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Der längste Weg nach Hause

It's never too late
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wieder eines der Kapitel, die einfach nicht so wollten, wie derjenige, der es tippen muss. War ein kleiner Kampf, bis ich eine Version hiervon fabriziert hatte, mit der ich nun halbwegs hoffe, leben zu können. Deshalb hat es doch länger gedauert, als gehofft/ versprochen - und das tut mir leid.

Das ist übrigens das Kapitel, in dem endlich der Satz auftaucht, den ich mir aus der Liste ausgesucht hatte.
Und allmählich nimmt auch der 'Kitsch'-Anteil an Fahrt auf. An die crazy Nicht-Shipper, die sich trotz allem durch meine geistigen Ergüsse quälen: Das ist eine offizielle Warnung! :D

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Träume aus Rexford

It's never too late to start all over again

To love the people you caused the pain

And help them learn your name

Oh, no, not too late

It's never too late to start all over again

 

*

 

 

Fühlt sich falsch an.
 

Cas saß mit großen Augen neben ihm, hinreißend unschuldig, wie er nervös die Hände im Schoß knetete. Unschuldig auf eine Art, bei der Dean ganz warm ums Herz wurde. Was sich übrigens genau so falsch anfühlte.

 

Die Frage ‚Bester Freund? – Ja? – Nein? – Vielleicht?‘ war nun endlich halbwegs zufriedenstellend geklärt. Die Frage nach den richtigen Worten allerdings bei weitem nicht. Es fühlte sich falsch an, Cas hier abzuliefern, ihn zu einer Verabredung mit Nora zu fahren. Diesem Miststück, das sich nicht zu schade war, die eigenen Mitarbeiter nach getaner Arbeit zu sich nach Hause zu locken, um wer weiß was mit ihnen anzustellen. Dean wollte es lieber nicht zu genau wissen.

 

Die Suche nach dem Rit Zien war erfolglos geblieben. Auch von Sam hatten sie nichts mehr gehört. Cas hatte beteuert, dass er allein zurecht käme und war Dean schließlich mit dem Vorschlag losgeworden, er sollte sich auf der hiesigen Polizeistation nach weiteren pinkfarbenen Zwischenfällen umhören. Dean hatte irgendwann zähneknirschend klein bei gegeben, und die Gelegenheit genutzt, um sich nach der Putzaktion im Motel ein wenig frisch zu machen. Hatte sich mit dem Gedanken getröstet, dass die Suche nach dem Rit Zien auch eine Möglichkeit war, seinem neu erklärten Ziel nachzukommen, immer ein Auge auf Cas zu haben. Aber auch unter dem gewagten Pseudonym, Agent Steve Rogers, hatte er keinerlei Anhaltspunkte für den Verbleib des fremden Engels in Erfahrung bringen können.
 

Nun parkte der Impala direkt vor dem Haus von Cas‘ Chefin, die Einkaufstüten und der zweite Seesack, über die Dean kein weiteres Wort mehr verloren hatte, im Kofferraum verborgen. Dean steckte unter seiner Navyjacke immer noch im Anzug der FBI Tarnung und der Engel neben ihm machte einfach keinerlei Anstalten, auszusteigen.

 

„Wir sind da, Bucky Barnes.“

 

Es war noch nicht allzu lange her, dass sie im Bunker zusammen mit Sam Superheldenfilme geschaut hatten. Cas ließ offen, ob er die Anspielung verstand und blieb einfach weiter stumm neben Dean sitzen.

 

Bestimmt nur nervös, der Kerl.

 

Dean selbst befiel eine eigentümliche Unruhe. Die Situation gefiel ihm von vorne bis hinten nicht, obwohl es eine Erleichterung war, Cas endlich wieder bei sich zu haben – sowohl nach der Polizeiarbeit, als auch nach der einwöchigen Trennung in Ungewissheit. Er war sich sehr wohl bewusst, dass seine Unruhe mit Cas und dessen Date zusammenhing.

 

Da geht heute bestimmt noch was für ihn.

 

Vor langer Zeit hatte der Engel sich denkbar ungeschickt angestellt und eine Prostituierte, die Dean für ihn bezahlt hatte, an den Rande eines Nervenzusammenbruchs gebracht – ohne Sex. Jahrelang war er so herrlich unschuldig und jungfräulich geblieben, stach damit als viel engelhafter im herkömmlichen Sinne gegenüber Artgenossen wie Balthazar oder Gabriel hervor. Zu deren Lebenszeiten hatten die Orgien gefeiert und Pornos gedreht.
 

Und vielleicht war es gut, dass Cas sich diese Unerfahrenheit noch eine Weile bewahrt hatte. In mancher Hinsicht war sie etwas, das Dean an ihm schätzte. Sie war etwas, das sie voneinander unterschied und das tat gut. Es tat gut, dass Cas nicht wie Dean war, dass er etwas so Reines besaß und sich bislang trotzdem mit Dean abgegeben hatte. Ganz gleich, wie verkorkst er vielleicht auch sein mochte – so lange Cas ihn nicht fallen ließ, so lange bestand vielleicht noch ein Fünkchen Hoffnung für Dean Winchesters erbärmliche Seele. Bloß, dass Cas seine Jungfräulichkeit vor gar nicht allzu langer Zeit nun doch verloren hatte – vor ziemlich genau einer Woche, um genau zu sein. An einen Sensenmann und das auch noch an dem Tag, an dem Dean ihn vor die Tür gesetzt hatte.

 

In vielerlei Hinsicht war besagter Tag grauenhaft gewesen. Dean hatte sich bisher den Luxus vergönnt, darüber nachzudenken, was dieses Ereignis in ihm auslöste. Was vielleicht auch daran gelegen hatte, dass Cas' erstes Bettabenteuer ihn kurzzeitig getötet hatte und er jetzt nur neben Dean im Impala saß, weil Ezekiel wieder einmal Retter in der Not gespielt und ihn wiederbelebt hatte.

 

Irgendwie seltsam. Sex und Cas und ein sich einmischender Ezekiel. Auf verquere Weise schienen all diese Dinge miteinander in Verbindung zu stehen. Dass Ezekiel verlangt hatte, dass Cas den Bunker verließ, hatte schließlich wieder dazu geführt, dass Cas die Gelegenheit bekam, nun eine weitere Nummer zu schieben, oder? Und Cas schien Gefallen an dieser Art der Körperlichkeit gefunden zu haben. Zumindest hatte er von seinem ersten Mal – trotz anschließender Ermordung – durchweg positiv gesprochen.

 

Als würd‘ ihm das alles auf einmal leicht fallen. Als hätt‘ er nichts dagegen, öfter Sex zu haben.

 

Und wieso auch nicht? Dean wäre sicher der letzte Mensch, der sich erlauben durfte, darüber zu urteilen, wenn jemand ein bisschen Dampf ablassen wollte. Vor allem Cas hatte sich das wohl nach all dieser Selbstkasteiung mehr als verdient.

 

Vielleicht nicht unbedingt mit Sensenmännern. Oder Sensen...frauen. Oder Dämonen. Megs.

 

Ein Spruch lag ihm auf der Zunge, darüber, ob Cas zum Date nicht lieber etwas Weihwasser und Silber mitnehmen sollte, um Nora auf übernatürliche Hintergründe zu testen.

 

Vielleicht am besten einfach mit überhaupt keinem.

 

Deans Beschützerinstinkt nahm allmählich immer skurrilere Formen an.

 

Muss daran liegen, dass ich mir so lange Sorgen um ihn gemacht hab‘.

 

Immer noch mache.

 

„Um wie viel Uhr ist dein Date noch mal, Cas?“ Dean sah durch die Windschutzscheibe hinaus auf die Straße. Über den peniblen Vorgärten dieser Wohngegend standen die ersten Nebelschwaden einer feucht-kalten Novembernacht.

 

„Um acht Uhr. Wie viel Uhr ist es jetzt, Dean?“

 

Cas sah ebenfalls durchs Fenster, knetete noch immer die Hände im Schoß, sah noch immer außergewöhnlich blass unter seinen dunklen Haaren aus. Wenigstens die hässliche blaue Mitarbeiterweste hatte er auf Deans Zureden abgelegt.

 

„Kurz nach sieben ... Hab‘ dir gesagt, wir sind viel zu früh!“

 

„Aber du wolltest noch mit mir reden, Dean!“

 

Es war wie ein Geschenk, dass Cas auf einmal so viel Bereitwilligkeit zeigte, mit Dean zu sprechen, Zeit mit ihm zu verbringen.

Es war bloß so seltsam, dass sie das zehn Meter vor dem Haus seines Dates taten. Diese Tatsache wiederum machte Dean wütend, obwohl sich seine Wut nicht gegen Cas richtete, sondern gegen –

Ja. Gegen wen oder was eigentlich?

 

Nora. Miststück.

 

Dean brummte als Antwort. Er drehte sich ein wenig auf dem Sitz herum, so dass er Cas ansehen konnte. Zu seiner Überraschung tat es ihm der Engel gleich und so saßen sie einander nun fast gegenüber, so gut es im Auto eben ging.

 

Okay, Cas.

 

„Warum darf ich nicht wissen, wo du wohnst?“, fragte er schließlich frei heraus.

 

Nein, das war nicht das dringlichste aller Probleme, nicht mal die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam. Aber es war das einzige, was ihm problemlos über die Lippen wollte und immerhin war es ein Anfang.

 

„Wie kommst du darauf, dass du es nicht wissen darfst, Dean? Und … wieso willst du es überhaupt wissen?“

 

„Beantworte einfach die Frage!“

 

„Ich … Also. Ich will nicht, dass du etwas … Falsches von mir denkst.“
 

Cas sagte es so behutsam, als sei das tatsächlich in diesem Moment seine größte Angst. Beachtlich, wenn man sich vor Augen hielt, welcher sozialen Herausforderung er sich in einer guten Dreiviertelstunde zu stellen gedachte.

 

„Und was sollte das sein?“, hakte Dean perplex nach.

Wie könnte er falsch von Cas denken? Meinte der Engel damit so etwas, wie eine schlechte Meinung von ihm zu haben? Nach dem aktuellen Stand der Dinge war das nicht allzu wahrscheinlich.

 

Cas zögerte einen Moment.

 

„Ich will nicht, dass du von mir denkst, ich sei ein … Versager, Dean. Es ist leicht, etwas zu sein, was man schon immer war, aber ich war noch nie ein Mensch und … ich muss zugeben … obwohl ich die Menschheit beobachte, seit sie existiert, ist das hier vielleicht die größte Herausforderung meines Daseins“, sprudelte es schließlich aus ihm heraus.

 

Dean zog eine Braue hoch.

 

„Weiß ja nicht, was du seit neustem für‘n Bild von Menschen hast, Cas“, sagte er, „aber den meisten Menschen fällt‘s nicht gerade leicht, Mensch zu sein. Zumindest keinem, den ich kenne.“

 

Und es war die Wahrheit. Er kannte einige großartige Menschen – oder hatte sie gekannt, denn viele von ihnen lebten nicht einmal mehr. Aber das Menschsein, damit hatten sie sich fast alle schwer getan.

 

Kurz dachte Dean an Charlie, die einen Großteil ihres Lebens vor ihrer Vergangenheit davon gelaufen war, die sie gleichzeitig einfach nicht loslassen konnte, obwohl es für ihre Mutter keine Rettung mehr gab.

 

An Bobby, in dessen Schreibtisch bis zu seinem Ende eine Kugel auf ihn gewartet hatte; auf den Tag, an dem er das Leben endgültig nicht länger hätte ertragen können.

 

An seinen Vater, Dad, der anderen Monstern hinterher gejagt war, weil sie ihm das geraubt hatten, was ihn menschlich gemacht hatte.

 

An Sammy, der sich so sehr danach sehnte, ein ganz normaler Mensch zu sein, dass ihn allein dieser Wunsch an manchen Tagen beinahe zu verschlingen drohte.

 

Er dachte an sich selbst.

 

Ist doch ein Wunder, dass Cas immer noch mit dir rumhängt. Und auch noch Angst hat, dass du schlecht von ihm denkst!

 

Dean blinzelte sich in die Realität zurück, spürte Cas‘ Blick schwer auf seinem Gesicht lasten. Der schief gelegte Kopf, eine stumme Frage. Der stolpernde Puls, Deans prompte Antwort darauf.

 

„Aber Dean, du bist ein guter Mensch! Du sorgst nicht nur für dich selbst, und mir wird gerade erst bewusst, wie kompliziert das sein kann! Du kümmerst dich auch um andere. Um Sam – um all die Menschen, die ihr rettet. Um die, die dir am Herzen liegen! Und ich, ich schaffe es nicht einmal … nicht einmal ...“

 

Cas stockte und unterbrach sich. Dean war nicht allzu bekümmert darüber. Nicht, wenn es um dieses Thema ging.

 

Ein ‚guter‘ Mensch.

 

So sah Cas ihn also? Nach allem, was war? Obwohl die Umstände ihrer allerersten Begegnung den Tiefpunkt in Deans Dasein bedeutet hatten?

 

Was Alastair wohl dazu sagen würde?

 

Cas wirkte aus irgendeinem Grund so, als würde er sich abgrundtief schämen.

 

„Es war nicht immer leicht, ein Engel zu sein, Dean. Aber es war alles, was ich kannte, alles, was ich hatte. Engel zu sein bedeutete, dass ich dir helfen konnte, Dean, dass ich nützlich für dich und Sam war. Und jetzt … jetzt bin ich ein … ein Nichts. Es ist … so schwer, Dean!“

 

Dean hatte diesen erstickten Tonfall noch nie zuvor von Cas vernommen. Er traf auf sein Innerstes wie Messerstiche, schlimmer, als ihn die Gallensteine je geplagt hatten.

 

„Das ist doch alles gar nicht wahr, Cas“, krächzte er. „Du redest Bullshit! Du bist immer nützlich und … du musst auch gar nicht nützlich sein. Verstehst du, es geht nur darum, dass du … dass du … da bist.“

 

Er hatte diese Worte regelrecht aus sich heraus kämpfen müssen, so schwer lagen sie ihm auf der Zunge. Doch seinem Herzen ging es ein wenig besser, nachdem er sie ausgesprochen hatte; es schlug immer noch schnell, aber ohne diesen Druck auf seiner Brust dabei.

Und Cas hatte verdient, das von ihm zu hören.

 

Cas braucht das.

 

Richtige Worte.

 

Vielleicht war er auf dem richtigen Weg, vielleicht war er dabei, sie zu finden?

Wieder dieser durchdringende Blick aus den großen, schimmernden Augen.

 

Du … kannst mit mir reden, Cas. Ich hör‘ dir zu.

 

Hatte er das möglicherweise gerade auch laut gesagt? Er hörte, wie der Engel neben ihm scharf Luft holte.

 

„Ich wohne im Gas-n-Sip, Dean. Ich habe kein anderes Zuhause.“

Die tiefe, melodische Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern.

 

WAS?!

 

„Du wohnst – was?! Wie meinst du das, du wohnst im Gas-n-Sip?“

 

„Im Lagerraum. Ich habe einen Schlafsack … und eine Zahnbürste.“

 

Cas schlug die Augen nieder. Dean hatte ihn noch nie zuvor so niedergeschlagen erlebt, so … klein.

 

Hätte Sammy, bei all seiner Größe, so winzig neben ihm ausgesehen, hätte nichts in der Welt Dean davon abhalten können, ihn in eine ruppige, tröstende Umarmung zu ziehen.

 

Cas ist nicht Sam.

 

„Nora hat heute Morgen meine Sachen gefunden. Ich konnte eine Ausrede erfinden, warum ich im Lagerraum geschlafen habe, habe sie angelogen, dass es nur für eine Nacht war. Es ist nicht leicht, einen Job zu finden, wenn man kein bisheriges menschliches Leben nachweisen kann, Dean! Ich habe keinen Ausweis … Keine Berufserfahrung. Keine … Adresse. Es war sehr schwierig, Arbeit zu finden, aber ohne einen Job eine Wohnung zu bekommen, erscheint mir unmöglich. Man muss erst leben, um arbeiten zu können, aber ohne Arbeit kann man nicht leben. Also muss das … Zuhause warten.“

 

Dean schwieg betroffen. Cas hatte vollkommen recht. Der Engel hatte höchstwahrscheinlich keine Ahnung von Dingen wie einer Sozialversicherungsnummer oder einer Bankverbindung – eben von allem, was man im Normalfall brauchte, um einen Miet- oder Arbeitsvertrag unterschreiben zu können.

 

Wie konntest du nur so blöd sein und nicht an den Kram denken, bevor du ihn rausgeworfen hast?!

 

Er hatte Cas nicht nur mit Nichts vor die Tür gesetzt, er hatte ihm auch keinerlei Möglichkeit gezeigt, sich selbst zu helfen. Wieso war er davon ausgegangen, dass Cas ein Leben nach Winchester Art bestreiten konnte? Auch dafür brauchte es Jahre um Jahre an Erfahrung, wenn man sich erfolgreich mit gefälschten Kreditkarten und kleineren Bar-Gaunereien durchs Leben schlagen wollte. Und selbst auf anständige Art käme Dean vermutlich nie in die Verlegenheit, keine Arbeit zu finden. Er konnte jederzeit als Handwerker oder Automechaniker angestellt werden, konnte auf so vieles bauen, was er in seinem menschlichen Leben gelernt hatte. Auf Dinge, die Cas aus der Perspektive eines Engels fremd geblieben waren.

 

„Cas, hör mir zu“, begann Dean langsam. Sein Atem schien nicht auszureichen, um genug Sauerstoff bis zu seinem Hirn zu transportieren; er konnte gar nicht schneller sprechen.

„Es … es tut mir leid, dass ich dich weggeschickt hab‘. Wirklich. Und dass … d-dass ich nicht drüber nachgedacht hab, dass du das ganze Zeug überhaupt nicht weißt. Ich hätt‘ dafür sorgen müssen, dass du klar kommst. Ich war … Ich bin so ein Riesenidiot, manchmal. Meistens. Tut mir leid, Cas. Unendlich leid.“

 

Er holte erneut zitternd Luft. Nachdem er endlich, endlich die Entschuldigung über die Lippen bekommen hatte, fiel das Atmen ein wenig leichter.

 

Na also. War doch gar nicht so schlimm, oder?

Die versöhnliche Stimme in seinem Kopf klang ein bisschen nach Sam.

 

Dean schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, wagte er es kaum, Cas anzusehen, aber er zwang sich dazu. Es war seine persönliche Strafe. Wie in dem Moment, als er Cas gesagt hatte, er müsse den Bunker verlassen.

 

Du musst aushalten, was du anrichtest, also sieh gefälligst hin!

Das war eher Dad. Schon wieder.

 

Cas, seinerseits, sah ihn an, als sei Dean ein kleines Wunder.

„Du musst dich nicht entschuldigen, Dean“, wisperte er andächtig und brachte die Stimmen damit augenblicklich zum Schweigen.

„Doch. Doch, und wie ich das muss! Ich bin … bin hierher gefahren, weil ich gucken wollte, ob du zurecht kommst … Die Sachen, die ich dir mitgebracht hab‘ … Was zum Anziehen, was zu Essen und so … Ich wusste nicht, ob du das brauchst. Hör zu, wir finden ‘ne Lösung! Heute Abend schläfst du bei mir im Motel und dann ...“

 

Vielleicht braucht Cas heute Abend überhaupt keinen Schlafplatz. Vielleicht bleibt er über Nacht bei Nora.

 

Es sollte natürlich auch Menschen geben, die nicht sofort beim ersten Date miteinander im Bett landeten. Dean konnte zwar nicht unbedingt aus eigener Erfahrung sprechen, aber er war sich ziemlich sicher, dass man sich in solchen Fällen nicht direkt bei einem von beiden zu Hause traf. Die eigenen vier Wände schrien doch förmlich danach, das Kennenlernen bis in die Horizontale zu verlegen.

 

Und plötzlich war da wieder diese Wut in ihm.

 

„Aber nur, wenn es auch wirklich in Ordnung für dich ist!“

Immer noch klang Cas‘ Stimme sehr leise.

 

„… wenn ich heute Nacht bei dir unterkommen kann.“

 

Als ob er Cas jemals wieder auf dem Fußboden eines Lagerraumes schlafen lassen würde!

 

Ich muss ihm das sagen. Richtige Worte.

 

Lass es nicht so klingen, als wäre es eine Anmache!

 

Das nervöse Kneten ging wieder los und allmählich konnte Dean auf Cas‘ Handrücken Abdrücke dort ausmachen, wo sich seine Nägel und Fingerspitzen zu tief in die Haut gebohrt hatten.

 

Dean griff gereizt nach Cas‘ linker Hand, die ihm vom Fahrersitz aus am nächsten war, um ihn daran zu hindern, sich weiter selbst zu malträtieren.

 

„Lass das!“, knurrte er ungehalten.

 

Er ließ Cas‘ Hand los, der auf seine Finger starrte, als sei ihm erst in diesem Augenblick aufgefallen, dass er welche besaß. Der bedröppelte Anblick war nur schwerlich zu ertragen und Dean seufzte.

 

„Klar kannst du heute zu mir. Ich hol‘ dich nachher auch wieder ab. Ruf mich an, wenn du – wenn ihr ... fertig seid.“

 

Mit was auch immer.

 

Seine letzten Worte schmeckten seltsam bitter, aber das war okay. Es musste okay sein.

Dean sah auf die Uhr. Es war immer noch etwas Zeit, doch der Nebel vor den Wagenfenstern hatte sich schlagartig verdichtet. Im Auto war es mollig warm. Er empfand es beinahe als eine Art Verbrechen, Cas in die Kälte zu scheuchen und wenn es nur für die paar Schritte bis zur Haustür wäre. Vor allem wäre es ein Verbrechen, Cas dieser schrecklichen Nora zu überlassen. So, wie Cas die … Exklusivrechte hatte, Dean zu heilen, so hatte Dean Exklusivrechte, dem Engel Menschlichkeit näher zu bringen, oder? Eine Nora hatte zwischen ihnen nichts verloren.

 

Das hört sich so gottverdammt falsch an.

 

Einer plötzlichen Eingebung folgend schälte Dean sich auf dem Fahrersitz unbeholfen aus seiner Jacke. Cas sah ihm wortlos dabei zu – bis Dean ihm die Jacke in die Arme drückte.

 

„Hier. Zieh die an. Ist kalt draußen. Und du siehst vielleicht ‘n bisschen lockerer damit aus.“

 

Cas wirkte für einen Moment lang so, als wollte er protestieren. Als er Deans grimmigen Gesichtsausdruck sah, nickte er aber und schenkte ihm zum Dank eines seiner kleinen Lächeln.

 

Ich krieg‘ nicht genug davon, wenn er mich so …

 

Stopp! Erde an Dean. Denk nicht mal daran!

„Was machst du so lange, während ich den Abend mit Nora verbringe?“, fragte Cas, während er die Jacke an seinen Oberkörper gedrückt hielt, als erfüllte sie ihren wärmenden Zweck schon durch bloßen Körperkontakt.

 

„Vermutlich noch ‘n bisschen auf Rit Zien Jagd gehen“, sagte Dean achselzuckend, dankbar für die Ablenkung von seinen verwirrenden Gedanken.

 

Lieber hätte er sich in die nächstbeste Bar verzogen, aber da er versprochen hatte, Cas mit Baby wieder abzuholen, fiel die Option eines anständigen Besäufnisses für diese Nacht aus.

 

Cas‘ Augen wurden bei seiner Antwort schmal.

 

„Bist du dir sicher, Dean? Nach allem, was du jetzt über Rit Zien weißt? Es ist gefährlich!“

 

Dean lachte freudlos.

 

„Gefährlich ist es immer. Und ich bin ja schon geheilt, er hat mir quasi garantiert, dass er mich nicht in die Luft sprengen will – also was soll der Stress? Außerdem will ich ja nur ‘rauskriegen, wo er sich ‘rumtreibt.“

 

Cas schien die Jacke einen Moment lang etwas fester an sich zu drücken, während er nachdachte. Schließlich nickte er ergeben, so, als wisse er ganz genau, dass er Dean ohnehin von nichts abhalten konnte, was er sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte.

 

„Versprich mir, dass du vorsichtig bist und nichts Unbedachtest tust! Versprich mir das, Dean!“

 

Dean verdrehte die Augen.

 

„Wovon träumst du nachts, Cas – ich bin immer vorsichtig.“

 

Cas erwiderte darauf eine ganze Zeit lang nichts, so dass Dean sich zu fragen begann, ob das Thema damit erledigt wäre. Er war bereits dabei, sich innerlich dafür zu wappnen, seinem besten Freund viel Glück für die Verabredung zu wünschen, als Cas plötzlich sagte:

 

„Meistens nichts Angenehmes.“

 

„Was?“

 

„Wovon ich nachts träume, ist meist nicht sonderlich angenehm“, wiederholte Cas schlicht. Der Klang seiner Stimme verriet nicht, ob er das Thema vertiefen wollte oder indirekt für beendet erklärte.

 

Dean starrte ihn einige Sekunden lang verständnislos an, bis es ihm plötzlich dämmerte, was Cas meinte. Der Engel hatte einen von Deans unbedachten Sprüchen wieder einmal viel zu ernst genommen. Trotzdem war der Brocken, den Cas ihm hingeworfen hatte, seltsam verführerisch. Seine eigenen Träume waren in den allermeisten Fällen fürchterlich und er sprach nicht gern über sie. Vielleicht interessierte ihn gerade deshalb, wie es anderen, wie es Cas erging. Engel schliefen nicht – also konnten sie auch nicht träumen. Wovon träumte dann ein Engel, der Mensch geworden war? Schlossen seine menschlichen Träume auch die Zeit als Engel mit ein?

 

„Und was ist das so zum Beispiel?“, fragte Dean mit unverhohlener Neugier.

 

So nahe, wie sie nebeneinander saßen, konnte Dean nicht anders, als sich sicher zu fühlen. Sicher in der altbekannten Vertrautheit zwischen ihnen, die endlich, endlich wieder existierte. Vielleicht hatte Cas dieses persönliche Thema auch gerade deshalb überhaupt erst angeschnitten? Weil er sich auch wieder sicher mit Dean fühlte? Nicht unbedingt der schlechteste Gedanke. Dean spürte plötzlich das heftige Verlangen, erneut nach Cas‘ Hand zu greifen. Doch der Engel hatte aufgehört, seine Finger zu kneten und so fiel Dean kein guter Grund ein, in dessen persönlichen Freiraum einzudringen.

 

Macht ja auch gar keinen Sinn!

 

„In den ersten Tagen ohne Gnade habe ich hauptsächlich von Hunger geträumt“, begann Cas nach einigem Zögern, doch nun, da er angefangen hatte zu sprechen, klang seine Stimme fest und klar.

 

„Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich die stärksten Empfindungen aus dem wachen Zustand mit hinein in die Träume nehme. Das waren am Anfang Hunger … Kälte. Ich habe eine Zeit gebraucht, um zu begreifen, was all diese Gefühle bedeuten, verstehst du? Einsamkeit, beispielsweise. Angst.“

 

Die Worte sorgten dafür, dass Dean plötzlich über den geringen Abstand zwischen ihnen froh war, froh war, doch nicht Cas‘ Hand zu halten. Jede Berührung hätte die Schwere der Erzählung verdreifacht. Die Schuld war zurück, falls sie überhaupt je ganz geschwiegen hatte.

 

Hier ist Cas, ganz nah, kannst du fühlen, was du ihm alles angetan hast?

 

Das ist die Strafe, Dean. Hör zu. Sieh hin.

 

„Als ich das erste Mal einen richtigen Traum hatte, war ich in der Unterkunft für Obdachlose“, erzählte die Schuld mit Cas‘ ahnungsloser Stimme unbarmherzig weiter.

 

„Es ging mir dort besser. Es war warm. Trocken. Ich war zwar nicht satt, aber der Hunger war auszuhalten. Ich habe von meinen Brüdern und Schwestern geträumt. Von ihrem Fall und von ... meiner Schuld.“

Schuld.

 

Einen Moment lang schwiegen sie beide und es dämmerte Dean allmählich, dass Cas zweifellos nachvollziehen konnte, wie er sich fühlte. Hier saßen sie nun und verspürten beide die erdrückende Last ihrer eigenen Fehler. Sowohl er als auch der Engel hatten Familie im wörtlichen wie im übertragenen Sinne vor die Tür gesetzt. Unwissenheit und beste Absichten hatten die Himmelstore geschlossen.

 

Wir wissen beide, wie das ist, Familie im Stich gelassen zu haben.

 

Und sie kannten beide das Gefühl, wenn der Wunsch, das Beste für die Familie zu wollen, nur der Auslöser für ihren Schmerz war.

 

Dean hatte mit einem Mal das Gefühl, als würde Cas sich genau so sehr zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen, wie andersherum.

 

Denk an den Rit Zien. Denk dran, wie schlecht Cas sich fühlen muss.

 

Es kostete ihn viel Mut. Gehörig Überwindung. Aber Dean streckte doch die Hand nach Cas aus, ohne die Augen von seinem Gesicht abzuwenden. Er fühlte sich fast trotzig dabei.

 

Du machst das für Cas. Nicht für dich.

 

Seine hatte Cas‘ Hand gefunden und griff zu. Fest.

 

„Träumst du jede Nacht das gleiche?“, fragte Dean leise. „Derselbe Traum, immer wieder?“

 

Er spürte, wie sich kühle Finger um seine Hand schlossen und den Druck erwiderten.

 

Cas gab einen schwachen Laut von sich; ein halbes Lachen, halb Wehklagen.

 

„Es ist ein wiederkehrendes Element“, sagte der Engel schließlich tonlos. „Genau wie Naomi, das Fegefeuer, die Leviathane. Wie die himmlischen Schlachten, in denen ich gekämpft habe. Die Bestrafung, als ich mich das erste Mal gegen den Himmel gestellt habe. Manchmal ist alles nur ein einziger bunter Wirbel und ich erinnere mich nach dem Aufwachen nur bruchstückhaft daran.“

 

Dean nickte. Das alles war ihm sehr vertraut.

 

„Aber es sind auch andere Träume dabei.“

Cas ließ seine Hand nicht los.

 

„Was für welche?“, fragte Dean rau. Er musste sich räuspern.

 

„Von dir, von Sam. Ich träume oft von euch.“

 

Und, sind die Träume genauso schlimm?, wollte Dean fragen, doch er brachte kein Wort heraus.

Stattdessen zerquetschte er weiter Cas‘ Finger.

 

„Wenn ich geträumt habe, dass ihr mich findet und … zu euch holt, bin ich oft mit beinahe so etwas wie Hoffnung erwacht. Es waren schöne Träume. Einer von ihnen hat mich ein bisschen an gestern erinnerst, als du plötzlich vor mir gestanden hast.“

 

Das bedeutete, dass das unerwartete Wiedersehen für den Engel etwas Positives gewesen war? Obwohl er so reagiert hatte?

 

Eiskalt.

 

Fairerweise war das wohl die einzige Behandlung, die Dean zu diesem Zeitpunkt verdient hatte. Aber es tat gut zu wissen, dass sein Auftauchen Cas von Anfang an doch etwas bedeutet hatte.

 

Die nächsten Worte des Engels überrumpelten ihn.

„Manchmal träume ich von deiner Seele, Dean. Im Traum sehe ich sie noch deutlich vor mir.“

 

Cas lächelte traurig und Dean musste schlucken.

Bei dem Thema ‚Seele‘ waren genau die zwei Dinge miteinander vereint, die Dean am allermeisten auf der ganzen Welt fürchtete: Sein wahres Selbst, mit all seinen Fehlern und Verbrechen, seinem Versagen. Und die eigene Verletzlichkeit, seine Schwäche, seine wahren Gefühle.

 

Du ruinierst ihm selbst den Schlaf, hm?

 

Wie konnte es sein, dass dieses Bild von Dean kein nächtlicher Alptraum für Cas war? Wie konnte es sein, dass er Dean mit dieser Sanftheit und Milde im Blick anschaute, sich nicht vor Scham und Ekel von ihm abwenden musste?

 

„Ich vermisse es, sie sehen zu können … Aber in deiner Nähe habe ich manchmal das Gefühl, ich könnte es noch immer. In den Augenblicken, wenn du einfach nur du selbst bist. Sie ist – “

 

„Cas – nicht …!“

 

Er wollte es nicht hören. Selbst, wenn Cas ein nettes Wort über seine Seele finden könnte. Besonders nicht dann.

 

„Sie ist kostbar. Sie bedeutet mir so viel, Dean. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel.“

 

Es war einer von diesen Momenten, in denen Dean keine Kraft fand, um zu protestieren. Er stimmte Cas weder zu, noch schenkte er dem soeben Gehörten viel Glauben.

 

Er würde dich nicht anlügen, nicht so. Nicht bei dem Thema.

 

Lediglich an die Akzeptanz, dass Cas von seinen eigenen Worten überzeugt war, konnte er sich klammern. Vielleicht war seine Seele nicht das, was Cas behauptete. Aber vielleicht war Cas so verwirrt, dass er sie tatsächlich so sehr schätzte, wie er sagte. Sie mochte.

 

Wenn er deshalb lügen müsste, hätte er nie davon angefangen.

 

Dean wusste nicht, wie viel Zeit verstrich, in der keiner von ihnen einen Ton von sich gab. Die geteilte Atemluft schlug sich allmählich an den Innenseiten der Wagenfenster nieder, bis es aussah, als kröche der Nebel zu ihnen ins Auto. Vielleicht auch in Deans Kopf. Sein Bewusstsein kämpfte sich mühsam aus ähnlich wabernden Tiefen empor.

 

Blau.

 

Das war der erste bewusste Gedanke, den er wieder zu fassen bekam; an mehr konnte er sich nicht erinnern. Er hatte die ganze Zeit über in Cas‘ Augen gestarrt, ohne es zu merken. Dessen Gesichtsausdruck war wieder einmal schwer zu lesen, aber erstaunlicherweise fühlte Dean sich unter seinem Blick nicht unwohl.

Blau, blau, blau.

 

Dieser abwesende Zustand hatte ein wenig dabei geholfen hatte, das lange Gespräch, die Aussprache und all diese verwirrenden Gefühle sacken zu lassen. Sein Hirn fühlte sich an wie in Watte gepackt, der dichte Nebel noch immer ein Spiegelbild dessen, wie es in seinem Inneren aussah.

 

Er spürte, wie seine Hand Cas‘ Fingern entglitt, als der Engel ihn behutsam losließ; ein bisschen war es so, als würden sie ihn zum Abschied streicheln, bevor sich ihr Griff endgültig von ihm löste.

 

Einbildung.

 

So simpel, wie auch seine Gedanken in diesem Moment waren, so einfach hielten sich auch seine Empfindungen: Seine Hand war kühl ohne die von Cas und in der inneren Einfachheit, in der er sich nun befand, war es leicht, sich ohne Schuld nach der Berührung zurückzusehnen.

 

Bleib hier, Cas.

 

„Ich sollte jetzt gehen, sonst komme ich noch zu spät. Bleibt es dabei, dass ich dich anrufen kann, damit du mich abholst?“

 

Bleib bei mir.

Dean brachte ein Nicken zustande.

 

„Viel Spaß, Cas!“

 

Geh nicht.

 

Er sah zu, wie Cas aus dem Auto stieg, sich Deans Jacke überzog und die Tür hinter sich schloss. Er sah ihm nach, bis er im Haus verschwunden war.

 

 

*

 

Dean starrte noch eine ganze Weile auf die Tür des Hauses, das Cas verschluckt hatte. Regungslos saß er im Auto und versuchte, sich einen Reim aus allem zu machen, was Cas gesagt hatte. Aus vielem wurde er nicht so ganz schlau, aber er begriff, dass der Engel Dinge mit ihm geteilt hatte, die niemand sonst von ihm wusste – weder im Himmel, noch auf Erden.

Vor allem versuchte Dean zu begreifen, in welche Richtung sich ihre Beziehung zueinander innerhalb der letzten Zeit entwickelt hatte. Der heutige Tag war paradoxerweise ausschlaggebend dafür gewesen. Irgendetwas war anders.

 

Und dafür hat‘s nur den ‚barmherzigen‘ Killer und ‘ne flüssige Leiche gebraucht.

 

Es war faszinierend, dass der Engel für Dean nun zwar um einiges lesbarer geworden war. Nichtsdestotrotz war er in Vielem nach wie vor ein großes Rätsel für ihn. Eine unbeschreibliche Anziehung ging von dieser Rätselhaftigkeit aus. Und vor allem … von Cas selbst.

 

Dieses Herzrasen ständig wegen ihm ist auch nicht so gesund.

 

Bei dieser Eingebung, die ihn eigentlich beschämen sollte, stellte Dean fest, dass er ausnahmsweise einmal allein mit sich in seinem Kopf war. Eine ungeahnte Gelegenheit, sich weiter vorzutasten. Woher er diesen unerklärlichen Mut dafür nahm, konnte er nicht sagen. Derartige Gedanken waren wie ein Tabubruch. Normalerweise war seine oberste Regel, nie zu tief zu bohren, schon gar nicht in unerklärlichen Gefühlsangelegenheiten.

 

Doch da war etwas in ihm … Wie ein tiefer, voller Ton, der in ihm widerhallte, als sei Dean der Resonanzkörper für Cas‘ bloße Existenz.

 

Hat das vielleicht was mit seiner Gnade zu tun? Als er mich nach der Hölle zusammengeflickt hat?

 

Er verbrachte eine Zeit lang damit, in sich hinein zu lauschen, stellte fest, dass dieses tiefgreifende Echo, das Gefühl von Zugehörigkeit, nicht unmittelbar seit ihrem ersten Aufeinandertreffen existiert hatte. Es hatte sich im Laufe der Jahre, ihrer gesamten gemeinsamen Zeit, erst zu dem entwickelt, was er nun empfand. Demnach musste da mehr sein, als das bloße Echo von Cas‘ Gnade.

 

Vielleicht … Menschlicheres? Wie … Zuneigung, nur sehr, sehr viel davon?

 

Dean rechnete in jedem Moment, den er daran dachte, was er für Cas empfand, mit Panik, Schmerz, Übelkeit, Schuld oder Reue. Aber wenn er sich auf Cas konzentrierte – und nur auf Cas, nur auf die Person, auf den besten Freund, den er je gehabt hatte – dann fühlte sich mit einem Mal alles nur verdammt richtig an. Tröstlich. Rein. Das Gefühl war gut.

 

Cas gehörte zu ihm. Er gehörte zu Cas.

 

Vielleicht geht‘s gar nicht darum, ‘rauszufinden, welchen Part Cas hat.

 

Diese Frage hatte ihn so lange gequält. Aber vielleicht war es nicht die Frage gewesen, auf die es eigentlich ankam. Vielleicht war es viel wichtiger, herauszufinden, welche Rolle Dean spielte? Oder vielmehr, wer er hinter all den Rollen war, die er selbst und das Leben ihm zugeschrieben hatten.

 

Dean war so einiges. Dickköpfig, waghalsig, rücksichtslos, selbstzerstörerisch, fürsorglich, zweifelnd – nur einige der Attribute, die ihn ausmachten. Den Teil in sich aber, den er selbst so sehr fürchtete und von dem Cas mit solcher Zuneigung gesprochen hatte, den kannte er nicht. Verletzlich. Liebend.

 

Cas … mag meine …

Das Wort ‚Seele‘ konnte er nicht einmal denken.

 

Er mag mich. Cas mag mich.

 

Als er bis zu diesem Punkt gedacht hatte, allmählich wieder nüchterner nach dieser gefühlsduseligen Trunkenheit wurde, kehrte auch die Eifersucht zurück zu ihm.

 

Du bist wirklich eifersüchtig, weil Cas ein Date mit irgendeiner unwichtigen Braut hat, dachte Dean.

 

Besagte Braut hatte das Haus übrigens schon vor einer ganzen Weile verlassen. Ohne Cas.

 

Schräg!

 

Aber nicht unbedingt ein Grund zur Sorge. Mit ihrer herrischen, lüsternen Art hatte Cas‘ Chefin vielleicht kein Problem damit, sich selbst um Verhütung zu kümmern, wenn ihr Date zu durcheinander war, um daran zu denken. Bestimmt war sie deshalb aus dem Haus gegangen und kam bald wieder zurück.

 

Vielleicht hätt‘ ich Cas Kondome mitgeben sollen.

 

Vielleicht war es nicht das Schlechteste, dass er es nicht getan hatte. Oder ging das wieder in die Richtung, nicht gut genug für ihn zu sorgen?

 

Nope. Sollte ihn sein Ding machen lassen. Er hat‘s wirklich verdient.

 

Hatte Dean nicht etwas davon erzählt, dass er weiter an dem Fall arbeiten wollte? Schließlich konnte er nicht die ganze Nacht vor dem Haus warten, bis er für Cas Taxi spielen sollte.

 

Ich gönn‘s ihm ja.

 

Ein paar Scheinwerfer kämpfte sich vom Ende der Straße her durch die stetig dichter werdenden Nebelschwaden und näherten sich allmählich. Dean hätte dem Auto keinerlei Beachtung geschenkt, auch nicht, als es an der gegenüberliegenden Straßenseite hielt.

 

Er ließ den Motor an und Baby erwachte mit vertrautem Grollen zum Leben. Beim Ausparken streifte sein Blick im Rückspiegel zufällig den hellen Lieferwagen und ein eigentümliches Gefühl machte sich in seinem Inneren breit. Dean ignorierte es. Zu viele Gefühle für einen Abend.

Irgendwann reicht‘s dann auch mal wieder.

 

Das Gefühl drängte die Eifersucht so weit zurück, bis Dean das Ende der Straße erreicht hatte.

Das war auch gut so, schließlich sollte er sich nun auf die Suche nach dem Rit Zien konzentrieren.

 

Rit Zien. Zuletzt war er an der Tankstelle.

 

 

Mit einem Lieferwagen.

 

Mit dem Lieferwagen, der vor zwei Minuten an ihm vorbeigefahren und vor dem Haus gehalten hatte, in dem Cas ganz allein darauf wartete, flach gelegt zu werden.

 

CAS!

 

Das verbrannte Gummi der quietschenden Reifen roch er bis ins Auto, als er Baby wendete und mit ihr zurückraste.

 

 

*

 

Als Dean mit erhobener Engelsklinge durch die eingetretene Haustür in den offenen Wohnraum stürmte, bot sich ihm eine Szene, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
 

Der Rit Zien wandte sich bei der lautstarken Unterbrechung kurz um, ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen.

Blondie schenkte Dean kaum mehr als ein belustigtes Lächeln, zusammen mit einem Schulterzucken, so, als wollte er sagen: „An dir habe ich kein Interesse mehr.“

 

Er hatte Cas, genau wie Dean am Vormittag auf dem Parkplatz, mit erhobenem Arm vor sich her bis an eine Wand gedrängt. Seine Absichten schienen eindeutig; in den Augen des Rit Zien musste Cas‘ Leid groß genug sein, um für ihn sein Leben zu beenden.

 

„Cas!“

 

Eine flüchtige Handbewegung – und Dean wurde zurückgeschleudert, bis er gegen den Türrahmen knallte und wie ein nasser Sack zu Boden ging. Der Rit Zien hatte dafür nicht mal den Blick von Cas abgewandt.

 

„Hurensohn!“, japste Dean, denn der harte Aufprall hatte ihm den Atem aus den Lungen gepresst. Für einen Moment drehte sich alles; er war irgendwo mit dem Kopf angeschlagen. Im Hintergrund begann ein Baby zu weinen.

Hilflos und benommen musste Dean mit ansehen, wie sich der Rit Zien wieder Cas widmete, dessen gequälter, schmerzerfüllter Gesichtsausdruck keinen Zweifel daran ließ, was Blondie an ihm gefunden hatte. Der griff plötzlich abrupt hinter Cas und zerrte dessen Arm am Handgelenk hinter dem Rücken hervor.

 

Cas‘ Hand, die er hinter sich gegen eine Glastür gepresst hatte, blutete stark; offenbar hatte er blindlings eine rettende Sigille an die Scheibe geschmiert und war noch nicht dazu gekommen, sie zu aktivieren. Der Rit Zien packte so fest zu, dass Cas vor Schmerz aufschrie. Das veranlasste Dean dazu, sich schneller aus der Benommenheit zu kämpfen.

 

„Du sagst, du willst leben. Aber du kannst nicht sehen, was ich sehe. Indem du ein menschliches Leben gewählt hast, hast du schon aufgegeben“, sagte Blondie bedächtig und obwohl Dean sein Gesicht nicht sehen konnte, hörte er das überhebliche Lächeln in seiner Stimme. Stattdessen konnte er Cas‘ Gesicht sehen. Entsetzen. Todesangst.

 

Dean würde es niemals schaffen, rechtzeitig bei Cas zu sein. Der Rit Zien würde ihn erneut aufzuhalten wissen. Cas‘ Blick traf seinen. War das das Ende?

 

Jagdmodus. Beschützerinstinkt. Cas.

 

„Du hast den Tod gewählt.“ Der Rit Zien hob die Hand und schon bevor sie Cas‘ auch nur berührte, begann ein unheilvolles pinkes Glühen hinter seiner Stirn.

 

Dean holte aus und ließ die Engelsklinge über die Dielen in Cas‘ Richtung schlittern. Blitzschnell griff Cas danach, als hätten er und Dean den Bewegungsablauf in seiner Präzision eingeübt. Er versenkte die Klinge in Blondies Brust.

 

Er schrie, als er starb. Dean ließ Cas nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Im Hintergrund wurde das Kindergeschrei lauter.

 

Die Gnade des Rit Zien brannte aus und erlosch. Cas stand schwer atmend an die Wand gelehnt, schloss die Augen, als der Bruder vor ihm zu Boden ging.

Allmählich wichen die Angst und der Schock aus seinen Zügen. Stattdessen kehrte der Schmerz zurück, als sein Blick Deans fand.

 

 

*

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Es hat Spaß gemacht, die Originalhandlung der Folge, der diese FF zugrunde liegt, unter die Lupe zu nehmen und darin herumzupfuschen. Ich habe eine Menge geändert, aber es ist auch einiges geblieben.

Es hat auch viel Spaß gemacht, Dean in dieser Geschichte bis an diesen Punkt seiner inneren Entwicklung zu begleiten. In diesem Kapitel war es am kritischsten. Ich hoffe, es bleibt halbwegs glaubhaft ... Insbesondere im Hinblick auf alles, was da noch kommt.
Der Weg war weit und das Ziel ist noch nicht erreicht. Vorwarnung: Wer das jetzt noch nicht kitschig fand – beim nächsten Mal trieft der Zucker (Aber wie immer gibt‘s Trost nur mit dem Schmerz davor!).

Vielen Dank fürs Lesen!

Trivia:

In der Folge singt Cas Baby Tanya Joey Scarbury's 'Believe it or not' als Schlaflied vor.
https://www.youtube.com/watch?v=4q1Z7u6c0mQ
Das Lied ist eigentlich sehr optimistisch (finde ich, zumindest), aber wenn Cas es singt, ist es der perfekte Text für einen gebrochenen, depressiven Engel. Ich werde das Lied von nun an mit anderen Ohren hören!

Ich stehe total auf Marvel, aber mit dem Captain America Zweig bin ich nie so richtig warm geworden. Dass Dean sich in dieser FF irgendwann mal zur Tarnung ‚Steve Rogers‘ nennt, war von Anfang an als Gag geplant. Die Anspielung auf das beliebteste Ship des Fandoms mit Bucky ist irgendwie ‚einfach so passiert‘ und war nicht beabsichtigt.
Wer sie selbst entdeckt hat, darf sie behalten. Wer sie nicht verstanden hat, muss sich keine Gedanken darüber machen. Ich glaube, nicht mal Dean hat sie verstanden.

PS: Zwischen Überarbeitung und Upload dieses Kapitels durfte ich die 3. Folge von Staffel 14 schauen. Keine relevanten Spoiler, versprochen!

Sam sagt in der Folge etwas zu Dean, was mir im Nachhinein ziemlich mit dieser FF geholfen hat, obwohl sie fertig geschrieben ist.

Dean sagt zu Sam, dass er direkt auf etwas Schlimmes zurennt, was ja bedeuten muss, dass er nicht davor wegläuft, sondern sich der Belastung direkt stellt.
Sam sagt dazu nur, dass das genau Deans persönliche Art des Weglaufens sei – sich kopfüber in das zu stürzen, womit er sich eigentlich nicht befassen wolle.

Nach dieser kurzen Szene habe ich gedacht: Jupp, du ziehst mit deinen FFs eine Menge an den Haaren herbei, aber ein kleines bisschen hast du Dean Winchester bei den ganzen Interpretationen und Analysen vielleicht doch richtig eingeschätzt? Komplett anzeigen

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