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Gegensatz und Vorurteil

- Ehemals Schubladenmagnet -
von

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Ja, mich gibt es noch. Anstrengende Zeiten...

 

~ 21 ~

 

Pauls POV

 

Die Herzlichkeit, mit der mich Joshuas Familie aufnimmt, ist mir beinahe zu viel. Völlig selbstverständlich bekomme ich einen Platz am Tisch zugewiesen und ebenso selbstverständlich gibt es neben dem großen Topf Bolognese auch einen nicht eben kleinen mit einer fleischlosen Alternative für mich. Kein Murren, kein extra drauf Hinweisen, kein gar nichts. Einfach so. Und nicht nur ich bediene mich schlussendlich daran, alleine würde ich an dieser Portion wohl auch eine gute Woche essen.

Ich beteilige mich nur wenig an den Tischgesprächen, zu anstrengend war das Wochenende und der wenige, schlechte Schlaf macht sich mit voller Wucht bemerkbar. Dennoch fühle ich mich nicht ausgeschlossen, immer wieder werde ich kurz in die Unterhaltung mit eingebunden und Josh würde wohl seine linke Hand am liebsten dauerhaft irgendwo an oder auf mir belassen, wenn er sie nicht bräuchte, um der widerspenstigen Spaghetti Herr zu werden.

 

Wie angekündigt müssen wir zwei nach dem Essen spülen, oder zumindest auf- und die Spülmaschine einräumen. Der Rest der quirligen Familie hat sich im ganzen Haus verteilt und ich genieße die Stille, welche nur von dem gelegentlichen Klirren der Gläser und Besteckteile durchbrochen wird.

„Alles okay?”

Blinzelnd blicke ich zu Josh.

„Äh, ja. Nur in Gedanken.” Ich ziehe meine Mundwinkel hoch, widme mich dann wieder den Tellern. Ich sehe nur im Augenwinkel eine Bewegung. Die nasse Berührung an meiner Nase kommt unerwartet. „Hey!”, protestiere ich und wische mir den Schaum von der Nasenspitze.

Joshua grinst. „Upsi.”

Mit verengten Augen taxiere ich die Lage. So schnell, wie ich meine Hand in den Schaum getunkt habe, kann er nicht reagieren und das Hochreißen seiner Arme kommt zu spät. Das fluffige Weiß haftet wunderbar an den inzwischen deutlich sichtbaren Bartstoppeln und bildet einen hübschen Kontrast zu den schwarzen Haaren und den braunen Augen, die mich perplex mustern.

„Hoppla”, imitiere ich ihn.

Das herausfordernde Blitzen lässt meine Magengegend aufgeregt kribbeln. Wir schnellen beide zum Spülbecken, das eigentlich für die Töpfe vorgesehen war und versuchen den jeweils anderen zu treffen, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen. Ein kurzes Gerangel entsteht, ich fühle schaumiges Nass an meinem Kinn und unter dem rechten Ohr, Joshua treffe ich an Hals, Stirn und mitten auf das schwarze Tshirt, was sich an dieser Stelle noch eine ganze Ecke dunkler verfärbt.

Lachend ergebe ich mich, als er es aus purer körperlicher Überlegenheit schafft, mich zwischen sich und der Anrichte einzuklemmen. Ein letztes Mal greift er in die Spüle und ich ziehe fluchend Schultern und Nacken zusammen, als es meine Wirbelsäule hinab bis zwischen die Schulterblätter hinabrinnt.

„Iihh!”, beschwere ich mich japsend und immer noch lachend.

„Selbst Schuld”, brummt mein Freund unernst und überrascht mich ein weiteres Mal, jetzt mit einem stürmischen Kuss. Wir atmen beide noch hektisch, was keine langanhaltenden, technisch ausgefeilten Spiele zulässt (die ich ohnehin nicht beherrschen würde) und doch... hat es seinen ganz eigenen Reiz. Nur Joshuas kalte, nasse Hände auf meinem unteren Rücken jagen mir eine Gänsehaut über den Körper, die zu der unschönen Sorte gehört.

„Viel besser”, schnurrt der Schwarzhaarige förmlich, als ich ihn schließlich auf Abstand drücke und streicht mir zärtlich eine Strähne aus der Stirn.

„Was besser?”, frage ich verwundert.

„Das da.” Er tippt an meine Wange, unweit meines Mundwinkels.

„Was hab ich da? Noch mehr Schaum?”

„Nein, viel besser”, meint er kryptisch und wendet sich den wartenden Töpfen zu, als wäre nichts gewesen.

Ich betaste meine Wangen, kann aber nichts fühlen. Mir geht es aber viel zu gut, um mich noch weiter damit zu befassen und so räume ich gut gelaunt die Spülmaschine fertig ein.

„Sorry, das kann ich mir nicht verkneifen”, entschuldigt sich Joshua wenig reuevoll, nur um keine Sekunde später einen Klaps auf meinen in die Höhe gereckten Po sausen zu lassen.

„He!” Ich funkel ihn an, während sich die Hitze in meinem Gesicht sammelt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mal wieder erröte, weshalb ich mich schnell wieder abwende. Es tat nicht weh, aber dennoch kann ich die Berührung an meinem Hintern immer noch fühlen. Nervöser als angebracht, spüre ich ihr nach. Mein Kopfkino springt sofort wieder an und verarbeitet die frischen Empfindungen kreativ in neue Szenerien. Kein S/M-Kram, das kann ich mir nun wirklich nicht für mich vorstellen, aber es gibt ja auch harmlosere, oder besser gesagt sanftere Situationen, in denen-

'Stopp!', rufe ich mich selbst zur Räson. Das ist nun wirklich kein guter Zeitpunkt um meiner seit kurzem erwachten Libido neues Futter zu geben. Ich komme mir ohnehin vor, wie das männliche Äquivalent zu einer läufigen Hündin. Warum gab es derartige Vergleiche eigentlich nicht mit hormongeladenen Rüden oder Katern? Waren die nicht genauso oder noch schlimmer? Mir kommt nur 'geiler Bock' und irgendwas mit 'Hengst' in den Sinn, aber die Begriffe haben irgendwie eine andere Bedeutung...

Ich bin mir nicht sicher, ob über derlei sprachliche Spitzfindigkeiten zu grübeln wirklich besser ist. Seufzend schnappe ich mir ein Handtuch und trockne ab, was mein Freund schon sauber geschrubbt hat.

 

~*~

 

Der Morgen beginnt für mich gut ausgeruht.

Der Abend war kurz, nach einer dezent chaotischen Runde 'Siedler von Catan' mit Holly, Holger und natürlich Joshua, gab es für mich nur noch eine Dusche, ein kurzes Abendessen und dann ging es schon ab ins Bett. Keine Ahnung, ob mein Freund gemerkt hat, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war, er hat mich einfach mit dem Rücken an seine Brust gezogen und gehalten, während ich angespannt dalag und nicht wusste, ob ich meinem Drang nach intimerer Nähe nachgeben soll oder nicht. In der Theorie hätte ich gerne, doch in der Praxis überkamen mich dann doch die Zweifel. Wollte er es überhaupt? Machte nicht den Eindruck, sonst würde er doch auch den ersten Schritt machen, oder? War ich zu forsch? Oder im Gegenteil, zu verklemmt? Was erwartete er von mir? Was für Erwartungen hatte ich an mich selbst und an ihn?

Zum Glück bin ich über derlei Gedanken sehr bald eingeschlafen und hatte keinerlei Gelegenheit mehr, sie erneut durchzukauen. Denn der Morgen im Hause Lehmann ist alles andere als ruhig. Trotz zwei Badezimmern kamen wir uns immer in die Quere, Holly brauchte ewig und Nathan nölte lautstark rum. Dass ich dazu kam, schien alles an morgendlicher Routine vollends durcheinander zu bringen und ich war schon froh, bereits Abends in Ruhe geduscht zu haben und jetzt nur für eine Katzenwäsche und Zähneputzen ins Bad zu müssen. Ein bisschen wehmütig war ich schon, als ich das große Tshirt, was ich mir zum Schlafen von Josh gemopst hatte, wieder gegen meine eigene Kleidung tauschen musste.

Joshua war nur halb wach und spulte sein Programm im Zombiemodus ab. Erotische Stimmung wäre so unmöglich aufzubringen gewesen und das war bei dem andauernden Gepolter im Flur wohl auch besser so. Kaum zu glauben, dass hier nur fünf und nicht fünfzig Menschen wohnen.

Erika war so nett, mir eine Brotbox zu leihen und mir die Obstschale zur freien Auswahl zu überlassen. Während Störenfried Nummer eins ohne Frühstück das Haus verließ, schaufelte ich mir Cornflakes mit Hafermilch rein und hörte mit halbem Ohr Hollys Gezeter zu. Josh erwachte nur langsam zu seiner normalen Form.

 

Nach einer Busfahrt, während der uns Holly fröhlich plappernd ein Ohr abkaut, bis endlich eine ihrer Freundinnen zusteigt und uns erlöst, betreten wir gemeinsam das Schulgebäude.

Meine eigenen Freund:innen gucken leicht irritiert, als ich gemeinsam mit meinem großen, schwarzen Schatten bei ihnen ankomme.

„Du bist spät dran”, begrüßt mich Kathi, lächelt aber, als sie mich in eine kurze Umarmung zieht.

„War ein stressiger Morgen”, rücke ich mit der halben Wahrheit heraus, die anderen beiden ähnlich begrüßend.

„Du kannst dich immerhin gleich entspannen.” Matz stöhnt, einen Arm noch immer über meine Schulter gelegt. „Echt mal, freut euch schon auf eure Prüfungsvorbereitungen. Nicht.”

„Aber dafür habt ihr es bald hinter euch”, kommentiert Josh in meinem Rücken.

„Wenn wir es denn schaffen.”

„Ach, so schlecht bist du nun auch wieder nicht”, foppt Kathi Matz.

Das Geplänkel geht weiter, doch gedanklich klinke ich mich aus. Der Gedanke, dass meine Clique bald auf mich und Joshua zusammenschrumpfen wird, sobald die Abiturprüfungen gelaufen sind, ist in meiner aktuellen Gemütslage ein weiterer Schlag in die Magengrube. Ich will nicht, dass sie gehen!

Ich schaue auf und begegne Joshuas Blick. Beinahe automatisch muss ich lächeln. Wenigstens werde ich nicht alleine sein.

 

~*~

 

Nicht nur meinen Mitschüler:innen eine Stufe drüber stehen die Prüfungen bevor, auch uns foltern die Lehrer zunehmend mit Klausuren und deren Vorbereitung. Mein Terminplaner füllt sich zunehmend mit Klausurterminen, für die ich bei Zeiten schon noch lernen sollte und die Hausaufgaben werden auch nicht weniger.

Diesem Umstand habe ich es jetzt auch irgendwie zu verdanken, dass Josh bei mir auf dem Bett sitzt und sich missmutig durch seine Unterlagen wühlt, während ich in etwa das Gleiche am Schreibtisch mache. Ein entscheidender Nachteil seiner Familie scheint zu sein, dass man dort niemals Ruhe hat. Meine Einladung, Mittwoch Nachmittag zusammen zu lernen, hat er dankend angenommen und bis auf ein bisschen knutschen beim Kochen, haben wir uns auch tatsächlich zusammengerissen.

Ich beobachte ihn über den Rand meines Ordners hinweg. Die schwarzen Strähnen haben sich aus dem nachlässigen Zopf gelöst und verdecken teilweise die gerunzelte Stirn. Lautlos formuliert sein Mund das Gelesene, die Augen zucken zwischen Buch und Block hin und her, gelegentlich notiert er sich etwas.

Dass ich wohl hingerissen geseufzt habe, registriere ich erst, als sich das warme Braun seiner Augen fragend auf mich richtet.

„Alles klar?“

„Äh... ja. Ich, ähm, hab nur Durst. Willst du auch was haben?“ Ohne groß seine Antwort abzuwarten, stürme ich in den Flur und flüchte mich regelrecht in die Küche. Schwer atmend lehne ich meine Stirn an den Kühlschrank und fluche lautlos. Ich dreh noch durch! Seit zweieinhalb Wochen waren Joshua und ich nicht mehr wirklich alleine, wir finden kaum Zeit und wenn, dann verbringen wir sie wie jetzt mit lernen oder ich bin mit den Gedanken ganz woanders.

Warum ist es heute anders? Okay, wir sind tatsächlich wirklich alleine. Aber eigentlich sollte ich dennoch nervös sein, schließlich ist Papa just in diesem Moment auf dem Weg zu seinem Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten. Es hat noch lange Gespräche zwischen uns gebraucht und er hat auf mein Bitten sogar mit Joshuas Mutter geredet, aber letztendlich hat er sich bereit gefühlt, Hilfe anzunehmen. Es ist nur ein Erstgespräch, nur ein Anschnuppern und schauen, ob eine Therapie auf lange Sicht sinnvoll ist. Die Wartelisten für ebendiese sind leider ewig lang, aber es wäre ein erster Schritt.

Mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern gehe ich zurück zu Joshua, der unverändert zwischen Blättern und Büchern auf meinem Bett sitzt. Es ist still bis auf das Kratzen seines Kugelschreibers auf der rauen Oberfläche des Papiers und gelegentlichem Murmeln.

Mein aufgeregter Puls beruhigt sich bei dem Anblick ein wenig, auch wenn das Kribbeln in meine Fingerspitzen zurückkehrt.

Ich kann nicht leugnen, dass ich mir von diesem Nachmittag insgeheim noch etwas mehr versprochen habe, zeitgleich ist die alte Beklemmung wieder da und hindert mich daran, den ersten Schritt zu tun. Und Joshua scheint es nicht viel anders zu gehen. Ich bemerke die Blicke, wenn er glaubt, ich wäre abgelenkt.

„Hey, du siehst aus, als würdest du einen neuen Angriff meiner Schwestern fürchten”, sagt mein Freund amüsiert in die Stille.

„Ah, erinnere mich nicht dran!” Ich stöhne gequält, die Hände vor das schamesrote Gesicht geschlagen. Die Erinnerung hilft nicht, meine Libido zu beruhigen. Wenigstens kann ich meine roten Ohren auf das peinliche Erlebnis des letzten Wochenendes schieben, als mit einem Mal die Tür zu Joshs Zimmer aufging, die zwei johlenden Schwestern hineingestürmt kamen und uns lachend unter einem Konfettiregen aus bunten Kondombriefchen und Gleitgeltütchen begruben. Ein weiterer Beweis meiner Unbedarftheit, dass ich nicht wusste, in welchen Mengen man den Kram online für kleines Geld bekommt. Während Joshua seine Geschwister laut fluchend und schimpfend zum Teufel jagte, habe ich nach dem ersten Schock heimlich ein paar Päckchen eingesteckt. Und mich hinterher fürchterlich geschämt. Mit einem Mal kam mir der Gedanke an Geschwister gar nicht mehr so reizvoll vor.

Der Schwarzhaarige lacht leise. „Keine Sorge, ich denke die sind zu geizig, um so eine Aktion nochmal zu bringen.” Er zwinkert mir zu, verkneift sich aber, was ihm noch auf der Zunge lag. Seine Mimik wird abwesend, seine glasigen Augen sehen etwas, das mir verborgen bleibt und die zarte Röte auf seinen Wangenknochen bestätigt mir die Richtung, in die er gedanklich abdriftet. Etwas zu hektisch um noch unauffällig zu wirken, wendet er sich wieder seinen Lernmaterialien zu.

Ich schelte mich selbst einen verklemmten Feigling und folge seinem Beispiel.

 

Eine Stunde später werfe ich genervt und mit rauchendem Kopf meinen Stift auf den Tisch und sinke im Stuhl zusammen.

„Wenn ich noch ein einziges Wort lesen muss, explodiert mein Kopf”, bin ich fest überzeugt.

Von Josh kommt ein zustimmendes Brummen.

„Das Wetter sieht gut aus...”, beginne ich einen Gedanken und sehe ihn fragend an.

Er schaut aus dem Fenster, als würde er den strahlenden Sonnenschein erst jetzt bemerken. „Willst du raus gehen?”, fragt er meine Frage.

Erleichtert lächelnd nicke ich den Vorschlag ab.

Wir ziehen uns gerade die Schuhe an, als mein Vater zur Tür hereinkommt. Vorsichtig mustere ich ihn. Er sieht erschöpft aus.

„Hallo ihr zwei.” Er versucht sich an einem müden Lächeln. Dann tritt er zu mir und nimmt mich fest in den Arm. Überrumpelt lege ich meine Arme an seine Seiten. „Ich hab dich lieb”, murmelt er in mein Haar.

„Ich dich auch”, erwidere ich fest, ohne zu Zögern. Ein wenig der Anspannung fällt von seinen herabsackenden Schultern.

„Ich will euch nicht aufhalten.” Er lässt mich los, nickt Joshua noch einmal zu und steigt die Treppe hinauf. Mein Blick ruht noch lange auf der Stelle, an welcher er verschwunden ist. Ich kann seine Stimmung nicht einschätzen, abgesehen von Erschöpfung, aber mein Bauchgefühl schlägt auch nicht Alarm.

Eine Berührung am unteren Rücken holt mich zurück ins Hier und Jetzt.

„Lass uns gehen”, antworte ich auf seine unausgesprochene Frage.

 

Die Frühlingssonne ist warm, lockt uns aus unseren Pullovern, nur um uns der bitteren Kälte zu überlassen, sobald wir ihren Schein verlassen. Vögel über unseren Köpfen singen und balzen um die Wette mit dutzenden sich überschneidenden Melodien. Die Blumen in den städtisch angelegten Beeten strecken ihre Köpfchen dem strahlend blauen Himmel entgegen.

Wir wandern am befestigten Ufer des Flusses entlang, lauschen dem knirschenden Kies und unseren eigenen Gedanken. Wir gehen so eng beisammen, dass sich unsere Hände und Arme immer wieder streifen und als Joshua schließlich meine Hand ergreift, verschlinge ich unsere Finger miteinander. Er zieht mich ein bisschen näher zu sich, um den Weg für einige Radfahrer:innen freizugeben, mit denen wir uns den breiten Kiesstreifen teilen.

„Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?”, erkundigt sich Joshua zögerlich, lenkt mich so von einer Gruppe spielender Kinder ab. „Du musst natürlich nicht antworten, wenn du nicht möchtest.”

Mein Herz rutscht mir bei dieser Formulierung in die Hose, nur um direkt danach bis zu meinem Hals zu schlagen. Ich schlucke, doch mein Mund ist wie ausgetrocknet. Nur das beruhigende Streicheln an meinem Handrücken steht im starken Kontrast zu meiner inneren Aufregung.

Ich zögere, gebe mir dann jedoch einen Ruck. „Okay.” Atemlos. Nervös. Ich verfluche mich selbst und benetze meine trockenen Lippen.

Joshua lässt seinen Blick über das trübe, grünliche Wasser des Flusses schweifen. Es dauert, ehe er seine eigentliche Frage formuliert. Im Nachhinein wundert es mich, warum er nicht schon längst gefragt hat, in diesem Moment aber wünschte ich mir, er hätte sich noch Zeit damit gelassen. Einige Monate oder Jahre vielleicht. Ich mag das Thema nicht, aus gutem Grund.

„Was ist eigentlich mit deiner Mutter?”

Obwohl ich es erwartet habe, zieht es mir für eine Sekunde den Boden unter den Füßen weg. Ich habe das Gefühl zu fallen, meine Beine verwandeln sich in Pudding und doch gehe ich weiter, als wäre nichts gewesen.

Ich kann nicht verhindern, dass sich ein verbitterter Zug um meine angespannte Mundpartie zieht. Der alte Schmerz will sich Bahn brechen, doch ich dränge ihn zurück.

„Sie hat uns verlassen.” So einfach und doch so kompliziert, so viel mehr, was sich hinter diesem kurzen Satz verbirgt.

„Oh, das-”, beginnt Josh, doch ich unterbreche ihn, will es nicht hören.

„Da war ich gerade einige Monate alt. Ich habe sie nie wirklich kennengelernt, kann sie also kaum vermissen. Nur was sie meinem Pa damit angetan hat, das kann ich nicht verzeihen.” Ich kicke einen Stein vor mir her, treffe ihn mit zu viel Wucht und befördere ihn ins nächste Gebüsch.

„Aber... warum tut man sowas? Man lässt doch kein Baby alleine zurück!” Mein Freund ist sichtlich schockiert, bleibt stehen und zwingt mich durch unsere verschränkten Hände, es ihm einen Schritt weiter gleichzutun. Ich lächle bitter zu ihm auf.

„Soll öfter vorkommen, als man meint. Und ich war ja nicht allein.” Mein Schulterzucken überzeugt nicht einmal mich selbst. „Ich war ein Unfall, sie wollte mich nie. Vielleicht hätte sie abgetrieben, wenn es Papa nicht gegeben hätte, wer weiß. Nach meiner Geburt bekam sie zusätzlich Wochenbettdepressionen, wollte keine Hilfe für eine Situation, in die sie freiwillig nie geraten wäre und ließ mich bei Papa zurück. Sie lebt ihr Leben, wir das unsere. Bis auf die Gene und ein bisschen Unterhalt habe ich von ihr nie etwas bekommen. Ende der Geschichte.” Entschieden drehe ich mich um und will weitergehen. Ich hätte wissen müssen, dass Joshua da andere Pläne hat.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit finde ich mich überraschend in einer Umarmung wieder.

„Fuck. Paul, das ist... abgefuckt. Scheiße.”

Ich muss beinahe lachen über seine wirre Aneinanderreihung von Flüchen.

„Ich kenne es nur so”, meine ich beruhigend. „Nur Papa hat es nie ganz verkraftet. Ich glaube, er gibt sich die Schuld an allem. Aber das ist Blödsinn. Die Entscheidungen meiner Erzeugerin haben nichts mit ihm zu tun. Nicht so, wie er denkt. Das glaube ich einfach nicht.”

„Oh man... Trotzdem, wie kann sie nur? Ein Baby, verdammt! Das ist so...” Der Ältere sucht immer noch vergebens nach Worten, die ich ja doch nicht hören will. Ich sehe zu ihm auf und entdecke genau das, was ich nicht wollte: Mitleid.

„Bitte, Joshua. Es war ihr gutes Recht, so scheiße es auch war. Ich hatte es immer gut bei meinem Vater, mir fehlt es an nichts. Mach kein größeres Drama draus, als es ist.”

Seine ganze Erscheinung drückt starke Zweifel aus. Er glaubt mir nicht. Ich fühle Wut in mir aufsteigen, doch schlucke auch diese Emotion wieder runter. Mein Freund ist nicht ihr eigentliches Ziel.

„Bitte, lass es gut sein”, flehe ich ihn an.

Sein Adamsapfel hüpft, als er schluckt. Unsere Brustkörbe stoßen bei einem tiefen Atemzug gegeneinander und ich spüre den Seufzer als Luftzug an meinen Wimpern zupfen.

„Na schön”, stimmt er widerwillig zu. Er hat sicher noch tausend andere Fragen, doch gerade will ich keine mehr davon hören.

„Danke.” Ich lächel ihn an, ehrlich. Aufrichtig. „Lass uns weiter, mir wird langsam kalt.”

Entschlossen ergreife ich seine Hand und setze unseren Spaziergang fort.

Verstohlen blicke ich von der Seite zu ihm auf. Ob er wohl noch länger bleibt? Nicht nur ich kann nach dieser Offenbarung wohl ein bisschen Ablenkung gebrauchen...

 

~*~

 

So, da isses nu raus. In der Ursprungsfassung ganz zu Beginn war die Mutter noch klischeemäßig verstorben, aber warum sollen immer nur die Männer ihre Familien verlassen dürfen? Nur weil sie das Kind austragen, müssen Frauen sich nicht zwangsläufig mit der Situation arrangieren müssen, wenn sie es nicht wollen, sich aber gegen eine Abtreibung entschieden haben (die auch legitim wäre, davon ab).

 

 

Ob Paul wohl seine Ablenkung bekommen wird? ;)



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  z1ck3
2023-04-09T05:45:27+00:00 09.04.2023 07:45
Super Kapitel, trotz schreibproblemen! Paulchen hat es schon echt schwer erwischt, wie gemein.


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