach lag, so sagte er. Insgeheim richtete Jean sich bereits darauf ein, dass es auch heute auf irgend sowas hinauslaufen würde. Wieder sah sie auf die Uhr, wie schon gefühlte fünfzig Mal in der letzten Viertelstunde. Es war 01:15 Uhr. Sie warf einen Blick zu ihrem Handy hinüber. Zwecklos, ihn anrufen zu wollen. Sein Handy war wie immer aus.
 

Endlich ging die Tür des Wohnwagens auf. Jean schnippte vor Erleichterung von ihrem Sitzplatz hoch wie ein Gummiband, als ihr Bruder hereinkam. „Hey, da bist du ja! Ich hab mir schon Sorgen gemacht!“, platzte sie heraus. Dann biss sie sich auf die Zunge, bevor sie noch mehr unüberlegte Dinge sagte. Wenn sie ihn jetzt fragte, wo er gewesen sei, oder was passiert war, hätte er sich gleich wieder überwacht und bevormundet gefühlt. Sie hatte gerade keine Lust, seine schlechte Laune auszubaden. Sie versuchte auch bewusst, ihn nicht gar zu auffallend anzustarren.

Kenneth murrte aber nur etwas Unverständliches in sich hinein und beachtete sie gar nicht. Er warf seine Lederjacke von sich und begann sofort das Hängeschränkchen über der Kochplatte durchzukramen. Er wirkte fahrig und aufgewühlt, aber ausnahmsweise mal nicht betrunken. Endlich hatte er gefunden, was er suchte: Schlaftabletten. Der Musiker griff sich ein Glas, füllte es am Wasserhahn halbvoll, spülte sich zwei der Pillen hinunter, und warf sich dann auf seine Pritsche. Gleich in voller Straßenmontur, mit Schuhen und allem Drum und Dran. Kenneth schloss die Augen. Dann Stille.

Jean schaute ihn reichlich verdattert an und konnte sich ein „Ist alles okay?“ doch nicht mehr verkneifen.

„Ja. Lass mich in Ruhe.“

Jean war klug genug, diese Empfehlung zu befolgen. Also begann sie, sich und den Wohnwagen nachtfertig zu machen. Zähne putzen, Schlafanzug anziehen, Tür abschließen, Licht löschen, und so weiter. Nach einer ganzen Weile setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante und musterte ihn einen Moment lang. So ein attraktiver Mann. Wie er dort lag, in schwarzem T-Shirt, schwarzer, passförmiger Jeans und den langen, lockigen Haaren. So selten-friedlich. Er hatte die Augen geschlossen und sein Atem ging inzwischen völlig ruhig. Aber sie war sich, trotz zweier Schlaftabletten, nicht so sicher, ob er wirklich schlief oder nur so tat. Sie strich mit einer Hand liebevoll an seinem nackten Arm hinauf, über die Schulter, und dann über die Brust und den flachen Bauch wieder abwärts. Keine Reaktion. Daher schnappte sie seine Decke, um ihn bis zum Kinn zuzudecken. Im Wohnmobil war es nämlich inzwischen unangenehm frisch geworden. So ein Wohnwagen war nicht sonderlich gut wärmegedämmt. Eine Haarsträhne wischte sie ihm noch sachte aus dem Gesicht, dann ließ sie ihn – wach oder nicht – endlich in Ruhe.
 

Kenneth stellte sich zwar schlafend, in Wirklichkeit war er aber hellwach. Daran hatten auch die zwei Schlaftabletten bisher nichts ändern können. Seine Gedanken rasten. Was zum Teufel war heute nur passiert? Wer war die komische Wahrsagerin? Und warum hatte er fast 12 Stunden des Tages einfach verpasst? Hatte diese Madame Fey irgendwas mit ihm angestellt? War das doch mehr als nur Weihrauch gewesen, was da im Raum geschwebt hatte? Nein, unmöglich. Dann hätte sie doch auch selbst K.O. gehen müssen. Was ihn allerdings am allermeisten beschäftigte, waren diese vier Tarot-Karten. Er sah sie noch detailgetreu vor seinem geistigen Auge und sie gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Vier mächtige Wesen waren darauf abgebildet, eins auf jeder Karte. Kenneth hatte keinen Zweifel daran, dass sie irgendwelche Gottheiten darstellen sollten. Sie alle besaßen diese typische, altgriechische Helden-Statur: muskelbepackte, spärlich bekleidete Kraftprotze. Ihre Gesichter waren jedoch skurrile Abwandlungen, auf die sich Kenneth keinen Reim machen konnte. Sie besaßen zwar zwei Augen, dazwischen eine Nase und darunter einen Mund, aber es waren nur entfernt menschliche Züge. Tiere stilisierten diese Gesichter jedenfalls nicht.

Sie schienen eine Rüstung unter sich aufgeteilt zu haben. Jeder von ihnen trug Rüstungsteile, einer den Brustpanzer, einen den Helm, einer die eisernen Beinkleider und Stiefel. Der Vierte trug einen Schild auf dem Arm wie ein Ritter.

Der Musiker grübelte hin und her, um diese Vier in irgendeine Beziehung zu den klassischen Naturkonstanten zu setzen. Zu den vier Elementen, oder den vier Jahreszeiten, oder den vier Himmelsrichtungen, oder den vier Blutgruppen beispielsweise. Selbst zu den vier Apokalyptischen Reitern. Sogar aus der Musik kamen ihm Bezugswerte wie 4/4-Takte, Viertelnoten, Quarten-Tonschritte oder die vier Saiten einer Bassgitarre in den Sinn. Aber ihm wollte nichts rechtes einfallen, was diese vier Wesen nun verkörpern sollten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-04-09T14:46:00+00:00 09.04.2021 16:46
Hallo Futuhiro,

die lange Abstinenz tut mir sehr leid. Bei mir ging es drunter und drüber x.x ...
Allerdings schulde ich dir noch einen Haufen Kommentare und da mir seit Tagen dieses Vorhaben im Kopf umher schwirrt, möchte ich mich bemühen, dem nachzukommen.

Wir springen also 50 Jahre in die Zukunft, fort von der irischen Insel und hinein ins bunte, quirlige Las Vegas. Kenneths Auftritt ist dir gelungen. Ein mürrischer, junger Mann, der seine Zeit wohl allzu gern in Kneipen verbringt und seinem Lebensstil, wie später erwähnt, treu bleibt.
Doch scheinbar möchte und meint das Schicksal es anders mit ihm.
Die Beschreibungen der Situationen und der Umgebung gefällt mir sehr. Auch wenn im ersten Augenblick nicht zu erkennen ist, wer Madame Fey wirklich ist, mag ich ihren Charakter.
Dass du offen lässt, was mit Kenneth in den Stunden geschehen ist und er einen halben Tag lang über keinerlei Erinnerung verfügt, schieben wir einfach dem Weihrauch zu ;) ...
Jean, als kleine Schwester, sorgt sich sehr um ihren Bruder - auch wenn ihm dieses "gluckenhafte Verhalten" missfällt.
Es gefällt mir, dass du dir ein paar meiner Wünsche vorgenommen und sie so verpackt hast bzw. verpackst, dass es schlüssig und stimmig wird. Gewissen Zahlen wird meist eine gewisse Mystik nachgesagt und das hast du in diesem Kapitel sehr schön und deutlich zum Ausdruck gebracht :D

Ich will versuchen, am Wochenende die fehlenden Kapitel aufzuarbeiten.
Doch bis dahin darfst du sehr zufrieden mit dem Ergebnis der Wichtelaktion sein :3

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von: Futuhiro
10.04.2021 14:01
Hallo-Hallo~ ^_^)/

Kein Problem, ich kam ja mit dem Hochladen jetzt auch ein 2 - 3 Wochen nicht voran, weil ich umgezogen bin und bei mir folglich auch alles etwas chaotisch war. Eine Woche lang hatte ich nichtmal Internet. ^^°

Ich freu mich riesig, dass die Charaktere augenscheinlich so geworden sind wie geplant, und dir auch gefallen. ^_^

Mach dir mit dem Kommentieren keinen Stress. Schönes Wochenende~
Liebe Grüße
Hiro


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