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SANTA kills (Adventskalendergeschichte)

von

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FSB

»Nein«, flüsterte ich ihm entgegen.
 

»Mr. Lewis«, sagte er ebenfalls völlig aus der Bahn geworfen.
 

»Nein«, wiederholte ich stärker und griff nach meiner Waffe. Sofort richtete ich sie auf ihn und kam auf ihn zu. Er ließ sich von mir zurück in die Wohnung leiten, ging einige Schritte zurück und hob beide Hände in die Höhe.
 

»Mr. Lewis, bitte, geben Sie mir einen Moment –«
 

»Sie!«, drohte ich ihm und betrat die Wohnung. Aggressiv schlug ich die Tür hinter mir zu. »Sie!«
 

»Was ist hier los?«, hörte ich eine andere Männerstimme.
 

»Alles in Ordnung«, rief Wolkow in ein hinteres Zimmer ohne die Augen von mir zu nehmen. »Nur ein Nachbar.«
 

Irgendetwas wurde gesagt, doch ich verstand es wieder nicht. Es war Russisch.
 

»Sie…«, wiederholte ich erneut, doch meine Stimme brach langsam weg. Da waren so viele Dinge, sie ich sagen wollte, aber keines davon kam raus. Der Lauf zitterte gegen seine Brust. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt abdrücken könnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Alles schien auf einmal stehen zu bleiben. Meine Glieder, meine Nerven, mein Blut, meine Gedanken.
 

»Kyle… «, hauchte er zum ersten Mal meinen Vornamen und nahm langsam die Hände runter. Der manische Blick, den er sonst immer drauf hatte, war nicht ansatzweise zu erkennen. Es waren die liebevollen und fürsorglichen Augen, die er immer als Santa hatte. Nur, dass sie jetzt blau anstatt braun waren. »Komm«, sagte er leise und deutete an, dass ich ihm in ein Zimmer folgen sollte.
 

Ohne die Waffe runterzunehmen tat ich, was er von mir verlangte. Wir gingen in ein Schlafzimmer, wo ein großes Bett in der Mitte stand. Ansonsten war der Raum kahl. Niemand wohnte hier wirklich. Die Bude war nur da, um eine Adresse zu haben. Das war mir jetzt bewusst.
 

»Bitte, setz dich«, sagte Wolkow und deutete auf das Bett. Unterdessen ging er an mir vorbei und schloss die Tür. Meine Waffe war noch immer auf ihn gerichtet.
 

»Nein danke«, zischte ich, auch wenn es weitaus verzweifelter aus mir herauskam, als gedacht. Erneut kämpfte ich mit der Feuchte in meinen Augen. Das durfte einfach alles nicht wahr sein. Wie konnte ich nur so blind sein?!
 

»Kyle, es war nie meine Absicht«, begann er, doch er wusste ganz genau, dass dieser Satz kein gutes Ende nehmen würde, also stoppte er sich selber.
 

»Die Wahrheit«, sagte ich mit zittriger Stimme und blinzelte mehrmals in seine Richtung. Da kam sie dann – die erste Träne.
 

Santa – nein, Wolkow. Alexej? Stand völlig überfordert neben dem Bett und zuckte immer wieder mit den Händen, als wolle er etwas tun, um die Situation aufzulockern.
 

Es war als würde ich mit Santa sprechen und nicht mit Alexej. Aber ich sah nicht den liebevollen Weihnachtsmann vor mir, der mich schon mehrmals geküsst und genommen hatte, sondern den Mann, der mich fast umbringen wollte.
 

»Die Wahrheit!«, rief ich kurz vor dem Zusammenbruch. »Jurijus Bluvšteinas? Toller Name, Alexej Wolkow. Und die Verkleidung? Wirklich erste Sahne. Niemand hätte je gedacht, dass der kinderliebe Weihnachtsmann eigentlich ein eiskalter Killer ist. Und hast du dir tatsächlich braune Kontaktlinsen reingetan? Nur für diese Verkleidung? Wirklich?«
 

Er blinzelte zu mir, als wolle er mir sagen, dass es nun mal nötig war, um mich zu täuschen.
 

»Die Wahrheit«, wiederholte ich zum letzten Mal. Meine Stimme zitterte und klang so verletzt wie ich mich fühlte. »Du hast zehn Minuten bis ich abdrücke.« Damit gestikulierte ich mit meiner Waffe in seine Richtung.
 

Alexej verharrte in seiner Position und zog die Augenbrauen zusammen. »Sag mir erst, was du weißt. Dann erzähle ich dir alles, was du nicht weißt.«, sagte er in einer ruhigen Stimme und schien sich nicht an meiner Waffe oder Drohung zu stören.
 

Wir schwiegen uns beide für einen Moment an, bis mich die Kraft in den Armen verließ und ich die Waffe ein kleines Stück senkte. Trotzdem blieb sie abschussbereit in meiner Hand.
 

War es klug ihm von meinem Auftrag zu erzählen? Aber wieso nicht? Ich hatte ihn an der Leine. Wenn ich ihn erschießen wollen würde, könnte ich es tun. Sofort und ohne Vorwarnung. Sollte er also irgendetwas machen, was ich nicht guthieß, würde ich abdrücken. So wie angekündigt. Jedenfalls redete ich mir ein, dass ich das tun würde.
 

Ich holte tief Luft und sortierte meine Gedanken. »Irina Iwanowna hat sich bei der Polizei gemeldet, weil sie Angst hatte, verfolgt zu werden. Man vermutete, dass russische Aktivitäten dahinter steckten, also hat man den Geheimdienst auf den Fall angesetzt. Schließlich wurde vermutet, dass Mrs. Iwanowna eure Geisel ist, als man herausfand, dass… du«, ich stockte für einen kurzen Moment, als ich verinnerlichte, wen ich eigentlich mit du meinte, »darin verwickelt warst.«
 

Alexejs Mundwinkel zuckten leicht. Ob aus Belustigung oder Beunruhigung wusste ich nicht. Er schwieg weiterhin und ließ mich ausreden. Unsere Blicke trennten sich nicht für auch nur eine Sekunde.
 

»Ich habe persönlich herausgefunden, dass Mrs. Iwanowna in einer Kugelschreiberfabrik mit Geheimcodes in Verbindung kam.«
 

Die blauen Augen weiteten sich auf einmal.
 

»Welche Codes es waren und wem sie gehörten weiß ich nicht. Aber ich vermutete, dass es mit der britischen Regierung zu tun hat, sonst hätte man nicht den MI6 drauf angesetzt.«
 

Alexej schwieg noch für eine ganze Weile. Als es mir zu bunt wurde, schnaubte ich laut aus.
 

»Also? Deinen Teil der Geschichte bitte. Ich bin nämlich sehr gespannt, was du zu erzählen hast. Auch wenn ich mir nicht sicher bin…«, und da brach meine Stimme noch einmal weg, »… ob du mir überhaupt die Wahrheit sagst, wenn alles, was wir bisher besprochen hatten, eine einzige Lüge war.«
 

»Es war nicht alles eine Lüge«, fand Alexej endlich seine Stimme wieder. »Ich musste dich im Unwissen halten, Kyle. Wir befinden uns noch immer auf gefährlichem Boden.«
 

»Dann erzähl mir jetzt die Wahrheit. Das ist deine Chance. Erzähl mir alles und … wir werden vielleicht eine Lösung finden«, sagte ich aufgebracht und blinzelte immer wieder einzelne Tränen aus meinen Augen. Wäre ich nicht so verdammt wütend und traurig zugleich gewesen, hätte ich mich für mein Geheule in Grund und Boden geschämt. Aber wenn sich die schlimmste Befürchtung bewahrheitet hatte – was blieb dann noch?
 

»Irina ist meine Cousine. Deswegen bin ich hier«, begann er und deutete auf die geschlossene Tür. »Sie ist nicht unsere Geisel. Wir beschützen sie.«
 

»Wieso sollte sie dann zum MI6 kommen und sagen, sie würde von russischen Gangstern verfolgt werden?«
 

Alexej schmunzelte vorsichtig. »Ich bin mir sicher, dass sie das niemals gesagt hat. Sie wird verfolgt, ja. Aber nicht von russischen Gangstern.«
 

»Ach nein?«, lachte ich sarkastisch auf, »Und wer seid dann ihr?«
 

»Vom russischen Geheimdienst.«
 

Ich lachte noch einmal laut auf und brach zum ersten Mal seit Minuten den Augenkontakt, um belustigt in die Ferne zu sehen. Schnell wischte ich mir über mein Gesicht, um die Feuchte zu beseitigen. »Guter Witz! Sehr gut.«
 

Alexej lachte nicht. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Da kam langsam wieder die Kälte in seine Augen zurück. Er ignorierte meinen sarkastischen Ausbruch und fuhr fort.
 

»In dieser Fabrik werden seit Jahren geheime Botschaften zwischen britischen Politikern hin und her geschoben. Es geht dabei um Korruptionen, Geldwäsche und Waffenhandel. Die Regierung weiß mit Sicherheit nichts davon – oder zumindest gingen wir davon aus. Irina hat davon Wind bekommen und hat die Codes gelesen. Sie fing an sie an uns weiterzugeben. Ihr Vater arbeitet ebenfalls beim FSB. Wir nutzten diese Informationen zu unserem Vorteil. Und bevor du uns verurteilst: So ist das nun mal, wenn zwei Länder sich nicht besonders gut riechen können.«
 

Die Nüchternheit, mit der Alexej alles erzählte, ließ mich verstummen. Die Geschichte klang noch immer absolut lächerlich, doch ich wagte es nicht, ihn zu unterbrechen. Der etwas manische Blick kam in seine Augen zurück. Vermutlich war das der Blick eines russischen Agenten, der nur sein Ziel vor Augen hatte.
 

»Die Kugelschreiber wurden in ganz spezielle Hände gegeben, damit die Informationen unter den Leuten blieben, die sie produzierten und konsumierten. Irgendjemand hat Irina dann verpetzt. Dass sie eigentlich die Arbeit der Menschen machte, denen man zutraute, dass sie sich an nichts Besonderes erinnern würden.«
 

Die behinderten Menschen, fiel mir sofort ein. Deswegen war der Fabrikleiter auch so unsicher, als er uns rumführte. Er wusste sicher Bescheid, dass es hier um Codes von Politikern ging.
 

»Nachdem Irina verpfiffen worden ist, kam vermutlich zeitgleich der Fall bei euch rein. Man versuchte natürlich mit allen Mittel solche dunklen Informationen geheim zu halten. Und im Geheimhalten seid ihr ja ganz gut.«
 

Mehr als ein dramatischer Augenaufschlag fiel mir nicht ein. Solche Worte kamen von dem Mann, der mir mehrere Wochen vorgaukelte ein ganz normaler Mann mittleren Alters in einem Weihnachtskostüm zu sein.
 

»Deine Informationen zum Fall sind vertauscht worden. Ich kann dir versichern, dass Irina niemals als Geisel gehalten worden ist. Ganz im Gegenteil: Ich und andere Kollegen sind extra hierher gekommen, um sie zu beschützen. Sie hat viele Jahre diese Codes an uns weitergegeben. Sie war von großem Wert. Und sie ist meine Cousine. Bei Familie hört der Spaß auf.«
 

Er machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen. Für einen Moment dachte ich, er würde auf mich zukommen, doch er blieb stehen, wo er auch die ganze Zeit stand. Wie eine Statue erzählte er regungslos weiter.
 

»Du solltest sie für die britische Regierung kriegen und in Gewahrsam nehmen. Vermutlich hättet ihr sie auseinander genommen und gefoltert, um mehr aus ihr herauszubekommen. In welchen Verhältnissen sie zur russischen Regierung stand und in welche Beziehungen sie reingerutscht war. Lee Green war ein toller Mann. Er kannte sie seit vielen Jahren und war ihr treu. Er half uns in der Stunde der Not. Es ist eine Schande, dass ihr in umgebracht habt. Ein weiterer guter Mann musste für so eine lächerliche Aktion sein Leben lassen. Ich will seit Tagen verschwinden, doch wir können nicht einfach so euer Land verlassen. Die Grenzen sind für uns gesperrt worden. Wir brauchen Aliase.«
 

»Noch mehr… Lügen?«, hakte ich scheinheilig nach, auch wenn ich genau wusste, dass es nicht unbedingt eine Lüge war, wenn es zum Schutz der eigenen Person diente. Es war wie ein eigenes Zeugenschutzprogramm.
 

»Kyle. Die Regierung will meine Cousine hängen sehen. Wir werden sie aus dem Land schaffen und dann untertauchen. Deine Befehle waren fehlleitend. Alles, was man dir gesagt hat, war eine Lüge.«
 

»Du warst eine Lüge«, quetschte ich bitter aus meinen Zähnen. Auch wenn ich wusste, dass ich gerade unter die Gürtellinie ging, wollte ich ihn wissen lassen, dass ich verletzt war.
 

»Ja, ich war eine Lüge. Aber zu deinem Schutz«, sagte er und kam auf einmal einen Schritt auf mich zu. Sofort hob ich die Waffe an und hielt sie ihm ins Gesicht. Er blieb stehen, sah mir aber noch in die Augen. »Ich sollte dich beobachten, nachdem du an dem Abend vor Irinas Tür standst. Also verkleidete ich mich und beobachtete dich. Es war nie meine Absicht, dass wir überhaupt miteinander in Berührung kommen würde. Ich wollte nur beobachten.«
 

»Meine Kollegin hat also alles in die falschen Wege geleitet?« Ich konnte den bitteren Unterton einfach nicht abstellen. Erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen.
 

»Im Grunde… ja. Es war nicht geplant gewesen, dass wir in Kontakt treten würden.«
 

Ich seufzte und ließ erneut die Waffe sinken. »Und doch sind wir es. Und du hast es in eine sehr… eindeutige Richtung laufen lassen.« Mein Blick fiel zu Boden. Ich dachte an die vielen Küsse und den heißen Sex. Auf einmal war ich nicht mehr wütend. Ich war traurig, dass man sich so betrogen und benutzt hatte.
 

»Du warst sehr nett, Kyle. Netter, als ich dachte. Man sagte mir, du seist der Feind – derjenige, der Irina wehtun würde. Aber du warst ganz anders. Freundlich, vielleicht etwas exzentrisch, aber ich mochte das.« Da lächelte er auf einmal wie Santa es immer getan hatte. »Ich wollte nicht, dass wir uns so nah kommen würden. Aber als du an dem Abend nach der Feier… mich gebeten hattest mit ins Taxi zu steigen…«
 

Ich wusste nicht wieso, aber ich musste sein Lächeln erwidern. »Ja, du hast ziemlich lange überlegt.«
 

»Es war sicherlich die dümmste Entscheidung, die ich je getroffen hatte«, gab er mit einem breiten Grinsen zu.
 

»Mit deinem Feind zu knutschen?«
 

»Und zu schlafen.«
 

»Ja… willkommen im Club«, murmelte ich und konnte meine Mundwinkel kaum wieder nach unten ziehen. Alles wirkte auf einmal so lächerlich. Da waren so viele Probleme und wir fokussierten uns natürlich wieder auf das wohl banalste. Das Problem, was am wenigsten Schwierigkeiten machen würde. Unsere Liebelei.
 

Mein Blick wanderte in seine blauen Augen, die mich noch immer warm ansahen. Der manische Gesichtsausdruck hatte ihn wieder verlassen. Hier stand wieder Santa, nicht Alexej Wolkow. »Ich weiß überhaupt nicht, wer du bist. Bist du jetzt Alexej Wolkow? Oder bist du Santa? Eine Mischung aus beiden? Woher kommst du eigentlich? Aus Litauen? Oder aus Russland?«
 

»Ich komme aus St. Petersburg.«
 

Ich hob beide Augenbrauen. »Oh wow, eine Information, die ich über dich bekommen habe, stimmte!«
 

»Wirklich?«, grinste Alexej und kam noch ein kleines Stückchen näher an mich ran. »Was weißt du noch?«
 

»Dass du deine eigenen Eltern ermordet, die Mafia hintergangen, dort eine Menge Menschen getötet hast, in ein Ausbildungslager gekommen und schließlich ins Mafia Geschäft eingestiegen bist. Oh, und du tötest Menschen mit bloß deinen Händen.«
 

An Alexejs Blick konnte ich sehen, dass das meiste davon absoluter Humbug war. Er grinste über beide Ohren.
 

»Ich habe niemals meine Eltern umgebracht«, begann er ruhig zu erzählen, während er die Waffe in meiner Hand fixierte. »Sie wurden von der Mafia getötet. Sie schuldeten ihnen Geld. Mehr weiß ich auch nicht. Letztendlich war ich dann Waise, also nahm man mich in die Familie auf. Eine Zeit lang ging das auch gut, aber irgendwann wurde es mir zu viel. Ich gab Informationen an den russischen Geheimdienst weiter, die einen großen Teil der Mafia zerschlagen konnte. Man trachtete mir nach dem Leben, also kämpfte ich mich mehrere Jahre so durch. Ich vermute von diesen Angelegenheiten kommen die Geschichten über mich.«
 

Ich hörte ihm aufmerksam zu und fragte mich, ob das wirklich seine Vergangenheit war. Wieso sollte er mich jetzt wieder anlügen? Er sah nicht so aus, als würde er erneut mit meinem Vertrauen spielen wollen.
 

»Wieso hast du nichts gesagt?«, murmelte ich, während ich seine Augen suchte. »Wieso hast du nicht sofort gesagt, wer du warst. Ich hätte ganz anders reagiert. Allein in Mr. Greens Haus. Hättest du sofort gesagt, dass du –«
 

»Nein, Kyle«, unterbrach er mich bestimmend. »Deine Welt wäre in alle Teile gesprungen, so wie es vor ein paar Minuten passiert ist. Allerdings hätten wir in all der Hektik nicht die Zeit gehabt, die Dinge klären zu können, so wie wir es jetzt tun. Ich hätte dich zwingen müssen, mitzukommen und das wollte ich nicht.«
 

»Wie nett…«, brummte ich und presste meine Lippen aufeinander. »Du hast das Spiel also lieber weiter gespielt. Wieso?«
 

»Wieso ich dir nicht gesagt habe, dass ich ein Doppelleben führe und eigentlich für den russischen Geheimdienst arbeite?«
 

»Ja«, sagte ich ungeduldig und nickte wie ein Wackeldackel.
 

Alexej kam noch einen kleinen Schritt auf mich zu. Erst jetzt registrierte ich, wie nah er eigentlich an mir dran war. Viel zu nah, um noch die Waffe auf ihn richten zu können, sollte er mich außer Gefecht setzen wollen.
 

»Ich hätte dich töten müssen«, sagte er finster und sah mir dabei tief in die Augen. »Mein Job war es, dich zu beobachten und falls nötig, zu eliminieren. Niemand hier war begeistert, dass ich das nicht getan hatte. Sondern dir ganz im Gegenteil noch genug Anlass gegeben hatte, weiter nach mir zu suchen. Ein Fehler von meiner Seite, den mir hier niemand so wirklich verzeiht. Es hätte uns viel Stress erspart und –«
 

»Du bist ohne Verkleidung durch Londons Straßen gerannt. Wir haben dich gesehen. Nur deswegen wussten wir, wo wir euch suchen mussten. Nicht, weil ich dich verpfiffen habe. Meine Chefin hat bisher kein Wort von mir gehört, welches ich über dich verloren hätte.«
 

Seine Augen weiteten sich. »Ist das so? Ihr habt wirklich eine Menge Kameras.«
 

»Die haben wir.«
 

Das Thema fand abrupt ein Ende. Niemand sagte mehr etwas. Ich musste über die Tatsache schmunzeln, dass Alexej wirklich so dumm gewesen war und unverkleidet durch die Straßen gewandert ist. Er hatte sich so viel Mühe mit seiner Identität als Jurijus gegeben – und schlampte dann bei den wirklich wichtigen Sachen. Ich schien ihm mehr den Kopf verdreht zu haben, als gedacht. Immerhin hatte er die Mission riskiert, nur um in meiner Nähe bleiben zu können. Er hat mich gar drei Mal gehen lassen, anstatt mich direkt beim ersten Mal zu töten. Das ‚Verschwinde‘, welches er mir immer zu geworfen hatte, bekam auf einmal eine ganz andere Bedeutung.
 

»Man hat mich gefeuert«, sagte ich schließlich in den stillen Raum und packte resigniert die Waffe weg. »Ich bin nicht mehr für euch zuständig. Und jetzt, wo ich weiß, dass beide Seiten ein falsches Spiel gespielt haben, bin ich froh, dass ich meine Finger nicht mehr in euren Topf voller Dreck halten muss.«
 

Alexej sah mich verwirrt an. »Weswegen haben sie dich gefeuert?«
 

»Sie dachten, ich würde mit euch arbeiten und unter einer Decke stecken. Immerhin sind alle Leute des MI6 in deiner Nähe wie tote Fliegen auf den Boden gefallen, während ich quick lebendig an deinem Rockzipfel hing.«
 

»Ich wollte dich nicht umbringen. Das dürfte dir doch wohl klar geworden –«
 

»Natürlich«, unterbrach ich ihn erneut recht aufgebracht. »Ich habe das jetzt verstanden. Ich war dein süßer Zeitvertreib, der sich als wesentlich interessanter herausgestellt hatte, als gedacht. Aber das wissen meine Vorgesetzten nicht. Und ich werde es ihnen auch nicht sagen. Denn, wenn rauskommt, dass ich mit dir geschlafen habe, wird es ein Fiasko vom anderen Stern geben. Und ich wäre mittendrin! Niemand würde mir glauben, dass ich… so blind vor Liebe war und nicht gesehen habe, dass Santa eigentlich der böse Wolf ist.«
 

Ich stemmte meine Arme in die Hüfte und blinzelte erneut die Feuchte aus den Augen. »Ich hatte mich schon gefragt, wo der Haken in dieser sonst perfekten Beziehung sein würde und ich muss sagen… das ist ein verdammt großer Haken.«
 

Alexej sagte einfach nichts. Stand nur da und sah mich an, als hätte ihn gerade jemand mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen.
 

»Ich werde jetzt gehen«, verkündete ich und ging aus Alexejs Nähe. »Und ich werde mich nicht mehr einmischen. Denn ich finde keine Zugehörigkeit. Weder… weder zu dir noch zum MI6. Ihr seid beide falsch. Ich habe den Job verloren, also ist es vorbei. Und weil du mich belogen hast… ist es auch mit uns vorbei. Ich kann das nicht vereinbaren. Außerdem warst du ein Arsch. Wieso hast du nicht mal eine SMS geschrieben?«
 

»Ich wurde angeschossen«, knurrte Alexej auf einmal los und deutete auf seinen Torso. »Ich wäre fast gestorben. Ich kann kaum aufrecht gehen. Die Schmerzen sind fast unerträglich.«
 

Ich presste die Lippen aufeinander. Ja, natürlich. Das erklärte auch, wieso er nicht mehr als Weihnachtsmann zur Arbeit kam. Doch so schnell wollte ich nicht aufgeben. »Man kann auch im Liegen kurz auf sein Handy schauen und antworten.«
 

»Kyle, wir haben gerade andere Probleme. Die britische Regierung ist uns auf den Fersen und die werden nicht zögern zu schießen. Sie werden uns umbringen. Und ich will meine Cousine sicher aus diesem Land schaffen.«
 

Ich zuckte mit den Schultern, als hätte die Diskussion um eine dämliche Rück-SMS gar nicht stattgefunden. »Dann gehst du ja sowieso. Hat sich also mit uns erledigt. Ist dann vielleicht besser, wenn du auch in Zukunft nicht auf meine SMS antwortest. Es werden auch keine weiteren mehr kommen.«
 

Ich schniefte ein letztes Mal und strich über meine Augen. Alexej hob seinen Arm und wollte mich an der Hand berühren, hielt jedoch wenige Zentimeter vorher in seiner Bewegung an.
 

»Komm mit mir«, sagte er auf einmal so sanft, dass ich mich langsam fragte, wie viele Persönlichkeiten in ihm lebten und ob er sie alle so schnell wechseln konnte, wie er es gerade tat.
 

»Mit dir mitkommen? Wohin? Nach Russland? Ins Exil?«, posaunte ich raus und zog die Augenbrauen zusammen. »Du machst Witze.«
 

»Nein«, hauchte er und sah mich an, als könnte er meine Reaktion nicht ganz verstehen. »Ich meine das ernst. Komm mit mir.«
 

Ich öffnete und schloss meinen Mund mehrere Male, bis ich einen Ton von mir gab, der ein Lachen, Weinen oder einfach ein erschrockenes Glucksen hätte sein können.
 

Es klopfte an der Tür. »Mit wem redest du da, Alexej?«, fragte die Männerstimme von vorhin. »Der Nachbar?«
 

Ohne zu antworten öffnete er die Tür. Der Mann erstarrte binnen Sekunden, als er mich im Raum stehen sah. Er sagte irgendetwas in Russisch und wedelte mit den Händen in der Luft.
 

»Er weiß Bescheid«, sagte Alexej ruhig. »Er arbeitet nicht mehr beim MI6.«
 

Der Mann redete sich weiter in Rage, während Alexej ruhig blieb. Und erst jetzt realisierte ich, dass er mir alles im Vertrauen erzählt hatte, obwohl er noch gar nicht wusste, dass ich gekündigt wurde. War es das Vertrauen, was er zurückgewinnen wollte? Oder ein Trick, der mich ins Boot holen sollte, um mich bei passender Gelegenheit erneut zu benutzen?
 

»Das weiß ich nicht«, sagte Alexej auf einmal und sah zu mir. »Ich denke im Moment nicht.«
 

Ich warf ihm einen fragenden Blick zu.
 

»Du willst nicht bei uns bleiben. Aber du wirst uns auch nicht verraten, oder? Uns gehen nämlich langsam die Orte aus, an denen wir uns verstecken können.«
 

»Wenn du versprichst, keine Menschen mehr zu töten… denke ich darüber nach, niemandem etwas zu sagen«, legte ich den Deal offen, der mir in letzter Sekunde eingefallen war.
 

»Das kann ich nicht versprechen, Kyle«, murmelte Alexej und sah mir so ehrlich wie er konnte in die Augen. »Wenn wir angegriffen werden oder man auf uns schießt… werde ich uns verteidigen. Und zwar mit allen Mitteln.«
 

Ich nickte stumm und ließ das Thema einfach sein. Ob er nun Menschen töten würde oder nicht – ich würde sie nicht verraten. Denn ich war mir sicher, dass es mir den Job nicht wiederbringen würde. Ganz im Gegenteil: ich würde die Aufmerksamkeit wieder auf mich ziehen und allen deutlich zeigen, dass ich mit Alexej unter einer Decke steckte. Gerade, als ich realisierte, dass das tatsächlich bereits der Fall war, hörte ich weitere Schritte auf uns zukommen.
 

»Er muss gehen«, kam Irinas Stimme aus dem Flur. Ihr Gesicht erschien auf einmal hinter dem Rücken des anderen Mannes. »Du kannst nicht hierbleiben. Geh.«
 

»Das wollte ich sowieso gerade tun«, murrte ich und ging mit gesenktem Kopf an Alexej vorbei. Ich sah im Augenwinkel, dass er mich gerne aufgehalten, nach mir gegriffen oder mich umarmt hätte. Doch er blieb starr stehen und sah mir hinterher, wie ich in den Flur marschierte und schließlich die Tür zum Flur öffnete. »Viel Erfolg bei der Flucht«, sagte ich noch und verließ ohne eine Antwort der Personen abzuwarten die Wohnung. Das Klacken der Tür hallte im Treppenhaus nach, als wäre damit ein Kapitel beendet worden.
 


 

Ein Teil von mir wollte zurückgehen. Alexej in die Augen sehen und sagen, dass ich doch mitkommen würde. Dass ich bereit war, das Leben hier hinter mir zu lassen. Besonders jetzt, wo ich das Gefühl hatte, nichts mehr zu haben und niemandem mehr trauen zu können. Doch dann erinnerte ich mich an Cindy. An den Laden im Center. Daran, dass die Welt nicht unterging, nur weil man einen Job verloren hatte, der einem viel bedeutete. Dass das Leben weiterging, auch wenn man den Fang seines Lebens mit dem Mörder seiner Kollegen vertauscht hatte.
 

Ich lief schweigend zum Auto zurück. Als ich einstieg und die Zündung betätigte, sah ich Alexej am Fenster stehen und auf mich herabsehen. Sein Blick war unergründlich, sodass ich nicht einschätzen konnte, ob er sauer, glücklich oder traurig war, dass ich mich gegen ihn entschieden hatte. Aber wer würde denn schon nach so eine Aktion die Seite der Feinde einnehmen? Er hatte mich benutzt, belogen und betrogen. Von seiner Seite aus hätte er alle Avancen sofort im Keim ersticken müssen. Stattdessen hat er nachgegeben und sich auf mich eingelassen. Er hat mich verführt, geküsst und gefickt. Und das alles in nur wenigen Wochen.
 

Ich fühlte mich misshandelt und irgendwie benutzt, obwohl Alexej keinen wirklichen Vorteil aus unserer Beziehung gezogen hatte. Ganz im Gegenteil: Er hat sich das Leben nur unnötig schwer mit mir gemacht. Waren die Gefühle also echt gewesen? War das keine Lüge gewesen?
 

Während der Fahrt hörte ich traurige Rocklieder, um mich noch mehr in die dramatische Stimmung einzufinden. An einer roten Ampel sah eine Dame aus einem anderen Auto sehr verstört in meine Fahrerkabine. Ich saß einfach nur stoisch da und heulte mir die Augen aus. Eigentlich hätte ich bei den Wetterverhältnissen nicht Autofahren dürfen, doch ich wollte nach Hause und meinen Kummer in Alkohol ertränken.
 


 

Genau das tat ich und verlor mich dabei auf dem Sofa. Ich bemühte mich nicht mal, das Licht im Zimmer anzumachen. Nur die Straßenlaternen und der Mond schenkten mir genug Licht, sodass ich die Flasche nicht am Mund vorbeiführte.
 

Kurz bevor ich einnickte, hörte ich mein Handy brummen. Ich dachte erst, es mir eingebildet zu haben, aber als es erneut vibrierte, kramte ich es aus meiner Jackentasche.
 

»Es tut mir leid, Mr. Lewis.«
 

Und:
 

»Es war wunderschön mit Ihnen.«
 


 

Mein betrunkenes Gehirn sendete noch mehr Tränen in meine Augen und ließ mich für weitere Stunden heulen. Es war schön gewesen – ja. Und es tat mir genauso leid. Alles hätte so schön werden können. Die ersten schüchternen Dates außerhalb des Centers, obwohl man schon heißen Sex in einer Abstellkammer hatte. Die liebevollen Umarmungen und Küsse zu Hause. Das vertraute Beisammensein und sich Kennenlernen. All das würde nie passieren.
 


 

Denn er war der Weihnachtsmann, der Menschen tötete.


Nachwort zu diesem Kapitel:
DIE AUFLÖSUNG!

... aber noch nicht das Ende :3 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  CaptainMoek
2018-12-17T19:31:49+00:00 17.12.2018 20:31
Oh mein Gott, ich hab so richtig Gänsehaut beim Mitlesen gehabt...man man man, was für eine Achterbahnfahrt der Emotionen! Bin immer noch irgendwie halb durch den Wind. :////) Grade der letzte Satz. Der hat nochmal so richtig den Kreis für mich geschlossen. Ein ganz großes Lob hierfür! :)

Und ich bin trotzdem happy, dass es noch nicht das Ende ist und es noch ein bisschen weitergeht...ich bin soooo gespannt, was Kyle nun tun wird und wie das ganze enden wird. Hach. :')

GlG! :) <3




Von:  Jitsch
2018-12-17T19:08:42+00:00 17.12.2018 20:08
Ich hab wegen der Ankündigung gestern schon befürchtet ich müsste bis morgen warten (weil ich abends recht früh ins Bett gehe) aber dann war das Kapitel doch schon da :)
Tja, jetzt ist tatsächlich alles klar. Die Codes, Irina, warum Kyle die ganze Zeit angelogen wurde... Wolkow hat es wenn man so darüber nachdenkt wirklich hart erwischt wenn er seine Mission so aufs Spiel gesetzt hat. Von daher tut er mir jetzt fast mehr leid als Kyle. Sorry, Kyle, aber du hast wenigstens noch einen Job und bis nicht in Lebensgefahr weil der Geheimdienst nach dir sucht. Flenn hier mal nicht so rum.

Aber jetzt bin ich echt gespannt wie es wohl weitergeht, denn im Moment hängt Kyle ja ziemlich in der Luft und dass die nächsten Kapitel daraus bestehen wie er weiter seiner Arbeit nachgeht und sich in Selbstmitleid suhlt kann ich mir nicht vorstellen (und will ich auch nicht lesen). Vielleicht braucht er noch einen kleinen Schubs um dann doch wieder aktiv zu werden und Wolkows Angebot doch noch anzunehmen oder ihm zumindest zu helfen.

Ja, wie gesagt, es bleibt spannend.


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