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Gnadenlos

von

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Gesellschaftsspiele

Eigentlich scheut Sam vor dieser Redewendung zurück – schließlich weiß er es besser – aber der folgende Tag im Bunker ist für ihn … na ja. Die Hölle.

Gabriel und Jack erwähnen den Zwischenfall nicht weiter, obwohl Gabriel Sam die ganze Zeit über scharf im Auge behält. Es ist äußerst lästig, dass Gabe ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, aber wenn er das Thema erst einmal ruhen lassen will, kann er schlecht etwas dagegen sagen. Und ein bisschen Verständnis dafür hat er irgendwie auch.
 

Für den Erzengel und den Nephilim muss es ausgesehen haben, als sei Sam plötzlich zur Salzsäule erstarrt und aus unerklärlichen Gründen für ein paar Minuten wie in Trance gewesen. Zumindest kommt Sam zu diesem Schluss, wenn er die ‚Begegnung‘ mit Lucifer Revue passieren lässt und sich darauf besinnt, dass er die Erscheinung wohl als einziger gesehen und gehört hat.

Himmel, Lucifer hat Gabriel sogar berührt, ohne dass der auch nur mit der Wimper gezuckt hat! Er muss einfach eine Illusion gewesen sein – eine Halluzination, etwas anderes kommt überhaupt nicht infrage. Beim letzten Mal vor sechs Jahren waren all die Abscheulichkeiten Lucifers schließlich auch nur ein Echo seiner Zeit im Käfig. Sehr überzeugende Abscheulichkeiten, die Sam, Echo hin oder her, beinahe nicht überlebt hätte. Ein Rest Zweifel bleibt demnach. Da kann er sich noch so sehr damit herausreden wollen, dass sein Hirn einfach einen Knacks weg hat.

Wenn Lucifer genug Macht besitzt, ist es ein Leichtes für ihn, Sam (und nur Sam) eine Show zu bieten, während alle anderen um ihn herum im Dunkeln tappen. Genau das macht diese Szene ja so beängstigend, so gefährlich. Obwohl Sam sich trotzdem sicher ist, dass Gabe die leibhaftige Anwesenheit des Teufels hätte spüren müssen …

Allerdings bliebe noch die Möglichkeit, dass Lucifer Sam irgendwie aus der Ferne manipuliert – also doch unmittelbar an seinem Geisteszustand beteiligt ist, ohne persönlich vor Ort zu sein.
 

Sam kommt schnell zu dem Schluss, dass es nicht gut ist, mit dieser Sache allein zu bleiben. Er würde die Ereignisse, ob nun eingebildet oder nicht, wirklich gern für sich behalten, denn die ganze Geschichte ist ihm unangenehm. Sie sorgt dafür, dass er sich schwach und verweichlicht vorkommt. Geisteskrank. Und er hat keine Lust darauf, Dean und Mom Sorge zu bereiten, nachdem sie davon schon mehr als genug am Hals haben.

Aber gerade wenn er sich das alles nur einbildet und die Halluzinationen wieder schlimmer werden sollten, muss seine Familie darauf vorbereitet sein. Er kann es ihnen nicht antun, ,einfach so verrückt zu werden‘, wenn er sie doch auch darauf vorbereiten kann. Das erspart ihm schlimmstenfalls vielleicht eine Menge Zeit in der Dämonenzelle des Bunkers und erleichtert den direkten Weg in die Klapse …

Andersherum, sollte Lucifer tatsächlich doch aktiv an seinen Hirngespinsten beteiligt sein, gilt es, die anderen um jeden Preis zu warnen. Und natürlich herauszufinden, was Lucifer mit all dem eigentlich bezweckt.
 

Vielleicht ist es noch ein wenig zu früh, um sich derartig darüber den Kopf zu zerbrechen. Immerhin hat er, über die Erscheinung vom Vortag hinaus, nur ein Lachen gehört. Und er war nie allein, als es passiert ist, aber immer der einzige, der etwas bemerkt hat.

Aber Sam kann nicht anders, als sich Gedanken darüber zu machen, an wen er sich als erstes wenden soll.
 

Aus verschiedenen Gründen kommt Dean nicht infrage. Natürlich ist er derjenige, dem er mit Abstand am meisten vertraut. Aber Dean ist im Moment mehr als mit sich selbst beschäftigt: Seit gut einer Woche hält er es kaum mehr mit Cas im selben Raum aus und lässt den Engel meist schon nach einer knappen Begrüßung stehen. Außerdem läuft er interessanterweise feuerrot an, sobald er Gabriel auch nur aus der Ferne sieht. Sam kann sich bisher noch keinen rechten Reim darauf machen. Möglicherweise ist Gabe Zeuge von etwas geworden, das Dean bereut. In dem Fall sollte sich sein Bruder nicht noch Sams Verrücktheiten anhören müssen, die ihn wahrscheinlich nur aufregen. Denn Dean ist auch derjenige, der ihn entweder zu ernst oder überhaupt gar nicht ernst nimmt. Vermutlich eines seiner unzähligen großer-Bruder-Syndrome, aber bei Sams aktuellem Problem ist das nichts, was er als sonderlich hilfreich betrachten würde.
 

Mom wirkt nach erstem Ermessen wie eine wunderbar neutrale Person, denn sie hat beim letzten Mal nicht mitbekommen, wie Sam in einer geschlossenen Anstalt gelandet ist. Andererseits wäre es durchaus hilfreich, mit jemandem zu sprechen, der die vollen Ausmaße von Lucifers Eskapaden besser einschätzen kann. Und warum sollte er Mom unnötigerweise mit seinen (potentiellen) Hirngespinsten beunruhigen?
 

Rowena kommt ihm kurz in den Sinn. Sie teilt Sams Angst vor Lucifer, hat sein wahres Gesicht gesehen und weiß, wozu er fähig ist. Gleichzeitig traut Sam der Hexe bei weitem nicht genug, um sie als erste und einzige Verbündete ins Boot zu holen. Sie neigt dazu, die Dinge zu überstürzen, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlt und bisher hatten die Folgen ihrer Unüberlegtheit immer Dean und er auszubaden.
 

Gabriel, als Bruder Lucifers, erscheint irgendwie naheliegend. Außerdem ist der Erzengel sowieso misstrauisch, seitdem er zweimal miterlebt hat, wie Sam beinahe den Kopf verloren hat. Ihm einen gewissen Vertrauensvorschuss zu geben, kann ihrer weiteren Zusammenarbeit sicher nicht schaden. Darüber hinaus kann Sam nicht anders, als immer wieder an den Moment zu denken, in dem Lucifer Gabe das Erzengelsschwert in die Brust gerammt hat. Dass es nur eine Illusion war, spielt keine Rolle. Der Zwist mit Lucifer hat Gabe einmal dazu gebracht, sich aus allem heraushalten zu wollen und der Apokalypse mit absoluter Gleichgültigkeit entgegenzublicken. Eine ähnliche Haltung können sie nicht noch einmal riskieren; sie brauchen jede Hilfe, die sie kriegen können. Sam hält es daher für keine gute Idee, zwischen den verfeindeten Brüdern mehr Berührungspunkte als notwendig zu schaffen.
 

Das gleiche gilt natürlich auch für Jack – zwischen ihm und seinem vermeintlichen Vater kann es gar nicht genug Abstand geben. Und, die außergewöhnliche Macht des Nephilim einmal außen vor, Sam will es nicht verantworten, den Jungen mit seinen Traumata zu belasten, die er zufälligerweise 50 Prozent von dessen Erbgut zu verdanken hat.
 

Die beiden letzten Bewohner, oder vielmehr Dauergäste, wenn man so will, die übrig bleiben, sind Castiel und Crowley. Sam muss nicht zweimal überlegen, wem von beiden er mehr vertraut.
 

 

*
 


 

„Hey, Cas! Hast du einen Moment?“
 

„Hallo, Sam. Natürlich!“
 

Sam trifft Castiel in dessen Zimmer. Es ist kein Vergleich zu dem Raum, den Gabriel seit einer Weile belagert: Cas‘ Zimmer ist nicht nur ordentlicher, sondern auch deutlich leerer. Dem Bett ist förmlich anzusehen, dass es das letzte Mal zum Schlafen benutzt wurde, als die Men of Letters vor den Winchesters den Bunker besetzt haben. Und das war vor ungefähr 50 Jahren.
 

Es liegt keine Kleidung herum, natürlich nicht, nur eine Menge Bücher haben sich in ordentlichen Stapeln auf dem Schreibtisch angesammelt. Bücher, von denen Sam sich sicher ist, dass sie pflichtschuldig in der Sekunde wieder an ihren Plätzen in den Bibliotheksregalen stehen werden, sobald Cas sie ausgelesen hat.
 

Er fühlt sich unwohl, kommt sich wie ein Störenfried in der peniblen Ordnung des Engels vor. Als würde er eine Art von Unreinheit mit herein tragen. Vermutlich tut er das auch.
 

Es ist komisch, aber Dad zu sein, passt irgendwie zu ihm, denkt Sam bei sich und betrachtet Cas, der mit einem der Wälzer an seinem Schreibtisch sitzt. Tatsächlich ist der Engel im vollen Besitz seiner himmlischen Kräfte und doch umgibt ihn dieses nahezu irdische Leuchten. Außerdem haben seine sonst so markanten Züge seit einiger Zeit eine gewisse Sanftheit bekommen. Und merkwürdigerweise ein paar mehr Fältchen um die strahlend blauen Augen herum, auf diese äußerst schmeichelhafte, charismatische Art. Bloß seitdem Dean in Gegenwart des Engels von allen guten Geistern verlassen scheint, hat Cas‘ Dad-Funke einen ziemlich bedrückten Dämpfer erhalten. Irgendwann, wenn er selbst wieder klarer denken kann, wird er Dean dafür ein bisschen erwürgen, nimmt Sam sich vor. Er räuspert sich.
 

„Was kann ich für dich tun, Sam?“, fragt Cas. Ein warmes Lächeln liegt auf seinen breiten Lippen und es gilt in vollem und ungerechtfertigtem Maße Sam.
 

„Ich weiß nicht, zu wem ich sonst gehen soll“, gesteht Sam etwas unentschlossen und faltet die Hände vor dem Körper.
 

Sofort schleicht sich Anteilnahme in Castiels Gesichtsausdruck und er schließt das Buch, in dem er gelesen hat.
 

„Natürlich, ich höre dir gern zu!“, ermuntert er und heißt Sam, auf dem ordentlich gemachten Bett Platz zu nehmen.
 

Sam würde am liebsten ablehnen, aber als er zögert, bemerkt er die Irritation in Cas‘ Zügen. Ein Winchester, der Castiel aus dem Konzept bringt – nicht wirklich etwas Neues.

Kleinlaut, fast beschämt lässt Sam sich also doch auf das glatte Laken sinken und fühlt sich jetzt wie ein Schuljunge, der auf einen Tadel wartet. Cas‘ Blick ist gleichbleibend fürsorglich und aufmunternd und er legt das geschlossene Buch nun sogar zur Seite, wie um Sam seine volle Aufmerksamkeit zu signalisieren. Das macht die Sache nicht gerade leichter, aber er weiß die Geste zu schätzen.
 

„Hast du kürzlich was Neues von Lucifer gehört?“, fragt Sam schließlich, in Ermangelung eines geschickteren Einsiegs für das ungemütliche Thema.
 

Cas legt nachdenklich die Stirn in Falten.
 

„Du meinst, ob er eine neue Hülle gefunden hat?“, fragt er langsam.

„Nein, Sam. Ich verfolge die Nachrichten nicht häufiger als du und du weißt, wie es mit dem Engelsradio steht.“
 

Sam nickt. Seitdem die wenigen noch lebenden Engel Castiel fast einstimmig zurück in die Große Leere schicken wollen, hält er es mit der Kommunikation zu seinen Brüdern und Schwestern mehr als knapp.
 

„Weshalb fragst du?“
 

Sam versucht, seine Anspannung beim nächsten Luftholen wegzuatmen und schüttelt den Kopf.
 

„Also… Ich meinte nicht, ob du etwas in den Nachrichten gehört hast. Und ich meine nicht von anderen Engeln. Eher allgemein. Grundsätzlich?“
 

„Es tut mir leid, ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen …?“
 

Der Versuch mit der Atemtechnik war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, aber er reißt sich zusammen. Im Gegensatz zu Dean ist Sam kein Fan von Herumdrucksen und Versteckspielen. Natürlich ist ihm die Lage unangenehm, aber schlimmer, als eine weitere Halluzination – oder Erscheinung – kann es kaum werden. Außerdem vertraut er Cas wie sonst kaum jemandem auf der Welt. Er ist schließlich sein bester Freund.
 

„Hattest du in der letzten Zeit das Gefühl, dass Lucifer in der Nähe ist? Oder irgendeine andere übernatürliche Macht? Vielleicht sogar im Bunker?“, fragt er frei heraus und gibt sich Mühe, Cas fest anzusehen.

Nur die Handflächen hat er aneinander gepresst und zwischen den Knien verborgen. Immer noch wie der beschämte Schuljunge, der sich für seine Fehler vor einer Autoritätsperson fürchtet.
 

Doch was genau ist Sams Fehler?
 

Cas ist zwar ein Engel, aber er würde mich nie verurteilen!, ruft er sich nervös in Erinnerung.
 

Er weiß, wie es ist … Er hat selbst schon mal Lucifer in seinem Kopf gehabt …
 

Cas mustert ihn einen Moment lang scharf und es fühlt sich beinahe an, wie geröntgt zu werden.

Das Trugbild des menschlichen Vaters im Trenchcoat verblasst dabei irgendwie für einen winzigen Augenblick und Sam ist sich ziemlich sicher, dass es nicht nur ein normaler, weltlicher Blick war, der ihn da getroffen hat. Was gut ist. Wäre da etwas Besorgniserregendes in ihm, würde Cas es garantiert entdeckt haben.
 

„Nein. Nein, mir ist nichts aufgefallen“, antwortet er schließlich und, nach einer weiteren Pause: „Was ist mit dir, Sam?“
 

Es wäre natürlich am einfachsten, mit der Wahrheit herauszurücken. Aber die Erleichterung, dass Cas nichts bemerkt hat, ist verführerisch. Das macht Lucifer weniger einflussreich – und Sam auch leider weniger zurechnungsfähig.
 

Oh, Mist.
 

Das muss bedeuten, dass Sam wirklich dabei ist, den Verstand zu verlieren. Nichts, womit er unbedingt hausieren gehen will – vor niemandem. Also die Wahrheit, schön und gut, aber in einer etwas gemilderten Form.
 

„Ich weiß, das klingt jetzt vermutlich total blöd, aber ich hatte das Gefühl, ich hätte … ich hätte Lucifer im Bunker gesehen“, sagt Sam und senkt dabei den Blick auf seine Knie, zwischen denen er immer noch die Handflächen aneinander gepresst hält. Sie sind ganz schwitzig geworden, wie er unbehaglich feststellt.
 

Cas neigt überrascht den Kopf; Sam sieht die vertraute Bewegung aus den Augenwinkeln.
 

„Das kann unmöglich sein“, sagt der Engel und klingt nun wirklich wachsam.

„Gabriel wäre sicher etwas aufgefallen. Oder mir.“

Er fügt sich hinten an, als wäre er ein zu vernachlässigender Faktor, an den er beinahe selbst nicht mehr gedacht hätte.
 

„Das weiß ich“, beeilt sich Sam zu sagen und hebt den Blick wieder. „Und ich bin froh, dass wir dich haben! Es kann auch gut sein, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Vermutlich hab ich das sogar, ganz bestimmt! Aber nach allem, was war … Ich halte es nicht für klug, so etwas für mich zu behalten.“
 

„Damit hast du auch vollkommen recht, Sam.“

Cas lächelt jetzt und schaut ihn beinahe so an, wie er Jack ansieht, wenn der sich über einen Schokoriegel freut.
 

Die Dad-Aura. Da ist sie wieder.
 

Und es fühlt sich eigenartig tröstlich an, ihn wieder so zu sehen.
 

„Möchtest du, dass ich mit Gabriel darüber rede? Wir alle hier haben unsere … Erfahrungen mit Lucifer, aber ich denke, es könnte nicht schaden, wenn er eingeweiht ist.“
 

„Nein. Danke, Cas! Aber das mache ich vielleicht lieber selbst. Wenn … falls es noch einmal passiert. Wovon ich nicht ausgehe!“
 

„Das ist gut.“

Cas lächelt immer noch und nickt.
 

„Du bist vermutlich nur überarbeitet, Sam. Ich weiß, dass du zurzeit kaum schläfst … Du solltest nicht zu hart zu dir selbst sein.“
 

„Gleichfalls, Cas“, kontert Sam mit leisem Lachen. Es tut gut, dass Cas ihn ernst nimmt, aber keine akute Gefahr auszumachen scheint. Das heißt nicht, dass er damit aufhört, sich den Kopf zu zerbrechen oder dass die Halluzinationen weniger beängstigend sind, aber er fühlt den Druck hinter seinen Schläfen endlich weichen.
 

„Du weißt, dass ich nicht schlafe, Sam.“
 

Cas sieht ihm mit einem von diesen Blicken an, für die er von Dean nahezu immer ein belustigtes Augenrollen und einen freundschaftlichen Stupser in die Seite bekommt.

Aber Dean ist ein Idiot und Sam findet, dass Cas im Moment eigentlich eher anderes bräuchte. Ein bisschen definitiv nicht brüderliche Liebe, zum Beispiel.
 

„Es ist jedenfalls gut, dass du zu mir gekommen bist“, unterbricht der Engel Sams Gedanken. „Du solltest mit solchen Sorgen nicht allein sein müssen. Hast du schon mit – “
 

Cas hört mitten im Satz auf zu reden. Er wirkt bedrückt.
 

… Dean, wie kannst du nur so verdammt blöd sein!
 

Sam seufzt und schüttelt den Kopf.
 

„Kein Grund, ihn unnötig aufzuregen. Er ist im Moment schon genug durch den Wind. … Was auch immer da zwischen euch passiert ist.“
 

Sam hat den Engel noch nie rot werden sehen, aber es hat eine merkwürdig aufmunternde Wirkung. Es ist irgendwie niedlich. Und bedauerlich, dass ausgerechnet Deans Dickkopf daran Schuld sein soll, dass Cas Kummer hat.
 

„Willst du drüber reden?“, bietet Sam mitfühlend an, als er sieht, dass Cas nach seinen letzten Worten wie auf heißen Kohlen sitzt.

„Ich schwöre, ich werde es für mich behalten! Und – ich urteile nicht.“
 

Cas scheint einen Moment lang mit sich zu kämpfen. Es sieht ihm nicht ähnlich, mit anderen über Sorgen zu sprechen, die nichts mit der nächsten Apokalypse oder dem Kampf um Leben und Tod zu tun haben. Dass er es jetzt doch zumindest in Erwägung zieht, sagt eine ganze Menge.

Außerdem wirkt er, zu Sams Überraschung, plötzlich weder beschämt, noch traurig.
 

Cas ist frustriert.
 

„Dein Bruder ist manchmal so … infantil und undurchsichtig und er … Sam, dein Bruder ist nicht logisch, er benimmt sich vollkommen irrational!“
 

„Das fällt dir erst jetzt auf?“
 

„Nein“, sagt Cas matt.

„Es ist mir von Anfang an aufgefallen. Nur hat es früher nicht so wehgetan.“
 

Sie tauschen ein stummes, bedrücktes Lächeln und Sam denkt bei sich, dass es eine gute Entscheidung war, mit Cas zu reden. Würden sie alle im Bunker offener miteinander sprechen, würde es zumindest einem von ihnen beiden deutlich besser ergehen.

 

*
 


 

Das Abendessen fällt irgendwo unter die weitläufige Definition von ‚Tex-Mex‘ und ist eines von Deans fantasievolleren Experimenten.

Sam weiß zu schätzen, dass Dean diesmal nicht mit Unmengen an Zwiebeln die Abwesenheit von Gemüse symbolisch zu rechtfertigen versucht; die orangefarbene Explosion in der gusseisernen Pfanne beinhaltet tatsächlich auch Mais, Paprika und sogar Bohnen.
 

Sie essen an diesem Abend nicht gemeinsam. Mom hat den Fall einer ruhelosen Seele zwei Ortschaften weiter gewittert und ist mit Cas als Unterstützung zur Jagd aufgebrochen. Rowena hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert, Crowley ist ausgeflogen und Gabriel – nun, der braucht natürlich kein Essen. Zumindest lehnt er es meistens ab, wenn es nicht zu mindestens 80 Prozent aus Zucker besteht.
 

Jack, dessen Biorhythmus so unmenschlich ist, wie die Summe aller derzeitigen Bewohner des Bunkers, ist am frühen Abend vor dem Fernseher in Deans Männer-Hohle eingeschlafen. Da Sam es nicht über sich gebracht hat, den Nephilim zu wecken, sitzt er allein in der Küche vor seinem Teller.
 

Ein wenig lustlos rührt er in seiner Portion herum; das Essen riecht extrem scharf und eigentlich hat Sam keine Lust auf eine unschöne Nacht im Badezimmer. Es ist ziemlich unfair, dass Dean einen Magen aus Stahl zu haben scheint, während er selbst so empfindlich auf alles mögliche reagiert, aber wenigsten haben ihn dafür die O-Bein-Gene übergangen. Sam weiß zwar nicht, ob das ein fairer Ausgleich ist, aber tauschen möchte er auch nicht mit ihm. Er hat übrigens keine Ahnung, wo sein Bruder abgeblieben ist, aber nach dessen Gesellschaft ist ihm gerade auch nicht zumute. Das Gespräch mit Cas hat ihn wütend auf Dean gemacht.
 

Der erste Bissen treibt Sam fast die Tränen in die Augen, so sehr hat es jemand mit Chili und Pfeffer übertrieben, doch darüber hinaus schmeckt es ganz gut. Sam holt sich ein Glas Milch dazu, um das Brennen in Schach zu halten und lenkt sich ab, in dem er einen Blick in die Tageszeitung riskiert, die auf dem Küchentisch herumliegt. Abgesehen von dem Fall, der für Moms und Cas‘ Abwesenheit verantwortlich ist, und wirklich sehr nach Geist klingt, gibt es nichts, was auf übernatürliche Aktivitäten hinweist.
 

Oder auf Lucifer.
 

Als sich sein einsames Mal dem Ende neigt und er vor lauter Schniefen kaum noch weiter essen kann, nimmt er am Rande seines Blickfelds plötzlich eine Bewegung wahr. Mit dem Löffel auf dem halben Weg zum Mund, wandert sein Blick von der Zeitung, die er hinter dem Teller ausgebreitet hat, zu seinem Essen, das er zwischen seinen Ellbogen auf der Tischkante balanciert.
 

Ein paar Löffel Reis schwimmen noch in der höllisch scharfen Soße, ansonsten hat er das meiste aufgegessen. Sam blinzelt mit trockenem Hals – die Würze hat ihm die Kehle inzwischen völlig ausgetrocknet – und sein Essen blinzelt zurück.
 

Sam lässt augenblicklich den Löffel fallen, der mit einem lauten Klirren vom Rand des Porzellans abprallt, erst auf den Tisch fällt und endlich geräuschvoll auf dem Küchenboden landet.

Wie elektrisiert springt Sam auf und weicht vom Tisch zurück.
 

Ganz ruhig. Nur Einbildung!
 

Eigentlich absurd, denn der Augapfel, den er in seinem Essen gesehen zu haben glaubt, war lidlos und hätte eigentlich gar nicht blinzeln können – und trotzdem hat Sam den Eindruck, dass er ihm zugezwinkert hat.
 

Was stimmt nicht mit meinem Hirn?
 

Sein Essen sieht völlig normal aus, höchstens ein bisschen matschig ist es durch sein Stochern geworden. Zum Glück ist er allein, er muss sich vor niemandem rechtfertigen. Keiner hat mitbekommen, wie sehr er inzwischen am Rad dreht.
 

Er seufzt, reibt sich die von der Schärfe kribbelnde Nasenspitze und nachdem er sich eine Minute zum Durchatmen gegönnt hat, nähert er sich dem Tisch wieder und bückt sich vorsichtig nach dem Löffel darunter. Blitzschnell, weil er den Teller nicht zu lange aus den Augen lassen will.

Einbildung, ja. Aber man kann auch nie wissen. Schließlich ist es die erste der verstörenden Halluzinationen, die er nicht in Gesellschaft hat. So bequem es das für ihn auch in puncto Scherereien mit seinen Mitbewohnern macht – es ist auch gewaltig beängstigend.
 

Vielleicht habe ich mir das auch gerade nur eingebildet, weil ich schon so sehr damit rechne, Dinge zu sehen …?
 

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen als Ursache für diesen Aussetzer sind schon beinahe wieder beruhigend, aber als er die Froschperspektive mit dem schmutzigen Löffel wieder verlässt, sind es keine Augäpfel, die ihn auf dem Teller erwarten. Leider auch nicht die Überreste seines Abendessens.
 

Oh , Scheiße!
 

Der tiefe Teller ist bis zum Rand gefüllt mit dunklem, fast schwarzem Blut. Aus jahrelanger, bitterer Erfahrung weiß er, dass Blut meistens nur aus der Herzgegend so aussieht. Ihm wird schlecht und es gleicht einem Wunder, dass er sich nicht an Ort und Stelle übergibt.

In der zitternden, dunklen Oberfläche spiegelt sich sein kreidebleiches Gesicht. Sam ist vor Entsetzen wie erstarrt.
 

Das ist nicht real. Nein.
 

Etwas zuckt und bebt am Grund des Tellers und wenn Sam richtig atmen könnte, anstatt nur panisch nach Luft zu schnappen, würde er vielleicht schreien.
 

Einbildung, Einbildung, Einbildung!
 

Das zuckende Etwas hat knapp Fingerlänge und treibt in seltsam vertrauten, lappenden Bewegungen durch das rote Nass. Beinahe, als würde es winken. Oder vielmehr … lecken.
 

Neinneinneinneinnein!
 

Plötzlich erhebt sich etwas aus dem Blut. Das dunkle Nass rinnt schnell daran herab, hinterlässt kaum eine Spur. Das Etwas ist organisch, sehr beweglich, fleischfarben, mit einem abgerundeten Ende, wird nach unten hin immer breiter.

Sam erkennt sofort, dass sein Verdacht richtig war; das Etwas ist eine menschliche Zunge. Eine körperlose, gespaltene, menschliche Zunge, die ein Eigenleben zu haben scheint.
 

Die Zunge steht nun im Blut, ihre Spitze ragt über den Tellerrand wie eine fleischige Kobra, die sich drohend vor ihrer Beute erhebt. Der Anblick ist widerwärtig, obskur, lächerlich und Sams erster Impuls ist es, eine Ladung Kugeln auf den Küchentisch abzufeuern – wenn er im Bunker nur seine Waffe dabei hätte. Eine Pistole klemmt natürlich auch in der Küche für den Notfall unter der Tischplatte, aber in seinem Schock und Ekel hält Sam es für unklug, sich dem Ding weiter als nötig zu nähern. Und er kann sich immer noch nicht rühren. Die löffelfreie Hand zuckt hilflos in Richtung Tischkante.

Wer hätte gedacht, dass sein Geist zu so einem gestörten Bild fähig ist?
 

Ein Paar schmaler Lippen, mit strahlend weißen, raubtierhaften Zähnen dahinter, taucht um die Zunge herum auf und mit einem Mal wirkt es nicht mehr so, als würde der Teller Sam die Zunge herausstrecken. Es scheint vielmehr, als sei das Blut ein Durchgang zu einer andere Dimension, aus der jemand mit dem Mund voran bei Sam in der Küche auftaucht. Nur, dass niemand kommt; das dazugehörige Gesicht bleibt verborgen, selbst, als die Zunge hinter den Zähnen verschwindet und der Mund mit einem Mal zu sprechen beginnt.
 

„Ha!“, sagt der Mund.

„Ha! Ha! Ha! Ha!“
 

Es blubbert ein wenig und die dünnen Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen, wobei Blut von den viel zu weißen Zähnen dahinter abperlt.
 

„Dean, dein Essen ist sooo scharf“, ächzt die Stimme aus dem blutigen Mund. Dunkle Blasen schäumen beim Sprechen zwischen den Lippen, hinterlassen einen roten Schleier auf dem Raubtiergebiss. Auf seine Art ist dieser Schlund grausiger als der eines jeden Monsters, selbst die zahngespickten Rachen der Leviathane eingeschlossen. Weil er zu menschlich ist. Gesichtslos dabei. Weil er Sam verspottet und seine Gedanken nachäfft.
 

„Dean ist dumm! Ha! Du bist so klug, Sammy! Du weißt, dass ich nicht echt bin!“
 

Und plötzlich schießt das Leben zurück in Sams Gliedmaßen; er kann sich wieder bewegen. Entgegen all seiner Jägerinstinkte, auf die normalerweise sogar im Schlaf Verlass ist, ist der erste Impuls ein schlichtes:
 

Lauf, raus hier, LAUF!
 

Doch er kommt nicht weit. Nicht einmal bis zur Küchentür kann er rückwärts stolpern, denn er prallt plötzlich gegen etwas, was vorher nicht da war. Es ist beinahe so groß wie er, fest, weich und … lebendig. Dafür ist der Teller auf dem Tisch mit einem Mal verschwunden; Scherben liegen überall auf dem Fußboden verteilt, zwischen Reiskörnern und Spritzern von orangefarbener Soße.
 

Er kann sich nicht daran erinnern, wie der Teller zerbrochen ist. Auch den Löffel hat er irgendwie längst nicht mehr in der Hand.

Er schafft es nicht, sich zu der Gestalt herumzudrehen, die ihn festhält.
 

„Ich dachte, wir probieren mal was Neues aus! Müssen ja nicht immer Maden und Innereien im Essen sein, oder, Sammyboy?“, fragt eine sanfte Stimme ganz nah an seinem Ohr.
 

Es ist dieselbe Stimme, die Sam in Gabriels Zimmer und am Weltkartentisch gehört hat. Es ist dieselbe Stimme, die vorhin aus dem Mund auf seinem Teller kam. Die Stimme ist überall. Alles dreht sich und plötzlich hat er das Gefühl, dass er die Stimme nicht nur hören kann.

Er kann sie sehen, wie einen blutigen Schleier, der mit einem Mal über der ganzen Küche zu liegen scheint. Er kann sie schmecken. Sie klebt in seinem Hals, wie die Schärfe der Soße, und wird zu seiner eigenen. Das Krächzen, das endlich aus seiner, Sams, Kehle kommt, klingt wie Lucifer.
 

„Oder wie wär‘s beim nächsten Mal mit Deans Gesicht?“
 

Das war‘s, denkt Sam.
 

Es ist vorbei. Er ist hier. Lucifer ist hier.
 

Er kann spüren, dass er geschüttelt wird. Fingernägel bohren sich hart und unnachgiebig in seinen Bizeps, aber er kann nichts dagegen tun.
 

„Oldschool, ein bisschen kitschig, vielleicht … Aber hätte auch Klasse!“
 

Die Stimme hallt hundertfach in seinem Kopf wider, obwohl er spüren kann, dass es sein eigener Mund ist, aus dem die Laute stammen.
 

„Lauf, Sammy, lauf!, singt es lachend aus ihm heraus und es ist das letzte, was er hört, bevor ihm schwarz vor Augen wird und er wie leblos gegen den fremden Körper hinter sich sackt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Angel_of_Thursday
2019-01-13T19:37:48+00:00 13.01.2019 20:37
Holy shit! Hammer gut geschrieben. Awesome! Wie Dean so schön sagen würde. :D
Antwort von:  Platypusaurus
13.01.2019 23:17
Vielen herzlichen Dank, es freut mich sehr, wenn es gut ankommt! Geht auch bald schon weiter; bin bereits fleißig am nächsten Kapitel. :)


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