Zum Inhalt der Seite

Dead End

Endeavor x Hawks
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Bad Day

„Verdammter Mist.“

Frustriert strich er den letzten Namen auf der Liste durch, setzte den Bleistift dabei mit solchem Druck auf, dass dieser das Papier durchstach. Verärgert starrte er auf das kreisrunde Loch, das das letzte Zeichen von Hikiishi Kenji alias Magne hatte unleserlich werden lassen, und ließ den Stift fallen. Tief durchatmen. Er musste sich beherrschen.

Es war ein immer wiederkehrendes Muster, das bei ihm – zugegebenermaßen befeuert durch seine nicht nur bei seinen Kollegen bekannte kurze Zündschnur – regelmäßig zu Wutausbrüchen führte. Schon wieder waren Wochen mühsamster Ermittlungsarbeit dadurch zunichte gemacht worden, dass die Zielperson unter mysteriösen Umständen genau dann urplötzlich verstorben war, als sich die Verdachtsmomente gegen sie erhärteten. Eine Spur, die, wie so viele vor ihr, in einer Sackgasse mündete.

Dabei hatte der Tipp eines Informanten, der ihn und sein Team zu einem Bordell am Stadtrand geführt hatte, das sich vor allem auf die Gelüste derjenigen Freier spezialisiert hatte, die für ihr Geld Befriedigung von beiden Geschlechtern gleichermaßen suchten, zunächst so vielsprechend ausgesehen. Offensichtlich zu vielversprechend, denn die Leitung dieses Etablissements war nur wenige Tage später mit Betonschuhen auf dem Grund des Sumidagawa aufgefunden worden.

Er ballte die Fäuste, versuchte, seinen Zorn nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Dies war allerdings leichter gesagt als getan.

Immerhin war er Todoroki Enji, seit fünf Jahren Leiter des Kommissariats für organisierte Kriminalität im Zentralen Polizeipräsidium Tokyo, und ließ sich von einer Bande Krimineller an der Nase herumführen. Einer Organisation, die sich den in ihren Kreisen untypischen Namen „Die Liga der Schurken“ gegeben hatte und deren Verfolgung und Zerschlagung er sich in den letzten 18 Jahren seines Berufslebens gewidmet hatte. Die gewählte Bezeichnung dieses Zweigs der japanischen Mafia, die in Tokyo ihr Unwesen trieb, widersprach so eklatant dem üblicherweise vorherrschenden Selbstverständnis der Yakuza als „ritterliche Organisation“, grenzte beinahe an Blasphemie, dass es ihn nicht das erste Mal wunderte, dass die übrigen Clans die Gruppierung nicht schon selbst dem Erdboden gleich gemacht hatten, sondern sie gewähren ließen. Aber wie hieß es so schön: Leben und leben lassen?

Jedes Mal, wenn er gedacht hatte, er sei ihr endlich auf die Schliche gekommen, schaffte es die Liga ein ums andere Mal, ihm einen Schritt voraus zu sein. Gleich einer Hydra kamen auf ein festgenommenes Mitglied gefühlt zwei neue Kriminelle, derer sie sich annehmen mussten, um der Lage Herr zu werden. Der fehlende Erfolg nagte nicht nur an seinem Ego, sondern auch innerhalb der Polizei wurden die Stimmen lauter, die seine Befähigung infrage stellten, diesen Fall zu leiten. Dabei zweifelte er daran, dass es jemanden gab, der mit mehr Inbrunst und Aufopferung das tat, was getan werden musste, um die Liga zu Fall zu bringen. Zu lange schon regierte sie die Unterwelt Tokyos, zu lange schon grassierten wegen ihr Prostitution, illegales Glücksspiel und vor allem Drogen- und Menschenhandel.

Jahrzehntelang hatte die Polizei nichts gegen die Yakuza unternommen, sie sogar gewähren lassen, bis die Regierung vor fünf Jahren dem Ganzen den Riegel vorgeschoben und die Yakuza offiziell als illegal deklariert hatte. Die Jagd war eröffnet worden und Enji, gerade frisch befördert, hatte die undankbare Aufgabe übertragen bekommen, nach jahrelangem Wegsehen, in dem die kriminellen Strukturen gewachsen und gediehen waren, den Karren aus dem Dreck zu ziehen und aus dem Nichts ein Spezialteam zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität auf die Beine zu stellen. Ein scheinbar aussichtsloses Mammutprojekt, das ihn nicht nur sämtliche Freizeit, sondern auch seine Familie gekostet hatte. Apropos Familie...

„Verdammt!“, murmelte er an diesem Tag nun schon zum zweiten Mal und sprang von seinem Stuhl auf. Beinahe hatte er vergessen, dass er sich mit seiner Tochter zum Mittagessen verabredet hatte – er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr – vor fünf Minuten.

Hektisch griff er auf dem Schreibtisch nach seinem Portemonnaie und Handy, warf sich im Gehen den Mantel über. Er rauschte an dem noch schwankenden Kleiderständer vorbei aus der Tür, die er mit einem Knall hinter sich zuschlug... und stieß fast mit der Person, die die Hand nach der Klinke ausgestreckt hatte, zusammen.

„Ah, Todoroki-san, gut, dass ich dich treffe, ich wollte dir noch...“

„Keine Zeit, Yagi“, schnitt Enji dem anderen das Wort ab und stürmte an diesem vorbei.

Sein Chef hatte ihm gerade noch gefehlt...

„Termin.“

„Aber du solltest wissen, dass später...“

Doch Enji hatte bereits das Treppenhaus erreicht und hörte nicht mehr, was ihn später noch erwarten würde. Bestimmt nicht gerade etwas, das seine Laune heben würde, wenn er an die anderen Hiobsbotschaften dachte, die ihm Yagi Toshinori zu überbringen pflegte. Nicht zuletzt diejenige, dass dieser – obwohl nur drei Jahre älter als er – bereits Leiter der Direktion Kriminalität und damit sein direkter Vorgesetzter geworden war... was Enji umso mehr gegen den Strich ging, da sie nicht nur die gleiche Schule besucht, sondern wegen Yagis verspäteten Eintritts in die Polizei auch die Ausbildung gemeinsam absolviert hatten. In einer hierarchischen Struktur wie in der Polizei gab es zwar immer jemanden, der über einem stand; es musste nur nicht unbedingt der stets freundliche und allseits beliebte Yagi sein... Und davon, dass er selbst einmal am Ende der Nahrungskette stand, war er so weit entfernt, dass jeder Gedanke daran verschwendete Zeit wäre.

Dass er seinem Vorgesetzten so über den Mund gefahren war, beunruhigte ihn hingegen nicht. Wenn man schließlich eines über seinen langjährigen Rivalen sagen konnte, dann war es, dass dieser nicht nachtragend war.
 

Zwei Minuten später kam er, keuchend und schwitzend, vor dem Laden zum Stehen, vor dem Fuyumi bereits wartete.

„Guten Tag, Otou-san“, sagte sie höflich, aber freundlich, und neigte ihren Oberkörper zum Gruß auf eine zwischen Familienmitgliedern befremdlich förmliche Weise nach vorne.

Ihre Handtasche ließ sie dabei, mit beiden Händen umklammert, vor ihren Beinen hängen und für Enji konnte es nicht eindeutiger sein, dass sie ihn heute nicht umarmen würde.

Den leichten Stich in seiner Brust nahm er bitter zur Kenntnis, aber das hatte er wohl verdient. Seine Tochter hatte nur die eine kurze Pause in der Mittagszeit, ehe sie für den Nachmittagsunterricht zurück in die Schule musste, und er hatte die wenige Zeit, die sie ohnehin nur hatten, vergeudet, indem er auch noch zu spät kam. Aber für Groll und Selbstmitleid blieb später noch genug Zeit...

„Fuyumi, ich... es...“

Er verachtete sich selbst für dieses Rumgestammel, aber eine vernünftige Entschuldigung brachte er einfach nicht über seine Lippen, sodass er nur gequält lächelte und stattdessen fragte: „Was hältst du von kalten Soba? Die magst du doch so gern. Ich lad dich ein.“

„Oh, vielen Dank.“

Seine Tochter blickte betreten zur Seite, nestelte an ihrer Tasche herum, zögerte. Hatte er was Falsches gesagt?

„Tatsächlich sind Soba Shoutos Lieblingsessen, aber ich… ich mag sie auch sehr gern. Also... sollen wir?“

Enji realisierte gar nicht, dass Fuyumi bereits die Ladentür geöffnet hatte und für ihn aufhielt, stand nur wie versteinert da. Er wusste ja, dass er keinen sonderlich guten Draht zu seinen Kindern hatte, zumindest nicht seitdem... Aber dass er nicht einmal so etwas Alltägliches wie ein Lieblingsessen auf die Reihe bekam, ließ nicht nur seine Eingeweide vor Scham brennen, sondern auch die Wut auf sich selbst derart explosionsartig anschwellen, dass er befürchtete, dass sie sich bereits auf seinem Gesicht abzeichnete und er Fuyumi dadurch noch mehr abschrecken könnte. Seine Sorgen schienen jedoch unbegründet, denn seine Tochter lächelte ihn schüchtern an und hielt die Tür weiter geöffnet.

Ermutigt von der kleinen Geste löste er sich aus seiner Starre, griff über ihren Kopf hinweg den Türrahmen und brummte: „Nach dir.“
 

Der kleine Laden war stickig und heiß und bot gerade einmal Platz für acht Personen, die sich um die Theke drängten. Nachdem sie ihr Essen am Automaten bezahlt und die von ihm ausgespuckten Zettel mit ihren ausgewählten Speisen bei der Küchenhilfe abgegeben hatten, zwängten sie sich zwischen einen beleibten Businessmann, der gerade seine zweite Schüssel mit Soba in heißer Brühe hinunterschlang, und ein Mädchen in Schuluniform.

Nicht zum ersten Mal kam Enji der Gedanke, dass ein Restaurant wie dieses nicht der beste Ort war, um in gelockerter Atmosphäre private Gespräche zu führen... und damit seiner Rolle als Vater gerecht zu werden. Zumal Imbissstuben – als mehr konnte man dieses Lokal kaum bezeichnen – gerade zur Mittagszeit derart stark frequentiert wurden, dass man selbst bei zügigem Essen stets unweigerlich den Druck von den Wartenden im Nacken spürte. Doch so sehr ihn die Umstände auch ärgerten, dieses Treffen war mehr, als er sich erhoffen konnte... und vielleicht verdient hatte. Also würde er es nutzen, so gut er konnte.

„Wie läuft es auf der Arbeit?“, startete er den ersten unbeholfenen Versuch einer Konversation.

„Ganz gut.“

Betretendes Schweigen folgte und Enji verfluchte sich nicht das erste Mal für seine mangelnde Fähigkeit, Small Talk zu führen. Da hatte ihm Yagi, wie er ungern zugab, mit seinem Charme und seinem nicht totzukriegenden Lächeln tatsächlich einiges voraus...

Sekunden später stand bereits das Essen auf dem Tisch und durchbrach zumindest für einen kurzen Moment die unangenehme Stille. Er wollte so viel sagen, hatte aber keinen blassen Schimmer, wo er anfangen sollte. Verdammt, das konnte doch nicht so schwer sein!

„Wasser?“, fragte er in dem Bemühen, sein Unwohlsein zu überspielen, und schenkte ihnen beiden aus dem Krug mit eiskaltem Wasser ein, als Fuyumi nickte.

Um seine Hände zu beschäftigen, schnappte er sich schließlich ein Paar Stäbchen aus dem bereit gestellten Behälter, mit denen er ein paar Frühlingszwiebeln und Nori in den Becher mit dunkler Tsuyu warf und verrührte. Mit unterschwelligem Grollen nahm er zur Kenntnis, dass Fuyumi tatsächlich nicht Zaru Soba bestellt, sondern sich für die heiße Variante in Brühe entschieden hatte. Er war auch so ein Idiot...

„Fuyumi, es... es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen“, brach es plötzlich aus ihm heraus, während er auf das Bambusgitter starrte, die Soba noch unberührt. „Ich war so mit der Arbeit beschäftigt, dass ich darüber ganz die Zeit vergessen habe.“

Er schaute auf und ihre Blicke trafen sich. Entgegen seinen Erwartungen schien Fuyumi nicht sauer, sondern – was noch schlimmer war – enttäuscht zu sein. Sie seufzte leise.

„Ich würde gerne sagen, dass mich das überrascht, aber...“ Fuyumi zögerte, schien mit den nächsten Worten zu ringen. „Aber du warst nie oft zuhause... hast dich immer nur mit der Arbeit beschäftigt und darüber ganz vergessen, dass du eine Familie hast, die dich braucht. Besonders, nachdem Touya...“

Ihre Stimme brach ab. Er konnte verstehen, dass es seiner Tochter selbst nach all den Jahren schwer fiel, über ihren älteren Bruder zu reden. Denn selbst bei ihm verging kein Tag, an dem er nicht an seinen ältesten Sohn dachte... an die Schuld, die ihn seit diesem Tag vor fünfzehn Jahren innerlich zerfraß, ihn sich in die Arbeit stürzen ließ... an das Gefühl der Ohnmacht, die Schuldigen nach all den Jahren der Suche doch noch nicht gefasst zu haben... und an seinen Frust, den er an seiner Familie ausgelassen hatte.

„Es ist nicht deine Schuld, Otou-san.“

Eine weiche Hand legte sich auf seine schwieligen Knöchel und er zuckte vor Überraschung zusammen.

„Doch, wenn ich...“

„Niemand hätte verhindern können, was passiert ist“, entgegnete Fuyumi vehement und sah ihm durchdringend in die Augen. „Du hättest aber für uns da sein müssen... wir haben dich zuhause gebraucht, aber du hattest nur noch Interesse an deiner Arbeit...“

Der Vorwurf saß tief, aber die Wahrheit dahinter konnte er nicht leugnen. Doch auch Zorn über das fehlende Verständnis seiner Familie für seine Beweggründe flackerte in ihm auf und bahnte sich einen Weg nach draußen.

„Das verstehst du nicht!“, raunzte er sie an und bereute im gleichen Moment, als er den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, dass er die Beherrschung verloren hatte, sodass er in milderem Ton fortfuhr: „Ich habe mir geschworen, nicht eher zu ruhen, bis die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“

„Das bringt Touya aber auch nicht mehr zurück... Und Okaa-san...“, murmelte Fuyumi und senkte den Blick, doch Enji entging nicht der feuchte Glanz in ihren Augen.

Unsicher, wie er sich verhalten sollte, wandte er sich seinem Mittagessen zu und Fuyumi tat es ihm gleich, sodass sie eine Weile in angespanntes Schweigen verfielen.

„Wie geht es deiner Mutter?“, brach Enji, der die Frage nicht länger unausgesprochen lassen konnte, schließlich die Stille, und wollte die Antwort doch lieber nicht wissen.

„Sie ist immer noch in Therapie... trotz ihrer Depression schafft sie es aber schon wieder, ein wenig im Haushalt mitzuhelfen. Dass... das Ganze“ – und sie machte eine undefinierbare Geste mit der Hand – „bald ein Ende hat, lässt sie etwas... befreiter wirken. Ich denke, der Neuanfang tut ihr gut.“

Enji nickte, nicht sicher, wie er sich bei diesen Worten fühlen sollte. Auch daran, was aus Rei und ihrer Ehe geworden war, trug er die Schuld und das hatte er vor langer Zeit akzeptiert. Er wusste, dass er das, was geschehen war, nicht mehr ungeschehen machen konnte. Da war nichts mehr zu retten. Nur bei seinen Kindern konnte er vielleicht noch Schadensbegrenzung betreiben.

„Das ist... gut“, sagte er schließlich und widmete sich den letzten Bissen seiner Zaru Soba. „Und deine Brüder?“

„Natsu und Shouto haben sich auch damit abgefunden, aber... vielleicht solltest du sie in nächster Zeit lieber nicht sehen.“

Damit hatte er gerechnet und doch konnte er ein Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Seine Söhne hatten ihm seine Wutanfälle, die sich vor allem nach großen Rückschlägen in ungünstiger Kombination mit einer Flasche Whiskey auch gegen seine Familie gerichtet hatten, nie verziehen. Vielleicht... irgendwann... würden sie ihm noch eine Chance geben.

„Werde ich mir merken“, sagte er schließlich, goss sich das heiße Sobayu, das der Kellner soeben vorbeigebracht hatte, in den Becher mit Tsuyu und trank ihn in einem Zug aus. Auch Fuyumi hatte ihre Schüssel geleert. Er stand auf und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter.

„Wir sehen uns. Pass auf dich auf.“

Und mit diesen Worten verließ er das Lokal und machte sich mit dem Gedanken, dass seine Stimmung kaum noch tiefer sinken konnte, auf den Weg zurück ins Büro.
 

Kaum hatte er die Etage mit seinem Büro erreicht – um fit zu bleiben, benutzte er trotz 3. Obergeschosses stets die Treppe –, schallte ihm lautes Gelächter entgegen. Dies war an sich schon ungewöhnlich genug, denn normalerweise gab es im Kommissariat für organisierte Kriminalität wenig zu lachen... was – so viel Selbstreflexion besaß er schon – zum großen Teil auch an ihm als Vorgesetztem lag. Doch noch ungewöhnlicher war die Tatsache, dass die Stimmen aus seinem Büro hallten, dessen Tür sperrangelweit offen stand.

Mit aufwallendem Zorn, dass es jemand wagte, sein Büro in seiner Abwesenheit zu betreten, stapfte er zum Ende des Flures, wo sich sein Büro befand, bereit, die Eindringlinge zurechtzustutzen.

„Wer hat euch erlaubt, mein Büro –“, setze er polternd an und verstummte schlagartig, als er die Quelle der Ruhestörung erblickte.

Rechts neben der Tür stand sein Chef, muskulös, blond und lauthals lachend. Ihm gegenüber – Enji fiel beinahe die Kinnlade herunter ob dieser Unverschämtheit – hatte es sich ein ihm unbekannter junger Mann mit blonden zerzausten Haaren, auf denen eine große Brille thronte, und raubvogelhaften Augen auf seinem Schreibtisch bequem gemacht. Der Unbekannte ließ seine Beine, als sei es das Normalste der Welt, seinen Allerwertesten auf dem Arbeitsplatz eines Fremden zu platzieren, lässig von der Tischplatte baumeln.

Enji spürte, wie die Hitze in ihm hochkochte, und diesmal konnte er seine Wut nicht im Zaum halten.

„Runter da, sofort!“, brüllte er und jeder, der seinen tiefen Bariton in dieser Lautstärke vernommen hätte, wäre vor Schreck zusammengefahren und hätte der Aufforderung unverzüglich Folge geleistet.

Nicht so der dreiste Blonde, der keine Anstalten machte, sich von der polierten Mahagoniplatte zu erheben, nicht einmal mit der Wimper zuckte.

„Ah, schön, dass du da bist, Todoroki-san!“, rief Yagi erfreut und in dem offensichtlichen Versuch, die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Bevor du vorhin zu deinem Termin geeilt bist, wollte ich dir noch erzählt haben, dass wir spontan Verstärkung für dein Team bekommen haben... Nicht dass du zwingend Unterstützung bräuchtest“, fügte er hastig hinzu, denn er hatte wohl die immer stärker pulsierende Ader auf seiner Stirn gesehen. „Aber ein bisschen junges Blut kann bestimmt nicht schaden... nachdem uns ja letztens auch drei Mitarbeiter abgesprungen sind... Jedenfalls waren die Kollegen aus Fukuoka so freundlich, uns jemanden zu schicken, der bereits Erfahrung mit der Bekämpfung der Yakuza gesammelt hat.“

Enji war wie vor den Kopf gestoßen... Er sollte nicht Recht behalten mit seiner Annahme, dass der heutige Tag nicht noch schlimmer verlaufen konnte. Erst die Niederlage bei seinen laufenden Ermittlungen, dann das ernüchternde Gespräch mit seiner Tochter und nun setzte ihm sein Chef einen Fremden, der noch grün hinter den Ohren war, als neues Teammitglied vor. Was, obwohl Yagi etwas anderes behauptete, nur bedeuten konnte, dass die Führungsetage mit seinen Ermittlungserfolgen – oder vielmehr dem Fehlen solcher – unzufrieden war.

Er spürte wieder die Hitze in sich aufsteigen, aber in so einer Situation gegenüber seinem Vorgesetzten den Kopf zu verlieren, würde nicht nur bei diesem, sondern auch bei seinen Mitarbeitern einen unprofessionellen Eindruck hinterlassen. Daher atmete er einmal tief durch, unterdrückte die Flamme der Wut, die in ihm schwelte, und presste, halb durch zusammengebissene Zähne, hervor:

„Verstanden.“

Yagi lächelte, scheinbar erleichtert darüber, dass die Situation unter Kontrolle war.

„Dann lasse ich euch beiden mal allein, damit du den neuen Kollegen auf den aktuellen Stand der Ermittlungen bringen kannst. Deinen Bericht erwarte ich dann in einer Woche.“

Und mit diesen Worten und einem letzten Winken in Richtung des Störenfrieds verschwand der Ältere aus dem Büro, schloss die Tür hinter sich und ließ sie beide im Stillen zurück.
 

Enji musterte den anderen abschätzend, darauf wartend, dass, wie es üblich war, dieser als der Jüngere und Rangniedrigere zuerst das Wort ergriff und sich vorstellte. Der Blonde machte jedoch keine Anstalten, den ersten Schritt zu tun, sondern grinste ihn nur schief an, während er weiterhin seine Beine hin- und herschwingen ließ.

Da er dieses unverschämte und maßlos unhöfliche Verhalten nicht länger ertragen konnte, ohne den nächsten Wutausbruch zu riskieren, funkelte er sein Gegenüber finster an, ehe er sich schließlich leicht verbeugte.

„Erster Kriminalhauptkommissar Todoroki Enji.“

Unfassbarerweise ließ der andere sich immer noch nicht dazu herab, sich von seinem Schreibtisch zu erheben, geschweige denn sich vorzustellen, sondern grinste ihn weiterhin unverhohlen an. Es nervte ihn zutiefst, ließ es in ihm brodeln, dass er sich dazu herablassen musste, aber die ihm seit Kindertagen eingetrichterten Umgangsformen geboten es ihm, wenn auch zähneknirschend, zu fragen:

„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich bin Hawks.“ Der Blonde lächelte jovial und sprang leichtfüßig vom Schreibtisch herunter, hielt ihm die Hand zum Gruß entgegengestreckt. „Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“

Enji rührte sich nicht. Nicht nur, dass „Hawks“ jegliche japanische Etikette in den Wind schlug, indem er sich nicht verbeugte, sondern ihm die Hand geben wollte – wie einer aus dem Westen. Er hatte ihn ungefragterweise auch einfach geduzt, was jeden anderen, der sich diese Anmaßung erlaubt hätte, schon seinen Job gekostet hätte. Doch der andere hatte mit seiner dreisten lockeren Art das Maß derart überschritten, dass er diesem am liebsten direkt den Hals umgedreht hätte... Da eine Leiche in der Personalakte aber seine Chancen auf weitere Beförderungen deutlich schmälern würde, zwang er sich zur Beherrschung und der Drang, seine Hände um den schlanken Hals zu legen, verebbte allmählich. Er könnte jetzt wahrlich einen Whiskey vertragen...

Hawks also“, brummte er daher nur. „Und weiter?“

„Nur Hawks.“

Enjis Augenbraue zuckte. Wollte der Bursche ihn auf den Arm nehmen?

„Hast du keinen vernünftigen Namen?“

Da der Jüngere bereits mit sämtlichen Höflichkeitsregeln gebrochen und ihn geduzt hatte, konnte er sich, wenn er sein Gesicht wahren wollte, nur auf dieselbe Stufe begeben.

Dieser zuckte lediglich die Achseln und verzog das Gesicht zu einer schrägen Grimasse.

„Klar habe ich einen, aber der ist lahm. Für die Arbeit habe ich mir einen cooleren zugelegt... einen Decknamen, wenn du so willst. Ist echt praktisch bei dem, was wir hier tun... Hast du etwa keinen?“, fragte er überrascht.

„Nein.“

„Dann sollten wir uns aber schleunigst einen ausdenken.“

„Nicht nötig. Sollte ich als verdeckter Ermittler eingesetzt werden, werde ich von der Behörde mit einer anderen Identität ausgestattet... einer mit richtigem Namen.“

Enji hatte den Eindruck, der andere hörte ihm gar nicht zu, da er angefangen hatte, im Raum auf und ab zu spazieren, hierbei zwischendurch flüchtige Blicke in seine Richtung warf und dabei vor sich hin murmelte.

„Mmh, groß, muskulös, nicht gerade unansehnlich...“

Enji blinzelte irritiert. Was zur Hölle...?

„Was hältst du von... mmh... All M –?“

Doch weiter kam der Blonde mit seinem Vorschlag nicht, da Enji ihn prompt unterbrach.

„Nein!“

Er wollte grundsätzlich keinen merkwürdigen Decknamen, den ihm dieser Neue gab, aber ganz sicher würde er kein Alias akzeptieren, das ihn auch nur ansatzweise an den Spitznamen seines hünenhaften und dauergrinsenden Rivalen bei der Polizei erinnerte.

„Okay, okay.“

Sein Gegenüber hob beschwichtigend die Hände, hatte offensichtlich das mörderische Funkeln in seinen Augen bemerkt.

„Dann was anderes, warte...“

Ehe Enji erneut protestieren konnte, war der andere in eine Denkerpose verfallen, stützte sich dabei mit einer Hand auf dem Schreibtisch ab und grübelte laut vor sich hin.

„Um Erster Polizeihauptkommissar zu werden, musst du bestimmt sehr ambitioniert sein... und gibst bei allem immer 100 Prozent...“

Er hielt inne, überlegte kurz, ehe er den Finger ausstreckte, hiermit auf ihn zeigte – wie viel ungehobelter konnte er eigentlich noch werden? – und ihm triumphierend das Ergebnis seiner Überlegungen mitteilte: „Wie wäre es mit... Endeavor?“

„Ich brauche keinen Decknamen“, grollte er und fühlte den unterdrückten Zorn in sich hochsteigen.

Der Kerl brachte ihn langsam aber sicher gefährlich nahe an den Rand eines neuen Wutausbruchs. Und er konnte absolut nicht dafür garantieren, dass er sich diesmal würde unter Kontrolle halten können...

Der Jüngere, der die veränderte Atmosphäre spüren musste, grinste jedoch nur von einem Ohr zum anderen und nickte selbstzufrieden.

„Endeavor... Der gefällt mir! Auf gute Zusammenarbeit, Endeavor-san!“

Freudestrahlend reckte er Enji erneut seine rechte Hand entgegen.

Enji resignierte kopfschüttelnd. Er hatte diese Nervensäge aus Fukuoka jetzt an der Backe und würde sie, wenn es nach Yagi ging, der viel von ihm zu halten schien, so schnell nicht los werden. Wenn er ehrlich war, nützte es auch keinem etwas, wenn diese Arbeitsbeziehung schon in einem so frühen Stadium dauerhaft vergiftet wäre. Mit dieser Einsicht schluckte er grollend seinen Zorn herunter und ergriff mit seiner Pranke widerwillig die deutlich kleinere Hand des anderen.

„Auf gute Zusammenarbeit... Hawks.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein herzliches Dankeschön an alle Leser und vor allem lunalinn, die mich nicht nur von My Hero Academia und EndHawks überzeugt hat, sondern auch die Grundidee zu einer Cop-FF hatte und mit Rat und Tat sowie als Beta-Leserin zur Seite steht.
Dass ich nach über 10 Jahren mal wieder eine FF - und nicht nur One-Shots - schreiben würde, hätte ich selbst nicht gedacht und ist allein lunalinn zu verdanken. :D
LG Lichtregen Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: lunalinn
2021-01-29T16:34:48+00:00 29.01.2021 17:34
Huhu! :D
Zu allererst muss ich sagen...ich bin so froh, dass du wieder schreibst, Ali! *__*
Und dass sich diese Idee, die ja irgendwie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war, so schnell verselbstständigt hat - durch unser Pläne schmieden.
Du wolltest ja immer mal was über die Yakuza schreiben und hier passt es wirklich ganz wunderbar rein. :)
So...ich mag deinen Einstieg, man wird direkt in den Alltag von Enji mitgenommen und was ihn so bewegt, auch wenn man nicht direkt alles erfährt.
Das finde ich übrigens auch sehr gut, weil ich es lieber mag, wenn man die Hintergrundgeschichte eines Charas eher Stück für Stück erfährt.
Das steigert die Spannung...
Ich finde, du hast Enji gut getroffen...und ich weiß, wie schwer es ist, in neue Charaktere reinzukommen...und du hast ja wirklich lange nicht mehr geschrieben, von daher, Hut ab! :D
Enji als Workaholic passt auf jeden Fall wie die Faust aufs Auge...und dass ihn Rückschläge natürlich hart treffen.
Er ist eben ehrgeizig und wenn ihn dann noch private Gründe treiben...muss das für ihn wirklich niederschmetternd sein. Der Arme...
Hach und ohne Witz...ich liebe Toshi. Auch, wie du ihn hier so schön einbaust und beschreibst...aus Enjis Sicht natürlich recht negativ, aber trotzdem. xD
Sie sind eben total gegensätzlich und dass der Kerl nun auch noch sein Chef ist...nein, dass das Enji nicht gefällt, glaube ich sofort, auch wenn er natürlich die Etikette wahrt und einigermaßen höflich bleibt. Ins Wort fallen oder abwürgen gehört zwar nicht dazu...aber du weißt...was ich meine...für Enji Verhältnisse angebracht. xD
Und dann Fuyumi, die gute Seele...
Ich muss sagen, ich war anfangs kein Fan von ihr, aber mittlerweile liebe ich sie. Sie hält die Familie einfach zusammen - und das ist auch hier gut spürbar.
Trotzdem sie sicher eine Menge Gründe hätte, auf ihren Vater wütend zu sein, zeigt sie guten Willen und hält ihn auch ein bisschen auf dem Laufenden...
Man merkt, wie es Enji schwer fällt...wie er sich schuldig fühlt, aber eben einfach nicht aus seiner Haut kann.
Kann ich mir bei ihm auch nicht vorstellen, dass er einfach aufgibt...so verbissen, wie er ist...
Ich finde es übrigens schön, wie du die japanischen Traditionen und Manieren einfließen lässt...ich finde, das macht alles noch realistischer. :)
Auch wenn Hawks besagte Traditionen ja eher mit Füßen tritt. xD
Ich hab mich krank gelacht bei der Szene...wie er da kackendreist an seinem Platz hockt und mit Toshi rumflachst.
Ja, das glaub ich gern, dass ihm da das Blut hochkocht. xD
Das ist schon echt dreist...wäre es auch hier in Deutschland, haha...
Aber Hawks kennt da natürlich nichts...und es wundert mich auch nicht, dass er sich gut mit Toshi versteht.
Der ist ja auch eher locker und hat ein heiteres Gemüt, von daher...top!
Ich liebe es, wie Enji versucht, sich am Riemen zu reißen, es ihm aber angesichts dieser Unverschämtheiten kaum beherrschen kann...und dann gibt ihm dieser freche Grünschnabel auch noch einen "Decknamen"...
Ich finde es klasse, wie du das mit "Endeavor" gelöst hast...das passt einfach so gut, genau wie dieses auf und ab gehen...das hat für mich was von seinem ersten Auftritt bei den Billboard Charts.
Da er hier keine Flügel hat, kann er natürlich nicht abheben. ;)
Meine kleinen Verbesserungen hast du sehr schön umgesetzt, supi! :D
Also...abschließend, alles in einem...ein wirklich toller Einstieg, der Lust auf mehr macht, sowohl was die Darstellung der Charaktere angeht, also auch die Story generell!
Und danke für die liebe Erwähnung! <3

LG
Pia


Zurück