...und Schattenlichter
Boris fand Yuriy in der Küche auf dem Fliesenboden kniend und mit dem Oberkörper in dem Schrank unter dem Waschbecken verschwunden. Es war ein sonniger Nachmittag, wenn auch kalt und föhnig, weshalb der Wind an den Fenstern riss und rüttelte, als ob er hineingelassen werden wollte. Yuriy ließ sich davon scheinbar nicht beeindrucken. Boris blickte auf den schmalen Streifen vernarbte Mondlichthaut, der sich zwischen Yuriys Jeans und dem uralten weißen Shirt, das er immer zum Putzen trug, aufgetan hatte.
Die WG war noch nie so sauber gewesen wie ab dem Moment vor zwei Tagen, in dem Boris Yuriy geküsst hatte. Und das mochte bei Yuriys OCD etwas heißen.
Boris unterdrückte den Impuls, die Faust durch die Scheibe zu schlagen und den Sturm hinein zu lassen. Stattdessen ging er an dem Streifen Mondlichthaut vorbei zum Kühlschrank und holte sich ein Bier heraus, öffnete es mit jahrelanger Übung an der Tischkante und nahm einen Schluck, während er sich an die Küchentheke lehnte. Das intensive Schrubben im Inneren des Schranks verstummte einen Moment, dann setzte es wieder ein.
Boris trank noch einen Schluck. Dann sagte er: „Gehst du als Nächstes die Mülltonnen auswaschen?“
Er bekam keine Antwort, hatte aber auch nicht wirklich damit gerechnet. Seine Augen fanden erneut den Streifen Mondlichthaut, dann wanderten sie weiter. Yuriy hatte sehr lange Beine. Das merkte man eher, wenn er saß und nicht kniete, aber Boris wusste es so oder so. Er trug Socken - dick, fest, rot. Boris wollte ihn rücklings auf den Küchenboden drücken und in seinen Nacken beißen, bis Yuriy unter ihm zuckte.
Er nahm noch einen Schluck Bier. „Willst du mir nicht einfach sagen, dass ich ein Arschloch bin und mich gleich rauswerfen? Wär‘ doch effizienter.“
Das Schrubben hörte auf. Einen Moment lang war es bis auf das unerbittliche Heulen des Windes vollkommen still und keiner von ihnen rührte sich. Dann tauchte Yuriys Oberkörper auf, er kam auf die Beine und erhob sich, einen Schwamm in der rechten Hand. Er trug gelbe Gummihandschuhe und hatte sich die mittlerweile erstaunlich langen Haare zu einem so festen Pferdeschwanz gebunden, dass die harten, unerbittlichen Kanten seines Gesichts noch strenger hervortraten als sonst ohnehin schon. Boris hielt sich an der Bierflasche fest, um nicht nach ihm zu greifen, während Yuriys kalte, helle Augen ohne zu blinzeln auf ihm ruhten. Er dachte darüber nach, sich zu entschuldigen.
Dann sagte Yuriy leise: „Ich werde dich nicht rauswerfen.“
Boris versuchte ungerührter und gefestigter zu wirken, als er sich fühlte und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Weil du nicht willst oder weil du dich verpflichtet fühlst?“
Yuriy schnaubte. „All meine Pflichten euch gegenüber“, sagte er weiterhin sehr leise und ruhig, „habe ich, denke ich, schon doppelt und dreifach eingehalten. Ich werfe dich nicht raus. Allerdings kann ich dem Arschloch-Part nicht ganz widersprechen.“
„Du bist abgehauen“, entfuhr es Boris, ehe er sich zurückhalten konnte.
Etwas in Yuriys strengem, erschöpftem Gesicht zuckte, dann legte er den Schwamm beiseite. Boris sah ihn tief Luft holen, ehe er mit abgewandtem Kopf sagte: „Ich gebe zu, das war unter Umständen ungeschickt.“
„Ungeschickt“, sagte Boris ungläubig. Es war schwer zu sagen, was schwerer zu verdauen war: dass Yuriy einen Fehler zugegeben hatte, oder seine Wortwahl.
Yuriy sah ihn kurz an, dann senkte er den Blick und zupfte quälend langsam die Gummihandschuhe von seinen langen Fingern. Er war nie gut darin gewesen, über seine Gefühle zu sprechen. Das waren sie alle nicht, aber Yuriy war neben ihm selbst immer ein besonders schwieriger Kandidat gewesen. Wenn er darüber sprach, dann meistens in kryptischen Worten, bei denen man sich erst einmal auskennen musste. Man konnte ihm nicht nachsagen, dass er in den letzten Jahren nicht daran gearbeitet hatten – sie waren alle erwachsen geworden und ein Yuriy mit Mitte zwanzig war genau wie Boris ein wesentlich stabilerer Mensch geworden –, aber es fiel ihm immer noch schwer.
„Ich bin nicht wütend“, sagte Yuriy schließlich so sorgfältig, dass Boris wusste, dass er sich an die Einheiten mit seinem Therapeuten zu halten versuchte, „ich war überrumpelt.“ Er strich sich über die Haare, die im windverwehten Sonnenlicht blutrot glänzten. „Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll.“
Boris schwieg. Er hatte das Gefühl, dass Yuriy noch nicht fertig war und manchmal war es einfacher, einfach auf ihn zu warten. Außerdem war das Reden über Gefühle auch nicht unbedingt eine seiner Stärken. Er setzte lieber auf Taten, was überhaupt erst zu diesem Schlamassel geführt hatte.
Nach einem langen Moment der Stille machte Yuriy einen tiefen Atemzug.
„Ich will wissen, warum du es getan hast“, sagte er dann schon fast harsch, „ich bin kein Spielzeug, das man anpacken kann, wie man will.“
Manchmal war Yuriy ein detoniertes Feld aus Glassplittern, auf dem man sich bei einem falschen Tritt einen blutigen Fuß holte. Aber Boris kannte ihn schon seit zwei Dekaden und hatte ihn nicht nur in seinen besten, sondern auch seinen schlechtesten Momenten erlebt. Er wollte den blutigen Fuß genauso wie die weiche Hand. Er wollte alles, alles, was dieser Mensch ihm entgegen schleudern konnte. Nie war ihm jemand begegnet, der so intensiv war wie Yuriy, und es gab nichts, von dem er sicherer war als seinen Standpunkt in der Sache.
Also zog er eine Augenbraue in die Höhe. „Du denkst, ich sehe dich als Spielzeug?“
„Ich weiß nicht, was ich denken soll“, sage Yuriy weiterhin harsch, aber er legte die Handschuhe beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass Boris nur noch einen Streifen Mondlichthände sehen konnte. „Deswegen frage ich ja.“
„Gar nix hast du gefragt“, sagte Boris und unterdrückte ein Grinsen nur mühsam. Yuriy wusste, dass Boris ihn durchaus lesen konnte und sich nur quer stellte, was wohl der Grund für die hochzuckende rote Braue war. Boris beschloss, umgänglich zu sein und nahm noch einen Schluck Bier. Dann stellte er die Flasche hin und stieß sich von der Theke ab, um auf Yuriy zuzutreten, der ihn mit einem wachsamen Blick beobachtete und eine Haltung angenommen hatte, die darauf schließen ließ, dass er gerne zurückgewichen wäre. Aber Yuriy wich niemals aus oder zurück, auch wenn es einfacher gewesen wäre, und er tat es auch diesmal nicht.
„Geht’s darum, dass du nicht wolltest?“, fragte Boris rundheraus und trat noch einen Schritt näher. „Ich hatte nämlich das Gefühl, du willst, aber du kannst nicht.“
Er konnte die dichten Wimpern um Yuriys klare, helle Augen zählen, während der Wind heulend an den Fenstern rüttelte. Die Sonne fiel halb auf Yuriys Gesicht und formte es zu einem Wechselbad aus Licht und Schatten, als er die Lippen schürzte.
„Ich kann alles“, sagte er dann leise.
Boris lächelte geradezu spöttisch, weil er wusste, dass es Yuriy rasend machte. „Nicht alles“, sagte er, „und nicht immer.“
„Ist das deine Art, mit Leuten zu flirten - indem du sie aufstachelst, nachdem du sie einfach mitten im Gang geküsst hast?“, verlangte Yuriy zu wissen. „Denn dann ist es mir schleierhaft, wie du schon jemals jemanden abschleppen konntest.“
„Du bist nicht jemand“, sagte Boris, „und ich will dich nicht abschleppen.“
Yuriys zweite Augenbraue zuckte in die Höhe, aber er rührte sich nicht. „Sondern? Hast du ‘ne Wette verloren oder was?“
Der Mensch machte es einem nicht leicht.
„Du bist kein Spielzeug für mich“, sagte er, weil Yuriy ihn dazu zwang, reinen Tisch zu machen. Brutale Ehrlichkeit. Es war nicht immer besser als die Aggressionsanfälle, unter denen er jahrelang gelitten hatte und die sich manchmal immer noch den Weg nach oben kämpften, aber meistens brachte es ihn wenigstens weiter. Also fuhr er ungehemmt fort: „Du bist dämlich, wenn du das wirklich glaubst. Und wir beide wissen, dass du alles andere als dämlich bist. Du bist keine Trophäe.“
„Entschuldige bitte?“, fragte Yuriy geradezu beleidigt und sah demonstrativ an sich herab. Boris folgte seinem Blick und versuchte nicht allzu lange an dem Mondlichtknöchel hängen zu bleiben, der zwischen Jeans und Socken hervorblitzte. Jesus, er fühlte sich wie ein Typ aus dem viktorianischen Zeitalter, der bei einem nackten Tischbein schon einen Ständer bekam. Gleichzeitig hatte er durchaus das Bedürfnis, Yuriy ein bisschen zu würgen. Und zwar nicht im lustigen Sinn.
Er atmete tief durch und zählte innerlich bis fünf, dann sagte er bemüht ruhig: „Du weißt, was ich meine, Yura, sei kein Arschloch, wenn du eine vernünftige Diskussion haben willst.“
„Eine vernünftige Diskussion willst du? Okay.“ Yuriy sah ihm ins Gesicht, und dann überrumpelte er ihn einmal mehr, indem er geradewegs, wie es sonst nicht seine Art war, fragte: „Wusstest du, dass ich in dich verliebt bin, als du mich geküsst hast oder war dir einfach nur langweilig?“
Vollkommene Stille, bis auf den Sturm, der um das Fenster heulte und Schattenlichter über Yuriys rotes Haar tanzen ließ wie Blätter im Herbst. Yuriys Augen waren offen und klar. Er sah ihn an, ohne zu blinzeln – freigelegt, bloß, sein schutzloses Herz in Boris‘ Hände gelegt, einfach so. Nur weil Boris ihn geküsst und dann gefragt hatte. Unbedingtes Vertrauen von jemandem wie Yuriy war wertvoller als jeder Diamant der Welt.
„Was“, sagte Boris, der die Hände gerade auf Yuriys Schultern legen wollte und nun erstarrte, als ob Yuriy ihn aus heiterem Himmel attackiert hatte. Was ja irgendwie auch der Fall war.
Yuriy neigte den Kopf. „Also nicht“, stellte er fest. Dann: „Also doch ein Arschloch.“
Das half immerhin, die Schockstarre loszuwerden.
„Weil ich nicht weiß, dass du in mich verliebt bist?“, protestierte Boris, weil es im Zweifelsfall immer schon einfacher gewesen war, wütend zu werden, als sich Gedanken über sein heftig klopfendes Herz zu machen. „Kann ich Gedanken lesen oder was? Was erwartest du von mir? Woher kommt das auf einmal?“
„Auf einmal?“, echote Yuriy.
„Nicht?“, sagte Boris und versuchte verzweifelt das Gefühl abzuschütteln, dass er in etwas getappt war, auf das er nicht im Geringsten vorbereitet war.
Yuriy sah ihn an, als ob er der größte Vollidiot auf Erden war. Dann wiederum war er Meister darin, Leuten dieses Gefühl zu vermitteln. „Warum hast du es gemacht?“
Weil ich wollte, dachte Boris unwillkürlich, weil du da bist, weil du immer da warst und weil ich alles, alles von dir will, jede einzelne Facette. Weil ich hungrig bin, so hungrig, und weil ich an dir nie satt werde.
Er ließ die Hände auf Yuriys Schultern sinken – federleicht und so langsam, dass Yuriy hätte ausweichen können, wenn er gewollt hätte. Aber er hielt still und sah ihn weiter mit seinen unergründlichen Augen an, während die Schattenlichter über sein Gesicht tanzten. Er war schön, so schön, die Art von Schönheit, die von innerer Stärke und dem unbedingten Überlebenswillen kam und zu der sich Boris hingezogen fühlte wie die Motte zum Licht.
„Ich will dich“, sagte Boris leise, „alles von dir.“
Yuriys Mundwinkel zuckten, was alles bedeuten konnte, aber dann senkte er ein wenig die Augenlider und sah Boris an, wie er ihn bisher nie angesehen hatte. Und dann streckte er, der sich mit körperlichem Kontakt so schwer tat und ihn sehr selten von sich aus suchte, die Hand aus, seine Mondlichthand, und legte sie auf Boris‘ Wange. Ließ sie weitergleiten, ohne Hast, bis die kühlen Finger schließlich in Boris‘ Nacken ruhten und Boris schauderte, vom Kopf bis zu den Zehen hinab schauderte. Yuriys helle, klare Augen hielten ihn fest, während der Wind vor den Fenstern heulte und Boris die Hand ausstreckte, um sie in Yuris rote Strähnen zu graben und die Schattenlichter zu fangen, die sich darin verhangen hatten. Yuriy atmete aus, ein langer, schwerer Laut, aber dann drückte er ein Lächeln auf Boris‘ Mundwinkel.
„Du hast mich schon längst“, sagte er.